zur Desktop-Ansicht wechseln. zur mobilen Ansicht wechseln.

The Corpse's Groom

Teil 1

Lesemodus deaktivieren (?)

Informationen

 

Das Geräusch meines Geplappers, als ich ihm von meinem Tag erzählte, meine Einkaufstüten auf den Stuhl neben seinem Bett stellte, ihm einen Kuss auf die Wange drückte und mich auf den Rand seines Bett setzte, schien ihn nicht zu stören. Er schlief tief und fest, als ich ihm von meinem Chef erzählte, der eigentlich ganz nett war, von meinem neuen Hobby, Inlineskating, von dem ich hoffte, dass es mich fit halten würde. Ich erzählte ihm von den neuen Klamotten, die ich ihm gekauft hatte. Ein grünes Shirt mit einem gelben Aufdruck drauf, sportlich und sexy.

Nachdem ich ihm eine Stunde von meiner Arbeit, unserer Katze und dem neuen Hemd erzählt hatte, verabschiedete ich mich mit einem Kuss auf seine Wange, nahm meine leere Tasse Kaffee, kippte seine unangerührte, volle Tasse weg und macht mich auf den Weg nach Hause.

Dalmira, unsere Katze, kam mir entgegen geschlichen, als ich die Tür zu unserer Wohnung öffnete. Ich hockte mich hin, um ihr die Ohren zu streicheln, und sie begann zu schnurren. Dalmira war wirklich fett geworden, ihr graues Fell, das früher glatt und glänzend gewesen war, war nun stumpf und struppig. Ich gab ihr frisches Wasser, ein wenig nasses Futter, hartes Trockenfutter konnte sie nicht mehr essen, und setzte sie danach wieder auf ihren Lieblingsplatz auf ihr Sofa. Das Laufen fiel ihr mittlerweile schwer, mit 18 Jahren war sie wirklich ein Urgestein von Katze.

Ich hatte Dalmira von Chad geschenkt bekommen, kurz nachdem mein Kanarienvogel gestorben war, was mich sehr mitgenommen hatte. Ich habe schon als kleines Kind immer eine besondere Beziehung zu meinen Tieren aufgebaut. Mich von ihnen zu distanzieren habe ich auch als Erwachsener nicht geschafft.

Ich weiß noch wie deprimiert ich war, als Speedy, mein blauer Kanarienvogel, gestorben war. Zwei Monate lang kam mir die Wohnung still und leer vor, ohne Speedys Gezwitscher und Geflatter.

Chad hatte das natürlich bemerkt, Emotionen verstecken war immer etwas, was ich nie konnte und auch nicht wollte. Nachdem ich also zwei Monate in unserer Wohnung auf Zehenspitzen rumgetappt war, kaum etwas gesagt hatte, um die Stille nicht zu brechen und wann immer es mir möglich war, Chads Nähe gesucht hatte, kam er eines Abends mit einem kleinen grauen Fellbündel nach Hause und ließ es wortlos, mit einem kleinen Grinsen, in meinen Schoß plumpsen.

Es dauerte ungefähr drei Sekunden, bis ich über meine Perplexität hinweggekommen war, dann knuddelte ich quietschend das kleine, knuffige Wesen, drückte es vorsichtig an meine Brust und blickte mit tränenverschleierten Augen zu Chad auf, der sich nun neben mich, immer noch grinsend, auf die Couch sinken ließ.

Er wischte mir die Tränen weg, küsste meine Nase, dann meinen Mund.

Ich schluchzte und er küsste mich stärker.

„Ich lieb dich mein Schatz, das weißt du, oder?“

Ich schluchzte, nickte und biss mir, die Augen tränenverschleiert, auf die zitternde Unterlippe. Er streichelte sanft das Kätzchen, das ich im Geiste schon Dalmira getauft hatte.

Dann küsste er sanft die Tränen auf meinen Wangen weg und zog mich zu sich ran.

Ich saß auf der Couch, streichelte Dalmira und vermisste Chad unendlich. Ich ging in die Küche, um mir etwas zu essen holen. Dann ging ich zurück zur Couch, fokussierte meine Aufmerksamkeit auf eine Sendung über Gnus und die Serengeti und streichelte abwesend die schnurrende Dalmira.

Am nächsten Tag war ich todmüde und hatte keine Lust aufzustehen. Aber ich musste und ich tat es. Ich schälte mich aus den kalten Laken und quälte mich barfuss in die Küche.

Unterwegs schnappte ich mir Dalmira, kuschelte sie an mich und setzte sie in ihr Katzenklo.

Dann machte ich Tee und zwang mich ein Müsli zu essen. Nach einer Dusche ging es mir immer noch nicht viel besser, wenigstens waren meine Haare besser in Form. Ich hatte noch immer dichte mittelbraune, kurze Haare, ordentlich geschnitten und hatte mich sowieso sehr gut gehalten, immerhin ging ich hart auf die Vierzig zu.

Ich zog mich an, graues Hemd, schwarze Hose, Fielmannbrille, ohne Rahmen, der typische Bürohengst, würde Chad sagen. Ein weiterer Tag als Cheftippse in einem hier nicht genannten namhaften Öl-Konzern. Ich würde Meetings koordinieren, Einhaltung von Deadlines prüfen, Protokolle verschicken, die Zeit anderer Menschen verwalten und gestalten.

Danach ging ich shoppen. Ich kaufte eine neue silberne Kette für Chad und ein himmelblaues, ärmelloses Shirt, das toll zu seinen blauen Augen passen würde, immerhin war es Sommer.

Danach holte ich zwei Frozen-Coffee und brachte sie ins Krankenhaus.

Chad lag reglos auf seinem Bett, Sonnenlicht fiel auf sein frisch rasiertes Gesicht, seine maskulinen Wangenknochen, seine blonden Wimpern an den geschlossenen Augenliedern und wurde von den Schläuchen, die von der Beatmungsmaschine in seine Nase führten, reflektiert.

Ich erzählte von Meetings, zu kalten Klimaanlagen und hielt ihm das neue Hemd vor die Brust, die früher so muskulös gewesen war. Seine breiten Schultern hatte er behalten auch wenn die Muskeln längst verschwunden waren. Das Hemd würde ihm hervorragend stehen und ich war mir sicher, dass es seine Augen wundervoll betonen würde.

Ich hatte ihm früher oft Kleider gekauft und meistens hatte er sie auch ohne Klage getragen, auch wenn ich natürlich gemerkt habe, welche Sachen er oft anzog und welche er nur ein- oder zweimal mir zuliebe trug. So ein ähnliches Hemd hatte ich ihm schon einmal gekauft, auch damals war es Sommer gewesen.

„Schau mal Chad! Das sieht bestimmt ganz toll aus!“, jauchzte ich ihm entgegen, als ich beladen mit zig Einkaufstüten durch die Wohnungstür gepoltert kam. Die Taschen ließ ich achtlos im Flur liegen und kam nur mit einem Shirt auf ihn zugelaufen.

Er saß relaxt auf der Couch und trank ein Bier.

„Na, dann zeig mal.“

Hm, etwas teilnahmslos, aber damit konnte ich leben. Es war Sommer und draußen war Hitze und Straßenlärm, aber in unserer Wohnung waren die Rollläden halb runtergelassen und die Fenster auf, so dass es erfrischend kühl war.

Ich sprang rittlings auf seinen Schoß und hielt ihm das babyblaue ärmellose Hemd mit weißer Kontrastnaht vor die Brust, um zu schauen wie es aussehen würde.

„Komm, zieh es an“, sagte ich enthusiastisch.

Er zog sich in Zeitlupe sein graues, locker sitzendes, von mir auf keinen Fall gekauftes T-Shirt über den Kopf und präsentierte mir mit quälender Langsamkeit aus nächster Nähe seine muskulöse, an den richtigen Stellen behaarte Brust.

Ich biss mir auf die Unterlippe, konnte mir ein verschmitztes Grinsen aber nicht verkneifen, als ich die Chance nutzte um meine Hände von dem wundervollen Waschbrettbauch über die gestählten Brustmuskeln zu seinen breiten Schultern gleiten lassen, um sie dann hinter seinem Nacken zu verschränken.

„Hm, vielleicht kannst du das ja später anziehen!?“, murmelte ich in seine Lippen, als ich ihm einen Kuss auf die vollen, weichen Lippen drückte.

Nebenbei schlürfte ich meinen Eis-Kaffee, setze mich wie immer zu ihm aufs Bett und erzählte von meinen Sorgen um Dalmira. Vorsichtig streckte ich mich an seiner Seite aus und streichelte sein ruhiges Gesicht. Ich kuschelte meinen Kopf an seinen Hals und drückte ihm ein kleines Küsschen in die Halsbeuge.

Am nächsten Morgen wachte ich warm und wohlig in Chads Armen auf. Ich seufzte und genoss seine Nähe, seinen Geruch. Wir hatten die letzte Nacht sehr genossen, normalerweise war Chad vor mir wach, aber heute hatte mich etwas geweckt, schlaftrunken blickte ich mich um und sah die Krankenschwester, die mich mitleidig anlächelte.

Zurück in der Realität wurde mir klar, dass ich eingeschlafen sein musste, und die Besuchszeit bestimmt schon vorbei war.

Ich setzte mich auf, drückte Chad noch einen Kuss auf, nahm seinen geschmolzenen Frozen-Coffee und verließ das Krankenhaus.

Auf dem Weg zu meinem silbernen BMW traf ich Conny, eine alte Bekannte, die ihren Bruder im Schlepptau hatte, der sich anscheinend beim Footballspielen den Arm gebrochen hatte.

Ich schätzte Dennis auf Anfang dreißig, er war sportlich und trug momentan seine Footballhosen und sein Trainings-Trikot. Chad hatte auch bis zu seinem Unfall Football gespielt und ich unterhielt mich ein bisschen mit Dennis über den Sport, seine Freuden und offensichtlichen Risiken.

Conny hatte Dennis schon früher erwähnt, ich wusste, dass er schwul war und ich wusste, dass er wusste, dass ich es auch war. Spätestens heute durch sein offensichtliches Geflirte wäre es mir klar geworden.

„Du weißt viel über Football, hast du selber mal gespielt?“

„Nein, aber mein Freund, er hat mir viel erklärt.“

Und schon wurde ich gelöchert, Name, Alter, Team...

„Chad, er spielt schon seit einigen Jahren nicht mehr, du kennst ihn bestimmt nicht...“

„Hm, nee, tatsächlich nicht. Wir haben Sonntag ein Spiel, willst du zuschauen kommen?“

„Ehm, klar, ich überlegs mir mal.“

„Cool, dann bis Sonntag.“

„Ja, vielleicht bis Sonntag.“

Heute war Freitag. Ich hasste Freitage, das hieß morgen war Samstag und ich hatte nichts zu tun.

Nachdem ich Dalmira versorgt hatte, ging ich ins Bett. Am nächsten Tag quälte ich mich um drei Uhr hoch, um Chad zu besuchen. Ich hatte zwei Kaffee in der Hand, als ich zu ihm ins Zimmer kam, und stellte eine Tasse vor ihm ab.

Ich erzählte von Dennis und dass er mich zu einem Footballspiel eingeladen hatte, ich aber nicht wüsste, ob ich gehen würde.

Ich erzählte von Dalmira, einem Teller, den ich gestern aus Versehen kaputt gemacht hatte und dass ich Sonnenmilch bräuchte, wenn ich morgen zum Football wollte.

Chad hatte immer so gut in seiner Footballuniform ausgesehen, blau-weiß, die Nummer 68. Nach dem Spiel hatte er gnadenlos gestunken und ich hasste es, dass unser Schrank im Flur nach seinen Trainingsschuhen stank. Und immer stolperte ich irgendwo über seine riesige Footballtasche und seine Pads, die laut ihm in keinen Schrank passten. Zu was für Streits das manchmal geführt hatte! Und zu was für Versöhnungen...

„Chad, würdest du bitte deine Trainingstasche wegräumen?“ rief ich aus dem Flur.

„Nö. Ich schau grad Fern.“ Das machte er doch nur um mich zu provozieren. Und das Schlimmste: Es klappte!

„Chad!", schrie ich. "Muss die Tasche denn im Flur stehen! Das erste was ich seh, wenn ich nach Hause komme, ist diese Tasche! Ich bekomm die Tür nicht auf, der ganze Flur stinkt nach deinen... mmm“ Zu mehr kam ich nicht, denn da hatte er mich schon in die Arme genommen und knutschte mich ab.

„War doch nur n Scherz Schatz.“

Er roch nach Duschgel und Rasierschaum, seine Haare waren noch ein bisschen feucht und er lächelte auf mich runter bevor er mir einen weiteren Kuss aufdrückte. Der Kuss wurde intensiver, dann griff er nach meiner Hand und wir rannten ins Schlafzimmer und sprangen aufs Bett.


Als ich wieder zu Hause war, bekam ich einen Anruf von Conny.

„Ja?“

„Ja hallo, hier ist Conny. Soll ich dich morgen mitnehmen?“

„Ehh, ich weiß nicht, ob ich wirklich gehen soll.“

„Ach komm schon. Das wird bestimmt lustig!“

„Ich hab noch was vor. Wann geht’s denn los?“

„Kick-off ist um drei.“

„Hm, ok, ja, ich denk ich kann.“

„Cool, ich hol dich um halb drei ab.“

„Ja, cool, ehm, kannst du mich vielleicht vor dem Krankenhaus abholen?“

„Ja, klar, kein Problem, bis dann.“

„Bis dann.“

Ich besuchte Chad früher als sonst und erklärte ihm, dass ich zu einem Footballspiel gehen würde. Ich versprach mir die Score zu merken und ihm alles über das Spiel zu berichten. Ich verabschiedete mich von ihm und bemerkte erst, als ich vor Connies Wagen stand, dass ich immer noch seinen Kaffee in der Hand hielt.

Ich versenkte den Kaffee im nächsten Mülleimer und stieg in Connies Auto.

Ich hatte Spaß an dem Footballspiel, aber es fühlte sich an, als würde ich Chad betrügen. Ich vergnügte mich, während er bewusstlos in einem Krankenhausbett lag.

Ich redete während des Spiels viel mit Dennis, anfangs über Spielzüge, später über Essen und Tiere. Danach fühlte ich mich noch schuldiger.

Die halbe Nacht lag ich wach, vermisste Chad und fühlte mich wie ein Loser. Ich ging auf die Vierzig zu und der einzige Spaß, den ich je hatte, war, dass ich mit meinem bewusstlosen Freund sprach und meine altersdemente Katze betreute. Und wenn ich ausnahmsweise mal was unternahm, was nichts mit ihm zu tun hatte, fühlte ich mich gleich als würde ich mich von ihm abkapseln. Am liebsten wäre ich ins Krankenhaus gekrochen und hätte mich dafür entschuldigt, dass ich ohne ihn gelacht hatte.

Der nächste Tag war hart. Ich war auf der Arbeit unkonzentriert und bekam zum ersten Mal Ärger mit meinem Oberchef, weil ich die Belegung von Tagungsräumen vertauscht und den ganzen Plan durcheinander gebracht hatte.

Froh, endlich aus der Arbeit zu kommen, ging ich gleich zu Chad. Ich versuchte ihn nicht mit meinen Sorgen zu belasten und erzählte stattdessen von dem Footballspiel, dass es interessant gewesen wäre, welches Team gewonnen hatte, lobte das saubere Spiel. Von Dennis erzählte ich ihm so wenig wie nötig.

Ich fragte mich, wie es sein würde, falls er morgen aufwachen würde. Wenn ich ins Krankenhaus kommen würde und er würde einfach auf seinem Bett sitzen und mich anschauen.

Müsste ich ihm die letzten sechzehn Jahre erzählen oder würde er alles mitbekommen haben? Würde er wissen, dass ich jeden Tag da gewesen war, um ihn zu besuchen?

In der Nacht benahm sich Dalmira merkwürdig. Sie scharrte, wollte nicht auf ihrer Couch sitzen bleiben sondern zu mir ins Schlafzimmer.

Chad hatte ihr nie erlaubt aufs Bett zu klettern.

„Nimm deine bescheuerte Katze vom Bett!“

„Ach komm schon Chad, sie ist doch noch klein“, bettelte ich.

„Dann muss sie früh anfangen zu lernen, dass Betten nichts für kleine Katzen sind!“

„Aber sie liegt so gern unter der Decke. Chad.“ Schmollte ich.

„Und ich hab dann die Katzenhaare im Bett, bestimmt nicht.“

Und er nahm Dalmira und setzte sie unsanft auf den Boden.

Dackelblick, bettelnder Augenaufschlag.

„Schaaatz. Ich meins ernst. Ich will nicht jede Nacht das Bett mit ner Katze teilen müssen. Es sei denn du bist es, mein Tiger“, zwinkerte er mir zu.

„Hmm, bekomm ich Frühstück?“

„Versprichst du die Katze nicht ins Bett zu lassen?“

„Vielleicht?“

„Schaaaatz!“, sagte er gedehnt und stemmte die Hände auf die Hüften. Verdammt, warum zog mein Dackelblick nicht?!

„Ist gut.“

Er kam zu mir ins Bett gekrabbelt, breitete sich auf mir aus und küsste mein Kinn langsam und genüsslich.

„Frühstück kommt gleich“, hauchte er mir ins Ohr und fing an meinen Hals zu küssen. Ich musste dann doch noch ein bisschen länger aufs Frühstück warten, aber Chad gestaltete die Wartezeit sehr unterhaltsam...

Jetzt saß Dalmira vor dem Bett und maunzte. Sie atmete schwer, dreht sich um sich selbst, legte sich hin, schlug mit dem Schwanz und benahm sich insgesamt sehr merkwürdig.

„Dalmira, was ist denn Kleines?“

„Miau.“

„Willst du zu mir hoch?“

„Miau.“

„Du weißt doch, dass Chad das nicht mag!"

"Miauau!"

"Dir geht’s nicht gut oder? Ich glaube Chad versteht, wenn wir eine Ausnahme machen.“

Ich setze Dalmira neben mich auf die Decke, wo sie kraftlos liegen blieb und dann unter die Decke kroch. Sie schlummerte noch eine halbe Stunde vor sich hin, während ich sie streichelte, dann nahm sie einen tiefen Atemzug, noch einen, atmete noch einmal tief ein und erschlaffte dann. Sie lag reglos, ohne zu atmen auf der Seite und ich streichelte ihr über das Fell, nahm ihren schlaffen Körper vom Bett und trug sie ins Bad.

Ich versuchte die Tränen zurückzuhalten, als ich einen kleinen Karton mit ihrem Lieblingshandtuch polsterte und sie dann in die Box legte. Es gelang mir nicht.

Ich setzte mich auf den kalten Fliesenboden, schlang einen Arm um die Knie und blieb noch eine Weile schluchzend neben Dalmiras Kartonsarg sitzen, währen ich ihr graues, stumpfes Fell streichelte.

Viel später nahm ich den Deckel, deckte die Box zu und ging raus, um sie neben dem Kanarienvogel Speedy zu begraben.

Am nächsten Tag ging ich nicht zur Arbeit. Ich konnte nicht aufstehen und ich wollte nicht ins Wohnzimmer gehen, um zu sehen, dass Dalmira nicht mehr auf ihrer Decke auf dem Sofa saß. Ich wollte nicht in die Küche und ihren halbleeren Trinknapf sehen, ich wollte nicht ins Bad wo ihr Katzenklo stand, das sie jetzt nicht mehr brauchte.

Ich wollte nicht aus der Wohnung, vorbei an dem Weg, der zu ihrem Grab führte.

Irgendwann überwand ich mich und nach zwei knapp verfehlten Nervenzusammenbrüchen räumte ich die Decke, den Napf und das Katzenklo weg.

Es war so als hätte es Dalmira nie gegeben. Ohne Chad und Dalmira war die Wohnung leer und ordentlich. Gespenstisch unbewohnt.

Das Klingeln des Telefons riss mich aus meinen Gedanken.

„Hi, hier ist Dennis.“

„Hi.“

„Alles klar bei dir? Du hörst dich merkwürdig an.“

„Geht so. Ehm, gibt es einen bestimmten Grund warum du anrufst?“ Meine Stimme hörte sich dumpf in der leeren Wohnung an.

„Naja, ich dachte mir, jetzt wo ich nicht mehr zum Footballtraining gehen kann und ich gehört hab, dass du angefangen hast, Inliner zu fahren, vielleicht hast du Lust nach der Arbeit mal zu fahren.“

„Schon, aber heute ist schlecht.“

„Muss ja nicht heute sein. Ist wirklich alles in Ordnung bei dir?“

„Du denkst ich bin ein Idiot, wenn ichs dir erzähl.“

„Ach quatsch! Was ist passiert? Warte, ich komm dich besuchen, du kannst es mir dann erklären.“

„Ich kann heut nicht. Morgen, ok?“

Er klang zwar unzufrieden, sagte dann aber doch „Ok, morgen. Fünf?“

„Sechs?“

„Ok, bis morgen um sechs. Kopf hoch, Kleiner!“

Ich ging wie immer um halb fünf ins Krankenhaus und entschuldigte mich dafür, dass ich ihm schon zwei Tage hintereinander keinen Kaffee mitgebracht hatte.

Ich weiß nicht wie es passiert war, aber irgendwann lag ich heulend an seiner Brust und alle meine Sorgen sprudelten aus mir heraus.

„Chad, es ist so furchtbar, ich weiß ich soll dir nichts Schlimmes erzählen, aber Dalmira ist letzte Nacht gestorben und jetzt bin ich ganz allein in der Wohnung. Ich hab sie bei Speedy begraben, aber heut Nacht hat es geregnet und jetzt weicht ihr Karton bestimmt auf und irgendein wildes Tier buddelt sie aus. Ich hab sie auf unser Bett gesetzt auch wenn du das nicht magst und sie hat so alt und müde ausgesehen. Ich konnte heute nicht zur Arbeit und gestern hab ich da alles falsch gemacht und musste ins Büro vom Chef kommen und jetzt denken bestimmt alle ich komm nicht, weil ich gestern so schlecht war“, schluchzte ich ohne Pause.

"Ist ja schon gut", raunte er mir ins Ohr, als er mir den Rücken streichelte und mich ganz fest hielt.

"Nein, es wird nie wieder gut. Die Welt ist schlecht und ich hasse sie. Mein Leben ist schlecht und alles ist furchtbar!!!"

Er konnte spüren wie er schmunzelte und mich näher zu ihm ran zog.

"Meinst du nicht, dass du jetzt ein wenig übertreibst, Schatz?"

"Wie kannst du nur so grausam sein? Das hier ist eine Katastrophe. Was soll ich denn jetzt machen", schluchzte ich.

Er blies mir ins Ohr und drückte mir einen Kuss aufs Haar.

"Die Friseurin verklagen und versuchen die Haare wieder braun zu färben?"

Ich konnte mich nicht beruhigen, lag auf seiner Brust und weinte, bis mir die Augen und der Hals wehtaten. Ich wünschte mir so sehr, seine Arme um mich zu spüren und zu hören, dass alles schon wieder wird. Wünschte mir so sehr, das er mir ins Ohr blies.

Und ich hatte zum ersten Mal Angst, dass ich alleine in der kalten, leeren Wohnung bleiben würde. Das Chad nicht aufwachen würde. Sechzehn Jahre hatte ich fest daran geglaubt, dass er aufwachen würde, hatte gehofft und gewartet, wollte vorbereitet sein, wenn er wieder in unsere Wohnung kam. Hatte ihm moderne Kleider gekauft, damit er sich nicht fremd vorkam, hatte ihn darauf vorbereitet, dass Dalmira nicht mehr zwei war, wie damals als er sie zum letzten Mal gesehen hatte.

Doch heute, als ich wusste, dass Chad Dalmira nie wieder sehen würde, wurde mir brutal bewusst, dass Chad vielleicht sterben würde, ohne vorher aufzuwachen. Das ich seine blauen Augen vielleicht nie wieder sehen würde. Und dann würde es so sein, als wäre er die letzten sechzehn Jahre schon tot gewesen.

Die Zeit, die die Blüte unser Jahre hätte sein sollen, hätte er als lebendige Leiche hilflos und gedemütigt in einem Krankenhausbett verbracht und ich als sein Friedhofsgärtner, der mit seinem Kadaver redet.

Ich weinte in sein Krankenhaushemd, während ich dem Rasseln der Beamtungsmaschine lauschte und fühlte mich unendlich allein.

Ich war ein Meister im Verdrängen. Am nächsten Tag ging ich wieder in die Arbeit wie gewohnt. Als ich nach meiner Abwesenheit gefragt wurde, log ich meine Mutter hätte einen Unfall gehabt.

Ich besorgte Kaffee, redete mit Chad, während ich aus dem Fenster schaute, weil ich es nicht ertrug ihn anzuschauen. Da lag meine erlesene Leiche in all ihrer schönen Schrecklichkeit hinter mir auf dem Bett. Der Mann, den ich liebte, den ich schon so lange nicht mehr gesehen hatte.

Bekam er mit, dass ich hier stand? Hatte er meinen kleinen Break-down gestern mitbekommen? Fühlte er noch? Oder liefen in seinem Körper nur chemische Prozesse ab, nachdem Nervenbahnen gereizt wurden, elektrische Impulse weitergeleitet wurden, was dann zur Bildung von Hormonen führte, die ausgeschüttet wurden und uns Gefühle, wie z.B. Liebe oder Angst vorgaukelten?

Liefen diese Prozesse ab, ohne dass er etwas davon mitbekam? Hatte sein Körper sich so weit von seiner Seele entfernt? Gab es diese Seele noch?

Ich wagte es nicht über meine Schulter zu blicken und versuchte nicht daran zu denken, dass das einzige, was Chad davon abhielt den Verwesungsprozess einzuleiten, das rhythmische Röcheln der Beatmungsmaschiene war.

Was wenn Chad morgen aufwachen würde, fragte ich mich wieder. Wäre er überhaupt noch der Gleiche? Wäre er froh nach so langer Zeit wieder in eine Welt zurückzukommen, die nicht mehr die seine war? In einen Körper zurück gezwungen zu werden, der am Anfang noch nicht einmal alleine würde laufen können? Der im Moment noch nicht einmal alleine atmen konnte? War es eine Qual für ihn jetzt in diesem Körper gefangen zu sein oder freute er sich auf eine Rückkehr, auf eine zweite Chance?

Ich wusste es nicht. Das waren Fragen, die ich noch nicht einmal für mich selbst beantworten konnte, wie konnte ich es für ihn tun?

Chad war immer sehr aktiv gewesen, er hatte sich einmal das Bein gebrochen und hatte mit Krücken laufen müssen. Wie er es gehasst hatte.

"SCHATZ!", brüllte er damals aus dem Schlafzimmer nach mir! Es hörte sich nicht nach einem Kosenamen an.

"Ja?", fragte ich leise von der Couch aus dem Wohnzimmer.

"Meine verdammten Krücken sind mir runter gefallen, und jetzt komm ich nicht mehr an sie dran!"

"Und?" Ich war heute in Stimmung ihn ein wenig zu necken.

"Und jetzt liegen sie da“, grummelte er genervt.

"Ja? Und weiter?", antwortete ich unschuldig.

"Bleiben sie den ganzen Tag dort liegen?"

"Wenn du's so willst", rief ich ihm zu.

"Natürlich nicht! Ich brauch meine verdammten Krücken zum Laufen!"

"Das weiß ich doch Schnuckelputzi." Er schmiss ein Kissen von unserem Bett zu mir ins Wohnzimmer. Es verfehlte mich um Meilen.

"Man merkt, dass du kein Quarterback bist." Heut war ich echt frech, manchmal brauchten wir das.

Er sagte erstmal nichts, aber ich wusste, dass er schmollte.

"Du weißt, dass ich das hasse!", quengelte er.

Ja, klar. Aber deshalb machte es ja auch so viel Spaß.

"Ehm, was hasst du genau?"

"Dich um Sachen bitten."

"Aber Chad, es ist wirklich ganz leicht. Du sagst mir einfach, was du möchtest und ich mach's!", sagte ich, während ich in Richtung Schlafzimmer tigerte.

"Alles?"

"Fast alles."

"Meine Krücken."

"Ja? Was ist damit?"

"Schatz!", quengelte er. Er sah aber wirklich knuffig aus, wie Gott ihn geschaffen hatte plus ein riesiges Gipsbein auf unserem Bett, wie er nach seinen Krücken fischte. Jetzt seufzte er.

"Gib mir meine Krücken", presste er hervor.

"Was hast du vergessen?"

"Ehm?" Er blickte sich suchend um.

"Kleiner Tipp: Zauberwörtchen?"

Er biss sich auf die Unterlippe und sah zu mir hoch, was nicht oft vorkam, denn er war ja wie erwähnt größer als ich.

"Ficken?"

Nicht das, was ich als Zauberwort erwartet hatte, aber gar kein so schlechter Vorschlag, auch wenn ich es anders ausgedrückt hätte, aber der aufmerksame Leser hat sicherlich schon mitbekommen, dass Chads Manieren recht verkommen waren. Außerdem war er in dem Gips nicht der mobilste und sobald ich ihn erstmal auf dem Rücken hatte, würde ich oben machen können, was ich wollte...

Jetzt lag er auch auf dem Rücken, aber sexuelles Verlangen war etwas, was ich in Chads Nähe schon lange nicht mehr gespürt hatte. Er sah immer noch gut aus, aber er war nicht mehr er. Durch sein Koma war ich mir unsicher geworden, was in dieser Hülle eigentlich noch hauste. Vielleicht hatte mein Unterbewusstsein erkannt, dass ich auf ne Leiche scharf gewesen wäre.


Um sechs klingelte es an der Tür.

"Hi Engelchen, Skäyti Skäyti?"

Skäyti Skäyti? Hm. Seine Idee von cool? Und wer war Engelchen?

"Hi Dennis. Ich kram kurz mein Zeugs zusammen. Willst du solange reinkommen?"

Dennis kam rein und sah mich auf merkwürdige Art und Weise an.

"Kannst du überhaupt Skaten mit dem Arm?"

"Ja klar, den Arm brauch ich dazu ja nicht."

"Und wenn du hinfällst?"

"Hab ich nicht vor."

Aha.

"Sicher, dass wir nicht doch lieber joggen wollen?"

"Nein, die Stöße sind schlimmer als das Gleiten, wenn du verstehst, was ich meine", sagte er mit einem schelmischen Augenzwinkern "Komm schon, jetzt mach dir keinen Kopf. No Risk No Fun."

Ironischerweise, waren das die letzten Worte, die ich von Chad gehört hatte. Ich starrte Dennis entgeistert an.

"Alles klar bei dir? Du hast dich schon am Telefon so merkwürdig angehört", fragte er besorgt.

"Ja, geht so."

"Was ist los?"

Hm, mein langweiliges Leben wurde von sich-um-alte-Katze-kümmern und mit-komatösem-Freund-sprechen auf mit-komatösem-Freund-sprechen reduziert und trotzdem machte ich mir Gedanken, was Chad davon halten würde, wenn er wüsste, dass ich mit Dennis Skaten ging. Wir hatten früher einige Diskussionen über das Thema „Eifersucht“ und „Besitzergreifend“ gehabt.

"Schatz, wohin gehst du?", hatte Chad gefragt.

"Zum Volleyball."

"Jetzt schon?" Wie, jetzt schon? Es war nur eine Viertelstunde früher als sonst.

"Ich treff mich noch vorher mit Sven und wir laufen zusammen hin."

"Aha. Sven", wiederholte er säuerlich. "Wer ist Sven?"

"Ein Kumpel, mit dem ich Volleyball spiele?"

"Was macht ihr denn sonst noch so zusammen?" Ich konnte seine ruhige Maske mittlerweile durchschauen und witterte die Gereiztheit eines Löwen, der sein Territorium verteidigen musste, darunter.

"Sven ist 24, studiert Psychologie, geht ab und zu mit mir shoppen, spielt mit mir Volleyball und ist nicht mal annähernd Konkurrenz für dich. Zufrieden?"

Er war nicht zufrieden gewesen und jedes Mal wenn ich den Namen Sven erwähnt hatte, hatte er mich weiter auf nervigste Art und Weise ausgequetscht. Er war tödlich eifersüchtig auf Sven gewesen.

Sobald ich jemand Neues kennen lernte und begann öfter von der Person zu erzählen, fing Chad an sein Revier abzustecken, egal ob Mann oder Frau, jeder musste wissen, dass ich zu ihm gehörte und dass sich daran auch nichts ändern würde. Ich war froh, dass er nicht in die Ecken unserer Wohnung pinkelte, bevor Besuch kam.

"Wieder unterwegs zu Sven?"

"Ja."

"Muss ja n toller Typ sein, wenn du dich so oft mit ihm triffst."

"Er ist nett. Wir mögen uns."

"Und deshalb putzt du dich auch immer so für ihn raus!"

Hä!? Ich hatte meine Volleyball-Trainingsklamotten an. Eine Standard-Adidas-Hose und ein verwaschenes grünes T-Shirt. Sogar meine Kette hatte ich ausgezogen, damit ich nicht dran hängen blieb. Verlotterter ging's gar nicht mehr.

"Du meinst das hier?" Und ich zupfte an der Hose.

"Knappe Hosen, neuer Haarschnitt, Kontaktlinsen. Meinst du ich bin blind?"

"Den Haarschnitt hab ich seit drei Tagen, aber schön, dass dir das auffällt. Hosen hab ich knappere und Kontaktlinsen trag ich, damit mir nicht die Brille auf der Nase zerschmettert wird!", keifte ich zurück. Wir hatten in den letzten Wochen so oft über das Thema gestritten, offensichtlich war nichts davon bei ihm hängen geblieben. Frustrierend.

Ich hatte die Nase voll. An dem Abend brachte ich Sven nach dem Training mit nach Hause. Sven war ein schlanker, fast magerer, kleiner, straßenköterblonder, bebrillter Psychologiestudent.

Das hatte Chad nicht erwartet. Er erkannte sofort, was ich gemeint hatte, als ich gesagt hatte: keine Konkurrenz. Seitdem ließ er uns tun und lassen was wir wollten, ohne eifersüchtig zu werden (selbstverständlich machten wir alles außer DAS.)

Dennis würde er als Konkurrenz einstufen. Blond, mit ein wenig längeren Haaren, jung geblieben, groß, muskulöse, breitschultrige Footballerstatur. Schlagfertig, intelligent, humorvoll – und offensichtlich scharf auf mich.

Eigentlich genau mein Typ.

Und jetzt fuhr er mir leicht und sinnlich mit den Fingerspitzen über die Wange und hob dann mein Kinn, damit ich zu ihm aufblickte.

"Engel, was is los?", hauchte er.

Mir traten Tränen in die Augen. Das war eine Frage, die Chad hätte stellen sollen. Eine Frage, die ihm zustand. Nicht einem Fremden, der mich seit drei (ok, fünf) Tagen kannte.

O nein, nicht weinen, damit machst du alles noch schlimmer. Meine Unterlippe begann zu zittern. Beherrsch dich, sagte ich mir, während ich mich Pussy schimpfte.

"Hey, hey", flüsterte er, als er mir vorsichtig die ersten Tränen mit dem Daumen wegwischte und ganz sanft seine durchtrainierten Arme um mich legte, um mich an seine Brust zu ziehen. Ich ließ mich gegen die von grauen T-Shirtstoff überspannten Muskeln sinken und fing an zu schluchzen. Gefühle verstecken war, wie gesagt, nicht meine Stärke. Ich konnte sie verdrängen, aber überspielen konnte ich sie nicht. Und wenn was hochkam, dann kam alles hoch. Der Damm war gebrochen, die Flut war nicht aufzuhalten.

Dennis streichelte meinen Rücken in großen warmen Kreisbewegungen und flüsterte mir beruhigende Worte ins Ohr, während ich mich schluchzend und zitternd an ihn klammerte. Als ich mich einigermaßen beruhigt hatte, hielt er mich ein wenig von sich weg und küsste meine Stirn.

"Tschuldigung", schluchzte ich und deutete geradeaus auf den dunklen, nassen Fleck auf seinem Shirt.

Er zog mich wieder in eine Umarmung und legte sein Kinn auf meinen Kopf

"Hey, das macht doch nichts", raunte er mir ins Ohr.

Ich wischte mir die Augen und schnäuzte mich in das Taschentuch, das er mir hinhielt.

"Danke."

"Jederzeit."

Dennis war der erste Mann seit langer Zeit, der Interesse an mir zeigte und bei dem ich dieses Interesse auch zuließ. Ich weiß nicht warum, vielleicht weil er mich sehr an Chad erinnerte, vielleicht weil ich mich nach Dalmiras Tod einsam fühlte.

In den folgenden Wochen unternahmen wir viel zusammen, aber Dennis fragte mich nie nach meinem Freund, von dem ich ihm aber an unseren ersten Treffen erzählt hatte (nur von seinem permanenten Krankenhausaufenthalt nicht.)

Wir gingen Skaten, Eis essen, zu Footballspielen, ins Kino, gemeinsam Kaffee trinken. Wir unterhielten uns viel und lernten uns kennen. Und während er ohne Ende baggerte, war ich zurückhaltend und distanziert.

Immer wenn er mir zu nahe kam, fing ich an von Chad zu sprechen. Chad, den ich natürlich immer noch jeden Tag besuchte, in dessen Gegenwart ich mich aber immer öfter schämte. Zwar hielt ich Dennis auf Distanz, aber ich musste zugeben, dass mir die Aufmerksamkeit, die er mir schenkte, gefiel, und dass sie etwas war, dass ich am meisten an Chad vermisste.

Es erfüllte mich nicht mit jemandem zu reden, von dem nie eine Reaktion kam, von dem ich nicht wusste, was er dachte, von dem keine Reaktion zu erwarten war.

Als wir eines Tages zusammen in unserer (also Chads und meiner) Wohnung am Pasta kochen waren, vertraute ich ihm alles über Chad und seinen Krankenhausaufenthalt an.

"Wow."

War alles was er sagte.

"Ich meine, meine Schwester hatte mir schon erzählt, dass du n Freund hast und so, und sie hat mir auch erzählt, dass der grad im Koma liegt, aber ich wusste nicht, dass ihr so lange zusammen wart und irgendwie auch noch seit."

"Was meinst du, irgendwie auch noch seit?", fragte ich mit gerunzelter Stirn.

"Jetzt komm schon, es muss ganz schön schwer sein, so ohne ihn! Sechzehn Jahre ohne Sex, sag mir nicht, dass man da nicht mal in Versuchung gekommen ist!"

Hm, ohne Sex auszukommen war das leichteste gewesen.

"Ich würde mir so dreckig vorkommen! Das könnte ich ihm nie antun!"

"Meinst du wirklich er bekommt das mit?", fragte er ernst.

"Ich weiß es nicht. Aber stell dir vor, ich hätte mich entschieden mit irgendeinem Typen zu vögeln, und am nächsten Tag wacht er auf! Hätte ich nur diesen einen Tag länger durchgehalten!"

"Glaubst du wirklich so fest daran, dass er morgen aufwacht?"

Entmutigt ließ ich das Messer sinken.

Hättest er mich das vor drei Monaten gefragt hätte ich gesagt: Klar, vielleicht ist er jetzt schon wach, lass uns im Krankenhaus anrufen! Aber jetzt war ich mir nicht mehr so sicher.

"Was wenn er gar nicht aufwacht?"

Das schnürte mir die Kehle zu, ich blickte auf meinen Teller.

"Können wir bitte über etwas anderes reden", sagte ich, bevor mir die Tränen in die Augen traten.

"Ja klar. Sorry, das war unsensibel. Aber meinst du wirklich er würde wollen, dass du dich für den Rest deines Lebens an ein Krankenhausbett kettest?"

DAS war unsensibel. Und es gab mir Stoff zum nachdenken. Ich liebte Chad, liebte die Erinnerungen an ihn. Aber ich wusste auch, dass ich zu sehr in Erinnerungen gelebt hatte. Und ich wusste, dass ich mit Dennis die Chance hatte, neue Erinnerungen zu machen.

Am nächsten Tag kam ich zu spät ins Krankenhaus. Da Chad der Unterschied aber nicht auffallen würde, setzte ich mich ohne Erklärung an sein Bett.

Ich ließ all die guten und schlechten Erinnerungen vor meinem geistigen Auge ablaufen. Es fühlte sich an, als wäre ich ein Teenager, der sich von seiner ersten großen Liebe trennt. Und in gewisser Weise tat ich das. In gewisser Weise nahm ich Abschied.

Um das an einem Tag zu machen, hatten wir einfach viel zu viel Zeit miteinander verbracht, deshalb verbrachte ich in den nächsten paar Tagen Stunden an seinem Bett. Ich sprach nicht mehr mit ihm, ich war einfach nur da und ließ die Erinnerungen aufleben.

"Hi Chad", sagte ich, als ich zum letzten Mal zu Besuch kam und stellte meinen Kaffee auf seinen Nachttisch.

Ich setzte mich auf seine Bettkante und schaute ihn mir noch einmal ganz genau an. Sein Gesicht, das so hübsch gewesen war, und jetzt so ohne Feuer dalag. Seine blonden Wimpern, die ruhig auf seinen Wangen lagen, seine Wangenknochen, die früher vor seinem sturen Temperament gewarnt hatten, seine gerade Nase, in die jetzt die Schläuche der Beatmungsmaschine führten, so dass seine einst durchtrainierte Brust sich rhythmisch hob und senkte. Sein stures Kinn, auf dem ein paar Bartstoppeln standen, die der Pfleger übersehen hatte.

Er würde nie wieder aufwachen. Dieser Gedanke, der früher in mir Panik ausgelöst hätte, brachte mir nun eine unglaubliche Ruhe und Erleichterung, wie ich sie seit sechzehn Jahren nicht gekannt hatte. Er würde nicht aufwachen. Und ich würde mein Leben nicht mehr auf Standby leben und mich fragen, was er sagen würde, wenn er aufwachen würde. Ob er mich tadeln würde. Ob er eifersüchtig wäre. Ob er sich überhaupt wieder mit mir einlassen wollen würde.

Ich würde mir ein neues Leben aufbauen, und mich nicht fragen, ob ich zu ihm zurückgehen würde, wenn er aufwachen würde. Ob ich mein neues Leben hinschmeißen und zu dem Mann zurückgehen würde, den ich vor so langer Zeit geliebt hatte.

Denn er würde nicht aufwachen. Dessen war ich mir jetzt sicher.

Ich drückte ihm einen letzten Kuss auf die Lippen. Dann trat ich vom Bett zurück und zog den Stecker der Beatmungsmaschine. Das röchelnde Pumpen verstummte schlagartig und zum ersten Mal war es still in dem Krankenhauszimmer. Seine Brust hörte auf sich zu heben und zu senken, sein Herz hörte auf zu schlagen. Ich streichelte seine Wange und küsste ihn zum Abschied noch ein letztes Mal, bevor ich mich abwand und das Krankenhaus verließ.

Dennis machte schläfrig die Tür auf, als ich ungeduldig klingelte. Ich hatte einige Stunden allein zum Nachdenken gebraucht, so dass es schon spät war.

"Hey, alles ok, Engel?", fragte er schläfrig, aber sichtlich erfreut mich zu sehen.

Als Antwort schmiss ich mich in seine Arme und knutschte ihn nieder. Nach einiger Zeit zog er mich von sich weg.

"Was ist passiert. Nicht, dass ich mich nicht freu, aber woher der plötzliche Sinneswandel?"

"Chad ist heute Nacht gestorben", keuchte ich atemlos.

Er nahm mich in die Arme.

"Es tut mir so leid."

"Es ist besser so, glaub mir. Er hätte es nicht anders gewollt. Er will, dass ich glücklich bin. Mit dir."

"Meinst du es ist ein Omen, dass er gerade jetzt gestorben ist? Meinst du, er gibt dich frei?"

"Wer weiß?", sagte ich unsicher und zupfte an seinem T-Shirt. "Aber Chad hat immer gesagt, dass er mich liebt und dass er sterben würde um mich glücklich zu sehen." Das war in einem sentimentalen Moment nach einem Unfall gewesen. Ich hatte geantwortet, dass ich ohne ihn nie glücklich sein könnte. Wie lange her das nun schien und wie jung wir waren.

Am nächsten morgen klopfte es an Dennis Tür. Schlaftrunken und, ehrlich gesagt, total durchgevögelt, schälte ich mich aus seiner warmen Umarmung und stolperte zum Eingang um aufzumachen, da Dennis auf mein wiederholtes pieksen nicht reagiert hatte.

"Ja?" fragte ich den Mann in grüner Uniform.

"Sind Sie Herr Hermes?"

"Ehm, ja", antwortete ich. Dennis erschien schlaftrunken in Boxershorts neben mir an der Tür. "Ist was passiert?", fragte er den Polizeibeamten.

"Sie leben in einer Wohnung, die auf ihren Namen und einen gewissen Chad Campell gemeldet ist?"

"Ehm, ja?", antwortete ich unsicher.

"Ihr Mitbewohner ist letzte Nacht verstorben." Dennis schaute mich fragend von der Seite an.

"Wirklich?"

"Sie stehen unter Mordverdacht und sind vorläufig festgenommen."

Lesemodus deaktivieren (?)