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Bund

Teil 5 - Lea

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Vorwort

Viel gäbe es zu erzählen zum Rest der Bundeswehrzeit, und zum Studium. Beim bisherigen Erzähltempo würde das nicht einen weiteren Teil ausmachen, sondern eher zehn. Die ersten vier Teile beleuchten schlaglichtartig den Beginn einer Freundschaft - vielleicht sollten wir es dabei belassen. Und darum kommt jetzt das Ende

 

Den hat uns getraut. Ich habe Lea im Studium kennengelernt. Sie ist der hübscheste Junge, den es gibt. Oh, das würde sie nicht gerne hören. Aber sie kennt mich, und sie weiß (fast) alles über mich und meine seltsame Gemengelage von gemischten Gefühlen. Als ich sie zum ersten Mal sah, damals in der Caféteria, da war es Liebe auf den ersten Blick. Was sie an so einem hässlichen Kerl wie mir fand, weiß ich beim besten Willen nicht. Mein Übergewicht ist noch ausgeprägter als beim Bund, und dazu ist mein Gesicht kantiger geworden. Wenn man sie fragt, sagt sie ganz ähnliche Dinge wie damals Den: Meine Augen kommen nicht schlecht weg, außerdem sei ich klug, und stark. Das hatte Den damals nicht hervorgehoben. Vielleicht ist das für eine Frau wichtiger als für einen jungen Mann. Du meine Güte: starke Männer laufen zu Hauf auf dieser Welt herum, und ein paar davon sind durchaus hübscher als ich. Aber mir soll's recht sein.

„Weißt du auch genau, was du tust?“

Ich nahm Den diese Frage nicht übel. Er musste im Ehevorbereitungsgespräch alles offen und unverblümt ansprechen, schon Lea zuliebe. Oft waren diese Gespräche zu dritt, also das Paar und der Priester. Den hatte sich gewünscht, uns einzeln zu sprechen. Er sagte, er könne - trotz unserer Versicherungen - nicht wirklich einschätzen, wie weit die Offenheit zwischen Lea und mir ginge, und er wolle mich zwischennehmen ohne Blatt vor dem Mund. „Das hat nichts mit euch zu tun, mehr mit mir. Und wenn du mir dreimal sagst, ich solle vor Lea ganz offen sein: ich würde vermutlich doch unwillkürlich etwas zurückhaltender sein als wenn wir uns zu zweit sprechen,“ hatte er gesagt.

Den, ich denke, ich kann sagen, ich weiß, was ich tue. Aber sprich ruhig aus: Was könnte dich beunruhigen?“

„Bist du schwul?“

„Ja, Den, und dir habe ich zu danken, dass ich kein Problem damit habe, mir das einzugestehen. Ich will gar nicht erst versuchen, mich als ‚bi‘ herauszureden. Du weißt, ab und zu gefällt mir ein Mädel, und damit meine ich nicht nur so vom Aussehen, sondern: sie spricht mich sexuell an. Lea gehört definitiv in diese Klasse. Aber es ist halt soviel seltener als bei Jungs. Sehr viel seltener... Man würde einen Hetero, der es auch mal mit Jungen macht, auch nicht ‚bi‘ nennen. Ich denke, es ist ehrlicher, wenn ich mich schwul nenne. Ein Schwuler, der eine Frau heiratet.“

„Das sagst du ziemlich locker. Ist das fair, Lea gegenüber?“

„Da musst du schon Lea fragen. Ich meine, du weißt ja, wir leben nun schon ein paar Jahre zusammen. Sie weiß, was sie von mir zu erwarten hat. Ich glaube, du willst nicht wirklich wissen, wie unser Sex läuft...“

„Nee, das ist Euer Ding. Es muss wohl für Euch ganz o.k. so sein.“

„Genau. Und wenn sie sich dann nach reiflicher Überlegung für mich entscheidet, soll ich ihr dann sagen: ‚Lea, das kommt nicht in Frage, das kann ich dir nicht zumuten?‘ Soll ich ihr die Entscheidung abnehmen?“

„Sollst du natürlich nicht. Und du hast recht: ich werde sie fragen. Aber wenn dir in aller Regel Jungs soviel besser gefallen als Mädels, warum entscheidest du dich ausgerechnet für eine junge Frau als Partner fürs Leben?“

„Weil ich dies für den leichteren Weg halte, mit den Konventionen dieser Gesellschaft klar zu kommen.“

Ha, ich hatte es geschafft: Den fiel der Unterkiefer runter. Aber nur für einen kurzen Augenblick, dann lachte er und knuffte mich in die Seite:

„Komm schon, sei mal ausnahmsweise ernst.“

„Also gut. Aber nur, weil du es bist. Was soll ich sagen? Für mich ist das Wichtigste, dass es kein Abenteuer ist, auch nicht ein ‚Versuchen wir es mal, bis zum ersten großen Streit,‘ keine Lebensabschnittspartnerschaft, sondern eine echte Lebenspartnerschaft. Ich war dabei, als meine Großeltern Goldene Hochzeit feierten. Das ist für mich was ganz Großes: 50 Jahre und mehr zusammenbleiben. Wenn man jemandem sagen kann: ‚Ich will mit dir mein ganzes Leben zusammenbleiben,‘ dann kann es wirklich Vertrauen geben. Klar, gute Freunde, denen man schon mal sein Herz ausschütten kann, das gibt es auch so, und das ist prima. Aber zu einem Menschen möchte ich sagen können: Egal, was passiert, wir bleiben zusammen. Wenn du Alzheimer bekommst: ich bin für dich da. Wenn ich inkontinent werde: Du hältst es mit mir aus. Mein Gott, ich bin jetzt ein bisschen weit vorangegangen. Man muss ja gar nicht mal ans hohe Alter denken. Was ist, wenn ich arbeitslos werde und darüber verbittere? So dass man mich fast nicht wiedererkennt? Wird mein Partner zu mir stehen? Man kann auch schon vorher harte Phasen durchmachen.“

„O.k., das klingt gut, das klingt wirklich saugut. Vielleicht sollte ich dich als Hilfssheriff einstellen, bei anderen Ehevorbereitungsgesprächen. Das ist genau das, was ich den Paaren immer klarmachen will: den Unterschied zwischen einer Beziehung und einer Ehe. Ich will ja keinem reinreden, mit wem er wie und aus welchen Motiven wie lange zusammenlebt. Doch wenn sie dann kommen und heiraten wollen, dann frage ich sie schon, warum sie denn ausgerechnet heiraten wollen. Es soll schließlich nicht nur für die Show sein. Viele machen sich nicht klar, was das heißt: ‚bis dass der Tod euch scheidet.‘“

„Aber wollen denn nicht alle Paare ‚für immer und ewig‘ zusammenbleiben?“

„Klar, wenn du nachfragst... Das macht schon einen Unterschied, ob einer das dauerhafte Beisammensein so in den Mittelpunkt stellt wie du, oder erst mal eine halbe Stunde lang die Vorzüge des Partners schildert, wie gut er aussieht, wie gut er kochen kann, oder was auch immer. Und wenn man dann fragt: ‚Für wie lange habt ihr euch das denn vorgestellt?‘ heißt es: ‚Klar doch, für immer. Jetzt ist es toll, und das will ich immer haben.‘ Das ist aber nicht genug für eine lebenslange Partnerschaft. Denn es wird nicht immer toll sein. ... O.k., du suchst also eine Beziehung fürs Leben. Aber was hat das mit der Frage zu tun, ob du mit einem Mann oder einer Frau zusammen lebst?“

„Nichts. Ich finde es genauso konsequent, wenn zwei Männer diese Treue leben. Geschieht ja auch gelegentlich. Aber das ist Statistik. Mich interessiert die Statistik nicht. Mich interessiert der Einzelfall. Mein Einzelfall. Und wenn ich jemandem begegne, den ich mag, mit dem ich könnte, und wo ich mir sicher sein kann, dass es mit der lebenslangen Partnerschaft klappt...“

„Und das war eben bei Lea der Fall?“

„Genau. Es heißt, man kann die Zukunft nicht wissen. Aber das stimmt nicht. Ich weiß sie. Wir bleiben zusammen. ... Versteh mich bitte nicht falsch: Es hat keinen Zweck, eine Partnerschaft auf dem Papier aufrechtzuerhalten, die in Wirklichkeit tot ist. Ich bin der Letzte, der unglücklich Verheirateten die Trennung verwehren wollte. Das muss schon jeder selber wissen. Aber bei mir und Lea wird das nicht eintreten. Wir sind fest entschlossen, ein Leben lang zusammenzubleiben, und wir werden es auch. ... Es ist schade, dass es so oft in Homo-Ehen nicht klappt. Aber es klappt ja auch immer öfter in Hetero-Ehen nicht mehr. Und im Grunde geht mich das nichts an. Mich interessiert meine Ehe. Und wenn ich einen hübschen Jungen getroffen hätte, bei dem ich dasselbe gute Gefühl gehabt hätte, dann würde dir jetzt was entgehen...“

„Was denn?“

„Na, du könntest uns nicht trauen, denn das macht dein Verein ja nicht mit.“

„Doch, gibt es schon. Nennt sich nicht Ehe, aber einen kirchlichen Segen hätte ich euch schon geben können. Na ja, man sollte das nicht gerade beim Bischof beantragen... obwohl: bei meinem wäre ich mir gar nicht sicher, wie er sich dazu stellen würde. Aber sowieso selbst schuld, wer mit jeder offenen Frage nach Rom rennt. Kirche ist die Gemeinschaft der Gläubigen. Der Papst ist einer davon. Und wenn ich euch einen kirchlichen Segen gegeben hätte, dann wäre das schon o.k. gewesen. Auch ohne Papst.“

Ich kannte seinen Standpunkt, und wenn es Priester wie Den nicht gäbe, stünde ich der katholischen Kirche vermutlich viel reservierter gegenüber.

„Aber das muss ich dich doch noch fragen, Helmut: Du wirst einen Teil deiner Sexualität nicht ausleben.“

„Was meinst du damit?“

„Nun, vielleicht würdest du es lieber mit Jungs machen.“

„Woher soll ich das wissen? Ich habe es ja noch nie mit einem Jungen gemacht.“

„Und du willst es auch nicht wissen?“

„Nee, wirklich nicht. Ich will treu sein. Für wen ich mich auch immer entscheide: dann fällt eben irgendwas hinten runter. Stell es dir umgekehrt vor: Ich würde einen Mann heiraten. Und immer irgendwo im Hinterkopf haben: ‚Vielleicht wäre es mit einer Frau doch schöner.‘ Das ist ja Quatsch. Da kann sich auch jeder Hetero das Leben zur Hölle machen, weil er eine Dünne hat, und sich fragt, wie's mit einer Dicken wäre. Vielleicht steht er definitiv auf Blondinen ... aber das Leben ist nicht so: die Frau, in die er sich hoffnungslos verliebt, ist eben nicht blond. Albernes Beispiel, aber du weißt schon, was ich meine. ... Ach Mann, das habe ich schon lange gecheckt: Man kann nicht alles ausleben. Da gibt es noch viel mehr...“

„Was denn?“

„Na, zum Beispiel ... Priester durchkitzeln.“

„Untersteh dich!“, fuhr Den mich scherzhaft an, machte aber nicht einmal eine Andeutung von Abwehrbewegung. Diesmal war es nicht Billigung, wie damals in der Sandgrube. Er wusste einfach: ich würde es nicht tun.

„Sag ich ja, man kann nicht alles ausleben. Seit du geweiht bist...“

Wir dachten beide grinsend an frühere Zeiten. Dann wurde ich wieder ernst:

„oder SM.“

„Versteh schon. Geht mir ja nicht anders. Und irgendwie ist es eigentlich immer so, egal ob du es dir eingestehst oder nicht: Jede Entscheidung für eine Sache ist eine Entscheidung gegen eine andere. You can't have the cake and eat it. Der eine begreift es selbst, den anderen stößt das Leben drauf.“

Wieder mal was gelernt. Ich hielt es für einen heroischen Entschluss meinerseits (na ja, zumindest wenn ich mich mal wieder vor mir selbst ins rechte Licht stellen wollte), und dabei war es nur bessere Einsicht. So wie wenn man endlich den Logarithmus kapiert. Das war überhaupt so Den's Standpunkt: Es gab eigentlich keine Moral. Nur Einsicht.

Nach einer kurzen, nachdenklichen Pause begann Den wieder, diesmal ganz vorsichtig:

„Du weißt, ich muss danach fragen...“

„Ob wir Kinder wollen?“

„Ja.“

Den wusste, dass wir uns darüber Sorgen machten. Was er noch nicht wusste: seit unserem letzten Arztbesuch war es traurige Gewissheit. Wir würden nie Kinder haben. Wir waren beide sehr traurig darüber. Ich erzählte Den davon. Den wusste, wieviel mir Kinder bedeutet hätten. Für mich ist das das Größte: ganz für einen anderen Menschen da sein, wie das nur für ein Kind geht. Denn das Kind ist auf dich angewiesen. Dein Partner ist ein erwachsener Mensch: klar tust du alles für ihn, aber du weißt, dass er auch mal alleine klar kommen kann. Aber das Kind braucht dich ganz. Den nahm mich in den Arm, und eine Weile sagten wir nichts.

„Und Adoption?“

„Nur allzu gern. Aber du weißt ja selbst, wie die Quoten sind: auf 20 kindersuchende Paare kommt ein zur Adoption freigegebenes Kind.“

Den sprach auch mit Lea unter vier Augen. Ich will gar nicht wissen, worüber sie sprachen, und Lea hat mich auch nie nach meinem Gespräch mit Den gefragt. Vertrauen ist Vertrauen.

Natürlich war Daniel zur Hochzeit eingeladen, und da er sich zum bekennenden (und erkennbaren) Schwulen entwickelt hat, dazu seine eigene Haarfarbe weitestgehend aufgegeben hat zugunsten stets wechselnder leuchtender Neon-Kombinationen, war er der bunte Vogel. Ohne ihn wäre das Fest bei weitem nicht so lustig gewesen. Wir sehen uns so gut wie nie, aber das liegt an der Entfernung. Gut, dass es e-mail gibt. Für Den und mich hatte Daniel beim Bund die Gegenfolie geboten: er hat uns gezeigt, was wir nicht waren. Er war kein abschreckendes Beispiel, nein, seine Lebenseinstellung ist konsequent und auf ihre Weise stimmig. Aber wir waren eben anders.

A propos bekennender Schwuler: Ich hatte kein coming out. Jedenfalls keines vor einer größeren Öffentlichkeit. Meine Eltern wissen nicht Bescheid, und werden es wohl auch nie erfahren. Sie gehen auf die siebzig zu, sind konservativ wie eh und je, und lieben mich auf ihre distanzierte Art... in ihrer Denkwelt hat das keinen Platz. Das mag an der Generation liegen. Ich liebe sie herzlich, und will ihnen nicht unnötig Kummer bereiten. Ja, wenn ich einen Mann geheiratet hätte, dann hätten sie es zwangsläufig erfahren müssen. Aber so... Ansonsten wissen eigentlich eine ganze Reihe von Leuten Bescheid, vor allem solche, die mich lange von früher kennen. Vielleicht denkt der eine oder andere, das „hat sich gegeben“. Soll mir egal sein. Ich habe Lea nie gefragt, was sie davon hält. Ich denke, wenn ich sie fragen würde, würde sie mich (mir zuliebe) zu einem coming out ermutigen ... und doch darunter leiden. Denn es ist schon komisch für eine junge Frau, mit einem bekennenden Schwulen verheiratet zu sein. Das möchte ich ihr nicht zumuten. Sie hat mir nie von sich aus geraten, dies öffentlich klarzustellen. Sie hat das Thema nie auch nur angeschnitten. Warum sollte ich sie also fragen? Mir ist es kein Bedürfnis. Und meiner Umwelt auch nicht. Das muss wohl mit dem Alter zu tun haben: Wenn uns auf der Schule auffiel, dass jemand hinkt, haben wir ihn geradeheraus gefragt, was er denn hat. Wenn uns heute jemand vorgestellt wird, und man bemerkt etwas, dann spricht man das nicht an. Wenn es ihm selbst ein Interesse ist, kann er es ja erzählen. Das ist keine falsche Scham oder mangelnde Anteilnahme: Das ist Diskretion. Und das ist gut so.

Was ist schöner, mit einem Jungen zusammenzusein, oder mit einem Mädchen? Also, wenn es um Sex geht: da kann ich es nicht sagen: ich habe ja nie Sex mit einem Jungen gehabt, und das werde ich nun auch nicht mehr. Wenn es hingegen um dieses Knistern in der Luft geht, dieses Gefühl von Elektrizität, wenn sich zwei Menschen begegnen (oh je, wie sagt man das, ohne kitschig zu werden), dann ... ist beides unendlich schön. Das lebt von Ähnlichkeiten und Unterschieden. Menschen sind so verschieden, und doch manchmal auch so ähnlich... aber das hatten wir schon. Es ist wunderschön, beim anderen Vorlieben oder Eigenschaften zu entdecken, die man an sich selber kennt. Und es ist unglaublich spannend, beim anderen Züge, Kanten und Ecken zu entdecken, die so völlig anders sind als bei einem selbst. Nun, Ähnlichkeiten und Unterschiede gibt es in jeder Beziehung, egal ob mit einem Jungen oder einem Mädchen. Aber die Gewichte sind anders verteilt. Und das eine kann ich sagen: Frauen sind anders. Und meine Lea ganz besonders. Da schimpft sie eine halbe Stunde lang über einen Geschäftspartner, bei mir kocht schon die Wut auf diesen unmöglichen Kerl, der meiner Lea das Leben so schwer macht, und ich bin kurz davor, zur Tür hinauszustürmen und ihm zu zeigen, was eine Harke ist. Dann hat sie es gesagt und gut ist. „Schön, dass wir mal darüber geredet haben,“ möchte man sagen, und wenn ich mich dann wenigstens noch verbal an ihrem Gegner auslasse, nimmt sie ihn noch in Schutz. Oder sie fragt mich im Jeansladen, welche Jeans es denn sein soll. Na, die, die ihr am besten gefällt, ist doch klar, oder? Falsche Antwort. Es geht ja um meine Meinung. Aber bitte so, dass sie am Ende doch die kaufen kann, die ihr am besten gefällt. Zuerst hat mich das total irritiert. Inzwischen weiß ich zu schätzen, dass sie mir ihren Ärger erzählt, oder mich um meine (irrelevante) Meinung zu ihren Jeans fragt.

Ich hatte ja schon immer den Verdacht, Den würde ein guter Priester werden. Und was soll ich sagen: ich hatte recht. Er ist zur Zeit Kaplan an einer städtischen Gemeinde, und er ist bekannt für seine tolle Jugendarbeit. Die Gruppen sind offen für alle, und es kommen nicht nur die Jugendlichen aus kirchlichem Milieu... fast jede Gruppe ist vertreten, darunter einige, denen ich mein Handy nicht leihen würde. Na, vielleicht habe ich doch ein paar Vorurteile, aber fast denke ich, mit ein paar seiner Schützlinge könnte er eine Aktion starten „Klauen für den Frieden“, die wären begeistert dabei. Und natürlich gibt es auch eine schwule Jugendgruppe. So heißt sie jedenfalls, obwohl inzwischen mehr Mädchen dabei sind als Jungs. Aber sie finden den Namen gut und wollen dabei bleiben. Sie findet Zulauf auch aus dem ländlichen Umfeld, denn da sind die Kirchengemeinden wohl noch zu konservativ, um solche Gruppen zu unterstützen. Das soll nicht heißen, dass Den in seiner eigenen Gemeinde keinen Ärger deswegen hätte. Aber seine Jugendlichen stehen voll hinter ihm: Als der Gemeinderat der schwulen Jugendgruppe den Gruppenraum nehmen wollte, traten die Messdiener in Streik. Da war das Thema schnell vom Tisch.

Den ist glücklich. Er hat den Beruf gefunden, den er gesucht hat. Er geht voll darin auf. Wir laden ihn oft zu uns ein, und wenn wir über alte Zeiten reden, könnte man uns für einen Seniorenkreis halten. Aber Gott sei Dank reden wir nicht nur über alte Zeiten. Sonst würde ich noch sentimental. Jedesmal reden wir auch über neue Projekte: Den hat stets welche. Demnächst wird er mit seinen Jugendlichen ein Theaterstück aufführen, über „Liebe in der Adoleszenz“ (den Titel hatten die Jugendlichen gewählt), und er selbst wird dabei einen schwulen Studenten spielen. Ich bin absolut unbesorgt: das gibt Ärger. Aber nicht mehr als üblich. Den vergisst nie, das Gespräch auch auf Lea's und meine beruflichen Projekte zu bringen. Lea hat Anglistik und Romanistik studiert und hat mit mehreren Kommilitonen gerade eine kleine Firma gegründet, die sich international als Mittler zwischen den Kulturen versteht: wenn ein Japaner nicht so recht einzuschätzen weiß, wie er sich bei einem Besuch eines italienischen Geschäftsfreund am besten zu verhalten hat, weiß Lea Rat. Das meiste läuft über das Internet, und es ist erstaunlich, was Lea für Kompetenzen auf diesem Gebiet entwickelt hat. Die Internetpräsenz der schwulen Jugendgruppe geht auf ihr Konto. Ach ja, und ich habe Philosophie und Germanistik studiert, und werde demnächst arbeitslos. Zur Zeit habe ich noch einen Lehrauftrag als Assistent bei dem Professor, bei dem ich promoviert habe, aber in vier Monaten ist das vorbei. Wenn kein Wunder geschieht, gibt es keine Aussicht auf eine neue Stelle. Vermutlich steige ich dann bei Lea ein. Sie hat zur Zeit eine derart gute Auftragslage, dass sie meine Mitarbeit gebrauchen könnte. Und so habe ich Zeit, vielleicht doch noch eine neue Stelle als Assistent zu finden. Oder als Lehrer, wie Herr Schwarz. Es tut uns gut, unsere Projekte und Probleme mit Den zu besprechen: Er ist ein sehr guter Zuhörer. Was mich amüsiert: er geht dabei total anders mit Lea um als mit mir. Woher er das auch immer raus hat: er weiß, dass er mir meistens recht konkret raten soll, und bei Lea soll er eher mitfühlen.

Wenn wir uns nach so einem Abend verabschieden, tja dann werde ich doch sentimental. Ich kann dann nur mühsam meine Tränen zurückhalten. Dabei wird kaum ein Monat vergehen bis zum nächsten Treffen. Aber ich hab meinen Den doch so lieb. Ich umarme ihn heftig, dass ihm wohl die Luft wegbleiben muss, und gebe ihm einen dicken Kuss auf die Stirn. Und er, der Schalk, revanchiert sich mit einem Kreuzzeichen, das er mir mit seinem Daumen auf die Stirn malt. Es ist ein Segen und es ist wie ein Kuss. Wie jeder Segen. Wie jeder Kuss.

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