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Philipp

Teil 3

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»Wer fehlt denn jetzt noch?«, fragte Ines.

»Nur Robert und Philipp, sonst sind alle da, die zugesagt haben.«, meinte Karin.

»Robert? Was für ein Robert?«, wollte Martina wissen. Hmm, Robert kannte ich auch mehrere.

»Der Ex vom Michi«, antwortete Karin. »Weißt eh, als der Michi aufs Schiff gegangen ist, haben die beiden sich getrennt, weil Robert nicht mit konnte. Und Philipp ist entschuldigt, der ist im Spital.«

Ah, den Robert kannte ich nicht. Ich wusste zwar, dass Michi nen Freund hatte, bevor er den Job als Steward auf dem Kreuzfahrtschiff angenommen hatte, aber kennengelernt hatte ich ihn nie. Das hatte sich irgendwie nie ergeben.

»Ach der, ok. Sag Stefan, was hat der Philipp denn?«, kam von Martina die nächste Frage.

»Kleiner Bikeunfall, nix Wildes. Gipsbein und ein paar Schürfwunden. Morgen kommt er schon wieder raus, wird aber wohl noch ein paar Tage zu Hause bleiben müssen, bis er sich an die Krücken gewöhnt hat.«

Wir saßen mit 14 Leuten im Centi, um Karins und Peters fünften Hochzeitstag zu feiern. Karin war eine Arbeitskollegin von mir und Peter arbeitete für einen Kunden von uns. So hatten die beiden sich kennengelernt und da beide auch Motorrad fuhren, hatten sich nach ein paar gemeinsamen Ausflügen aus der Geschäftsbeziehung andere Gefühle entwickelt. Als ich nach Wien gekommen war, waren die beiden schon ein Paar und über das gemeinsame Hobby Motorrad war ich dann auch irgendwann in den Freundeskreis der beiden aufgenommen worden. Auch Philipp war integriert worden, wobei er mit Abstand der Jüngste in dieser Clique war und altersmäßig eher zu den Kindern von Ines paßte. Die meisten der Anwesenden kannte ich. Ein etwas mausgraues Mädel, das mit französischem Akzent redete, wohl Isabelle hieß und eine Arbeitskollegin von Peter war, und halt den Robert, der sich verspätete, kannte ich bisher noch nicht.

Die Kellnerin kam nun schon zum zweiten Mal, um die Bestellung aufzunehmen, aber Peter meinte, dass wir mit dem Essen auf Robert warten sollten und orderte nochmal eine Runde Getränke. Ich war gerade dabei Karin zu erzählen, dass unser Chef mir wegen Philipps Unfall eine Woche freigegeben hatte, als ich aus den Augenwinkeln bemerkte, wie sich jemand unserem Tisch näherte.

,Lecker', dachte ich und war plötzlich ein wenig abgelenkt. Mitte bis Ende zwanzig, ungefähr so groß wie ich, dunkle Haare, nicht schlank, aber auch nicht fett und als er näher kam, um Karin und Peter zu begrüssen, sah ich seine rehbraunen Augen und ein nettes Lächeln.

»Hallo ihr Zwei«, meinte der Neuankömmling mit einer sanften, wohlklingenden Stimme und umarmte Karin und Peter, »ich hab mich im Lokal geirrt. Ich hab nicht mehr genau gewusst, ob Centi 2 oder 3 und war zuerst im 3er. Sorry, wenn Ihr auf mich warten musstet.«

Das konnte schonmal passieren. Das Centimeter ist eine Gruppe von 6 Lokalen mit österreichischer Küche, die alle Centimeter hießen, nur halt Centimeter I bis VI. Und wenn man da nicht aufpasste, konnte es leicht vorkommen, dass einer im Centi I und der andere im Centi IV saß und auf den jeweils anderen wartete.

»Schon ok, Robert, Du hast uns ja jetzt gefunden«, meine Peter und klopfte auf den Tisch. »Dann können wir ja jetzt bestellen. Hallo, seid mal ruhig, was haltet Ihr von zwei Fuhren Mist? Da ist für jeden was dabei und für 15 Leute sollte das gerade so hinkommen?«

Ich drehte mich zu Isabelle um und erklärte ihr, die zum ersten Mal in einem Centi war: »Fuhre Mist ist was für 6-7 Leute. Da kommt eine Scheibtruhe auf den Tisch, gefüllt mit Pommes, Schnitzel, Kotelett, Bratwurst und diversen anderen Sachen.«

»Scheib Tru'e?« schaute sie mich fragend an.

»Schubkarre. Wheelbarrow, ähm, brouette heißt das bei Euch wohl.«

»Ah, ?a va bien«, lachte sie. »Dann bin isch mal gespannt.«

Wenig später war die Gruppenmampferei in vollem Gange, ich unterhielt mich mit Ines einmal wieder über die Kinder, Erziehungstipps austauschen. Ihre Zwillinge waren ein Jahr jünger als Philipp und sie hatte immer einen guten Rat, wenn ich einmal wieder in meiner Ersatzvaterrolle überfordert war.

»So wie ich Dich kenne, bist Du ausgezuckt und hast den Kleinen erst einmal angebrüllt, oder?«

»Ja«, musste ich zugeben, »das hab ich. Es ist aber auch nicht ok, dass er sich einfach mein Motorrad schnappt. Hausarrest hab ich ihm auch gegeben, bloß über die Dauer hab ich noch nichts gesagt.«

»Mach das mal nicht zu lang. Er macht sich sicher selber Vorwürfe und ist mit nem Gipsbein genug gestraft. Moped fahren ist nicht, Sport fällt auch ne Weile aus und fortgehen wird er mit nem Gips auch weder können noch wollen.«

»Da hast Du Recht«, überlegte ich leicht abgelenkt. Links neben Ines, mir schräg gegenüber, saß Robert und unterhielt sich mit Karin und Peter. Mann, der gefiel mir.

»Lass ihn noch zwei, drei Tage zu Hause und schick ihn Mittwoch oder Donnerstag wieder in die Schule«, schlug Ines vor. »Das Schuljahr dauert ja nur noch ein paar Wochen und Du kennst das, gegen Ende versuchen viele Lehrer noch so schnell wie möglich den Rest des Lehrplans abzuarbeiten. Da ists nicht so gut, wenn er lange fehlt.«

»Und ich könnt dann früher wieder ins Büro. Keine schlechte Idee. Was machen Deine Mädels?« fragte ich, immer wieder Robert anstarrend.

»Hör auf, Mädels mit 15 sind schlimm. Kenn ich aus eigener Erfahrung, ich war damals auch wild und hab mich gegen meine Eltern aufgelehnt. Und ich bin mit zwei solcher Biester geschlagen«, lachte Ines. »Die sind schwerer zu hüten, als ein Sack Flöhe. Ständig fällt denen was Neues ein und zur Zeit sind beide in denselben Jungen verliebt. Kann nur hoffen, dass sich das bald legt, sonst verkrachen die sich noch ernsthaft.«

»Zwillinge. Na, zum Glück hab ich nur den einen, aber der reicht mir schon manchmal.«

»Ah geh, Deiner ist doch pflegeleicht. Da machst Du was richtig, statt den Onkel oder Vater rauszukehren, eher ein verständnisvoller großer Bruder zu sein. Der Fips schmeißt Dir doch, ohne groß zu mucken, Deinen Haushalt, während meine beiden schon raunzen, wenn sie nur das Geschirr wegräumen oder ihr Zimmer aufräumen sollen. Stefan, hörst Du mir überhaupt zu?«

Erwischt! Ja, ich hörte ihr zu, aber nur mit einem Ohr. Mein Hauptaugenmerk war Robert, den ich immer sympathischer fand. Und irgendwie hatte ich das Gefühl, er würde auch ab und zu zu mir hinüberschauen und mich mit seinen braunen Augen anflirten.

»Klar Ines, ich soll mein Zimmer aufräumen.«

»Stefan!« kam es entsetzt von Ines und Robert fing leise an zu lachen. Er hatte wohl auch ein wenig unseres Gesprächs mitbekommen.

»Hallo, ich bin der Robert. Du scheinst ja mit Deinen Gedanken ganz woanders zu sein.«

»Naja,« stammelte ich, »mir geht ne Menge durch den Kopf zur Zeit.«

»Und ich hatte gehofft, ich wäre der Grund,« flirtete er los.

»Männer!« sagte Ines und schüttelte den Kopf.

»Also ein wenig abgelenkt hast Du mich schon«, lächelte ich ihn an.

»Ach so? Gut, das wollte ich auch. Ich find Dich irgendwie nett...«, gestand er mir.

»Geht mir auch so.«

Wir redeten dann noch eine Weile über alles mögliche, bis sich die Gesellschaft dann kurz vor Mitternacht langsam auflöste. Lange sitzenbleiben wollte keiner, schließlich musste jeder am Morgen wieder arbeiten. Ich brauchte zwar nicht ins Büro, doch hatte ich andere Dinge zu erledigen und wollte deshalb auch bald ins Bett.

Ganz genau konnte ich mich an meinen Traum nicht mehr erinnern, aber Robert kam darin vor, ein Picknick auf einer Waldwiese... und aufregend musste er auch gewesen sein, der Traum, schließlich hatte ich ein gehöriges Zelt unter der Bettdecke aufgebaut, als das Telefon mich wieder einmal mit penetrantem Klingeln weckte.

»Guten Morgähn«, gähnte ich in den Apparat.

»Guten Morgen Stefan, hab ich Dich geweckt?« tönte Hannes Stimme fröhlich aus dem Hörer.

»Nein, nur aus einem gei... ähm schönen Traum gerissen.«, brummte ich, noch nicht ganz wach. »Was kann ich für Dich tun?«

»Sorry, war Absicht. Später ging leider nicht, muss doch in die Schule. Kann ich mitkommen, wenn Du Fips heute abholst?«

»Von mir aus. Soll ich Dich wo abholen?«

Wir tauschten Adressen aus, wobei sich herausstellte, dass Hannes unter der Woche nur ein paar Straßen weiter wohnte und er nach der Schule hierher kommen würde. Dann würden wir gemeinsam von hier aus losfahren.

Nachdem ich nun schonmal wach war, warf ich die Kaffeemaschine an, steckte mir die Zahnbürste in den Mund und kletterte in die Duschkabine. Jahrelanges Training und diverse Missgriffe mit Duschgel oder Rasierschaum im Mund hatten mich davon überzeugt, zuerst die Zahnpasta auf die Bürste, dann die Bürste in den Mund zu tun und dann erst unter die Dusche zu gehen, wenn ich morgens etwas länger im Bett bleiben und bei den üblichen morgendlichen Verrichtungen Zeit sparen wollte. Während die linke Hand beschäftigt war, die Zeltstange wieder abzubauen, bürstete ich mir mit der rechten die Zähne. Ausspucken, umspülen, einseifen, abduschen, abtrocknen, fertig. Rasieren fiel aus, ich brauchte ja nicht ins Büro. In der Zwischenzeit war der Kaffee durch den Filter gelaufen. Zwischen der ersten und zweiten Tasse Kaffee zog ich mich an, während ich an einem Croissant mümmelte. Dann machte ich mich auf den Weg, zuerst zur Werkstatt.

»Du hast Glück im Unglück.«, meinte der Serviceleiter. »Der Rahmen hat, soweit wir das bis jetzt beurteilen können, nichts abbekommen. Schaut schlimmer aus, als es ist. Ein Spiegel ist hin, ein Blinker abgerissen, der Tank hat eine Delle, ist aber dicht. Die Sturzbügel sind angeschrammt und verbogen, aber die sind ja dafür da, dass den Zylindern nichts passiert.«

»Was wird das ungefähr kosten?«

»Auch da hast Du Glück. Blinker und Spiegel haben wir gebraucht da. Die sind ja über Jahre hinweg an den verschiedensten Modellen verbaut worden und wir haben da hinten einen Totalschaden von der Polizei liegen. War zwar ein wesentlich neueres Bike aus der K-Reihe, aber die Teile könnten wir verwenden. Das spart schonmal ein paar Euro. Es sei denn, Du bestehst auf Neuteilen? Dann müßten wir fragen, ob im Berliner Werk noch was zu kriegen ist, und das ist bei einem so alten Bike immer Glückssache. Die Sturzbügel austauschen, da gibt's noch nen Lieferanten, der die hat, Tank ausbeulen und neu lackieren... Schätze, so an die 6 bis 700 Euro mit Arbeitszeit und Märchensteuer.«

Ich musste schlucken, mit soviel hatte ich dann doch nicht gerechnet. »Wenn ihr das billiger hinbekommt, wär ich Euch dankbar.«

»Wir werden sehn, ob wir was machen können. Das Teure an der Sache ist das Lackieren, Dein Motorrad ist ja zweifarbig im rotmetallic-schwarzen Sonderlack der 70er Jahre. Wir müssen den Tank abschleifen, dann ein paar Stäbe anschweißen, um die Beule rauszuziehen, dann die wieder abnehmen, schwarz grundieren und schwarz überlackieren. Dann müssen die Lackierer schauen, dass sie den roten Farbton hinkriegen. Den Original-Lack gibt's schon ewig nicht mehr, und der Tank soll ja farblich zum Rest der Maschine passen, also muss der neue Lack alt und verbleicht ausschauen. Zum Schluss die goldenen Zierumrandungen und dann das ganze klar versiegeln. Da haben die einiges zu tun und das dauert entsprechend. Ich schätze, etwa in einer Woche könnt sie fertig sein.«

»Dann macht das bitte«, meinte ich und unterschrieb den Werkstattauftrag.

»Gut, übrigens, den Vorderreifen solltest Du bei Gelegenheit mal austauschen. Der ist zwar noch für ein paar hundert Kilometer gut, aber die Saison überlebt der nicht. Dann bist auf dem erlaubten Mindestprofil. Im August ist das Pickerl fällig, wenn Du bis dahin nicht mehr als, naja, sagen wir mal 5-600 Kilometer fährst, könnten wir das dann bei der Jahresüberprüfung mitmachen. Oder sollen wir den Reifen jetzt schon wechseln? Die Pneus, die Du oben hast, haben wir zur Zeit in Aktion.«

»Also 500 Kilometer ist ne bessere Wochenendausfahrt, da wär ich in 2 oder 3 Wochen wieder hier. Lass den Reifen halt auch jetzt gleich wechseln.«

»Passt. Ich schick Dir wie immer ein Mail, wenn das Motorrad fertig ist, ok?«

»Ok, bis dann Christian.«

Nächster Stopp: BRG7, Philipps Schule.

Nachdem ich im Sekretariat die Unfallmeldung aus dem Krankenhaus abgegeben hatte und Philipp somit für ein paar Tage vom Unterricht befreit war, meinte die Sekretärin: »Übrigens, hat Philipp Ihnen gesagt, dass Professor Zeilberger mit Ihnen sprechen wollte? Wenn Sie ein wenig warten, können Sie gleich heute in seine Sprechstunde, die fängt ein paar Minuten nach der jetzigen Unterrichtsstunde an.«

»Wo ich schonmal da bin, kann ich das auch gleich machen. Kein Problem. Wo kann ich denn warten?«

»Setzen Sie sich da hinüber an den Tisch, wird nicht lange dauern. Möchten Sie einen Kaffee, während sie warten?«

»Also zu Kaffee sag ich nie nein. Schwarz bitte, direkt aus der Kanne. Weder Zucker, noch Milch. Danke schön.«

Kurz nachdem die Schulglocke geläutet hatte, ich blätterte in einem BMW-Prospekt, den ich aus der Werkstatt mitgenommen hatte und schlürft an meinem Kaffee, ging die Tür auf. Ich schaute auf und stutzte. Da stand Robert in der Tür.

»Hallo Stefan, was machst denn Du hier? Wir sind doch erst für morgen Abend verabredet...«

Noch bevor ich antworten konnte, kam ein Mädchen herein und fragte: »Herr 'Fessor, Sie haben doch Sprechstunde, kann ich Sie sprechen?«

Robert sagte: »Ja klar, komm mit.« Und dann zu mir: »Wenn Du es nicht eilig hast, dann warte ein paar Minuten, ich komm dann gleich wieder.«

»Kein Problem.«, antwortete ich und schaute mir weiter den Prospekt an. ,F650', dachte ich, ,das wär was für Fips, wenn er 18 wird und den Führerschein macht. Die kann man drosseln und heruntertypisieren, damit sie für Anfänger geeignet ist. Ausschaun tut sie wie eine Große und soll sich ganz gut fahren. Werd ihn bei Gelegenheit mal fragen müssen, ob er mit 18 lieber Auto oder Motorrad fahren will.'

Robert riss mich dann aus meinen Gedanken.

»Also, was treibt Dich her? Die Sehnsucht nach mir?«, scherzte er, um dann fortzufahren, »Ach Quatsch, Du konntest ja gar nicht wissen, dass ich hier bin. Darüber hatten wir ja noch gar nicht gesprochen.«

»Du hattest ja gestern mitbekommen, dass ich einen Neffen habe, der bei mir wohnt und einen Unfall hatte? Der geht hier zur Schule und ich hab die Unfallmeldung abgegeben. Ausserdem sagte mir die Sekretärin, dass einer seiner Lehrer mich sprechen wollte. Ein Herr Zeilberger, aber der ist hier noch nicht aufgetaucht. Kennst Du den? Was ist das für ein Typ?«

»Och, ich glaub, der könnte Dir gefallen. 28, durchschnittliche Figur, etwa 175 groß, dunkle Haare, braune Augen, unterrichtet Mathematik und Geschichte, soll ganz lieb sein. Und gesehen hab ich den heute auch schon.« Er grinste mich schelmisch an. »Beim Rasieren nämlich, gestatten: Zeilberger Robert mein Name.«

Ich muss wohl aus der Wäsche geschaut haben, wie eine Kuh wenns blitzt.

»Doch, doch, der Zeilberger bin ich. Willst meinen Führerschein sehen?«

Das war aber nicht mehr notwendig, weil sich von hinten die Sekretärin bemerkbar machte: »Herr Professor Zeilberger, da wartet wer auf Sie. Ah ich seh schon, Sie haben den Herrn schon gefunden. Der Herr ist der Erziehungsberechtigte vom Philipp aus der 6B.«

Zur Erklärung für die nicht-Österreicher: In Österreich werden die Klassen nicht, wie in Deutschland, von der Grundschule bis zum Abitur durchgezählt, sondern man fängt mit der Hauptschule/Gymnasium wieder bei 1 an. Die 6. Klasse im Gymnasium entspricht also der 10. Klasse nach deutscher Zählweise. Ausserdem gibt's in Österreich nur 12 Jahre bis zum Abitur, was hier Matura heißt. Lehrer in höheren Schulen werden mit Professor angeredet, es sei denn, sie haben im Studium einen Doktor-Titel erworben. Dann heißts nicht Herr Professor sondern Herr Doktor.

»Ja, der Philipp ist mein Neffe. Seine Eltern sind seit zwei Jahren in Kenia und meine Schwester wollte, dass Philipp in Europa zur Schule geht.« Man musste ja nicht unbedingt jedem die genauen Hintergründe ausbreiten, warum Fips bei mir lebte. Robert hätte das sicher verstanden, aber ich hatte keine Ahnung, wie gut die Ohren der Sekretärin waren und wie sie auf die Geschichte reagieren würde. »Was wolltest Du denn mit mir besprechen? Hat Fips was ausgefressen?«

»Nicht direkt ausgefressen. Seine Noten in Mathematik sind in letzter Zeit stark abgefallen und im Unterricht scheint er seit ein paar Monaten überhaupt nicht mehr aufmerksam zu sein. Wenn ich ihn zum Beispiel an die Tafel hole, weiß er nicht mehr, was wir vor wenigen Minuten noch gerechnet hatten. Darüber wollt ich sprechen. Weißt Du, den Stoff, den wir jetzt durcharbeiten, wird er bei der Matura in zwei Jahren brauchen.«

»Oh. Was kann ich da machen?«

»Red mal mit ihm, was mit ihm los ist. Dann vielleicht Nachhilfe. Jialan, eine Mitschülerin, ist sehr gut. Vielleicht kann die ihm helfen. Oder ein älterer Schüler aus der 7. oder 8. Klasse.«

»Ich werd mit ihm sprechen und ihn fragen, was er von Nachhilfe hält. Die nächste Zeit wird er eh nicht viel in der Freizeit machen können, mit seinem Gipsbein, da wär Nachhilfe vielleicht sogar ein Zeitvertreib. Jialan kenn ich, die Familie wohnt über uns und die beiden sind befreundet. Sollte kein Problem sein, sie zu bitten, ihm zu helfen.«

»Gut. Wär schade, wenn ein Durchhänger jetzt ihm später die Matura versaut. Was anderes. Sind wir beide immer noch »on« für morgen Abend?«

»Klar doch. Wo willst Du denn mit mir hin?«

»Kennst Du das »Tunnel« im 8. Bezirk? Da hats morgen Live Jazz.«

»Hört sich gut an. 20 Uhr hatten wir gesagt?«

»Ja. Von mir aus auch ein paar Minuten früher. Treffen wir uns dort?«

Die Schulglocke kündigte wieder einmal das Ende einer Stunde an und Robert musste sich verabschieden. »Ok, bis morgen dann. Tschau Robert.«

Ich machte mich auf den Weg nach Hause, und da der Heimweg am Supermarkt vorbeiführte, ging ich noch eben einkaufen, bevor ich mich wieder an Kalanja'neiu Teil 8 machte. Durch Philipps Unfall war ich ein wenig im Verzug und Nessi hatte schon nachgefragt, wann ich denn damit fertig sei. Nach dem Mittagessen – Käsesemmerl, ich kann nicht besonders gut kochen, weshalb ich das für mich alleine nie tue – tauchte dann Hannes auf und wir fuhren ins Spital.

Dort wartete Fips schon in der Eingangshalle auf uns und fiel Hannes gleich für einen langen Begrüßungskuss um den Hals.

»Hallo Schatz, hallo Stefan. Gut, dass ihr kommt. Ich bin schon entlassen worden, Stefan muss nur noch ein Formular unterschreiben, damit ihr mich mitnehmen könnt.«

»Scheißschwuchteln! Unter Adolf hättens Euch alle vergast!« keifte ein einarmiger, alter Mann in Pyjama und Bademantel aufgeregt von rechts.

»Brauchst ja nicht hinschaun, Opa!« grantelte Hannes zurück. »Dann kriegst auch keinen Herzkasper. Fass Dich an die eigene Nase. Blödmänner wurden auch weggesperrt.«

Der Mann schnappte hörbar nach Luft und fing an, sich noch weiter aufzuplustern, was dann eine Schwester auf den Plan rief: »Sie sollen sich doch nicht aufregen, Herr Karl, das ist nicht gut für Ihren Blutdruck. Ausserdem sagt man sowas doch nicht. Die beiden Jungs sind auch nur Menschen, die sich liebhaben. Kommen Sie, wir gehen wieder nach oben.«

Die Schwester warf uns entschuldigende Blicke zu und führte den immer noch vor sich hinfluchenden Alten in Richtung Aufzug.

Ich ging zur Anmeldung, unterschrieb, was zu unterschreiben war und packte dann die beiden Turteltauben ins Auto. Mit dem Gips war das gar nicht so einfach und es lief darauf hinaus, dass Philipp sich quer über die Rückbank legte und Hannes zu mir nach vorn musste, was den beiden zwar nicht so ganz recht war, aber da mussten sie durch.

Zuhause angekommen machten Hannes und ich dann die Wohnung krücken- und gipsbeinsicher. Ein Teppich wurde aufgerollt und beiseite gelegt, ein Kabel mit Tixo am Boden und an der Sockelleiste befestigt und die Schuhe in den Schuhschrank verfrachtet, damit Philipp nicht darüber fallen konnte.

Baden oder Duschen wurde kompliziert. Da der Gips ja nicht nass werden durfte, musste er in einen Müllbeutel verpackt werden, der dann mit Klebeband am Bein befestigt wurde. Philipp hatte da zu recht Angst um seine Beinhaare, die sich prompt im Klebeband verklebten und ausgerissen wurden, wenn man das Klebeband entfernte. Ausserdem dauerte das Baden, obwohl (oder vielleicht weil?) Hannes sich als freiwilliger Bademeister und Helfer meldete, Stunden.

Jialan schaute abends vorbei um Philipp die Hausaufgaben zu bringen und Hannes und sie halfen ihm dann auch dabei. Beide versprachen auch, mit ihm Mathe zu lernen.

Montag nachmittag und Dienstag übte Fips das Laufen mit Krücken und wir beide verbrachten einen großen Teil des Tages vorm PC, wenn wir nicht miteinander redeten.

»Du weißt ja, dass Mutti mir jeden Monat einen Brief schickt, wo dann auch 200 USDollar Taschengeld drinnen sind. Wenn Du mir sagst, wie hoch der Schaden an Deiner BMW ist, bezahl ich Dir den natürlich. Etwas hab ich sowieso gespart und den Rest bekommst Du jeden Monat ein bisschen.«

»Das wär zwar gerecht, dass Du den Schaden bezahlst, aber so schlecht verdiene ich in meinem Job auch wieder nicht, dass ich darauf bestehen würde. Wofür wolltest Du das Geld denn eigentlich sparen?«

»Naja, Führerscheinausbildung wird immer teurer, und ich wollte mit 18 dann auch ein vernünftiges Bike oder ein kleines Auto.«

»An was hattest Du denn da gedacht?«

»Hmm, ein alter Golf oder Polo, nicht zu teuer aber zuverlässig sollt es sein. Oder ne Enduro.«, träumte Philipp vor sich hin. »Aber beides geht wohl nicht, vor Allem, wenn ich Dir den Schaden bezahle, und den Führerschein will ich Dir nicht auch noch anhängen, Du hast schon genug für mich getan.«

»Also das Geld für den Führerschein werd ich meiner Schwester abschwatzen. Die hat sicher keine Ahnung, was sowas heutzutage kostet. Wir dürfen ihr nur nicht erzählen, dass da auch die Klasse A dabei ist, wenn wir ihr die Summe nennen. Ich hab ja noch fast zwei Jahre Zeit, bis es soweit ist, um ihr die Idee schmackhaft zu machen, dass John und sie das bezahlen müssen. Dann gibt's Oma und Opa ja auch noch. Spar Du mal auf ein Auto und lass den Rest meine Sorge sein.« In Gedanken telefonierte ich schon mit meinem Bekannten bei BMW, damit er sich nach einer guten gebrauchten F650 für die übernächste Saison umschaute.

Nachmittags tauchte dann Hannes wieder auf und die Jungs verschwanden nach einer Weile im Bad. Nach etwa einer Stunde trommelte ich dann an die Tür, schließlich musste ich mich auf mein Date mit Robert vorbereiten und wollte unter die Dusche. Gegen halb acht machte ich mich dann auf den Weg in den 8. Bezirk. Robert und ich aßen etwas, dann gingen wir nach hinten und lauschten der Musik. Der Jazz war gut und wir hatten einen so netten Abend, dass wir beschlossen, das bald zu wiederholen.

Im Laufe der nächsten Wochen kamen sich sowohl Hannes und Philipp als auch Robert und ich uns immer näher, so dass ich dann eines Tages beschloss, Robert zum Abendessen mit heimzubringen, um ihn der Familie vorzustellen. Ich schloss die Tür auf und da stand Hannes, nur in ein Handtuch gehüllt, im Vorzimmer.

»Hallo Stefan«, sagte er. »Du bist aber pünktlich heute.«

»Nabend Hannes, ich hab wen zum Abendessen mitgebracht. Habt Ihr schon was gekocht?«

»Fips hat Lasagne gemacht, die steckt im Backrohr und sollte jede Minute fertig sein.«

»Prima«, antwortete ich und fragte Robert, »ich hoffe, Du magst Lasagne? Philipp ist ein sehr guter Küchenchef und seine Lasagne ist Weltklasse.«

In dem Moment krückte Philipp um die Ecke, blieb schlagartig stehen und fiel fast aus den Pantoffeln, während sich das Handtuch langsam von seiner Hüfte löste.

»Herr 'Fessor, was...?«, stammelte er.

Was für ein Anblick. Zwei Jungs standen da im Flur. Ein halbnackter, dunkelblonder Hannes mit großen staunenden Augen und Fips, der vor Schreck keinen Ton mehr herausbrachte und knallrot anlief, als er merkte, dass er bis auf seinen Gips komplett nackt war. Das Handtuch hatte der Schwerkraft nachgegeben und lag zu seinen Füssen.

»Herr 'Fessor, was machen Sie denn hier?« schaffte es Philipp nun doch zu fragen.

Oh! Darüber hatte ich seit Wochen nicht mehr nachgedacht, dass Robert ja eigentlich Philipps Lehrer war. Wie peinlich musste das für den armen Jungen sein, plötzlich nackt vor seinem Mathelehrer zu stehen? Philipp funkelte mich mit seinen grünen Augen böse an.

»Sorry Fips, wollte Dich nicht in Verlegenheit bringen«, entschuldigte ich mich, während Robert sich um das Handtuch bückte und es Philipp reichte.

Auch Hannes gab nun wieder Geräusche von sich: »Guten Abend Professor Zeilberger.«

»Jungs!« sagte Robert. »Vergesst mal den Professor und den Zeilberger. Hier und jetzt sind wir nicht in der Schule. Ich bin der Robert. Stefan und ich mögen uns und hoffen, dass da mehr, sogar wesentlich mehr draus wird und wenn wir uns hier oder sonstwo privat treffen, brauchen wir nicht so förmlich sein. In der Schule ist das anders. Hannes, Du hast nur noch drei Wochen und dann die Maturaprüfungen, ausserdem habe ich Dich nicht mehr im Unterricht, deshalb ist das bei Dir egal. Aber Philipp, bitte in der Schule per Sie, und bitte erwarte Dir keine Extrabehandlung, nur weil ich mit Stefan...«

»Schon klar«, meinte Hannes und nahm seinen Lover in den Arm. »Fips und ich sind auch zusammen und wir wollen nicht unbedingt, dass das mit Fips und mir an die große Glocke gehängt wird. Ich bin weder in der Schule noch zu Hause out. Ich kann das sehr gut verstehen, dass Sie... Du... nicht willst, dass bekannt wird... noch dazu Stefan, wo doch Philipp... bei Ihnen... Dir... im Unterricht... Du weißt, was ich meine.«

Er knuddelte Fips und fragte: »Alles ok, Schatz?«

»Ich glaub, da muss ich mich erstmal dran gewöhnen, dass Stefan mit meinem Matheprof... Oh shit, Hannes, lass mich los, ich muss in die Küche, die Lasagne!« Er hoppelte in die Küche.

»Puh, gerade noch gerettet. Der Käse ist ein wenig braun geworden, aber zum Glück noch nicht verbrannt.«, tönte er aus der Küche. »Kann mal wer den Tisch decken, während wir uns was anziehen?«

Diese Aufgabe übernahmen Robert und ich doch gern. Allein vom Geruch des Essens lief uns das Wasser im Mund zusammen und wir wollten keine unnötigen Verzögerungen, bis wir endlich zuschlagen durften.

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