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Peer Group

Teil 1 - Zu Hause

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Im Grunde verhält es sich doch so, dass das Leben an sich schon eine durchaus humorvolle Groteske ist. Die Frage ist nur, auf wessen Kosten der Spaß getrieben wird.

Das warme Wasser prickelte auf seinem Gesicht und vertrieb für einen Augenblick die Müdigkeit aus seiner Haut, nur um sie unmittelbar darauf durch eine neue, bleierne Müdigkeit zu ersetzen. Nichtsdestotrotz genoss er die wohltuende Wärme, welche die Anspannungen von der Arbeit löste. Allem Enthusiasmus entgegen, dass es etwas Großartiges sei, bei Film oder Fernsehen zu arbeiten, hasste er seinen Job. Einen kleinen, niedergemachten Homosexuellen in einer wöchentlich ausgestrahlten Zweiundfünfzig-Folgen-Serie zu spielen, war keine schöne Sache - zumal so etwas ganz schön am Image kratzen konnte. Um genau dieses Prestigeproblem zu vermeiden, spielte er eigentlich keinen Schwulen, sondern einen Hetero, der einen Schwulen spielt. Das Paradoxe mochte sein, dass es sich zwar genauso verhielt, aber er es in seiner Schauspielerei nochmals herausputzen durfte. Er musste also in jeder Folge zeigen, dass er nicht der Schwule war, sondern der tatsächlich heterosexuelle Schauspieler, der einen Homosexuellen in einer Serie spielt. Es war zum Davonlaufen. Und es war nicht das erste Mal in dieser Drehphase, dass er sich wünschte tatsächlich schwul zu sein, wie beispielsweise Samuel, der für das Make-up verantwortlich war. Dann hätte er nur noch einen Schwulen in einer Serie spielen müssen, ohne das ganze Hetero-Klim-Bim. Doch er war nicht schwul. Zumindest nicht direkt.

Er war bisexuell. Natürlich waren das die meisten Stars in Hollywood auch, aber dies war nun mal nicht Hollywood und in Deutschland - auch in Köln, der Rosahochburg schlechthin - bevorzugte man nun mal eher Heterosexuelle, die einen Schwulen mimten, als tatsächlich Schwule und Bisexuelle. Der Zynismus lag in der Abscheu, die diese Schauspieler den körperlichen Szenen entgegenbrachten.

Er hatte bei Frauen keinen Erfolg, mal abgesehen von den wenigen weiblichen Teenie-Fans, welche sich ab und an um Autogramme kloppten. Die wenigen, die sich auf den kleinen semikulturell angehauchten Privatsender zur richtigen Zeit verirrt hatten. Aber die lagen nicht in seiner Alterskategorie, oder waren doppelt so schwer wie er. Nicht, dass er etwas gegen dicke Frauen hatte, aber er fand sie nur geistig, nicht körperlich attraktiv. Vielleicht lag darin sein Dilemma. Diejenigen, die er geistig attraktiv fand, waren sexuell für ihn uninteressant. Und diejenigen, die er körperlich attraktiv fand, besaßen leider den Intelligenzquotienten einer frühreifen Kartoffel. Nun gab es natürlich auch noch solche, die er sowohl geistig als auch körperlich begehrenswert fand. Diese Gattung Frau jedoch war entweder schon vergeben oder fand ihn unattraktiv oder aber wollte, weil er so ein ausgesprochen guter Zuhörer war und so sensibel, die Freundschaft nicht durch eine Beziehung gefährden - wenn sie ihn nicht gleich für schwul hielt. Kurz, er hatte genau dieselben Probleme wie jeder andere Mann in seinem Alter. Mit dem Unterschied, dass er zuweilen auch Gefühle für männliche Wesen entwickeln konnte. In dieser Hinsicht war er wohl omnipotent.

Bisexualität war auch so ein Phänomen. Da waren zum einen diejenigen, die von ihrem heterosexuellen Dasein gefrustet waren, weil sie entweder von dem Partner verlassen worden waren, oder keinen abbekommen hatten und nun anschnupperten, ob sie vielleicht auf dem anderen Ufer Erfolg haben könnten. Zum Zweiten diejenigen, welche in irgendeiner pubertären Phase mit einer Person des gleichen Geschlechts eine Liaison gehabt hatten und seitdem glaubten als bisexuell gebrandmarkt worden zu sein. Als Drittes die Gruppe derjenigen, die an und für sich homosexuell waren, sich dies aber nur schwerlich eingestehen konnten und durch die eigene Ausschilderung als »bisexuell« den Fuß im Türspalt behalten wollten - und zu guter Letzt diejenigen, die es tatsächlich waren. Und zu diesem letzten Phänotyp gehörte er.

Er hatte die sehr seltsame Gabe - oder den Fluch - sich in Menschen verlieben zu können, unabhängig welchen Geschlechts sie waren. Natürlich schwankte seine Neigung ab und an mal zur einen oder anderen Seite, aber er konnte beide Geschlechter lieben und auch im Bett mit ihnen verkehren. Er konnte nicht sagen, seit wann das so war. Seine erste Liebe war ein Mädchen aus seiner Klasse gewesen, seine erste *große* Liebe jedoch ein junger Mann. Vielleicht...

Das Wasser schwemmte den Gedanken fort oder in seinem Kopf waren Hebel umgelegt worden, die das Weiterrattern der Zahnrädchen in eine bestimmte Richtung verhindern sollten - aus Schutz. Aber auch hier gelang es ihm nicht den Gedankenfaden wieder aufzunehmen. Die Gesichter seiner früheren Liebschaften blieben unter einem schimmernden Schleier verborgen. Die Therapie hatte Wirkung gezeigt, dachte er bitter. So füllte allein das Wasser seine Gedanken aus, welches seinen Körper herunter rann und die zahlreichen sichtbaren und unsichtbaren Härchen wurden an seinen Körper gepresst.

Er hatte das zweifelhafte Glück, vom Haar her dunkel zu sein, jedoch von der Haut ein heller Typ, sodass man nahezu jedes seiner schwarzen Bodyhärchen sehen konnte. Ich bin ein Bär, dachte er grimmig. Das war zwar in Schwulenkreisen nicht von Vorteil, aber soviel Zeit sich einer Komplettenthaarung zu unterziehen hatte er nun mal auch nicht. Ansonsten fand er sich eigentlich recht ansehnlich. Sicherlich war er mit einem Meter und achtundsechzig Zentimetern nicht der Größte und mit darauf verteilten dreiundsechzig Kilogramm auch mit einem kleinen Bauchansatz gesegnet (alles Muskeln), aber er hatte ein sehr liebes Gesicht und liebevolle grün-graue Augen. Behauptete zumindest Nicole, seine beste Freundin. Nicole war auch bisexuell, leider allerdings von der Gattung derjenigen, die nur noch einen Fuß in der Tür hatten. Sprich, Nicole war lesbisch. Was sie allerdings nicht daran zu hindern schien, über sein Äußeres zu urteilen und immer wieder herauszustellen, dass er das liebste Gesicht der Welt hätte. Er selbst konnte und wollte das nicht beurteilen. Bis auf seinen Behaarungskomplex war er jedoch ausgesprochen zufrieden mit sich. Wohl nicht zuletzt wegen des Wissens, das Selbstzufriedenheit auch attraktiv machte.

Er drehte das Wasser ab, als seine Fingerkuppen aussahen, als trügen sie Dörrpflaumengene in sich. Er wickelte sich ein Handtuch um die Hüfte und schlang sich ein weiteres um den Kopf und seine schokoladenbraunen Haare. Sie waren vielleicht einen Tick zu lang, rutschten öfters in die Augen. Zudem waren sie von einem Typ, der sich nur schwer in Form bringen ließ. Es waren notorisch glatte Haare. Was so viel hieß wie, man konnte noch so viel Haarspray, Gel oder anderen Chemiekram aufwenden, nach spätestens fünfzig Minuten lag alles mehr oder minder als lockerer Bob am Kopf - und hing ihm in die Augen.

Er steckte sich eine Zigarette an. Er war Kettenraucher. Den Grund dafür hatte er vergessen, auch spendete der Rauch keinen Trost mehr. Es war Gewohnheit geworden, einen Glimmstängel zwischen den Lippen zu haben. Egal in welcher Situation. Nicole hatte einmal gescherzt, dass es für ihn nicht nur die berühmte "Zigarette danach" gab, sondern auch die "Zigarette dabei". Er selbst hatte das nicht so lustig gefunden, vielleicht auch, weil sie damit näher an der Wahrheit lag, als ihm lieb war. Er mochte es nicht besonders, wenn man ihn auf sein Laster hinwies. Er hatte die letzten zwei Jahre öfters versucht aufzuhören, insbesondere nach der Therapie, aber es war schwer eine Gewohnheit abzustellen, besonders wenn sie so ausgeprägt war, wie seine Raucherei.

Aber wozu hatte man denn beste Freundinnen, wenn sie einen nicht damit aufziehen durften... Gerade bei Nicole war der Sarkasmus derart ausgeprägt, dass Hopfen und Malz verloren waren. Eben so wie bei ihm und seinen Räucherstäbchen. Fortuna war insofern gnädig, dass seine Gage so ausfiel, dass er sich neben den zwei Schachteln, die er am Tag wegputzte, noch eine Wohnung und was zu Essen leisten konnte. Die Wohnung würde er jedoch bald wechseln, da die Fahrtkosten zum Aufnahmestudio allmählich ins Geld gingen und ab und an auch private Eskapaden finanziert werden wollten, die anderer Natur waren als Nikotinsucht.

Er würde sich heute noch ein Objekt anschauen. Zusammen mit einem Menschen, den er über eine Annonce kennen gelernt hatte. Was hieß "kennen gelernt"... Sie hatten zusammen einen Kaffee getrunken und beschlossen, dass sie sich sympathisch genug waren, um eine Wohngemeinschaft gründen zu können, welche einen rein praktischen Nutzen erfüllen sollte. Der junge Mann war ein Jahr älter als er. Und suchte aus nahezu demselben Grund eine Wohnung wie er. Näher am Arbeitsplatz zu wohnen. Dies war in einer Großstadt immer etwas schwierig. Die wenigen Wohnungen die frei wurden, waren meist zu groß, als dass man sie allein hätte halten, geschweige denn finanzieren können. Und so war eine Wohngemeinschaft eine durchaus praktische Lösung des Problems. Da keiner seiner Freunde sich bereit fand, sein angetrautes Heim zu verlassen, hatte er schließlich diesen Fremden aufgrund eines Brettschriebs an der ortsansässigen Universität aufgegabelt. Sie schienen miteinander auszukommen - es verlangte ja niemand, dass sie dasselbe Bett teilten.

Er schaltete das Licht in der Dusche aus und trat in die Umkleiden. Für Außenstehende mochte es komisch erscheinen, dass sie als Schauspieler eine Sammelumkleide wie in einem Schwimmbad hatten, aber an sich war es praktischer und kostenschonender. Das Studio schien sowieso ein Sporthallenumbau zu sein oder irgend so etwas in der Art, und wären nicht die unzähligen Kameras, Kabel und Büros gewesen, in welchen geschnitten und nachvertont wurde, dann hätte man meinen können, man würde sich auf die Bühne einer Schulaufführung begeben. Er lächelte bei dem Gedanken daran, wie es Regie und Produzenten aufregen würde, sollte er einen solchen Vergleich aussprechen.

»PEER!«

Er hatte nicht genügend Zeit, sich umzudrehen oder auch nur irgendeine Abwehrreaktion zu zeigen - gegen das fast sechzig Kilo schwere Stück Mensch, was sich ihm an die Taille schmiss. Er verdrehte innerlich die Augen. Es war Samuel, Make-up, und Widerstand zwecklos.

In der Umkleide selbst saß noch Simson, ein Kameramann, seines Zeichens ein breitschultriger Afrikaimport, dessen Humor mindestens genauso schwarz war wie seine Hautfarbe. Simson war der liebste Kerl im ganzen Studio, aber auch der respekteinflößendste. Gut hundert Kilo reine Muskelmasse auf zwei Höhenmeter verteilt sprachen für eine beeindruckende Erscheinung. Doch Simson war sanft wie ein Lamm - wenn er einen erst mal mochte. Und er war schwul. An sich nicht weiter tragisch, jedoch gab er mit Samuel ein wahrlich ungewöhnliches Pärchen ab. Der derbe, schwarze Hüne fürs Grobe und der zierliche, kalkweiße Make-up-Artist - ein oft mit freundlichem Spott belächeltes Traumpaar.

»Du warst heute sowas von gut!«

Das männliche Wesen, das noch immer in seiner Bauchnabelregion hing und ebenso leicht bekleidet war wie er, sprach als handele es sich bei seiner schauspielerischen Leistung um Kaffee. Er runzelte die Stirn, während ihn Simson in seiner gewohnten Art kommentarlos und breit angrinste. Samuel war ein Fall für sich. Das zierliche Männlein mit den langen Wimpern und den viel zu gut durchbluteten, viel zu großen Lippen in dem feingeschnittenen marmorhäutigen Gesicht, machte keinen Hehl daraus, dass er Peer vergötterte - und es ihm immer noch nicht recht verziehen hatte, dass dieser nichts von ihm wollte. Wäre Samuel nicht von sich aus schwul gewesen, hätte man ihn allein wegen seines Äußeren »umpolen« müssen. Er schien manchmal die Inkarnation des »Schwulseins« an sich zu sein. Nicht weil er jetzt unbedingt ein »schwules Verhalten« an den Tag legte - was immer das heißen mochte - sondern weil er einfach so feminin und zierlich schön aussah, dass er einfach auf Männer stehen musste. Es war immerhin eine Art ungeschriebenes Naturgesetz, dass ein Mann niemals femininer aussehen sollte als seine Frau. Und neben Samuel wirkte selbst Frau Lopez wie eine wahre Kampflesbe.

»Da war die Regie aber anderer Meinung.«

Nämlich genau der, dass er einen Hetero spielen würde, der einen Schwulen spielt. So biss sich die Katze in den Schwanz. Ansonsten mäkelte die Regie eigentlich selten an ihm herum. Vielleicht mal an seinen Haaren, aber das betraf dann eher die Stylingfraktion, als ihn persönlich. Heute hatte es mal Zoff gegeben, das war selten - und unangenehm.

»Ach Unsinn, du bist der Beste«, maunzte Samuel. »Und wenn man dich rausschmeißt... dann drehen wir halt Schwulenpornos - du bist der Hauptdarsteller, Simson macht Kamera und Regie und...«

»Du solltest so etwas nicht sagen - nur mit einem Handtuch bekleidet«, wies ihn Peer auf den fatalen Fehler in seiner Planung hin. Samuel ließ ihn los und wurde hochrot.

»Gefällt's euch nicht?«

»Du bist so ein gottverdammter Exhibitionist.«

»Na und, ich zeige halt gern, was ich habe.«

»Und das ist ja nicht viel«, schaltete sich Simson lachend ein.

»Du hast ja keine Ahnung.« Samuels Augen verengten sich.

»Na hör mal, immerhin schlafe ich seit drei Monaten regelmäßig mit dir.«

»Hmpf.«

Der große schwarze Mann nahm sein ihm angetrautes Weib lachend in die muskelbepackten Arme. Peer lachte mit ihm. Es war eine vergnügliche Zeit mit den beiden. Er schrubbte sich den Kopf ab und löste das Handtuch um die Hüften. Es gab Gründe warum er nie ins Pornogeschäft einsteigen würde. Und einen davon verpackte er in einer karierten Boxershorts. Simson sah ihm schmunzelnd dabei zu. Peer bekam rote Ohren.

»Schau mich bitte nicht SO an, wenn ich DAS tue.«

»Warum so gereizt, KLEINER?«, feixte der gebürtige Afrikaner.

»Mir gefällt dein Tonfall nicht.« Peer schürzte die Unterlippe.

Samuel zog sich inzwischen auch an. Er schenkte der Kabbelei zwischen Peer und seinem Freund wenig Beachtung. Wohl auch, weil er vielmehr damit beschäftigt war, das Bild des unbekleideten Schauspielers länger in seinem Gedächtnis zu behalten. Ein Umstand, der ihm eine gewisse Konzentration abverlangte, sollte er heute Nacht von ihm träumen wollen.

»Kommst du noch mit uns auf'n Drink ins 'Schön'?«, fragte er an Peer gewandt.

Peer schüttelte den Kopf. Dafür hatte er nun wirklich keine Zeit und ein Blick auf die Uhr, welche er sich gerade umschnallte, verriet, dass er ohnehin spät dran war. Noch immer hatte er nicht mehr als eine Boxershorts und seine Zigarette an - ohne sie hätte er sich vermutlich wirklich unbekleidet gefühlt. In einer guten Viertelstunde würde ihn sein neuer Mitbewohner vor dem Studio abholen. Er hatte ihm vorsichtshalber weisgemacht, dass er nur so eine Art professioneller Kabelträger sei, nicht dass er auf die Idee kam, die Serie irgendwann mal zu sehen.

»Geht heut' nicht, hab nachher noch 'ne Wohnungsbesichtigung.«

Die beiden Kollegen sahen überrascht auf.

»War das heute?«

Peer nickte. Die Wohnung war von der Lage her top und wenn sie hielt, was das Inserat versprach, dann würde es diese wohl sein. Der Vermieter hatte sich am Telefon auch als sehr nett herausgestellt und sein neuer Mitbewohner schien ihn sogar zu kennen. Theoretisch die besten Voraussetzungen für sie. Er würde heute also definitiv keine Zeit mehr haben.

»Wie ist er denn so, dein Mitbewohner - hast ja noch gar nichts erzählt...«

Samuel war neugierig wie immer. Aber er hatte Recht. Peer hatte wirklich nicht über ihn gesprochen. Nur, dass es ihn gab und, so viel stand fest, dieser sein Leben umkrempeln würde.

»Nun, er ist ... ein Jahr älter, studiert und arbeitet nebenbei als Kellner im...« Peer stockte kurz, was hatte er gesagt, wo er arbeitet? Er nannte Samuel einen Namen, von dem er glaubte, dass es dieses Restaurant gewesen sein könnte. »... er ist ganz nett, soweit wie ich das beurteilen kann.«

»Ist er schwul?«, fragte Simson geradeheraus und erntete einen spei-eifersüchtigen Blick von seinem Freund, den er mit einem Achselzucken quittierte. »Bin doch nur neugierig.«

»Weiß nicht.«

»Weiß er's nicht, oder weißt du's nicht?«

»Ich hab ihn halt nicht gefragt«, sagte Peer ehrlich.

Er bemerkte, wie seinen Freunden die Gesichtszüge entgleisten. Es war damals nicht dazu gekommen. Sein potentieller Mitbewohner war augenscheinlich einfach ein ganz normaler Typ. Nett anzusehen, aber eben der herzensgute Frauenheld von nebenan. Da hielt man mit solchen Themen lieber hinter dem Berg. War etwas ungünstig, wenn man dann einen völlig normalen Kerl fragte, ob er zufällig schwul sei.

»Du hast ihn nicht gefragt?«

»Ja wie denn? 'Hey, bist du vielleicht schwul?' Dann glaubt er, ich suche 'nen Spielgefährten und keinen Mitbewohner oder 'Du suchst 'nen männlichen Mitbewohner? Du bist doch nicht etwa schwul?', dann rückt er doch erst recht nicht mit der Wahrheit heraus, wenn er's ist.« Er schüttelte den Kopf. »Das Letzte, was ich will, ist meiner potentiellen Mitbewohnerhete ans Bein pissen.«

Er bemerkte beiläufig, dass seine Kippe heruntergebrannt und er mit seinem Ankleiden nicht weiter vorgedrungen war als bis zu den Socken. Ärgerlich schnaubend stapfte er förmlich in seine Cordhose. Simson nickte. Insgeheim konnte er ihn verstehen. Auch Samuel verstand seinen Freund, aber er begriff ihn nicht. Was vielleicht auch nicht verwunderlich war, da man ihm seine Neigung ja irgendwie meilenweit ansah.

»Dann weiß er also auch nicht, dass du...«

Peer nickte. Er hatte es ihm damals sagen wollen, irgendwie. Doch als er ihn gesehen hatte und der junge Mann so erleichtert schien, in dieser berüchtigten Stadt mal keinen Mann mit rosa Shirt zu sehen, welcher mit ihm »gemeinsames Wohnen« praktizieren wollte, sondern nur einen scheinbar völlig normalen Jungspund mit einem Zigarettentick, hatte er den Plan unheimlich schnell aufgegeben.

»Also willst du wieder den Hetero spielen?«, machte Simson.

»Ich hab ja Erfahrung darin«, sagte Peer bitter.

Tatsächlich hatte er die letzten fünf Jahre nichts anderes gemacht. Nur wenige seiner Freunde wussten davon und noch weniger hießen es gut. Auch im Filmteam hatte er sich nicht als bisexuell geoutet, schon gar nicht vor der Produktion und vor Sweyn. Samuel und Simson waren die einzigen, die es von der Runde wussten, und er war ihnen dankbar, dass sie dichtgehalten hatten. Seine Eltern hatten es auch eher durch Zufall erfahren, was ihrer Ehe dann den letzten Rest gegeben hatte - zumindest gab er sich die Schuld an der Scheidung seiner Eltern. Die einzigen Personen, die er also in dieser Angelegenheit wirklich ins Vertrauen ziehen konnte, waren Nicole und das Pärchen, das vor seinen Augen saß.

Man glaubte immer, man würde lockerer in solchen Dingen, wenn man von zu Hause weg war, wenn man nicht mehr so auf seine Reputation bei den Eltern bedacht war, doch nun, da er seit einem Jahr nicht mehr bei seiner Mutter lebte, musste er feststellen, dass sich rein gar nichts geändert hatte. Sein Verhalten dem jungen Mann gegenüber hatte es nur einmal mehr bewiesen. Er fühlte sich selbst kindisch dabei. Die Angst abgelehnt zu werden. War es nicht langsam an der Zeit, dass ihn die Welt so akzeptierte wie er war? Kompromisslos akzeptierte?

»Er wird es früher oder später herausfinden.«

Die roten Lippen wurden schmal. Genau das war es, was Peer Sorgen bereitete. Wie würde sein Mitbewohner reagieren, wenn er es herausfand? Er schüttelte unwillig den Kopf.

»Er wird es früher oder später erfahren.« Er sah die beiden fest an.

»Von mir«, fügte er hinzu.

Dann gab er sich alle Mühe möglichst schnell seine restlichen Klamotten anzulegen. Und Samuel tat es ihm gleich. Während sein Geliebter im Wandschrankformat auf sie wartete, den Türrahmen nach draußen komplett ausfüllend. Einmal mehr bemerkte Peer insgeheim, dass, wenn Simson nur ein paar Muskeln weniger gehabt hätte, er gerne mit dem Afrikaner zusammen gekommen wäre. Er sprach es nicht aus, um der - in dieser Hinsicht - tollwütigen Puderquaste nicht neuen Nährboden für Eifersüchteleien zu geben.

Alsbald verließen sie gemeinsam das Gebäude. Peer, der seine Tasche geschultert hatte, hielt Ausschau nach seinem "Date". Er sah auf die Uhr. Pünktlichkeit schien zumindest nicht eine der Tugenden seines neuen Wohngenossen zu sein - er selbst war durch das ganze Drama schon fünf Minuten zu spät gewesen. Er wollte grade sein Mobiltelefon auf etwaige Nachrichten untersuchen, als er jemanden winken sah.

Er war nicht besonders groß. Etwa eine Hand breit höher als er selbst. Seine schwarzen, ohrlangen Haare, gescheitelt und mit ausgedünntem Nacken - tatsächlich hatte er diese uramerikanische brave College-Boy-Frisur, welche Peer an sich nicht leiden konnte, dem jungen Mann aber ausgezeichnet stand - glänzten silbrig-matt im Sonnenlicht. Als er die Sonnenbrille abnahm, konnte man selbst auf die Distanz die blauen Augen leuchten sehen. Peer wusste, welche Wirkung diese Augen haben konnten, er hatte sie am eigenen Leib erfahren. Diese Augen waren mit ein Grund gewesen, warum er ihn auf keinen Fall hatte abschrecken wollen. Das feingeschnittene, jugendliche Gesicht wurde zum größten Teil von einem unverschämt breiten und offenherzigen Grinsen bestimmt und hatte im Vergleich zu Peers wächserner Gesichtserscheinung eine gesunde Färbung. Er sah gut aus, in allen Belangen. Seine Körperlichkeit ließ sich wohl am treffendsten mit dem Adjektiv "athletisch" beschreiben. Unter dem recht engen Shirt zeichneten sich nicht zu viele, aber auch nicht zu wenige Muskeln ab. Das Hemd darüber hatte er lässig offen gelassen und es flatterte im Wind, der sich gemächlich über den Parkplatz wälzte. Er hatte ein Bein ausgestellt und mit der etwas schlabberigen, abgetragenen Jeans, dem Shirt und dem Hemd sowie der Sonnenbrille sah er einfach aus wie ein postmoderner Gigolo, der gelernt hatte, dass es viel mehr auf ein entwaffnendes Grinsen ankam als auf den Anzug.

Peer winkte zurück. Dem Pärchen neben ihm klappte die Kinnlade herunter.

»Peer...«, sagte Samuel. »Wir müssen bei Gelegenheit unbedingt mal über deine Definition von 'nett' sprechen.« Peer grinste verlegen. Und ging, um seinen baldigen Mitbewohner zu begrüßen.

»Hi, Timo.«

»Hallo, Peer.« Innerlich biss er sich in eine imaginäre Faust. Wie hatte das denn geklungen? Zu freundlich? Zu... flirtend? Natürlich flirtete er nicht mit Peer, zumindest glaubte er, es nicht zu tun. Der soeben Angesprochene war zwanzig Jahre alt, ledig und auf Wohnungssuche. Und er war schwul. Sicherlich nicht der typisch schwule Mann, der jedes gesprochene Wort mit einem theatralischen Seufzen oder einem »Ach!« kommentierte, welches dann meistens einher ging mit einer pathetischen Showeinlage, die aus Augenrollen und dem Von-sich-werfen sämtlicher Extremitäten bestand. Nun, er war dahingehend homosexuell, dass er sich in das gleiche Geschlecht verliebte und mit ihm die Nächte verbrachte. An sich nichts Schlimmes, nur bei der Wohnungssuche hinderlich.

Tatsächlich hatte er eine Weile daran gedacht, mit einem Mann seiner Gattung zusammenzuziehen, welcher dieselben Neigungen hatte wie er. Doch er hatte diesen Gedanken ebenso schnell von sich geschoben, wie er gekommen war. Das Problem war, dass man sich für so ein Unterfangen dann auch in eben jene Person verlieben sollte, also wahrhaftig ein Pärchen abgeben musste. Denn was würde ihm schon anderes übrig bleiben, außer neidgrün, oder zu einem schwarzen Häufchen Einsamkeit zu werden, wenn der Mitbewohner jeden Abend einen neuen Kerl, oder gar seinen Freund mitbrachte. Dies war wohl sein Problem, er konnte die Anwesenheit von lauter glücklichen Pärchen um sich nicht ertragen, wenn er einsam war. Noch weniger, wenn dieses Pärchen aus zwei potentiellen Geliebten bestand, also aus zwei Männern, die genauso gut ihn lieben konnten, anstelle des Partners. Er gab zu, in dieser Hinsicht Komplexe zu haben.

Das zweite und entscheidendere Problem manifestierte sich in Form seiner Eltern. Diese waren, trotz dem sie in dieser Stadt wohnten, nämlich der festen Überzeugung, dass Homosexualität etwas war, was nicht unbedingt normal war. An sich hatten sie damit auch Recht, nur ihre Radikalität in der Formulierung hinderte ihn irgendwie daran, einzuräumen, dass er dazu gehörte. Seine Mutter wünschte sich nichts sehnlicher als Enkelkinder; bedauerlicherweise war er Einzelkind - nun würde er sie quasi doppelt vor den Kopf stoßen. Timo hatte nicht wirklich Sorge darum, verstoßen zu werden - er wollte nur niemanden enttäuschen, schon gar nicht seine Eltern. Ebendiesen würde es allerdings wohl höchst verdächtig vorkommen, wenn sie ihn besuchten und sein Mitbewohner ihnen in einem quietschgelben Shirt mit einem regenbogenfarbenen Marssymbol und einem »Huhu!« entgegenstürmte. Diese Vorstellung - und ähnliche Horrorszenarien - hatten ihn schließlich dazu bewogen, sich doch lieber einen normalsterblichen Bürger zu suchen.

Gefunden hatte er einen, Peer. Er war eine gute Hand breit kleiner als er, hatte haselnussfarbene Haare, die ihm strähnig ins Gesicht gefallen waren, sobald er sich über die Kaffeetasse beugte. Die beige Cordhose und der graubraune Strickpullover zeichneten das Bild eines völlig normalen Menschen, der ihn belustigt über den Rand seiner Brille angesehen hatte, als er den Zucker vor Schreck neben seine Tasse schüttete, weil ihn in diesem Moment die Bedienung ansprach. Ja, er war normal und er war so herzerfrischend freundlich und liebenswert in seiner normalen Art gewesen, dass Timo sich nicht getraut hatte zu sagen, dass er schwul war. Um ihn nicht zu erschrecken. So würde er das tun, was er, seit er fünfzehn war, am Besten konnte. So tun als sei er hetero. Sollte er irgendwann einen Freund finden, würde er ohnehin ausziehen.

Insgeheim war er ein bisschen traurig, dass sein neuer Mitbewohner der männlichen Welt verschlossen blieb. Peers humorvolle Art, sein leises und auch sein herzliches Lachen, wie er mit dem Daumen über die Unterlippe rieb, jede noch so kleine Geste, jedes gesprochene Wort, machten ihn so vertraut und so liebenswert, dass er sich gern an ihn angelehnt hätte - oder mehr. Zu guter Letzt beließ er es dann bei einem Phantasiegespinst, darauf zurückzuführen, dass seine letzte Männerbekanntschaft nunmehr acht Monate zurücklag.

Und nun stand er ihm gegenüber.

»Wer war das?«, fragte er und deutete auf Samuel und Simson.

»Kollegen.«, sagt Peer so abschätzig wie möglich und hoffte, dass seine Schauspielkünste dafür ausreichten. Er hatte so seine Bedenken, dass er ruck, zuck! mit einem Outing dastand, sollte das Gesprächsthema in diese Bahnen rutschen - so im Sinne von »Was hältst du von Schwulen?«.

Timo hatte ihn mit den beiden Männern heraustreten sehen. Der eine, klein und hellhäutig, mochte mit Sicherheit schwul sein - hatte er ihn schon einmal gesehen? -, der vertraute Umgang mit dem dunkelhäutigen Türsteherverschnitt (tatsächlich sahen die meisten Türsteher blass gegen ihn aus) wischte übrige Zweifel weg. Peer schien jedoch nicht wirklich Freund mit ihnen und er, Timo, traute sich nicht, ihn darauf anzusprechen, aus der Sorge heraus, er würde sich verplappern. Peer schien keine allzu hohe Meinung von Menschen mit dieser Neigung zu haben. Irgendwie versetzte Peers Kälte gegenüber Homos ihm einen kleinen Stich. Timo schwieg.

»Hm, 'ne Dachgeschosswohnung - gefällt mir vom Prinzip her.«

Peer lenkte das Gespräch auf ein anderes Thema, bevor das Schweigen unangenehm wurde. Insgeheim war Timo ihm dankbar dafür. Er nickte und seine schwarzen Haare rutschten ihm in die Stirn.

»Ja. Der Vermieter ist ein Arbeitskollege von meinem Dad. Er meint, es wäre 'ne tolle Wohnung mit netter Lage - nur schwer zu vermieten, weil sie so groß ist.«

Am Telefon hatte er Peer gesagt, dass er nur wenige Interessenten hätte. Aufgrund von Timos Vitamin B wollte er sie ihnen erst mal freihalten und die anderen Bewerber in die Warteschleife stellen. Sie würden ihre Chance erhalten, wenn ihnen die Stube nicht gefiel. Es war ein Altbau, der innerhalb der letzten fünf Jahre komplett renoviert und modernisiert worden war, was soviel hieß wie, dass es jetzt auch ein vollständig ausgestattetes Bad in der Wohnung gab und nicht nur ein Etagenklo. Die Außenwände waren auch verputzt und gestrichen worden, doch sie begannen bereits wieder in dem grauen Dunst der Autoabgase zu erblinden. Der Fußweg zur Studioturnhalle betrug kaum zehn Minuten, bei angenehmem Tempo. Nur gut ein Viertel dessen, was er sonst mit Bus, U-Bahn und per Pedes brauchte - und kostenlos. Als sie ankamen, stand bereits ein untersetzter Mann mit Hornbrille und graumeliertem Bart vor der Haustür. Der Bart war bis auf einen schmalen Streifen, der sich um den Hinterkopf zog, die einzige Kopfbedeckung. Die beige Strickjacke war über einen nicht ganz unbedeutenden Bauchvorsprung geknöpft und in der linken Hand hielt er die Unterlagen, mit der Rechten stützte er sich auf einen Gehstock. Er lächelte ihnen freundlich zu, als er sie kommen sah.

Das Ungewöhnlichste an dem Herrn war mit Sicherheit sein Gang. Er hatte etwa Peers Größe, war aber doppelt so breit. Und da er das rechte Bein nicht belasten konnte und sich immer auf den Stock stützen musste, schwankte der kleine, tonnenförmige Körper immer hin und her, als er vor ihnen die Treppe emporstieg. Trotz seines Handicaps vermochte er dies mit einer erstaunlichen Behändigkeit. Und er redete ohne Unterlass. Wie er beim Radfahren gestürzt war und sich die Kniescheibe zertrümmert hatte, dass er dann das Essen dem Sport vorgezogen hatte und sich dies nun bemerkbar machte, dass er schließlich einen neuen Beruf erlernt und Timos Vater kennen gelernt und eine Frau und zwei Kinder hatte. Dabei lachte er ihnen in jeder Beuge des Treppenhauses aufmunternd zu, motzte scherzhaft darüber, dass nicht die Mieter in der Parterre ausgezogen waren und machte auch sonst einen sehr ausgelassenen, fröhlichen Eindruck. Die ganze Zeit roch er nach süßlichem Pfeifentabak und Peer beschloss ihn zu mögen. Er selbst, sagte der kleine Mann, welcher Hagen hieß, gerade, könne aufgrund seiner defizitären körperlichen Beschaffenheit leider keine großen Sprünge mehr machen, wenn es sich um mechanische Probleme mit der Wohnung handle. Sie müssten sich in derlei Angelegenheiten an Herrn Meyer aus dem ersten Stock wenden, oder ihm selbst Bescheid sagen, dann könne er auch seinen Sohn vorbeischicken. Peer wunderte sich ein wenig, dass ihr Vermieter zugleich der Hausmeister zu sein schien, doch sagte nichts dazu. Sie waren endlich vor der Wohnung angelangt. Herr Hagen wischte sich einige Schweißperlen von der Stirn, holte zweimal tief Luft und zwinkerte ihnen dann aufmunternd zu.

Die Wohnung selbst hatte insgesamt fünf Zimmer und war ordentliche fünfzig Quadratmeter groß. Neben einem kleinen, aber schmuck eingerichteten Bad, welches noch nie benutzt schien, der in einem separaten Raum befindlichen Küche und dem geräumigen Wohnzimmer, das den größten Teil der Fläche ausmachte, gab es noch zwei andere Zimmer als Behausung zur freien Verfügung. Herr Hagen hatte sie schließlich ins Wohnzimmer gelotst, das aufgrund fehlender Möbel noch recht kahl aussah. Er hatte auch bis dahin nicht geschwiegen, sondern munter weiter geredet, von der Familie, die hier gewohnt hatte, als es noch das Etagenklo gab, vor dem sich die Bewohner der Etage jeden Morgen versammelt hatten. Davon, dass das Haus, trotz des Altbaus, nicht hellhörig war und man selbst von der vierköpfigen Familie nebenan nichts mitbekam. Er bemerkte, dass sie seine erste Wohngemeinschaft seien und gerade als sie wieder im Wohnbereich angelangten, fiel ihm ein neues interessantes Thema ein.

»Nun, dies hier is' natürlich als Wohnraum gedacht, hier befindet sich auch der Antennenanschluss für den Fernsehapparat und das Radio.« Allein über das Wort »Fernsehapparat« hätte sich Peer den ganzen Tag freuen können. »Se könn'n ihn aber natürlich auch an'ers nutzen, beispielsweise als Schlafzimmer.« Er stupste Timo vergnügt in die Seite. »Ich weiß ja nich' ob se zusammen schlafen wollen.« Er lachte.

Timo hätte sich beinahe verschluckt.

»Nein, das nun doch nicht, wir sind nicht von DER Sorte.«, sagte er ein bisschen frostig, aber noch freundlich und lachte dann mit. Herr Hagen schmunzelte amüsiert.

»Nah, wissen se in dieser Stadt kann man sowas nie nich'wiss'n«, grunzte er lachend. Und entfachte damit auch bei Peer ein breites Grinsen und eine Woge der Sympathie. Er war ein wenig enttäuscht, dass Timo so abwertend reagiert hatte. Es war schon klug gewesen ihm nicht von seinen Neigungen zu erzählen. Er bemerkte nicht, wie Timo bei der Lüge rote Ohren bekommen hatte.

»Ich mein' ich bin halt bei sowas... tolerant, oder wie sacht man heut'? Das sin' ja alles redliche Menschen, gell?«, philosophierte derweil Herr Hagen weiter vor sich hin. Dann erzählte er von seinem Cousin dritten Grades der nun auch mit einem Mann zusammen war und Timo flachste so was wie 'Mag schon sein, aber sowas könnte ich nicht, so mit 'nem Mann, nein...', aber Peer hörte schon gar nicht mehr hin, er sah sich in der dem großen hellen Raum um und stellte sich vor, wie er mit Möbeln aussehen mochte. Sie gefiel ihm, die Wohnung. Auch wenn er sich nicht ganz sicher war, ob er sie mit einem Menschen bewohnen wollte, den er erst einen Nachmittag kannte. Nun, es war eine Zweckgemeinschaft, sagte er sich schließlich. Es wäre nicht das erste Mal, dass er so spontan über seinen Schatten sprang. Und er mochte Timo, irgendwie. Abgesehen von seiner Einstellung gegenüber »Andersgearteten«, die er nun auch endlich kannte, war er an und für sich ein ur-angenehmer Mensch, zumindest war momentan davon auszugehen. Sie würden sich schon arrangieren. Und was konnte man bei einem solchen Vermieter schon falsch machen?

Herr Hagen watschelte indes in die direkt an das Wohnzimmer angrenzende Räumlichkeit und erklärte Timo noch Einiges. Als sie wieder herauskamen, lächelte Peer beide an. Die kaum sichtbaren Augenbrauen des Quadratmenschen wanderten nach oben, es sah so aus, als würde seine Stirn einfach so spontan Falten werfen.

»Nun Herr Hamann, wie gefällt es ihnen?«

Peer sah einen Augenblick zu Timo, welcher aus dem Fenster der Dachschrägen des Wohnzimmers sah. Seltsamerweise schien seine Anwesenheit allein schon auszureichen, den kahlen Raum mit Leben zu füllen. Und zwischen den Schatten, die das langsam verdämmernde Sonnenlicht durch die Fenster an die Wände zeichnete und dort Flimmern ließ, fühlte er sich seltsam geborgen. Ein Gefühl, das er in seiner eigenen kleinen, engen Wohnung bisher nie verspürt hatte.

»Ja, natürlich gefällt es mir«, sagte Peer schmunzelnd und Timo nickte in Herr Hagens Rücken zustimmend. Sie hatten ihre Wohnung gefunden.

»Hamann?« - »Hi, Mum, wie geht's?« - »Oh, hallo Schatz. Gut danke. Wie war dein Tag?« - »Wir haben eine Wohnung gefunden.« - »Wir?« - »Der junge Mann, von dem ich dir erzählt habe.« - »Ach nein...« - »Doch, hab' ich.«

Stille.

»Peer?« - »Ja?« - »Der junge Mann...« - »Ja?« - »Ist der auch... schwul?« - »Nein, ist er nicht.«

Schweigen.

»Geht das denn gut, so?« - »Ich weiß es nicht.« - »Hm.«

Abermals Stille.

»Kannst du kommen und mir beim Packen helfen? Ich hab dich so lange nicht gesehen, und...« - »Aber natürlich komme ich vorbei, Sohnemann.« - »Danke dir.«

Sie sprachen noch ein Weile weiter, bevor Peer sich verabschiedete und auflegte. Nun begann also abermals ein neuer Lebensabschnitt. Er sah an die Wand mit dem Bücherregal, darin seine Fotoalben. Es war Zeit geworden, dass er begann, der neue Abschnitt. Er wusste nicht, was die Zukunft brachte und doch vertraute er in sie. Er lehnte sich zurück und zündete sich eine Zigarette an. Im Grunde verhielt es sich so, dass das Leben an sich schon eine durchaus humorvolle Groteske war. Die Frage war nur noch, auf wessen Kosten der Spaß getrieben werden würde.

Er hoffte, dass er zum ersten Mal seit zwei Jahren wieder das Gefühl haben würde, was er so dringend benötigte. Das Gefühl zu Hause zu sein.

Willkommen zu Hause, Peer, dachte er und schloss die Augen.

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