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Fieberwahn

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Inhaltsverzeichnis

Vorwort

Diese Kurzgeschichte entstand tatsächlich an genau dem Schauplatz, wo sie auch spielt: im Krankenhaus. Und vieles, was sich darin liest, hat sich auch genau so oder fast so abgespielt. Was ich mir dazu erdacht habe, darf der geneigte Leser überlegen. Jegliche Namen oder Altersangaben von Personen entstammen auf jeden Fall der Phantasie.

Schmerzen

„Ich geh durch jede Wüste, ich schwimm durch jedes Meer, würd' mich nochmal in dich verlieben, wenn ich's nicht schon wär'...“

Ich schalte das im Handy eingebaute Radio ab und drehe mich im Bett herum. Um diese Uhrzeit ist auf jedem Sender an einem Montag Abend irgendwie nur Musik angesagt, die mein Gefühlsleben noch mehr untergräbt. Liebe, Glück und Bumsfallera. Neben mir höre ich zwei Menschen nicht ganz gleichmäßig vor sich hin röcheln. Und um eventuelle auftauchende Verwirrungen gleich schon vorher aufzuklären, ich liege im Krankenhaus, genauer in der HNO Klinik. Und die zwei Röchler neben mir sind beides Russen und sprechen untereinander passender Weise auch russisch. Ein Glück, dass ich eh nicht mitreden möchte, dank der Schmerzen.

Leise packe ich das Handy in den Nachtschrank neben mir, stelle mein Bett in Liegeposition und versuche, wenigstens etwas Schlaf zu finden. Trotz Schmerzen an allen Ecken. Dummerweise kann das Krankenhaus nur gegen die körperlichen Schmerzen helfen, aber nicht gegen die, die auf der Seele liegen.

Immerhin sorgte mein Auftauchen hier an einem scheinbar recht ruhigen Sonntag Abend für etwas Stimmung. Notfallpatienten mit Mandelentzündung sind scheinbar doch eher etwas seltenes. Und wenn die Mandeln dann die Größe von Walnüssen angenommen haben, schauen sogar Pfleger und Schwester ganz interessiert, wenn sie von der Ärztin mit einem „wollt ihr mal richtig dicke Mandeln sehen“ quasi drauf gestupst werden. Ich lass mir wohl am besten demnächst ein T-Shirt mit einem Foto von meinem Rachen und dem Spruch „Bremens dickste Dinger“ bedrucken. Schließlich hatte mich vorher schon der Bereitschaftsarzt zu Hause angeschaut und mir „ganz ehrlich, solche Mandeln hab ich noch nie gesehen.“ bestätigt. Kann man damit berühmt werden? Wohl eher nicht. Maximal bis zur morgigen Operation.

Danach, werden wohl die seelischen Schmerzen wieder auftauchen. Der wunderbare Mensch in meinem Leben, der so nah und doch nicht erreichbar ist. Marcel. Er ist zu süß, zu lieb, zu jung und insbesondere viel zu sehr Freund für mich, um da ernsthaft mehr zu wollen. Ernsthaft nicht, aber ansonsten? Wenn man mal das Hirn etwas außen vor lassen würde und dem Bauch die Entscheidungen überließe, dann wäre das Ergebnis ganz klar. Das hatte er mir schon vor ein paar Wochen deutlich klar gemacht, als Marcel am Steuer von Papas Auto mit Papa auf dem Beifahrersitz vor der Haustür stand. Da hat er vor Sorgen über zukünftige Ausfahrten ohne Beifahrer ganz gewaltig gegrummelt. Das muss wohl Liebe sein. Na, noch ist es ja eine Zeit hin, bis er den Schein richtig hat und dann mit 18 auch alleine fahren darf.

Das letzte Mal real hatten wir uns also zu diesem Zeitpunkt vor ein paar Wochen gesehen Er macht viel Sport, ist dauernd auf Wettkämpfen oder trainiert. In der Hauptsache schwimmt er und zwar besser, als jeder Fisch im Wasser. Das kostet natürlich alles seine Zeit und so sieht man sich nicht dauernd.

Immerhin gibt es Computer, Internet und Instant Messenger, so dass man nie wirklich den Kontakt zu jemandem verlieren muss. Und unsere Messenger hatten oft Hochkonjunktur. Die Begrüßung und Verabschiedung mit virtuellen Küsschen und Herzchen war schon quasi Normalität geworden. Manchmal durfte ich in seinem Auftrag irgendwelche Jungs beurteilen. Die hatten dann normalerweise „.jpg“ als Nachnamen und stammten von wer weiß wo. Vermutlich von irgendwelchen Seiten, auf denen sie mit diesen Fotos Geld verdienten. Gerade letztens wieder hatte der gut aussehende Junge auf dem Bild allerdings einen richtigen Nachnamen und der Schwimmverein, zu dessen Mannschaft er wohl gehörte, war in Marcels Nachbarschaft. „Wie findest du den?“ kam dann auch gleich von ihm dazu. „Sieht aber ziemlich jung aus“, erwiderte ich. Die Webseite nannte das Geburtsjahr, demnach durfte der Junge gerade 15 sein. „Mir zu jung“, fügte ich dann noch hinzu. „Hey, der ist gut zwei Jahre jünger als ich :-))) !!!“

Anhand von Smiley und Ansammlung der Ausrufezeichen, durfte ich das wohl als deutliches Interesse werten. „Wir wollen uns morgen mal treffen.“ Ja, das waren dann wieder die Momente, wo zehn Jahre Altersunterschied halt einfach das K.O. sind.

Eingeschlafen

Ich gebe zu, ich habe im Krankenhaus zuallererst nach den Pflegern Ausschau gehalten. Ganz unabhängig von Marcel und seinem neuen Flirt. Der, der mich am Abend in Empfang nahm, stellte sich als Pfleger Tim vor. Nein, absolut nicht mein Typ. Aber ansonsten hat er bei mir einen Stein im Brett. Er sorgte noch am Abend spontan für die Ration an Joghurt und Götterspeise, die man halt so braucht, wenn man nichts Festes essen kann. Und er klärte mich auch gleich drüber auf, welche Gerichte man von der Karte besser nicht auswählen sollte. Und ihm verdanke ich es quasi auch, dass ich doch dreisterweise im Krankenhaus mit angeschaltetem, aber natürlich leise gestelltem Handy liege. „Die in der Klinik in Hannover haben das Verbot schon grad gekippt. Die hier machen das auch nur noch, um mit dem Haustelefon Geld zu verdienen. Also einfach nicht telefonierend über den Gang rennen, okay?“ Klar. Ich sag ja, Stein im Brett.


Mit Marcel habe ich zuletzt am Donnerstag gechattet. Er berichtete stolz von seinem ganz tollen Treffen und rechnete mir vor, dass der neue Schwarm, Jörg, 16 würde, bevor Marcel 18 würde. Ich verzichtete auf die Kontrolle der Rechnung. Himmelhochjauchzend zu Tode betrübt? Irgendwie so habe ich mich an dem Abend gefühlt. Der liebste Mensch in meinem Leben ist überglücklich. Hatte ich das Recht, da traurig zu sein? Ja, zumindest für mich alleine im stillen Kämmerlein. Am späteren Abend dieses Donnerstags tauchte das Halskratzen auf, was sich Freitag zu etwas entwickelte, was sich eher nach Atomreaktor im Hals anfühlte. Und somit fühlte ich mich insgesamt einfach nur wie hochradioaktiver Sondermüll.


Das Fieber tauchte im Krankenhaus den ganzen Montag über in Schüben auf. Scheinbar fährt da jemand in mir Achterbahn. Von fast zu niedrig bis irgendwo bei „Achtung, Kopf platzt gleich“ war alles schon dabei.

Gerade jetzt, wo ich liebend gerne einschlafen würde, ist mal wieder volle Hitze angesagt. Ich schaue auf die Uhr an der Zimmerwand...22 Uhr und fünf Minuten. War es das nicht vor zehn Minuten schon? Neben mir wird weiter fleißig geröchelt. Ob ich um eine Tablette gegen Fieber und zwei gegen röchelnde Mitpatienten bitte? Ab 40 Fieber gilt man bei Mord doch sicherlich als nicht mehr zurechnungsfähig. Ich verwerfe den Gedanken, rolle mich auf die Seite und versuche, Ruhe und Schlaf zu bekommen. Kaum bin ich eingenickt, geht die Zimmertür auf und das Licht, Modell „Festbeleuchtung“, wird aktiviert. Eine Schwester kommt herein und drückt mir mit einem fröhlichen „sie werden jetzt noch operiert, ziehen sie sich bitte komplett aus und das Nachthemd an“ ein OP-Hemd, ein Armband mit Namensschild und einen Schnaps in die Hand. Nein, Schnaps ist natürlich nicht in dem kleinen Plastikbecher, sondern nur eine noch ekligere Flüssigkeit, die ich einfach mal schlucke, ohne weiter nachzufragen.

Ich schaue erneut auf die Uhr. 22 Uhr 15. Ich dachte, mein OP-Termin sollte morgen sein? Verblüfft ziehe ich mich um, aber ich kann ja eigentlich froh sein, schnell dran zu kommen. Neben mir wird weiter russisches Duett geschnarcht. Also ich wäre bei dem Licht und Lärm bestimmt aufgewacht.

Mit so einem Nachthemd auf eine Pyjama-Party gehen zu wollen, braucht einen gehörigen Mut. Erstmal zieht man es falsch herum an und zweitens bleibt es dann hinten auch noch fast völlig offen. Kaum liege ich arg gestrippt wieder im Bett, steht Pfleger Tim in der Tür und rollt mich samt Bett los. Ich mache mich auf eine Tour durchs halbe Krankenhaus gefasst, aber nach einer kurzen Fahrstuhltour zwei Etagen nach oben stehen wir schon vor der gekachelten, außerirdisch wirkenden Landschaft der Operationssäle. Hier darf ich dann wieder faul sein und werde vom Bett direkt in Richtung Operationstisch geschoben. Schnell ist ein Schlauch in dem kleinen Zugang in meinem Arm und von allen Seiten werde ich mit Kabeln zugepflastert. Auf ein „Zählen Sie doch mal bis zehn“ des Anästhesisten fange ich an zu zählen „eins...zwei...dr......“

Aufgewacht

Es wird hell um mich herum. Die Uhr an der Wand des Raumes zeigt schauerliche sechs Uhr und zehn Minuten. Ich schaue mich um und liege wieder in „meinem“ Zimmer. Alleine. Noch etwas schlaftrunken ob der frühen Stunde. Keine Russen neben mir, weder röchelnd noch mit einem „Guten Morgen“ im passenden Akzent auf den Lippen. Draußen hat die Nacht noch nicht ganz dem sich ankündigenden Tag Platz gemacht und im Spalt zwischen den beiden Gardinenhälften kann ich Bremen im grautrüben Nieseldunst entdecken.

Etwas fehlt noch. Viel wichtiger als Tageslicht und Russen. Die Halsschmerzen sind fort! Ich greife zum Handy in der Nachtschrankschublade, welches mir die Uhrzeit bestätigt. Wenn ich letzte Nacht operiert worden war, wieso spüre ich dann jetzt quasi keine Schmerzen? Ich stehe auf und bemerke, immer noch das seltsame Nachthemd mit der entzückenden Rückseite an zu haben. Die Gardinen lassen sich flugs zur Seite schieben und geben den Blick frei auf das weiträumige Krankenhausgelände, welches gerade langsam aus dem Schlaf erwacht.

Pünktlich um viertel vor sieben steht eine Schwester in der Tür. „Ach guten Morgen, sind sie auch schon wach? Dann brauch ich ja gar nicht weiter Lärm zu schlagen. Frühstück kommt um acht, dann ist Visite.“ Als wenn ich das nicht wüsste, Krankenhausalltag. Vor lauter Alltagstrott vergesse ich glatt zu fragen, wo denn meine Zimmergenossen geblieben sind, geschweige denn meine Schmerzen. Vermutlich ist einfach die Betäubung noch drin.

Pünktlich um acht steht die Schwester samt Pfleger Tim in der Tür und stellt mir ein Tablett mit Frühstück auf den Tisch. „Wo sind denn die zwei anderen aus meinem Zimmer“, rufe ich den beiden zu, während sie schon wieder rausgehen. „Wurden gestern entlassen.“ höre ich die Schwester noch zurückrufen. Gestern? Gestern hatte ich noch bis 22 Uhr 15 im Bett gelegen, während beide neben mir röchelten. Wie lange hatte ich eigentlich seit der OP geschlafen?

Nach dem Frühstück und einer ausgiebigen Dusche ziehe ich mich gerade wieder an, als es etwas zaghaft an der Tür klopft. „Herein“ rufe ich, als sich auch nach fünf Sekunden die Türklinke noch nicht bewegt. Durch die Tür schaut ein dunkler Haarschopf mit blonden Spitzen. Marcel. Die Blondierung ist schon fast wieder aus seinen sonst tiefschwarzen Haaren herausgewachsen. Er schließt die Tür, kommt zu mir und umarmt mich stürmisch, um dann ebenso spontan etwas Abstand zu halten. „Ich tu dir doch nicht irgendwie weh, oder?“ Ich muss schmunzeln. „Nein, solange du nicht versuchst, mich irgendwie zu erwürgen. Überall sonst geht das schon. Was machst du eigentlich hier?“ Er grinst wissentlich. „Ich hole dich ab!“

Ja, sein Grinsen kann noch breiter werden, als er mein wohl fürchterlich verblüfftes Gesicht sieht. „Jetzt schon? Ich dachte, ich müsste noch ein paar Tage nach der OP bleiben? Und wieso holst du mich überhaupt ab? Ich meine, woher weißt du denn überhaupt, dass ich entlassen werde und...“

„Hey, langsam mein Großer!“ unterbricht er mich. „Du hast seit der OP drei Tage durchgepennt. Deine Eltern waren da, ich war auch schon mal da und da hab ich deinen Eltern halt gesagt, dass ich dich abholen würde, wenn’s so weit ist.“

Ich denke gar nicht weiter über die Logik nach, sondern freue mich einfach. Ich freue mich über meine Schmerzfreiheit, über die Entlassung und über Marcel insbesondere. Der hüpft fast wie ein Gummiball durchs Zimmer und will, dass ich schnell meine Sachen zusammenpacke. Kaum ist das geschehen, stehen wir vorm Schwesternzimmer, bekommen die Unterlagen zur Entlassung und sind aus dem Krankenhaus heraus.

Ein Taxi ist schnell gefunden und ein paar Minuten später und diverse Euro ärmer sind wir bei mir zu Hause angekommen. Meine Wohnung sieht lange nicht mehr so chaotisch aus, wie vor meinem Krankenhausaufenthalt. Ich entscheide kurz zwischen Putzteufeln und meiner Mutter und entscheide mich dann für letztere. Seufzend lasse ich mich aufs Sofa fallen. Zu Hause. Endlich. Marcel lässt sich mit einem ähnlichen Seufzer neben mich fallen. Sekunden später ruht sein Kopf an meiner Schulter. „Und, was ist mit deinem fast-schon-bald-16-jährigen Schwimmertypen?“ frage ich mit einem gewissen Grinsen in der Stimme. Marcel hebt den Kopf und schaut mich an. „Ist mir irgendwie doch zu jung. Den kann ich ja nicht mal irgendwo mit hinnehmen.“

Man kann es nicht hören, aber innerlich poltert ein riesiger Steinbruch von meinem Herzen. „Also mehr als eine Nacht war nicht drin“, schlussfolgere ich. Der entrüstete Blick ist schon eine Strafe. „Hey nee, auf so was hab ich absolut keine Lust.“ Woraufhin ich Marcel spontan auf dem Schoß sitzen habe. „Aber ich hätte jetzt auf was anderes Lust“ flüstert er mir ins Ohr und zieht mich spontan vom Sofa hoch und in Richtung Schlafzimmer. Sekundenbruchteile später liegen wir eng umschlungen und mit weitaus weniger Bekleidung als vorher auf dem Bett. Es passiert gar nichts weiter, wir liegen da und halten uns richtig fest. Und genau das reicht es mir schon, ihn hier so zu spüren für den Moment. Ich halte ihn einfach fest. Ich habe mehr erreicht, als ich jemals zu erreichen geglaubt hätte. Warum sollte ich diesen Augenblick jetzt loslassen?

Das Licht geht an. Grell, wie mein Schlafzimmer es noch nicht gesehen hat. „Guten Morgen! Aufstehen, die Herren!“ durchbricht eine kräftige, weibliche Stimme die bis eben noch herrschende Ruhe. Ich setze mich im Bett auf. Nein, mein Schlafzimmer ist dies auch nicht mehr. Die Stimme wird erwidert von zwei „Guten Morgen“ mit leicht russischem Akzent. „Für sie gibt’s gleich kein Frühstück,“ sagt die Schwester, in meine Richtung gewandt, „ihre Operation ist ja heute Nachmittag.“

Ich lasse mich in die Kissen zurückfallen. Hoffentlich träume ich nochmal so. Und hoffentlich wird irgendwann der Traum wahr.

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