zur Desktop-Ansicht wechseln. zur mobilen Ansicht wechseln.

Erlösung

Lesemodus deaktivieren (?)

Informationen

 

Wie es in mir aussah, wusste niemand wirklich. Klar, ich hatte gute Freunde, allerdings hatte ich Angst, dass sie nicht mehr meine Freunde sein würden, wenn ich mich ihnen wirklich geöffnet hätte. Eigentlich war es dann auch nicht richtig, sie als Freunde zu bezeichnen. Freunde sollten doch eigentlich immer zu einem halten.

Vor vier Jahren bin ich umgezogen. Ich habe mir damals vorgenommen, dass ich alles anders mache, dass ich zu den Leuten, die ich kennen lerne, ehrlich bin. Leider hat sich dieser Vorsatz nach kürzester Zeit schon wieder in Luft aufgelöst. Ich habe ihnen wieder etwas vorgespielt, ich habe sie belogen.

Versteht mich nicht falsch, ich habe das nie mit bösem Willen getan. Ich habe es nicht bewusst getan, es kam einfach so aus mir heraus. Vielleicht, weil ich dazu gehören wollte, vielleicht auch, weil ich den anderen einfach nur gefallen wollte. Ich habe immer versucht es allen Recht zu machen, so dass ich von allen akzeptiert wurde. Eigentlich können sich diejenigen, mit denen ich mich auch gestritten habe, freuen. Es waren die einzigen, die wirklich etwas von mir kennen gelernt haben.

Vor meinen Eltern habe ich mich schon sehr früh verschlossen. Ich habe ihnen nie etwas von meinen Problemen in der Schule erzählt. Ich war kein schlechter Schüler. Meine Noten waren immer so, dass meine Eltern zufrieden sein konnten. Ich kam mit meinen Mitschülern einfach nicht klar. Ich war immer derjenige, der geärgert wurde. Auf mir hackten alle herum. Meinen Eltern habe ich davon nie etwas erzählt. Sie dachten immer, es wäre alles in Ordnung. Ich habe auch nie etwas gesagt oder getan, was sie daran hätte zweifeln lassen können. Es war nicht so, als ob meine Eltern irgendwelche Unmenschen waren. Eigentlich konnte ich nie über sie klagen. Ich glaube, ich hätte ihnen alles erzählen können. Warum ich es nicht getan habe, weiß ich auch nicht. Vielleicht, weil ich sie wirklich geliebt habe und sie nicht mit meinen Problemen belasten wollte.

Von meinen Problemen in der Schule habe ich meinen damaligen Freunden noch erzählt. Allerdings habe ich ihnen dabei nie gesagt, wie ich mich dabei wirklich gefühlt habe. Sie wussten nicht, wie schlecht es mir damit ging, wie sehr ich darunter gelitten habe. Ich habe ihnen nur gesagt, was meine Mitschüler mit mir getan haben, und mich darüber aufgeregt. Ich habe ihnen aber nicht von meinen Tränen erzählt, die ich leise weinte, wenn ich nachts alleine in meinem Bett lag. Schon damals war ich innerlich zerbrochen, aber ich habe nie jemandem davon erzählt. Ich habe immer versucht alles allein zu regeln. Geschafft habe ich es allerdings nie.

Anfangs waren meine Probleme noch nicht so groß, ich konnte sie noch verdrängen. Ich habe es noch geschafft nach außen hin der freundliche, gutgelaunte Mensch zu sein, für den mich alle hielten. Ich habe ja auch alle glauben lassen, dass ich wirklich so bin, immer der liebenswürdige Sonnenschein, der mit jedem gut klarkommt. Doch irgendwann ging es einfach nicht mehr und ich fing an mich zurückzuziehen. Es geschah nicht plötzlich, sondern ganz langsam. Ich kapselte mich auch nicht vollständig von den anderen ab, sondern hielt mich einfach etwas zurück, war nicht mehr so euphorisch wie sonst.

Nach meinem Umzug hatte ich noch ab und zu Kontakt zu meinen ‘alten’ Freunden. Zu dieser Zeit habe ich ihnen vorgeschwärmt, wie gut es mir geht und wie toll alles ist. Doch so gut ging es mir natürlich nicht wirklich. Ich fühlte mich allein, ich kannte niemanden und wusste nicht, was ich machen sollte.

Ich bin niemand, dem es leicht fällt neue Leute kennen zu lernen. Ich mache mir eigentlich immer viel zu viele Sorgen, was andere Leute über mich denken. ‘Was denken die jetzt von mir, wenn ich einfach so hingehe und die anspreche?’ Ich hatte einfach viel zu große Angst vor Abweisungen. Obwohl ich gar nicht weiß, warum. Ich kann mich an kein schreckliches Kindheitserlebnis erinnern, das so etwas hätte auslösen können. Allerdings bin ich auch kein Psychologe oder so. Mit solchen Sachen kenne ich mich nicht wirklich aus.

Irgendwie habe ich dann doch jemanden kennen gelernt. Anfangs war ich wirklich ehrlich zu ihnen. Ich habe ihnen alles Normale erzählt, alles Unverfängliche eben. Diesen oberflächlichen Small Talk, den jeder kennt. Als es allerdings etwas tiefer ging, habe ich mein wahres Ich wieder verschlossen. Ich hatte einfach Angst, zu langweilig für die anderen zu sein. Dass ich es nicht wert bin, mich näher kennen zu lernen.

Es kam wieder ganz automatisch. Ich habe irgendwelche Geschichten erzählt. Dinge, die ich angeblich erlebt habe, Länder in denen ich angeblich war, Beziehungen, die ich angeblich gefühlt habe. Ich wollte mich einfach so interessant wie möglich machen, damit ich beachtet werde. Damit es sich lohnt, mit mir befreundet zu sein.

Mir fehlte das Selbstbewusstsein zu mir selber zu stehen, mein wahres Ich zu zeigen. Ich hatte einfach zu viel Angst davor. Ich hatte Angst davor, wieder verlassen zu werden. Dass sich meine Freunde wieder von mir abwenden würden.

Der Kontakt zu meinen ‘alten’ Freunden riss mit der Zeit ab. Das hatte keinen bestimmten Grund, es ist einfach passiert. Irgendwann wurden die Anrufe immer seltener, ohne dass ich es bewusst mitbekommen habe. Irgendwann kamen dann gar keine Anrufe mehr. Ich hatte sie verloren, weil ich nicht mehr präsent war. Sie haben mich nicht mehr gesehen. Aus den Augen, aus dem Sinn. Ich war nicht mehr interessant für sie. Meine Befürchtungen haben sich bewahrheitet.

Diese Gedanken kamen jedoch erst, als der Kontakt schon vollständig abgebrochen war. Unbewusst bestätigte mich das in meinem Tun, mich immer besser zu machen. Damit hatte ich auch Erfolg. Ich sammelte immer mehr ‘Freunde’ um mich. Leute, die dachten, sie kennen mich, die dachten, sie verstehen mich. Doch in Wahrheit wusste niemand, wer ich wirklich bin. Ich lebte in meiner eigenen kleinen Welt, von der niemand etwas wusste. Ich war alleine mit meinen Träumen und Hoffnungen. Niemand kannte mein Innerstes, ich zeigte mich einfach niemandem.

Dann kamst du.

Von Anfang an spürte ich, dass du anders warst. Allerdings hatte ich auch Angst davor. Ich hatte noch nie jemanden getroffen, der so war wie du. Ich wusste nicht, was es war, was anders an dir war. Ich spürte es einfach. Ich hielt mich bei dir zurück, erzählte nur wenig und beobachtete dich mehr. Ich bemerkte immer wieder, dass du auch mich beobachtetest. Du hast mich verunsichert. Doch ganz langsam und unaufhaltsam wurdest du immer mehr ein Teil meines Lebens. Ich konnte nichts dagegen tun, du warst einfach so da. Ich wollte jedoch nicht, dass du wieder verschwindest. Bei dir fürchtete ich mich noch mehr davor als bei jedem anderen. Ich hatte Angst davor, dass du wieder verschwindest, bevor ich dich kenne, bevor ich dein Geheimnis gelüftet hätte.

Wir verbrachten immer mehr Zeit zusammen. Anfangs immer nur mit den anderen. Doch mit der Zeit auch nur zu zweit. Wir haben uns einfach irgendwo getroffen, einen Kaffee getrunken und uns beobachtet. Wir redeten kaum miteinander.

Es war seltsam. Ich wusste nicht, was mich an dir so sehr faszinierte. Ich wusste nur, dass ich nicht mehr glücklich werden würde, wenn du aus meinem Leben verschwinden würdest.

Irgendwann hast du angefangen zu reden. Einfach so. Du hast mir von deinem Leben erzählt und ich hörte zu. Du hast mir einfach alles erzählt und hast nichts dafür erwartet. Du wolltest keine Gegenleistung dafür. Ich war gefesselt davon. Ich zog jede einzelne Information davon auf und lechzte nach immer mehr. Schon nach kurzer Zeit hatte ich das Gefühl dich wirklich zu kennen. Als hätte ich dein ganzes Leben mit durchlebt. Du hast mir einfach so von deinen Ängsten und Gefühlen erzählt. Bald fühlte ich mich wie ein Teil deines Lebens.

Ich weiß nicht wann genau es geschehen ist. Irgendwann fing ich an zu erzählen. Ich redete über mich, über meine Vergangenheit. Ich tischte dir keine Geschichten auf, wie den anderen. Ich wusste nicht, warum ich dir vertraute. Ich fühlte mich sicher.

Du hast mich nicht verurteilt, dass ich mich den anderen nicht richtig geöffnet habe, dass ich ihnen Lügen erzählt habe. Du hast mich einfach nur zugehört und mich kennen gelernt. Es war ein ganz neues Gefühl für mich, mich vollständig zu öffnen, alles von mir preiszugeben.

Oftmals saßen wir uns gegenüber und ich hatte Tränen in den Augen. Ich hatte das Gefühl, noch nie in meinem Leben so ehrlich gewesen zu sein. Ich merkte zum ersten Mal, wie es war, sich alles von der Seele zu reden. Es war wie ein Gefühl von Freiheit. Ich spürte, wie eine Last von mir genommen wurde.

Als ich dir alles, wirklich alles erzählt hatte, fühlte ich mich leer, ausgebrannt. Du hast mich einfach nur angesehen und gelächelt. Dieses Lächeln war ansteckend. Das erste Mal lachte ich wirklich befreit. Wir lachten solange bis mir der Bauch wehtat und mir die Tränen kamen. Du hast mich gefragt, wie ich mich danach fühlte. Wie habe ich mich gefühlt? Anders. Ich war noch nie so ehrlich.

Ich setzte mich neben dich und umarmte dich. Ich dankte dir dafür. Als ich dich fragte, warum du dass getan hast, meintest du, weil ich etwas Besonderes sei. Ich wusste nicht, was ich darauf sagen sollte. So etwas hatte noch nie jemand zu mir gesagt. In meinen Augen sammelten sich Tränen. Du hast deine Arme um mich gelegt, mich einfach nur festgehalten.

Von diesem Zeitpunkt an wurde unsere Freundschaft wirklich etwas Besonderes. Es war das, was man als wirkliche, echte, tiefe Freundschaft bezeichnet. Du und ich, wir waren fast unzertrennlich. Ich konnte einfach nicht mehr ohne dich und ich hatte das Gefühl, dass es dir genauso ging. Die anderen fingen schon an Scherze über uns zu machen, allerdings störte mich dass nicht. Ich hatte dich, konnte mir dir über alles reden und musste nicht mehr alles auf meiner Seele abladen. Du hast immer zu mir gehalten. Es war ein wunderbares Gefühl zu wissen, dass immer jemand hinter mir stand.

Du wurdest immer wichtiger in meinem Leben. Jeden Tag etwas mehr. Mitten in der Nacht wurde mir klar, was passiert war.

Ich hatte mich verliebt.

Es passierte einfach so. Ich hatte nicht die Möglichkeit etwas dagegen zu tun. Mit einem Mal waren meine Ängste wieder da. ‘Wirst du mich verstehen, wenn ich dir das sage, oder wirst du dich von mir abwenden?’

Ich versuchte meine Gefühle vor dir zu verbergen, doch schon bald hast du bemerkt, dass ich mich vor dir verschließe. Du wolltest wissen, was mit mir los ist. Wolltest wissen, ob ich dir nicht mehr vertraue. Natürlich habe ich dir vertraut, ich habe dich geliebt. Das konnte ich dir aber nicht sagen und so schwieg ich. Ich sah die Enttäuschung in deinen Augen. Ich konnte das nicht ertragen und so begann ich zu reden. Über meine Ängste dich zu verlieren, meine Befürchtungen, dass du dich von mir abwendest. Du hast mich in den Arm genommen und mir gesagt, dass so etwas nicht geschehen wird. Ich wäre dir viel zu wichtig, als dass du mich einfach wieder fallen lassen würdest.

Ich konnten deinen flehenden Augen nicht mehr standhalten. Ich senkte meinen Blick und begann zu erzählen. Ich gestand dir meine Gefühle, meine Hoffnungen, meine Träume. Ich zitterte vor Angst. Noch nie in meinem Leben fühlte ich mich so unsicher.

Plötzlich spürte ich etwas Feuchtes an meiner Wange. Ich hob meinen Blick, sah, wie sich Tränen in deinen Augen sammelten und langsam ihren Weg über dein Gesicht nahmen. Deine Hand hob sich und strich sanft über meine Wange. Ich realisierte nicht wirklich, was du tatest.

Wie in Zeitlupe kamst du mir entgegen. Ganz langsam senkten sich deine Lippen auf meine.

Wir trafen uns zu einem perfektem, nie enden wollenden Kuss.

Lesemodus deaktivieren (?)