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Weil nicht sein kann was nicht sein darf

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Inhaltsverzeichnis

Vorwort

*räusper*

Hallo!

Auch wenn es mir schwerfällt zu realisieren, dass der erste Teil meiner ersten Story tatsächlich fertiggestellt ist, muss ich mein Baby nun wohl oder übel loslassen. Und auch wenn ich es bis zum ersten Teil einer Story gebracht habe, beim Vorwort muss ich leider passen.

Darum ist das einzige, was ich hier unbedingt unterbringen möchte:

Schreibt mir.

Ganz egal, wie die Kritik ausfällt, ich bin an allen Gedanken interessiert, die man zu meiner Story nur haben kann.

Und nun, viel Spaß beim Lesen.

Andi

Wirre Gedanken zu später Stunde

Von weitem ertönt ein leises Grollen. Der Tag war heiß, ein Gewitter kündigt sich an.

Ich liebe dieses Geräusch.

Wenn sich der Hall des Donners seinen schier unendlichen Weg in das Dunkel der Nacht bahnt und ihn nichts, aber auch wirklich gar nichts aufhalten kann.

Vielleicht sollte ich mir mal meine persönlichen Geräusche-Charts erstellen, da würde der Donner sicherlich ganz oben mitmischen.

Für einen kurzen Moment erhellt das Feuerzeug, mit dem ich mir eine Zigarette anzünde, mein Zimmer. Es ist fünf Uhr morgens und ich sitze auf meinem Bett und lasse meine Gedanken kreisen. Eine Collage aus Erinnerungen an meinen letzten Urlaub, die vor wenigen Stunden beendete Geburtstagsparty bei Fabian, mein gerade begonnenes Praktikum in der örtlichen Kreissparkasse und viele weitere bunte, scheinbar nicht zueinander passende Bilder und Gefühlsfetzen wirbeln durch meinen noch alkoholisierten Schädel.

Der Rest des Ortes schläft den Schlaf der Gerechten. Bin ich der einzige Ungerechte? Bin ich der Einzige, der um diese Zeit, statt zu schlafen, total fertige Gedanken fasst?

Offensichtlich bin ich der einzige.

Ich lasse mich rücklings auf mein Bett fallen, mit meinen Händen den Kopfhörer fest auf meine Ohren drückend. Airs »All I Need« erzeugt mal wieder ein wehmütiges Gefühl in mir. Ein Gefühl, das versucht, die Enge der Ritterrüstung, in der ich zu stecken glaube, in seine Einzelteile zu sprengen. Wieso nur sind die alle so scheiße? OK. Ich kann mich eigentlich nicht beschweren. Es ist ja nicht so, dass ich wie ein einsamer Reiter durch die karge Tundra des Lebens reiten würde.

In der Schule hab ich meine Freunde, meine Eltern wollen nur mein Bestes und mit Maria, der Schwester von Fabian, habe ich den untrüglichen Beweis dafür, dass ich in der Damenwelt durchaus bemerkt werde. Und doch komme ich mir immer wieder wie eine Außerirdischer vor, der zur Beobachtung der spätpubertären Welt von Klein Amelinghausen auf diesem Planeten ausgesetzt und leider vergessen wurde. Um mich herum wirbelt das Leben und statt mich wie die anderen davon mitreißen zu lassen, stehe ich hier als einziger im Auge des Orkans und habe Angst, dass mein ganzes Leben an mir vorbeirauschen könnte, wenn ich so weiter mache.

Geht das nur mir so?

Offensichtlich geht das nur mir so. Offensichtlich bin ich der einzige.

Sie ziehen alle sicher ihre Bahn durch ihr kleines Leben, durch unsere kleine Welt, wie Kometen im weiten All, über die ich erst kürzlich einen Bericht im Fernsehen gesehen habe. Müssten sie dabei nicht eigentlich zwangsweise miteinander kollidieren? Oder ist es eher ein gegenseitiges Annähern und wieder Abstoßen, um danach die Energie für den Weiterflug zu haben? Wenn ich ehrlich bin, wüsste ich niemanden, bei dem ich Schwung holen könnte in diesem kleinen Kaff

außer Fabian.

Shit!

Was denke ich hier überhaupt für einen Dünnsinn zusammen.

Kann Alkohol eigentlich wahnsinnig machen? Ich dachte immer nur LSD-konsumierende Hippies springen vollkommen durchgeballert von irgendwelchen Hochhäusern, in dem Glauben ihnen könnte plötzlich die Schwerkraft nichts mehr anhaben.

Brav befolgt mein CD-Player die Repeat-Funktion und in der kurzen Pause öffne ich die Augen und bemerke, dass das Gewitter näher gekommen ist. Die Gardine vor meinem weit geöffneten Fenster bewegt sich und lässt für kurze Augenblicke den Schein der Straßenlaterne vor unserem Haus in mein Zimmer. In den kurzen Sekunden, in denen mir der wehende Vorhang einen Blick nach draußen ermöglicht, beobachte ich einen Mückenschwarm, der im Schein der Laterne tanzt, als wäre er auf einer Technoparty. Die Luft ist schwül und ich ziehe mein T-Shirt aus. Von neuem erklingt der Text von »All I Need«, der mit so wenigen Worten so viele meiner Gefühle ausdrückt.

All I need is a little time
To get behind this sun and cast my weight
All I need's a »peace« of this mind
Then I can celebrate

All in all there's something to give
All in all there's something to do
All in all there's something to live
With you...

Air »All I Need (1998)

Vor meinen Augen taucht das Video zu dieser Nummer auf. Wie gerne wäre ich so locker wie die Skater in diesem Clip. Wie gerne wäre ich so cool, von allen be- und geachtet. Vielleicht sollte ich mir in den nächsten Tagen auch mal so ein paar Klamotten zulegen. Stattdessen sitze ich hier in dieser Einöde und...

Zack!

Mein Zimmer ist taghell. Was für ein Blitz.

Der Donner folgt sofort und plötzlich sitze ich im Dunkeln.

Die Musik ist verstummt, die Straßenlaterne, die einzige Lichtquelle, ist erloschen, und als der letzte Hall des Donners langsam verklungen ist, höre ich nur noch

das monotone Prasseln des Regens, der inzwischen das Gewitter ergänzt hat.

Eine nette Kombination, stelle ich fest. Der langsam ausrollende Hall des Donners harmoniert hervorragend mit dem arhythmischen Prasseln des Regens.

Eine aufspringende Zimmertür unterbricht die Harmonie und meine siebenjährige Schwester Inga stürmt heulend herein und springt auf mein Bett. Zitternd kuschelt sie sich an mich und ich streiche ihr beruhigend übers Haar. Ein dumpfes »Lenny ich habe Angst!« dringt aus meinem Kopfkissen. Ich muss lächeln. Als ich so klein war hatte ich auch immer Angst. Sogar noch als ich älter war. Leider haben meine Eltern mich in solchen Momenten wieder aus ihrem Schlafzimmer geschmissen. »Lennart, stell dich nicht so mädchenhaft an!« höre ich sie sagen. Kein Wunder, dass klein Inga lieber zu mir kommt, als zu meinen Eltern. Das Schniefen wird allmählich leiser und weicht einem gleichmäßigen Atmen. Über den Gedanken, dass ich sie eigentlich beneide, weil in ihrem Alter die Welt noch in Ordnung ist, schlafe ich ebenfalls ein.

»All I need is a little time...«

Wirres Erwachen zu früher Stunde

Was für ein rauschendes Fest. Die Gäste grölen Westernhagens »Freiheit« und sind sich dieser offenbar absolut sicher. Mit einer Flasche Becks bewaffnet sitze ich am Rand und beobachte das ohrenbetäubende Spektakel als sich plötzlich Fabian, das Geburtstagskind, neben mich setzt und grinst.

»Hammer Party, oder?« brüllt er mir ins Ohr.

»Nicht schlecht« schreie ich zurück, aber mein Gesichtsausdruck lässt keinen Zweifel an der Gleichgültigkeit meiner Antwort aufkommen.

»Was ist los?« Fabians Grinsen ist verschwunden.

»Nix! Alles in Ordnung« antworte ich und lege zur Tarnung ein gequältes Grinsen auf.

»Ich glaub ich muss Dich etwas aufmuntern.«

»Alter, hat der eine Fahne!«, denke ich mir noch als sich plötzlich eine Hand an meinem Hosenbund zu schaffen macht. Panisch versuche ich mich zu wehren, aber ich kann mich plötzlich nicht mehr bewegen. Ich öffne meinen Mund und versuche ihn anzuschreien, doch es kommt kein Laut über meine Lippen. Was geschieht hier. Ich bekomme Angst. Mein Herz rast, Schweißperlen tropfen aus meinem Haar und landen auf meinen Lippen. Seit wann schmeckt Schweiß süß? Und was sollen die Leute bloß denken. Die jedoch scheinen Fabians eindeutige Handbewegungen gar nicht zu bemerken.

»Prost!«

Ein mir unbekannter Gast versucht mit mir anzustoßen und verschüttet dabei sein halbes Bier auf den vor mir knienden Gastgeber. Der Unbekannte bemerkt zwar sein Malheur, aber nicht das, was hier gerade vor sich geht. Nach weiteren vollkommen ergebnislosen Versuchen mich freizustrampeln sinke ich verwirrt in mich zusammen und fange an, Gefallen an dem zu finden, was Fabian mir da gerade antut.

»Das ist ja wohl die Höhe!« höre ich meinen Vater schreien.

Ich reiße meine Augen auf.

Die Musik verstummt und ich finde mich plötzlich im meinem Bett liegend wieder. Mein Wecker zeigt blinkend 0:00h und ich spüre, dass mein rechter Arm taub ist, da meine kleine Schwester darauf liegt und ebenfalls wach wird.

»Hast Du kein eigenes Bett? Los! Abmarsch! Frühstück ist fertig. Wir wollen um elf bei Oma sein. Und Du mein lieber Herr Sohn, wir sprechen uns gleich.«

Meine Sinne sind noch nicht ganz beieinander und mein Arm kribbelt als würde er in einem Ameisenhaufen stecken. Was ist denn hier los?

Der väterliche Feldwebel setzt zum Rückzug an, meine wehrlose Schwester am Arm aus dem Zimmer schleifend.

Haben die hier eigentlich alle einen an der Waffel? Ich richte mich auf und reibe mir die Augen. Hoffentlich bin ich bald hier raus. Nächstes Jahr werde ich achtzehn. Dann können die mich alle mal gerne haben. »Jeden Sonntag das gleiche Theater« murmele ich als ich mich wieder auf mein Kissen fallen lasse und die Bettdecke über die Ohren ziehe.

»Lennart. Komm steh auf. Dein Vater duldet keine Unpünktlichkeit, das weißt Du doch.«

Meine Mutter flüstert geradezu, damit mein Vater es nicht hören kann. Der mag es gar nicht, wenn meine Mutter ihm widerspricht oder sich nicht so verhält, wie er es für richtig hält.

Ich schiele unter meiner Decke hervor und sehe wie meine Mutter das Zimmer verlässt. Sie klang nicht gerade gut gelaunt, hat aber zumindest in einem geradezu netten Ton mit mir geredet. Was für ein Lichtblick an diesem mal wieder traditionell beschissen beginnenden Sonntagmorgen.

Ruckartig schlage ich die Bettdecke beiseite und springe aus dem Bett. Die Beule in meinen Shorts erinnert mich plötzlich an meinen wirren Traum, aus dem ich gerade gerissen wurde. Während ich ins Bad schleiche, versuche ich den Traum zu rekonstruieren, aber ich sehe nur Fragmente vor mir. Als das lauwarme Wasser der Dusche meinen verspannten Nacken massiert, fängt mein Hirn endlich wieder an zu arbeiten. Trotzdem will es mir nicht gelingen einen Zusammenhang zwischen den einzelnen Szenen meines Traums herzustellen. Bei der Party auf der sich mein Traum abspielte, handelte es sich eindeutig um die gestrige bei Fabian. Aber was zum Teufel hatte der an meinem Schwanz zu suchen. Als sich selbiger plötzlich aufrichtet vermischt sich das wohlige Gefühl des Duschstrahls mit dem nun wiederkehrenden Gefühl, das ich am Ende des Traums verspürt habe. Und wieder ist es mein Vater, der mich aus meinen Gefühlen reißt.

»Zackzack! Deine Mutter muss sich noch schminken. Sieh zu, dass du fertig wirst.«

Erschrocken und ertappt lasse ich reflexartig meinen Schwanz los. Zum Glück kann man nicht durch unsere Duschkabine sehen, sonst wäre ich jetzt vor Scham in Ohnmacht gefallen.

Ich spüle die letzten Seifenreste von meinem Körper und verlasse die Dusche. Tropfend stehe ich vor dem Badezimmerspiegel und sehe schweigend in mein Spiegelbild. Eigentlich finde ich mich ganz süß. Maria scheint Recht zu haben. Für kurze Zeit blitzt noch einmal die Endsequenz meines Traums auf als ich mir schließlich mein Handtuch schnappe und mich abtrockne.

Minuten später sitze ich neben meiner Schwester am Frühstückstisch und zwänge wortlos und meinen Blick starr an den kitschig geblümten Teller vor mir heftend ein Marmeladentoast in mich hinein. Meine Eltern wuseln hektisch um uns herum und bereiten schon alles für die Abfahrt vor. Wieder kommt mir das Bild mit dem Auge des Orkans in den Sinn. Selbst die übliche Diskussion, was mir denn einfallen würde, erst um drei Uhr morgens nach Hause zu kommen, lasse ich kommentarlos über mich ergehen.

Herzlich Willkommen bei "Wünsch Dir einen Sohn"!

Als wir aufbrechen ist es zwar erst kurz nach zehn, aber die Temperaturen verkünden bereits einen schwülen Spätsommertag, der uns bevorstehen wird. Die Fahrt verläuft ruhig. Selbst Inga hat nach wenigen Minuten das Quengeln eingestellt, ein Wort meines Vaters reichte wie immer aus. Die einzige und einseitige Kommunikation besteht darin, dass mein Vater meint, er müsse den Touristenführer spielen und uns auf die Sehens(un)würdigkeiten unserer Heimat aufmerksam machen. Dabei kenne ich die Gegend im Gegensatz zu ihm nicht nur aus dem Vorbeifahren. Schließlich lebe ich seit fast 18 Jahren hier in dieser Einöde, während er seine Kindheit in Schlesien verbracht hat, was aber sicherlich auch nicht aufregender war, von den Wirren des Krieges mal abgesehen.

Ich versuche mich, mit der Lektüre für meinen Deutschkurs, »Die Leiden des jungen Werthers«, von dem sonoren Dröhnen, das unser Auto verursacht, abzulenken. Ein unangenehmes Geräusch, das in meinen Geräusche Charts sicherlich keine Chance hätte. Schon als kleines Kind konnte ich während Autofahrten nicht schlafen, was ja nun wirklich viele Menschen aus ihrer eigenen Kindheit zu berichten wissen.

Meine Großmutter wohnt 50 km von uns entfernt in einem nicht minder kleinen Örtchen. Dort angekommen wurden wir schon auf der Straße von ihr begrüßt. Trotz ihrer 84 Jahre und der Tatsache, dass mein Großvater schon vor fast 20 Jahren abgetreten ist, ist sie äußerst rüstig und lässt es sich nicht nehmen, noch in ihrem eigenen Haus zu wohnen. Mein Onkel wohnt zwar mit seiner Familie auch dort, ich habe allerdings immer das Gefühl, dass er dort nur wohnt, um sich nach dem Ableben meiner lieben Oma sofort das gesamte Haus und das ansehnliche Waldgrundstück unter den Nagel zu reißen. Ich bin froh, dass er mitsamt seiner Familie verreist ist.

Manchmal glaube ich, dass meine Großmutter meinen Vater nur adoptiert hat. Unterschiedlicher können Menschen nicht sein. Sie betont allerdings immer, dass mein Vater ganz nach meinem Opa kommt, der bereits kurz vor meiner Geburt gestorben ist, so dass ich das leider nie nachprüfen konnte. So ist meine Großmutter die einzige Person in unserer Familie, von meiner kleinen Schwester Inga mal abgesehen, die einen zur Begrüßung umarmt. Während ich das jedes Mal genieße und auch keine Probleme damit habe, dass sie mich dabei fast erdrückt, reagieren meine Eltern dabei wesentlich reservierter. Ich kann mich nicht entsinnen, dass mein Vater oder meine Mutter mich schon mal umarmt oder geküsst hätten. Bin ich etwa auch nur adoptiert?

Nach dem festlichen Mittagessen, Schweinebraten mit Kliessla, das sind schlesische Kartoffelklöße, und einem fulminanten Nachtisch sitze ich zufrieden im Garten unter dem großen Kirschbaum und lasse die Seele baumeln. Meine Schwester tollt durch den Garten und mein Vater meckert wie immer, dass sie nicht so viel Lärm machen soll. Business as usual. Als meine Schwester plötzlich zur Gartenpforte flitzt, sehe ich dass meine Tante Gisela und mein Onkel Herbert den Garten betreten. Auch hier eine sehr reservierte Begrüßung und ein eher sparsames Lächeln von allen Beteiligten. Meine Güte, bin ich hier auf einer Beerdigung?

Wenig später sitzen wir in versammelter Runde bei Kaffee und Kuchen im Garten und die üblichen Belanglosigkeiten werden ausgetauscht. Tante Hedwigs neues Hüftgelenk, die Inkontinenz meines anderen Großvaters (was für ein Thema beim Essen, und mir immer schlechtes Benehmen vorwerfen...) und das tolle letzte Zeugnis meines gleichaltrigen Cousins Ralph, dem Sohn von Gisela und Herbert.

»Also unser Ralph ist ja so ein begnadeter Schüler. Der hat doch tatsächlich einen Durchschnitt von 1,3 mit nach Hause gebracht.« erzählt meine Tante mit ihrem künstlichen Grinsen, bei dem ich jedes Mal denke, dass ihr gleich das Gebiss rausfällt.

»Och, wir können uns über unseren Lennart auch nicht beklagen. Bei ihm steht da auch eine eins vor dem Komma, stimmts Lenny?« antwortet meine Mutter und wirft mir mit hochgezogenen Augenbrauen einen erwartungsvollen Blick zu.

»Man tut was man kann.« nuschele ich mir in den nicht vorhandenen Bart.

Ich kann dieses Spielchen nicht ausstehen. Auf jeder Familienfeier werden wir verglichen. Zum Kotzen. Und ich muss dieses Spielchen jedes Mal mitspielen, obwohl mein Notendurchschnitt in diesem Jahr gut und gerne das dreifache von Ralphs beträgt. Was für ein Fake. Ich stehe auf und gehe aufs Klo. Dort unterhalte ich mich erst einmal eine Weile mit meinem Spiegelbild und diskutiere mit ihm, ob ich meine Mutter heute endlich mal auffliegen lasse. Als ich zum Kaffeekränzchen zurückkehre, steht mein zweitliebstes Thema auf dem Programm.

»Ralph konnte heute nicht mitkommen, weil ihm seine Freundin Anne ihn heute ihren Eltern vorstellen möchte. Die beiden sind so ein süßes Paar. Warte, ich hab sogar ein Bild von den beiden dabei.«

»Ihm seine..« was für ein deutsch. Oh mein Gott, das Bild ist doch tatsächlich so eine verlogen idyllische Aufnahme von einem Familienfotografen. Er steht, sie sitzt, er schick mit Schlips und Kragen und seine Liebste in einem geblümten Sommerkleid.

War die Sahne auf dem Erdbeerboden schlecht oder ist das Bild der Auslöser meiner plötzlichen Übelkeit?

»Hast Du denn auch schon eine feste Freundin, Lennart?« und schon wieder das erstklassige Grinsen mit den zweitklassigen dritten Zähnen.

Die absolute Paradedisziplin für meine Mutter: »Die stehen geradezu Schlange bei ihm. Nicht, Lenny? Wir haben ihn gerade zur Tanzschule angemeldet. Ich freue mich schon so auf den Abschlussball. Kann Euer Ralph eigentlich tanzen?«

»Unser Ralph kommt ganz nach seinem Vater. Der hat sogar schon den Fortgeschrittenen-Kursus hinter sich, da hat er auch seine Anne kennen gelernt. Hach, das finde ich richtig romantisch. Ich bin mir sicher, der Lenny findet da auch seine Zukünftige.«

Wenn meine Mutter wüsste, dass ich schon nach der zweiten Tanzstunde keinen Bock mehr auf diese Scheiße hatte, und seitdem gar nicht mehr hingehe.

Aaargh! Ich muss hier raus.

»Lenny, Du siehst so blass um die Nase aus...«

»..und wie dünn Du bist. Sag mal, Irmgard, kochst Du für Deinen Sohn nicht anständig?«

»Gisela, ich glaube Dir gehts wohl zu gut. Natürlich bekoche ich meine Familie vernünftig. Bei mir gibts im Gegensatz zu Dir unter der Woche keine Fertiggerichte.«

»Du bist ja auch Hausfrau mit Leib und Seele. Bei uns muss halt jeder sein Scherflein dazu beitragen, dass ich beruflich Karriere gemacht habe.«

Oh, mein Vater scheint sich einzuschalten. »Irmgard muss nicht arbeiten. Ich bringe genug Geld nach Hause.«

»Kinder, wollt Ihr Eurer Mutter mit ihren 84 Jahren nicht mal einen ruhigen Sonntagnachmittag gönnen? Schämt Euch und nehmt Euch ein Beispiel an Lennart und Inga. Und jetzt esst. Dass mir da ja nichts übrig bleibt.«, sprachs und servierte mir ein weiteres Stück des leckeren Erdbeerbodens.

Als wir abends zu Hause angekommen sind, flüchte ich auf schnellstem Wege in mein Zimmer. Selbst das Abendbrot lasse ich mit Hinweis auf zu viel Kuchen bei Oma ausfallen. So liege ich nun auf meinem Bett, habe den Kopfhörer aufgesetzt und singe leise die bekannten Zeilen mit:

»All I need is a little time...

Das Praktikum bei GZSZ

Bsssssst... Pock... Bsssssst... Pock... Bsssssst... Pock...

Bsssssst... Pock... Bsssssst... Pock...

Bsssssst... Pock...

Montag morgen.

Sanft werde ich geweckt durch eine Hummel, die sich in mein Zimmer verirrt hat und immer wieder mit der Fensterscheibe kollidiert.

Bsssssst... Pock...

Ich schlage die Decke zurück, setze mich für einen Moment auf die Bettkante und beobachte mit verschwommenem Blick die Hummel vor und den strahlend blauen Himmel hinter dem Fenster. Als auch mein Hirn erwacht ist, stehe ich auf und entlasse das arme Tier in die Freiheit. Jeden Tag eine gute Tat. Ich hätte Pfadfinder werden sollen.

Fuck!

Wie spät haben wir es eigentlich? Wieso hat mein Wecker mich nicht geweckt? Der wiederum blinkt mir nur ein unschuldiges 0:00h entgegen. Ich Hornochse. Nach dem Stromausfall habe ich die Uhrzeit nicht wieder neu eingestellt. Hals über Kopf stürme ich die Treppe hinunter in die Küche, wo meine Mutter im Morgenmantel am Küchentisch sitzt und die Zeitung liest.

»Nicht so laut, Lenny. Dein Vater schläft noch. Und überhaupt, bist Du aus dem Bett gefallen? Ich dachte Du musst erst um sieben raus. Wir haben es erst halb.«

»Mein Wecker steht nach dem Stromausfall von vorletzter Nacht noch auf null Uhr. Da dachte ich, ich hätte verschlafen.«

»Glaubst Du Deine Mutter lässt Dich verschlafen?« lächelt sie mich auf sehr mütterliche Weise an. Ein äußerst seltener Moment. Vielleicht sollte ich mir angewöhnen, ab jetzt immer vor meinem Vater aufzustehen.

Mir fällt ein Stein vom Herzen und das grummelnde Geräusch unterhalb des Herzens zeugt nicht vom Aufprall des Steins sondern von einem verdammt leeren Magen. Also fluchs unter die Dusche.

Als mir pünktlich um halb neun die Tür der Kreissparkassenfiliale Marklohe geöffnet wird, betrete ich, wie schon in der letzten Woche, eine mir vollkommen fremde Welt. Mein Berufsfindungspraktikum, Pflichtaufgabe in der zwölften Klasse des Ganztagsgymnasiums Nienburg, das ich besuche, hätte mich sicherlich an unangenehmere Orte führen können, denn ich mache mich hier ganz bestimmt nicht tot. Robert, mein Banknachbar in der Schule, hat auf Fabians Party erzählt, dass er in einer Anwaltskanzlei den ganzen Tag Aktenordner schleppen darf, weil die gerade umziehen. Da bin ich echt noch gut dran.

Und trotzdem, das hier ist nicht meine Welt. Damit hat dieses Praktikum schon seinen Sinn und Zweck erfüllt: Ich weiß, dass ich ganz bestimmt kein Sparkassenkaufmann werde. Da können meine Eltern noch so oft versuchen, mich in diese Richtung zu manövrieren, das ist nichts für mich. Auch kein Versicherungskaufmann. Das sind beides Berufe, in denen man so abgebrüht sein muss, dass man auch bedenkenlos seine Großmutter verkaufen würde. Das könnte ich niemals.

So wie der schleimige Herr Lehmann, der stellvertretende Filialleiter. Stellvertretend ist gut, die Filiale hat gerade mal drei Angestellte und einen Azubi. Hauptsache einen imposanten Titel auf der Visitenkarte stehen haben. Genau wie mein Vater. Dem untersteht eigentlich nur ein weiterer Angestellter in der Eisenwarenabteilung eines Baumarktes und trotzdem schimpft sich so was Abteilungsleiter. Das ich nicht lache.

So stehe ich also nun schick gekleidet, in dunkler Jeans und mit Schlips und Kragen, hinter dem Sparkassenschalter und sortiere Kontoauszüge. Der Umgangston hier ist erstaunlich nett und zuvorkommend. Nicht nur den Kunden gegenüber, auch unter den Kollegen. Ich werde sogar von allen gesiezt, worauf ich am ersten Tag tierisch stolz war. Leider hat sich der Stolz über das Sie und die Freude über die Höflichkeiten sehr bald gelegt, nachdem ich merkte mit was für einer berechnenden Kühle und Distanz man hier miteinander verkehrt. Der Stellvertreter steht in Konkurrenz zu seiner Kollegin um die Beförderung zum Filialleiter, da dieser bald in Rente geht.
Wie die sich hier hinter dem Rücken des jeweils anderen beim Filialleiter anschwärzen, hab ich erst am Freitag spitzbekommen, als der Lehmann seiner Kollegin Mischkowski doch tatsächlich den Account für das EDV-Terminal sabotiert hat, und die wiederum vom Chef einen Einlauf bekam, warum sie denn ihre Aufträge nicht bearbeitet hat.

Alternativ macht Frau Mischkowski dem Filialleiter derart den Hof, dass ich manchmal denke, ich bin hier nicht in einer Sparkasse sondern bei GZSZ. Nach außen schön den Schein waren, aber hinter den Kulissen benehmen wie sau. Ich hasse diese Doppelmoral. Wenn der Chef vorbeikommt, streckt die Mischkowski immer ihre Titten raus als hätte sie ein Rückenleiden. Und wenn der Chef sie mal wieder absichtlich übersieht, muss ich dran glauben. Dann werden ihre überdimensionalen Brüste in meine Richtung geschwenkt und ein verheißungsvolles Augenzwinkern soll mir wohl irgend etwas signalisieren. Heute morgen bin ich aufs Klo geflüchtet.

Sind eigentlich alle Erwachsenen so durchtrieben?

Foul beim Minigolf

Zur Belohnung für das absolvierte Praktikum und zum Einläuten des Wochenendeste musste gestern eine langweilige Nienburger Großraumdiskothek mit grottenschlechter Chartmusik herhalten. Die zahlreichen Jägermeister bescherten mir beim Aufstehen ausnahmsweise mal keinen dicken Kopf und so liegt nun ein schöner spätsommerlicher Sonntag vor mir, an dem ich mich gemeinsam mit ein paar Klassenkameraden und Freunden auf einem Minigolfplatz befinde. Ich weiß gar nicht, wer auf diese Idee mit dem Minigolfen gekommen ist, denn ich glaube nicht, dass ich dafür geschaffen bin. Sport im allgemeinen ist mir ein Greuel und Sportarten, die auch noch mit Geschicklichkeit zu tun haben, im besonderen. Meine Schulnoten sind im Durchschnitt eh schon nicht der Hammer, aber meine Zensuren in Sport bilden immer den unrühmlichen Abschluss nach unten auf meiner Notenskala. Streichen wir doch einfach die Vokabel »Sport« und ersetzen wir sie durch »Spiel«, das klingt doch gleich viel entspannter.

Neben meinen besten Freunden Fabian, Robert und Sandra (genannt Sunny und mit Robert zusammen) sind auch noch Bernd (unser Klassenproll), seine Freundin Annika sowie Thorsten (genannt Tweety, Bernds Untertan) mit am Start. Und natürlich darf auch Maria nicht fehlen.

»... und ich dachte, mir fallen die Augen raus. Da liegen doch glatt 32 Umzugkartons mit Akten. Und die sollte ich nun ins Haus auf der gegenüberliegenden Straßenseite tragen.« erzählt Robert von seinem Praktikum.

»Das hätte mir nicht passieren können.«

Klar, Bernd passiert so was nie.

»Manuel aus der 12c hat ebenfalls bei uns Praktikum gemacht, da war am ersten Tag die Hierarchie schon geklärt. Er die Drecksarbeit und ich die Füße hoch. So muss das sein, Leute.«

Typisch Bernd.

Bernd ist echt widerlich. Ich weiß gar nicht, wer den eingeladen hat. Egal, was man sagt, er hat und kann immer mehr, größer, schneller, weiter. Und diese prollige Art spiegelt sich in allen Einzelheiten seiner Person wieder. Goldketten, Lacoste Polohemden mit hochgeschlagenem Kragen, die teuersten Sneaker und ein Haifischgrinsen, das selbst J.R. Konkurrenz machen würde. Nächste Woche bekommt er seinen Führerschein. Dann geht das Theater erst richtig los. Na, was sag ich, wir sind schon wieder beim Thema:

»...150 PS sag ich Euch. Tiefer, breiter, härter. Und an den Abschlepphaken hänge ich mir ein VW-Zeichen, damit die verschissenen GTI-Fahrer gleich wissen, wo der Frosch die Locken hat.«

»Echt? Super. Nimmst Du mich mal mit?«

Das konnte nur von Tweety kommen, Bernds personifiziertem Fußabtreter. Die beiden erinnern mich immer an schlechte Hollywoodkomödien, in denen ein dämlicher Ganove einen noch dämlicheren Lakaien hat, der die ganze Zeit »Ja Chef, O.K. Chef, Alles klar Chef, Mach ich Chef« sagt.

»Nix da, das ist mein Revier. Außerdem, wie sieht das denn aus, wenn Bernd mit nem Typen im offenen Astra Cabrio in der Gegend herum cruist. Als wenn er keine Freundin vorweisen könnte.«

Damit wären wir bei Annika, Bernds Freundin. Sie geht nicht auf unsere Schule, da sie eine Ausbildung zur Bäckereifachverkäuferin macht. Auch so ein geiler Titel. Dumm wie ein Kuhfladen, aber Brüste wie Frau Mischkowski von meiner ehemaligen Sparkassenfiliale.

Und »spitz wie ein tropfender Kieslaster«, wie Bernd immer sagt. Natürlich nur, wenn sie nicht dabei ist, denn in ihrer Anwesenheit ist er zahm wie ein Stofftier. Dann spricht er sie immer mit »Hase« oder »Schneckchen« an. Ich finde es eh immer absolut erstaunlich, wie sich männliche Wesen benehmen, wenn sie sich mit einer, insbesondere ihrer, Frau unterhalten. Bernd sieht z.B. grundsätzlich zuerst auf das Display seines klingelnden Handys bevor er rangeht, damit er den Anrufer identifizieren kann. Ist es ein männlicher Anrufer, meldet er sich wie gewohnt ultracool und mit seiner betont männlich tiefen Stimme. Ist es aber Annika, schnellt seine Stimme um mindestens drei Oktaven nach oben, und man glaubt gar nicht, das hier der angeblich coolste Typ des gesamten Jahrgangs ein Telefonat führt.

»Nun los, mach schon! Du bist dran!«

Und so nahm das Unheil seinen Lauf, ich wurde natürlich letzter. Als zur Rückrunde aufgerufen wird, steige ich aus und mache es mir mit einem kühlen Eistee am Rande der Bahnen bequem. Auch Sunny hat die Lust verloren und setzt sich zu mir.

»Hey Lenny, ist nicht dein Tag heute, was?«

»Drauf geschissen.«

»Du warst noch mit Loch Nummer fünf beschäftigt als Fabi schon gewonnen hatte. Auch ein Rekord.«

Ich verdrehe die Augen: »Na, danke«

Sunny grinst mich an und wuschelt mir durchs Haar: »Na, verstehen wir heute keinen Spaß?«

Fabian, Robert, Sunny und ich kennen uns schon seit der Grundschule. Wir sind eigentlich ein unzertrennliches Team. auch wenn Fabian und ich, seitdem Sunny und Robert zusammen sind, dann doch eher auf uns alleine gestellt sind. Aber da die beiden so wunderbar zueinander passen, haben wir damit überhaupt kein Problem. Sunny wäre eh nicht unser Typ gewesen.

»Larissa kommt auch gleich noch« erzählt sie mit weit aufgerissenen Augen, und ihre bewusst leiernde Stimme gibt dieser Aussage einen absolut lächerlichen Touch.

Leider verstehe ich die Pointe nicht, da ich gar nicht weiß, wer denn diese Larissa überhaupt ist.

»Das ist wer?« frage ich.

»Wie jetzt, das hast du letzte Woche auf Fabis Party nicht mitbekommen? Ach ja, da warst Du ja mit Robert draußen vor der Tür, weil bei Fabian Rauchverbot herrscht.«

Gutes Stichwort. ZIPP! und die Kippe glimmt. Ich ziehe an der Zigarette und sehe Sunny mit schief gelegtem Kopf interessiert an.

»Und? Was habe ich da jetzt verpasst?«

»Och nichts.« antwortet sie plötzlich sehr kurz angebunden, springt auf und geht zu den anderen.

Ich bleibe im Gras sitzen und beobachte auf einer Nebenbahn zwei Typen von Ende zwanzig, die sich bei diesem Spiel noch blöder anstellen als ich. Die scheinen sich aber auch überhaupt nicht auf das Spiel zu konzentrieren. Stattdessen blödeln sie miteinander herum wie ich das sonst nur von verliebten Pärchen auf unserem Schulhof kenne. Ich stehe auf und entsorge meine Eisteedose. Als ich an meinen Platz zurückkehre sehe ich wie die beiden sich küssen. Ich schaue verlegen weg. Müssen die das in aller Öffentlichkeit machen? Mein Vater regt sich auch immer auf, wenn im Fernsehen von irgendwelchen Schwulenparaden á la Love Parade im Fernsehen berichtet wird.

Meist entbrennt daraufhin immer eine wilde Diskussion zwischen meinem Vater und mir über Toleranz, aber jetzt wo ich live miterlebe, wie sich zwei Schwule küssen, bin ich doch reichlich irritiert.

Meine Blicke schweifen weiter über den Platz und ich erspähe Sunny und Robert wie sie miteinander tuscheln und zu mir herüberblicken. Was geht denn da vor sich. Erst mache ich mich bei diesem Scheißsport zum Deppen und dann wird auch noch über mich gelästert. Meine Laune sinkt zusehends.

»Hallo« trällert plötzlich jemand hinter mir. Eine unbekannte Blondine mit hochgekrempelter Jeans und engem, bauchfreien Top betritt den Minigolfplatz. Während sie an mir vorbeigleitet, schüttelt sie ihr langes Haar und pustet sich danach eine störende Strähne aus dem Gesicht. Mein Blick fällt auf ihr Tribal Tattoo, das auf der nackten, vom Top nicht bedeckten Rückenpartie zu sehen ist. Das muss wohl die sagenumwobene Larissa sein, die schnurstracks auf Fabian zusteuert, ihre Hände nach ihm ausstreckt und ihm zur Begrüßung einen dicken Kuss auf den Mund gibt.

Mir wird heiß und kalt.

Schnell ne Kippe!

Sie glimmt..., nach 12 Versuchen!

Ich hätte sogar noch die Zeit für weitaus mehr Versuche gehabt, denn sie küssen sich immer noch.

Hatte ich mich nicht vor kurzem noch mit Fabi darüber unterhalten, dass eigentlich alles schön ist, so wie es jetzt ist? »Frauen stören da nur!«, höre ich ihn sagen. Und genau so sehe ich das auch. Ich muss mir weder meinen Beifahrer in meinem nicht vorhandenen Auto vorschreiben lassen, noch lasse ich mir meine Stimme nach oben pitchen.

Nervös fingere ich eine weitere Zigarette aus meiner Schachtel und schaffe es tatsächlich, sie sofort anzuzünden.

Wieso hat er mir davon nichts erzählt? Oder glaubt er, dass ich davon weiß, so wie das auch Sunny angenommen hatte. Nach der dritten Zigarette in Folge macht sich mein Magen bemerkbar.

Hastig verlasse ich die Wiese des Minigolfplatzes in Richtung Toilettenhaus. Ich schließe mich in der Toilettenkabine ein und versuche zu kotzen. Obwohl nichts heraus kommt, traue ich mir trotzdem nicht, den Finger in den Hals zu stecken. Scheiß Nikotin.

Erschöpft sitze ich schließlich auf der Klobrille und versuche das Gedankenkarussell zum Anhalten zu bewegen.

Alles dreht sich.

Draußen fülle ich meine Hände mit Wasser und schmeiße mir den Inhalt ins Gesicht.

Als meine Beine nicht mehr so stark zittern, verlasse ich flüchtartig den Minigolfplatz und werfe im vorbeilaufen meine fast volle Zigarettenschachtel wütend in einen Mülleimer.

Wie ein Wahnsinniger springe ich auf mein Fahrrad und verfehle bei meinem Katapultstart nur um Haaresbreite eine Frau mit ihrem Kinderwagen.

»Lenny! Lenny, bleib stehen!«

Der Frau mit dem Kinderwagen ist doch gar nichts passiert, wieso sollte ich dann anhalten. Erst nachdem ich den Ort verlassen habe, beim Durchqueren der abgeernteten Felder und Wiesen mein Tempo etwas drossele und so langsam wieder zu mir komme, fällt mir auf, dass die Frau mit dem Kinderwagen doch unmöglich meinen Namen wissen konnte.

Der kranke Videoprojektor in meinem defekten Hirn

Als ich abends in meinem Bett liege, sind meine Bemühungen schnell einzuschlafen leider so überhaupt nicht von Erfolg gekrönt.

Auch diese Nacht ist schwülwarm und ich entledige mich meiner Klamotten. Nackt liege ich auf meiner Bettdecke und versuche die geometrischen Eigenschaften meiner sich direkt über mir kreuzenden Seilsysteme zu ergründen.

Der Mond scheint in mein Zimmer. Es ist absolut windstill und in der ferne hört man ein sich rasch entfernendes Motorrad.

Gonggggg. Gonggggg. Gonggggg.

Unsere Kirchturmuhr teilt mir mit, dass wir es bereits drei Uhr haben. Unendlich lange liege ich jetzt schon hier und immer wieder huschen Fabian und diese Larissa vor meinen Augen vorbei.

Wie in Trance stehe ich auf und stelle mich ans offene Fenster, um mir eine Zigarette anzuzünden, was mir leider misslingt. Mit einem lauten Knall landet das leere Feuerzeug in einer Ecke meines Zimmers. Nervös bearbeiten meine Zähne die Unterlippe und ich atme tief durch. Hier am offenen Fenster lässt es sich aushalten. Vielleicht sollte ich gar nicht mehr schlafen gehen. Vielleicht sollte ich nie wieder schlafen gehen. Dann erspare ich mir auch die verworrenen Gedanken, die mich am Einschlafen hindern. Irgendwer in unserer Klasse hat mal was von Speed oder so erzählt, eine Droge die einen wach hält. Vielleicht sollte ich mal versuchen, mir etwas davon zu organisieren.

Nachdem ich in meinem Nachttisch doch noch ein Feuerzeug gefunden habe, atme ich wieder tief durch, nur dass diesmal keine frische Luft meine Lungen füllt. Zwei Zigaretten später schleiche ich zurück, setzte mich auf die Bettkante und schalte meine Anlage ein. Mit dem Kopfhörer auf den Ohren entschwinde ich in eine andere Welt. Leider lassen sich auch hier die Bilder von Fabian und Larissa nicht abschalten.

Ganz im Gegenteil. Ich sehe sie knutschend vor mir. Sich extatisch die Klamotten vom Leibe reißend und merke, dass das durch mein Hirn projizierte Bild von Larissa wesentlich unschärfer ist, als das von Fabian. Sicher, weiß ich wie nackte Frauen aussehen, die Playboy-Magazine, die Bernd in der Schule anschleppt, finden von mir jedoch keine besondere Beachtung. Bei nackten Jungs ist meine Vorstellungskraft da schon wesentlich exakter. Ich meine, ich brauche ja nur in den Spiegel zu schauen, dann weiß ich wie so was aussieht. Das ist auch der Grund, warum in meinen Onanierphantasien grundsätzlich Jungs auftauchen. Wenn ich mir versuche Mädels vorzustellen, sind die Bilder immer derart unscharf, dass man nicht einmal ihre Brustwarzen erkennen kann. Das ändert sich bestimmt, wenn ich das erste Mal eine richtige Freundin habe. Ob ichs mal mit Maria versuchen sollte? Ich weiß nicht. Sie wäre sicherlich überglücklich, wenn ich den ersten Schritt wagen würde. Doch so sehr ich auch versuche, mir den Körper von Maria in ihren allerschönsten Einstellungen vorzustellen, Fabian funkt mir immer wieder dazwischen.

Schließlich liege ich onanierend auf dem Bett mit der Vorstellung wie, Larissa Fabian mit dem Mund verwöhnt. Er splitternackt und sie mit hochgekrempelter Jeans und engem, bauchfreien Top.

Larissa lacht während Fabian und ich uns zeitgleich ergießen.

Krank.

Das ist doch alles krank.

Über den Gedanken, wie ich Maria am besten anspreche, damit diese kranken Bilder in meinem Kopf endlich verschwinden und gegen lustvolle Frauenphantasien ausgetauscht werden, schlafe ich dann doch noch ein.


Das Knurren einer Kaffeemaschine ist ebenfalls ein ganz großer Anwärter auf eine Topposition in meinen Geräusche Charts. Da kann mein Vater noch so schlechtgelaunt dreinblicken während er das Frühstücksfernsehen mit Cherno Jobatey verfolgt.

Das Knurren einer Kaffeemaschine scheint wie ein imaginärer Staubsauger alles zu verschlingen, was sich einem harmonischen Frühstück in den Weg zu stellen versucht und so sitze ich in der Küche und genieße das, was der Sauger übrig gelassen hat.

»Haben wir eigentlich keine deutschen Moderatoren mehr? Müssen wir jetzt schon Hilfsarbeiter aus Afrika einfliegen lassen? Schau Dir doch mal diese Schuhe an. Turnschuhe und Anzug. Das kann auch nur einem Bimbo einfallen.« murmelt sich mein Vater in seinen großflächig vorhandenen Bart.

Die staubsaugende Kaffeemaschine versagt offensichtlich ihren Dienst.

»Papa, der kommt nicht aus Afrika. Der ist Deutscher.«

»Pappalapapp! Das ist doch ein Neger. Wie will der denn Deutscher sein?«

»Weil er in Deutschland geboren wurde?«

»Wer hat Dich denn eigentlich gefragt? Setzen die Dir in der Schule solche Flausen in den Kopf? Das hätte es zu meiner Zeit nicht gegeben. Wenn ich damals in Schlesien gegen meinen Vater das Wort erhoben hätte, wäre eine Tracht Prügel herausgesprungen und sonst nix.«

Ich schnappe mir meinen Rucksack und springe von meinem Stuhl Richtung Hausflur.

Mit lautem Getöse fällt der Stuhl, auf dem ich eben noch saß, auf zwei leere Milchflaschen die sich in Ihre Einzelteile zerlegen.

Ich drehe mich noch einmal um, aber der Stuhl kümmert mich einen Scheißdreck. Stattdessen schleudere ich meinem Vater nur noch ein

»Bist Du als Schlesier eigentlich Pole oder Deutscher?«

entgegen und verlasse mit Riesenschritten die Wohnung. Ich bin schon zu weit vom Haus entfernt, als ich höre, dass mein Vater mir noch irgend etwas hinterher schreit, was ich leider nicht mehr verstehen kann.

Auf dem Weg zum Schulbus lasse ich die letzten Minuten Revue passieren und stelle fest wie typisch solche Situationen in unserem Familienalltag geworden sind. Je weiter mein Vater auf die Rente zugeht, desto kleinbürgerlicher werden seine Ansichten. Meine Mutter sagt ja sowieso zu allem Ja und Amen. Vielleicht sollte ich das auch wieder tun, dann wäre die Familienidylle wieder hergestellt. So wie früher, als ich noch so alt wie Inga war und Bimbo für mich noch ein Elefant mit großen Ohren und kein Schimpfwort darstellte, oder hieß dieser Elefant Dumbo? Egal.

Im Bus sitzend stecke ich mir die Stöpsel meines Walkmans in die Ohren und lasse ein Tape laufen, dass ich von der diesjährigen Mayday-Übertragung auf Viva mitgeschnitten habe. Scheiß Qualität, aber obergeile Musik. Leider bekommt man so was hier auf dem Dorfe nie zu hören, kein Wunder also, dass man sich Musik und Mädels in der Disko schöntrinken muss. Wie die dort aber auch immer rumlaufen, mit meterdicker Schminkschicht und tonnenschweren Klunkern behangen. So können die mich nicht ködern. Maria ist da mal wieder eine rühmliche Ausnahme. Mit schlichten Jeans und ihrer oldschooligen Puma-Trainingsjacke versprüht sie weitaus mehr Reize als die ganzen Schickimicki Weiber zusammen.

Ich weiß gar nicht mehr, welcher DJ diesen Mix gespielt hat, den ich jetzt seit fast einem halben Jahr immer und immer wieder höre. Alleine das Stück, mit dem er sein Set beginnt ist schon total abgefahren. Düstere und bedrohliche Flächen untermalen einen ziemlich durchen Text, und mit jedem weiteren Hören, glaube ich, dass der DJ aus unserem Dorf stammen muss, denn treffender kann man diese Spießer hier nicht beschreiben:

Wer gegen die Gesetze dieser Gesellschaft nie verstoßen hat
und nie verstößt und nie verstoßen will,
der ist krank.

Und wer sich noch immer nicht krank fühlt
in dieser Zeit, in der wir leben müssen,
der ist krank.

Wer sich seiner Scham nicht schämt und sie nicht liebkost,
und die Scham anderer, die er liebt, nicht liebkost ohne Scham,
der ist krank.

Wer sich abschrecken lässt durch die, die ihn krankhaft nennen,
und die, die ihn krank machen wollen,
der ist krank.

Wer geachtet sein will, von denen, die er verachtet,
wenn er den Mut dazu aufbringt,
der ist krank.

Wer kein Mitleid hat mit denen, die er missachten und bekämpfen muss,
um gesund zu sein,
der ist krank.

Wer sein Mitleid dazu gebraucht, die Kranken nicht zu bekämpfen,
die um ihn herum andere krank machen,
der muss krank sein.

Wer sich zum Papst der Moral
und zum Vorschriftenmacher der Liebe macht,
der ist so krank wie der Papst.

Wer glaubt, dass er Frieden haben kann,
oder Freiheit, oder Liebe, oder Gerechtigkeit,
ohne gegen seine eigene Krankheit,
und die seiner Feinde und Freunde und seiner Päpste und Ärzte zu kämpfen,
der ist krank.

Wer weiß, dass er, weil er gesund ist, ein besserer Mensch ist,
als die kranken Menschen um ihn herum,
der ist krank.

Wer in unserer Welt, in der alles nach Rettung schreit,
keinen einzigen Weg sieht zu retten,
der ist krank.

Paul Kalkbrenner »Krank« (2000)
(eine musikalische Interpretation des Gedichts »Krank« von Erich Fried )

Peinlichkeiten sollten zu Grundrechten werden

An einem Montagmorgen in der Schule ist das erste Ziel das Schwarze Brett, an dem neben den allgemeinen und meist uninteressanten Bekanntmachungen vor allem der neue Wochenplan für die Mensa, sowie der aktuelle Vertretungsplan angeschlagen werden. Kulinarisch fängt die Woche ja ganz gut an: Mit Hackfleisch gefüllte Paprikaschoten und Reis. Sehr geil. Der Vertretungsplan aber ist eine herbe Enttäuschung. Dr. Frings, unser Biologie-Lehrer ist wieder da und die widerliche Hansen, unsere Kunstlehrerin, ebenso. Es fällt also in dieser Woche nicht eine einzige Unterrichtsstunde aus. Was für ein Ärger.

Bedingt durch das Kurssystem ab der 12. Klasse bin ich Montagmorgens immer der einzige aus unserem Ort, der schon um 8:00h das Schulgebäude betritt. Auch wenn es mich sonst etwas stört, dass der Klatsch und Tratsch vom Wochenende ein wenig an mir vorbei läuft, bin ich heute ausgesprochen froh darüber, die ersten Begegnungen mit den Anwesenden des Minigolfplatzdebakels ein wenig hinauszögern zu können.

Nach zwei entspannten Stunden Erdkunde Leistungskurs versuche ich mich möglichst schnell mit einem Zigarettchen in die hinterste Ecke des Schulhofs zu verziehen. Doch noch ehe ich das Schulgebäude verlassen kann, läuft mir auch schon Maria über den Weg. Unsere Umarmung fällt äußerst kurz und distanziert aus (hat Maria mich jemals umarmt?) und trotzdem sieht Maria mich mit ihrem sehr eigenen, ziemlich entwaffnenden Grinsen an. Eigentlich kein unangenehmer Gesichtsausdruck, aber trotzdem irgendwie unheimlich.

»Guten Morgen mein Schatz. Du hast es am Sonntag aber eilig gehabt. Was war denn da los?«

»Och, mir gings irgendwie nicht gut. Mir ist wohl das Mittagessen auf den Magen geschlagen.«

»Soso. Und wenn dem Lennart übel ist, muss er grundsätzlich irgendwelche Frauen fixieren, mit seinen Blicken komplett entkleiden und durchvögeln? Komm, Deine Ausreden waren auf jeden Fall schon mal kreativer.«

»Das hast Du jetzt nicht wirklich gesagt, oder?«

»Oh, Du hast schon ganz richtig gehört. Gib es doch zu, Du warst so was von geil auf die dumme Fotze, dass es Dir schon fast lauwarm am Bein runter gelaufen ist. Und weil nicht Du sondern mein Bruder das Glück hatte, bei Ihr landen zu können, warst Du eifersüchtig und hast fluchtartig das Feld verlassen. Stimmts oder hab ich recht?«

Moment, ich glaube, ich muss das jetzt erst mal sortieren. Maria wirft mir vor, dass ich Larissa geil finde und auf Fabian eifersüchtig bin? Das ist ja ganz groß. Könnte es vielleicht sein, dass Maria auf Larissa eifersüchtig ist, obwohl ja ihr eigener Bruder mit der zusammen ist und ich doch einfach nur geschaut habe? Superschräg, Frauen sind mir echt zu hoch. Ich weiß schon, warum ich keine habe. Und ich dachte noch, sie würde mir jetzt irgendwelche Fragen stellen, die ich mir nicht einmal selber beantworten kann.

Marias tiefbraune Augen fixieren mich in einer Art und Weise, dass mir heiß und kalt wird. Ich bin mir keiner Schuld bewusst und doch versucht sie ein schlechtes Gewissen in mir platzieren zu wollen, das bei ihr sicherlich besser aufgehoben wäre. Langsam formen sich ihre Mundwinkel zu einem Grinsen und jetzt fängt sie auch noch an zu lachen und verwirrt mich damit vollends.

»Ihr Männer seid doch alle gleich!«

Sie wuschelt mir durchs Haar und lässt mich einfach so stehen. Der Gong beendet die Pause und in der jetzt folgenden Physikstunde werde ich wohl oder übel Fabian über den Weg laufen.

So vermischt sich der Nachhall des soeben Erlebten mit den düsteren Vorahnungen für die nächste Schulstunde zu einem klebrigen Gefühlsbrei der offensichtlich sogar meinen Fußsohlen anhaftet und mich im Zeitlupentempo zum Unterrichtsraum schleichen lässt.

Dort angekommen verwundert mich die Tatsache, dass sich offensichtlich keiner etwas anmerken lässt. Wir begrüßen uns wie immer und unterhalten uns auch ganz normal über das letzte Wochenende, vor allem über die Schüler unserer Parallelklasse, die sich am Samstag in der Disco so richtig daneben benommen haben.

Man muss schon die Empfindlichkeitsregler seiner eigenen Wahrnehmung auf Anschlag einstellen, um vielleicht den Hauch einer Zurückhaltung bei Fabian zu erkennen. Ja, da ist es wieder. Er weicht meinen Blicken aus. Und jedes Mal, wenn sich das Gespräch dem Sonntag auf dem Minigolfplatz auf eine zu geringe Distanz nähert, wird das Thema sofort wieder in eine unverfänglichere Richtung umgeleitet.

Oh, Herr Weiner, unsere Physiklehrkraft ist eingetroffen. Wer jetzt glaubt, die Gespräche der Schüler würden mit seinem Erscheinen verstummen, der hat weit gefehlt. Herr Weiner ist ein Spät-Hippie allererster Güte. Schulterlanges Haar, Lederjacke und entweder mit seinem Motorrad oder seinem Wohnmobil unterwegs. Genauso locker wie sein Erscheinungsbild, sind auch seine Lehrmethoden. Leider kann dieses Laissez-Faire nicht über seine eigentlichen Unfähigkeiten als Lehrer hinwegtäuschen, und der wahre Grund für die Wahl von Herrn Weiners Physikkurs ist der, dass man die Noten geradezu hinterher geworfen bekommt. Der Unterricht an sich ist eher einschläfernd und wird nur durch die regelmäßigen Pannen bei seinen Experimenten aufgeheitert, wofür er schon seit Jahren eine eigene Sparte in den Abi-Jahrbüchern hat. Leider war ich noch nicht auf dieser Schule, als er vor Jahren einer Klasse die Funktionsweise eines Ottomotors demonstrieren wollte und der halbe Physiksaal abgebrannt ist. Seitdem muss er sich sämtliche Experimente, die er vorhat, vom Direktor genehmigen lassen.

Als der Geräuschpegel in der Klasse allmählich leiser wird und der Unterricht beginnt, kann ich mich trotzdem nicht so recht auf Herrn Weiners hochinteressante Ausführungen zur Zwischenspeicherung kinetischer Energie in einem deformierten Gummiball konzentrieren.

Ich muss stattdessen darüber nachdenken, wieso mir erst Maria eine Eifersuchtsszene abliefert und sich Fabian noch viel ausweichender verhält als ich das von mir erwartet hätte. Wie das halt immer so ist, macht man sich immer viel mehr einen Kopf, als es eigentlich vonnöten wäre.

Und trotzdem finde ich die Verhaltensweisen von Fabian und Maria fast noch schräger als meine eigenen, bis auf die Tatsche, dass ich dafür leider so überhaupt keine Erklärungen habe.

Statt hier herumzulamentieren sollte ich vielleicht lieber die Gunst der Stunde nutzen und mal ein bisschen bei Maria aufs Gaspedal drücken. Wo doch ihre Eifersuchtsszene heute schon fast eine Einladung war.

Zweite Große Pause zwischen Deutsch und Mathe LK. Wir stehen bei strahlendem Sonnenschein auf dem Schulhof, rauchen eine und schlürfen unseren Kaffee. Auch wenn mir das Verhalten meiner Klassenkameraden nicht so ganz geheuer ist, rechne ich heute dann doch nicht mehr mit einer Konfrontation mit den Geschehnissen vom Minigolfplatz. Oh Shit Peter kommt.

»Hey Leute, habt Ihr am übernächsten Wochenende schon was vor?«

Peter und seine tollen Saufpartys oder sollte er ausnahmsweise mal etwas besonderes auf Lager haben? Nachdem von den Anwesenden keine eindeutigen Antworten kamen, setzt Peter noch einmal nach.

»Meine Großmutter hat ein Wochenendhaus in der Lüneburger Heide. Das könnte ich für ein komplettes Weekend als Partyvilla anbieten.«

»Cool, da könnten wir an einem Freitagnachmittag direkt nach der Schule mit der Bahn hinfahren und es uns bis zum Sonntagabend gut gehen lassen. Das klingt nicht schlecht, oder?« reagiert Robert als Erster.

»Bahnfahren? Das ist doch nix für echte Kerle. Wir fahren natürlich mit dem Auto dort hin. Ich bekomme schließlich morgen meinen Führerschein und die Kiste steht schon vor der Tür.«

Bernd ist und bleibt einfach ein scheiß Proll. Autos als Schwanzverlängerung. Typisch. Könnte es vielleicht sein, dass es sogar Leute gibt, die freiwillig mit der Bahn fahren? Na, wir wollen mal fair bleiben. Ich warte ja auch nur noch auf meinen 18. Geburtstag, damit ich endlich Autofahren darf. Trotzdem kann ich mir jetzt einen Spruch nicht verkneifen:

»Sag mal Bernd, was für ein Auto wird es denn? Es müsste ja schon mindestens ein Van sein, damit wir alle mitfahren können.«

»Hehe, Kleiner. Sehe ich so aus wien Familienvater? Nee, nee, Astra Cabrio, hab ich doch schon tausendmal erzählt«

Tausendmal zuviel würde ich sagen.

»Ich habe schon bei meinem Bruder angeklopft. Der hat nämlich wirklich einen Van und der würde zusammen mit seinem Kumpel und ein paar Freunden und Freundinnen mitkommen. Das käme dann so gerade eben mit den Schlafzimmern hin.« fährt Bernd fort.

Oh mein Gott. Ein Wochenende mit zwei Mal Bernd. Ich kotze. Lennart, sei jetzt kein Spielverderber. Das wird bestimmt ganz lustig. So verging auch diese Woche und ehe ich mich versah, war es auch schon zum zweiten Mal Freitag. Abfahrt ins Wochenende

Anfahrt

Wie verabredet treffen wir uns alle am Freitagnachmittag um 17:00h auf dem Bauernhof von Peters Eltern. Mit an Bord nur das Nötigste zum Anziehen, aber jede Menge Fressalien und Alkohol bis zum Abwinken.

»Sind alle da?« fragt Peter in die Runde.

»Ja!« tönt es aus und in den verschiedensten Richtungen und Varianten.

Doch irgendwer fehlt noch. Larissa fehlt, was man schon an Fabians Gesichtsausdruck hätte ablesen können. Wer lesen kann ist klar im Vorteil. Wenngleich ich eigentlich ganz klar im Vorteil bin, denn das, was Fabians Blick an Freude fehlt, scheine ich dafür zuviel zu haben. Ist es Schadenfreude? Nein, ich bin einfach nur froh darüber, mal wieder mit Fabian ein komplettes Wochenende verbringen zu können. Ohne Larissa, so wie früher.

Oh, es geht los. Die gesamte Zeit, bis wir den Ort verließen, habe ich doch tatsächlich nach einer Larissa Ausschau gehalten, die, wild mit den Armen wedelnd, unseren Autos hinterher gerannt kommt und es sich doch noch anders überlegt hat. Aber ich habe Glück. Keine Larissa weit und breit. Los Lenny, lass wenigstens keinen Verdacht aufkommen.

»Was ist mit Larissa?« frage ich Fabian, der neben mir im ausnahmsweise mal angenehm engen Fond von Peters Cabrio hockt.

»Die ist bei ihrer Schwester in Köln. Schade, dass sie nicht dabei sein kann.«

»Ja, wirklich schade.«

Lennart, seit wann bist du so ein missgünstiges Stück? Munter ihn wenigstens mal auf.

»Ach Fabian, dann sei doch froh, dass du wenigstens ein bisschen Ablenkung hast, wenn sie nicht da ist.«

»Ja, da hast Du wahrscheinlich sogar recht. Was soll ich Trübsal blasen, Lass uns feiern.«

Fabian öffnet seinen Rucksack, zieht zwei Flaschen Becks heraus, die er mit einem Feuerzeug öffnet und gibt mir eines davon.

»Prost! Auf alte Zeiten!«

»Klonk!« machts und wir haben die Flaschen am Hals.

»Dass mir da ja nix auf die Polster kommt, Mädels!« meckert es vom Fahrersitz.

»Pedda, Du bist doch bloß neidisch, weil Du fahren musst.«

»Da gehe ich auch kein Risiko ein. Hab schließlich lange genug auf meinen Lappen gewartet. Da werd ich ihn bestimmt nicht mit sonem blöden Bier gefährden. Das hole ich später alles nach.«

Mein Blick wandert über den Horizont, an dem gerade ein paar aufziehende Wolken einen romantischen Sonnenuntergang vereiteln.

»Sag mal Bernd, können wir da überhaupt grillen, wenn es regnet? Der Himmel sieht nicht mehr so freundlich aus wie heut Nachmittag.« frage ich ihn zwischen den Sitzen nach vorne gelehnt.

»Man, hast Dune Fahne. Verpiss Dich! Ja, das geht auf jeden Fall klar. Lass das mal meine Sorge sein.«

Ich lehne mich wieder zurück und amüsiere mich dabei, Annika (Bernds Freundin) dabei zuzusehen, wie sie etwas ungelenk eine Straßenkarte entfaltet.

»Hat Dein Wunderauto gar kein Navigationssystem?« Diesmal ist es Fabi, der sich über Peter lustig macht.

»Das sitzt doch auf dem Beifahrersitz. Die sollen ja noch nicht so ganz ausgereift sein, habe ich erst vor kurzem irgendwo gelesen.« versuche ich noch einen oben draufzusetzen.

»Schnauze auf den billigen Plätzen! Ich muss mich konzentrieren!« bellt es von vorne rechts.

»Prost Fabi!«

»Prost Lenny!«

»Klonk!«

Die nächsten Biere sind geöffnet und die fortgeschrittene Dämmerung sorgt dafür, dass ich nur noch Fabians Silhouette erkennen kann, die ich aus dem Augenwinkel immer wieder beobachte, bis es draußen vollkommen dunkel geworden ist. Die Beleuchtung einer etwas im Hintergrund liegenden Stadt erzeugt ein fahles, rötlich schimmerndes Licht am Horizont, das immer wieder durch vorbeihuschende Bäume verdunkelt wird. Ich warte auf die baumfreien Momente, denn dann ist Fabians Umriss wieder da.

Meine bis jetzt noch vorhandene Hoffnung auf einen netten, niederschlagsfreien Grillabend zerschlagen sich jetzt. Es fängt an zu regnen. Ein entfernter Blitz erhellt den Himmel, so dass ich zweimal zusammenzucke. Beim ersten Mal zuckte ich auf Grund des Blitzes und beim zweiten Mal, weil Fabian und ich uns direkt ins Gesicht starrten. Beobachtet er mich auch?

»Sag mal, Schatz, sind wir hier richtig? Da war gerade ein Schild, 23 Kilometer bis nach Braunschweig. Müssen wir nicht Richtung Gifhorn und uns dann links halten?«

»Keine Sorge, ich hab alles im Griff. Außerdem hätte sich Dein hinter uns fahrender Bruder schon per Handy gemeldet, wenn wir wirklich so falsch wären«

»Da bin ich mir aber nicht so sicher!« rutscht es mir heraus und ich verfluche mich noch bevor ich den Satz überhaupt beendet habe.

»Dann mach Du es doch, Mr. Schlaumeier.« Kontert der Beifahrersitz.

»War doch nur ein Witz!« versuche ich mich zu entschuldigen. Zickenalarm...

»Da ist was wahres dran!«

Wie jetzt, Peter und ich sind einer Meinung? Das geht ja gut los.

Die Blitze kommen näher. Oder wir, je nach Sichtweise. Wie eine gigantische Straßenlaterne ermöglichen sie einem für einen Bruchteil eines Augenblicks den Blick in die Wälder, die wir gerade durchkreuzen. Trotzdem ist es noch angenehm warm draußen. Meine Hoffnung auf den Open Air Grillabend habe ich noch nicht begraben.

Ich schaue nach vorne und sehe wie der Dunst im Scheinwerferlicht vor uns her tanzt. Da, wieder ein Blitz.

»Jetzt fehlen nur noch ein paar Zombies, dann ist die Szenerie perfekt.« beschreibe ich meine Wahrnehmung und warte auf den nächsten Blitz, der dieser Stimmung bei seinem Erscheinen jedes Mal die Krone aufsetzt.

»Meine Großeltern haben uns, als wir noch Kinder waren, immer die wildesten Schauermärchen erzählt, wenn wir in diesem Haus übernachtet haben. Da hatten wir immer richtige Angst.«

Was ist heute mit Peter los? Gar nicht der starke Mann wie sonst? Na, da war er ja auch noch klein.

Nach einer mehr als zweistündigen Fahrt sind wir endlich am Ziel. Der Regen hat tatsächlich aufgehört und der über die Straße wabernde Dunst verwandelt die Landschaft in eine bewaldete Waschküche. Eigentlich besteht der gesamte Ort aus einem Wald mit ein paar einstreuten Häusern darin und so ist auch unser Zielobjekt von großen Bäumen umzingelt. Der Weg von der Straße aus führt sich schlängelnd und in komplettem Dunkel auf einem schmalen Pfad durch dicht an dicht stehende Nadelhölzer, die einem bei jeder Berührung einen nassen Schauer in den Nacken verpassen. Als wir den kleinen Berg, auf dem das Haus steht, erklommen haben, drückt mir Peter eine Taschenlampe in die Hand.

»Leuchte auf die Eingangstür!«

Ankunft

Der Schein der Taschenlampe zeigt mir die ersten Details des Hauses. Peters Großeltern scheinen Geld zu haben, das steht schon jetzt fest.

»Willkommen auf Gut Hermannsburg. Hereinspaziert!« begrüßt uns Peter.

Die Tür steht offen und das Licht im Flur erhellt den vorderen Teil des sehr geräumigen Hauses. Meine Bewunderung für dieses Haus setzt sich fort.

In der ersten halben Stunde haben wir unsere Zimmer belegt. Ich teile mir ein Zimmer mit Fabian. Leider hat es kein Doppelbett. Dafür ist es mit blau-weißen Bauernmöbeln und jeder Menge Nippes liebevoll altmodisch eingerichtet. Der Begriff »Ferien auf dem Bauernhof« würde dieser 10-Zimmer-Villa allerdings nicht gerecht werden.

Nachdem alles ausgepackt ist und sich eigentlich alle Anwesenden über den Luxus diese Hauses einig sind, gehen wir nach draußen auf die Terrasse, wo Peters Bruder Hannes schon bei den Vorbereitungen für den Grillabend ist. Ich freue mich riesig und habe einen Bärenhunger.

»Noch ein Pils gefällig?« höre ich Fabian hinter mir fragen.

»Klar, bin ich dabei! Oder wollen wir schon mal mit nem Jägi durchstarten?«

»Aber nur einen, den Rest lieber erst nach dem Essen. Sonst erlebe ich das nicht mehr mit und ich habe umsonst eingekauft.«

»Da mach Dir mal keine Sorgen. Für Dein Fleisch gibts hier bestimmt genug dankbare Abnehmer. Tweety hats außerdem eh mal wieder versägt mit dem Einkaufen. Ich geh mal Gläser organisieren.«

Und so mache ich mich auf die Suche nach der Küche, um dort erst mal den Mund nicht wieder dicht zu bekommen. Bernds Großeltern haben hier mitten in der Walachei ein komplett ausgerüstetes Haus stehen, mit einer Küche, die es an nichts fehlen lässt. Nicht einmal an haltbaren Vorräten, die gut und gerne für ein paar Wochen halten dürften.

Mit zwei Schnapsgläsern bewaffnet gehe ich zurück zur Terrasse, setze mich auf einen zum Glück noch neben Fabi freien Stuhl und kippe uns den ersten Jägermeister des Abends ein. Was für ein Wochenende.

»Da freut sich aber einer, was? Prost!«

Fabian hält mir sein Glas entgegen und grinst mich an, als wären die letzten Monate, in denen wir uns alle so dermaßen verändert haben, nie da gewesen. Als hätten keine Minigolfspiele stattgefunden.

»Prost!«

Auch ich grinse mit einem Grinsen, das ich schon seit einer Ewigkeit nicht gegrinst habe und die Feierlichkeiten nehmen ihren Lauf. Als das eigentliche Grillen beendet ist und der alkoholische Teil des Abends eingeläutet wird, ist mir schon ganz schön schummerig. Ich stehe auf, schnappe mir noch ein Becks und stelle mich an den Rand der Terrasse. Mein Blickt streift durch den angrenzenden Wald bzw. das was der Lichtschein der Hausbeleuchtung davon übrig lässt. Gedankenverloren zünde ich mir eine Zigarette an, genieße den Augenblick und hoffe, dass er so schnell nicht enden möge, so harmonisch und vollkommen erscheint er mir.

Fabian tritt hinter mich.

»Das ist ein ganz schöner Hammer hier, oder?«

Langsam drehe ich mich zu ihm um und würde ihn am liebsten umarmen, doch das traue ich mich nicht.

»Ich hatte schon befürchtet, dass es mit Peter, seinem Bruder und dessen Anhang hier eigentlich eher unerträglich werden würde, aber dass es so wunderschön ist, damit habe ich so überhaupt nicht gerechnet. Prost!«

»Prost! Ach, Hannes und seine Leute sind eigentlich ganz friedlich. Die sitzen drinnen und kiffen erst mal ne Runde! Solange sie sich dabei ruhig verhalten, soll mir das egal sein.«

»Ja damit hab ich allerdings gerechnet. Peter schleppt ja in letzter Zeit auch immer häufiger son Zeuch an. Naja, jeder wie er mag.«

»Jägi?«

»Jägi!«

Wir holen uns zwei Stühle, richten sie zum erleuchteten Waldrand aus und nehmen schweigend Platz. Einfach nur neben Fabian sitzen. Einfach nur in seiner Nähe sein. Was für ein geiles Wochenende. Vergangene Szenen, die Fabian und ich gemeinsam erlebt haben, mischen sich mit der Musik im Hintergrund zu einem abstrakten Videoclip in Überlänge, unterbrochen von diversen Werbeeinblendungen der Marker Jägermeister.

Später...

»Fabi?«

»Was geht Lenny?«

»Laß ma aufhören mit dem Jägermeister, bevor ich die Werbespots nicht mehr zählen kann und sich auch die Sterne, die um meinen Kopf kreisen, nicht mehr genau beziffern lassen.«

»Bidde? Wassen für Werbespots? Lenny, Du bist doch voll!«

Oops, verplappert. Wenn ich mir sonst solch wirren Gedanken mache, bleiben die wenigstens in meinem Schädel, aber jetzt habe ich sie ausgesprochen. Wie gut, dass Fabi das auf den Jägermeister schiebt, denn betrunken bin ich nun wirklich nicht. Vielleicht etwas angeheitert, aber auf gar keinen Fall »voll«.

»Nimm mich bitte heute nicht ernst, Fabi.«

»Lenny? Du bist voll!«

»Hey! Angeheitert vielleicht, aber nicht voll! Du bist voll, Fabi!«

»Nach 6 Jägermeistern? Gelächter!«

»Wer weiß? Kommst ja kaum noch dazu in letzter Zeit.«

Und wieder könnt ich mich ohrfeigen.

»Ähm, Lenny, ich glaube ich werde langsam müde. Morgen ist auch noch ein Tag. Ich mach mich mal auf ins Bett.«

Ich zögere und antworte erst, als er schon auf der Terrasse steht: »Warte Fabi, ich komme mit.«

Alles stehen und liegen lassend springe ich auf und flitze hinter Fabian her, der sich mittlerweile schon im Haus befindet und mich offenbar nicht gehört hat.

Abfahrt

»Hey, warte doch!« rufe ich ins Haus.

»Hast Du Angst alleine oder was?«

Oh, der war zickig. Was ist plötzlich in ihn gefahren?

»Nein, es ist nur...« stammele ich vor mich hin.

»Es ist nur was?«

»Ach Nix! Vergiss es!«

Früher hat Fabian nur äußerst selten zickig reagiert. Wenn, dann nur bei so einer Antwort wie »Ach nix!« oder »Is egal«. Jetzt reagiert er darauf gar nicht. Da ist sie wieder die Distanz. Willkommen in der Wirklichkeit, Lenny.

Schweigend ziehen wir uns bis auf Shorts und T-Shirts aus und schlüpfen in die frisch gemachten Betten. Ich fühle mich wie in einem Luxushotel. Zögernd wünsche ich Fabian dann aber doch noch eine gute Nacht. Die Antwort lässt ebenfalls auf sich warten.

»Ich war von Larissa in den letzten Wochen nicht eine Nacht getrennt. Ganz schön ungewohnt so alleine im Bett.«

Will er mich jetzt neidisch machen?

»Kannst ja rüberkommen! Dann biste nicht mehr alleine.«

Shit! Ich darf keinen Jägermeister mehr trinken. Der denkt jetzt bestimmt, ich wär schwul oder so. Ohrfeige Nummer wie viel heute? Ich kann es nicht mehr zählen. Na super, er antwortet gar nicht mehr, aber es raschelt. Er dreht sich bestimmt um und denkt sich seinen Teil.

»Rutsch mal«

flüstert plötzlich eine Stimme direkt vor mir.

Fabian.

Meine Pulsfrequenz wächst exponentiell und müsste in Form eines nicht enden wollenden Trommelwirbels eigentlich ganz deutlich hörbar sein. Die linke Hälfte meines Bettes räumend drehe ich mich zur Wand. Es ist mir zu peinlich, wenn wir Gesicht an Gesicht liegen.

Er nimmt Platz. Er nimmt tatsächlich Platz und liegt leise und regelmäßig atmend hinter mir und schweigt. Auch ich schweige und stelle mich schlafend, wenngleich ich genau weiß, dass ich ganz bestimmt kein Auge zu machen werde.

Ich spüre seinen Atem in meinem Nacken. Regelmäßig, wie auch die Bettdecke, die sich im gleichen Rhythmus um wenige Zentimeter auf und ab bewegt.

Die kurzzeitig aufblitzende Distanz von eben ist komplett gewichen. Gibt es eigentlich negative Distanz? Obwohl wir uns nicht berühren, ist Kontakt hergestellt, scheinen wir zu schweben.

Mein Schwanz steht absolut senkrecht, noch nie in meinem Leben war ich so erregt, noch nie habe ich so etwas Intensives erlebt. Wie gerne würde ich nachprüfen, ob auch Fabian hinter mir vom gleichen Wahnsinn erfasst wurde.

Mir wird schwindelig, alles kribbelt, wie Tausende von Fabians Händen, die einen zu berühren scheinen.

Mein noch schneller gewordener Puls lässt mein erregtes Blut in alle Richtungen pumpen.

Ich glühe förmlich, mein Schwanz pulsiert und würde auf der Stelle explodieren,

wenn ich ihn jetzt berühren würde...

wenn er ihn jetzt berühren würde...

wenn er mich...

ich ihn...

Es raschelt wieder hinter mir.

Zieht er sich zurück?

Bitte nicht jetzt...

Bitte nicht...

Ich spüre, wie sich seine Hand auf meinen Bauch schiebt und dort bewegungslos liegen bleibt.

»Ach Lenny...« ist alles, was ich noch in der Lage bin, wahrzunehmen, bevor

mein Schwanz dem enormen Druck nachgibt und ich mich,

ohne Hand an mich gelegt zu haben,

in meine Boxershorts entlade.

Mit glühenden Wangen und leerem Kopf liege ich regungslos da und genieße, wie die letzten Wellen meines freihändigen Orgasmus aus meinem Körper gleiten.

Als ich wieder zu mir komme, spüre ich noch immer das rhythmische Atmen in meinem Nacken. Es ist langsamer geworden. Fabian schläft. Hat er etwas mitbekommen? Hat er etwa auch...? Quatsch. Er ist doch nicht schwul. Bin ich schwul? Quatsch. Das hätte genau so bei Maria passieren können. Körperkontakt ist Körperkontakt.

Über dieses gedankliche Zwiegespräch meiner selbst schlafe ich ein und werde erst wieder wach, als plötzlich jemand die Tür unseres Zimmers aufreißt, uns mit dem Licht der Deckenlampe blendet und ins Zimmer lallt:

»Is noch Platz? Ich schlaf mit dem Holger im Zimmer, aber der schiebt mit Magda ne Nummer, der Arsch! Oh, da is ja noch ein Bett frei. Komisch, ich dachte es wäre alles belegt.«

Das Licht geht aus, die Tür knallt ins Schloss und Tweety lässt sich tatsächlich in voller Montur auf Fabians Bett fallen. Es dauert keine fünf Minuten und er schnarcht.

Genauso wie Fabian, der von alledem nichts mitbekommen hat.

Das intensive Gefühl von eben blitzt wieder auf und während sich mein Schwanz schon wieder selbstständig macht, entgleite ich mit der Absicht, diese Nacht meine Träume selbst zu bestimmen, abermals ins Land der Träume, die sich leider nicht bestimmen ließen.


* * *

Als ich am nächsten morgen wach werde, bin ich reichlich irritiert.

Wo bin ich? Es ist arschkalt! Und wer zum Teufel liegt hier...

Schlagartig kehrt mein Gedächtnis zurück. Fabian. Gestern Nacht. Mir wird ganz anders.

Eingemummelt in meine Bettdecke liegt Fabian in Fötusstellung mit dem Rücken zu mir und schnarcht mit Tweety, der noch immer in Fabians Bett schläft, um die Wette. Ich liege dagegen vollkommen unbedeckt auf dem Rücken und bemerke erst jetzt meine Morgenlatte. In Zeitlupe klettere ich vorsichtig über Fabian hinweg, steige aus dem Bett und sammele meine Sachen zusammen. Shit! Eine Bettdecke raschelt.

Puhh! Es war nur Tweety, der sich im Bett umdrehen hat und dabei etwas lauter war.

Nachdem ich die Zimmertüre von außen geräuschlos geschlossen habe, spurte ich, noch immer geräuschlos, zum Bad und mache mich dort in Rekordzeit fix und fertig zum Abmarsch.

Abmarsch? Ja, ich habe gestern auf dem Hinweg in einem der Nachbardörfer einen kleinen Bahnhof gesehen. Da müsste heute mit Sicherheit noch irgendein Bummelzug in den nächstgrößeren Ort fahren, von wo aus ich sicherlich nach Hause komme.

Und so stehe ich schon zehn Minuten später draußen auf der Straße und starte meinen Marsch in den nächsten Ort. Dabei schießen mir die verschiedensten Fetzen des gestrigen Szenarios durch den Kopf.

Unwillkürlich erhöhe ich mein Schritttempo. Das Gedankenchaos beschleunigt seine Drehzahl ebenfalls.

Jetzt laufe ich bereits, und auch mein Hirn scheint sich immer schneller zu drehen.

Mein Magen, mein Kopf, was ist hier los.

Tränen schießen mir aus den Augen, meine Nase läuft, ich ebenfalls. Und das im Höchsttempo,

bis der Ort, in dem sich alles zugetragen hat, außer Reichweite ist, und ich mich in den nächstbesten Straßengraben übergeben muss. Meine Tränen vermischen sich mit dem Rotz, der aus meiner Nase fließt und tropfen schließlich ins Ausgekotzte zu meinen Füssen.

Als nichts mehr kommt, sacke ich zusammen und lasse mich ins flache Gras am Straßenrand fallen.

Was ist hier los? Was hab ich getan? Ich hatte einen Orgasmus durch Fabians Anwesenheit. Durch seine bloße Anwesenheit. Und es war geil.

Aber war es gut?

War es richtig?

Nein!

Vielleicht!

Nein?

Weil nicht sein kann, was nicht sein darf?

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