zur Desktop-Ansicht wechseln. zur mobilen Ansicht wechseln.

Die Ruhe der Toten

Kapitel 7 und 8

Lesemodus deaktivieren (?)

Informationen

Inhaltsverzeichnis

Ein neuer Geist

„Dennis...? Was ist denn hier passiert?“, fragte ein geschockte Stimme hinter mir.

Der Nekromant fuhr herum und sah mich. Er zögerte keinen Moment, stopfte den letzten Rest seiner Beute in den Sack und murmelte ein paar Worte zu dem Hundegeist. Der knurrte allerdings unwillig und stand gemächlich auf.

Das gab mir genug Zeit, um mich zu fangen. Ich stürmte die letzten Meter vor und nun beeilte sich auch der Nekromant. Er warf den Sack auf den Rand des Grabes und kletterte schnaufend aus dem Loch.

Dann keuchte er einige Worte und der Geist fuhr zusammen und verschwand schließlich. Während ich schon die Hände ausstreckte, und den Sack zu fassen, erschien plötzlich ein weiterer Geist. Wie ein riesiger Vogel packte er den Mann an den schmalen Schultern und riss ihn in die Höhe. Dabei zerrissen seine Klauen die Riemen des Rucksacks, den der Nekromant immer noch auf dem Rücken trug.

Ich stolperte und fiel, streckte meine Arme aus und krallte eine Hand in den Sack. Ein einzelner Knochen fiel heraus. Er hatte also wirklich Jonathans Knochen geholt. Der Nekromant wandte den Kopf zu mir um und trat mit beiden Beinen nach mir. Einer seiner Füße traf meinen Oberarm und ich musste den Sack loslassen. Zufrieden umschlang er seine Beute wieder fest mit beiden Armen. Einen Augenblick später schwebte er gut fünf Meter über mir und grinste mich schadenfroh an.

Ich starrte ihm hinterher, doch immer noch war nicht mehr als das untere Drittel seines Gesichts zu erkennen, weil ihm ein langer weißgrauer Haarschopf unordentlich ins Gesicht fiel. Wütend hob ich den Knochen auf, den er verloren hatte und schob ihn in meine Hosentasche, den Rucksack klemmte ich mir unter den Arm. Da war sicher irgendetwas Nützliches drinnen.

„Dennis... Oh mein Gott. Dennis! Tu doch was, wir müssen die Polizei und einen Krankenwagen rufen!“

Verwirrt drehte ich mich um. Die Stimme, die den Nekromanten auf mich aufmerksam gemacht hatte, hatte ich vollkommen vergessen. Es war Diana. Sie hatte es wohl nicht mehr in ihrem Fluchtauto ausgehalten. Oder die Schreie hatten sie angelockt.

Sie kramte hektisch ihr Handy aus der Tasche und einen Augenblick später schrie sie nach Rettungswagen, die unbedingt zum Friedhof kommen müssten. Sie mussten sich beeilen, es lebte wahrscheinlich nur noch einer.

Kurz musste ich überlegen, wen sie meinte. Die meisten hier sahen nicht so aus, als würden sie sich noch bewegen könnten. Geschweige den leben.

Mit wurde schon wieder schlecht und ich wandte den Blick lieber ab. Dann fiel mir Jonathan ein, der hier irgendwo zwischen den Grabsteinen liegen musste.

Ich brauchte einen Moment, um die Orientierung wieder zu finden. Das Adrenalin pulste immer noch durch meinen Körper, die seltsame Stille machte mir Angst.

„Dennis... Was ist... passiert...?“, fragte Jonathans leise Stimme. Immerhin ging es ihm wieder gut. Ich folgte dem Klang und fand ihn an einen Grabstein gelehnt sitzen. Einige Meter weiter übergab sich Diana geräuschvoll auf ein weiteres Grab.

Ich kniete mich neben den Geist und legte ihm vorsichtig die Hand auf die Stirn, als ob er Fieber hätte. Seine Haut war eiskalt, wie tot. Sofort zog ich meine Finger zurück. Ich hatte ihn eigentlich noch nie so bewusst angefasst und nun war ich erschrocken, wie leblos er sich anfühlte. So tot.

Ich biss die Lippen zusammen und fuhr ihm vorsichtig über die schwarzen, völlig zerwuschelten Haare.

Er sah unglaublich müde und erschöpft aus. Nun, kein Wunder. Aber immer noch machte er auf mich einen unschuldigen Eindruck, ich konnte schon nicht mehr glauben, was er alles getan hatte.

Jonathan fuhr sich mit einer Hand über sein blasses Gesicht. Dann öffnete er die Augen einen Spalt weit und sah mich fragend an. „Was habe ich getan?“

Ich überlegte einen Moment, was ich sagen sollte. Konnte ich es ihm überhaupt sagen? Es ging ihm jetzt schon schlecht und wenn er erfuhr, was er getan hatte, was wäre dann? Unwillkürlich sah ich zu seinen Händen, mit denen er Nekromanten getötet hatte. Ich musste mich beherrschen, um nicht vor ihm zurück zu weichen. Da lenkte das Geräusch von Sirenen meine Aufmerksamkeit auf sich.

„Das erkläre ich dir später. Wir müssen hier weg.“ Ich war recht sicher, dass ich es nicht schaffen würde, der Polizei zu erklären, was hier passiert war. Und Jonathan war schuldig, zweifellos. Aber er würde sich nicht ins Gefängnis stecken lassen. Also konnten wir auch gleich gehen.

„Kannst du gehen?“, fragte ich besorgt. Gleich darauf bereute ich meine Frage. Natürlich nicht.

Er schüttelte schwach den Kopf, aber selbst diese einfache Bewegung schien zu viel für ihn zu sein. Der ehemals fröhliche junge Mann hockte die wie ein Häufchen Elend, Arme und Beine von sich gestreckt und den Kopf hielt er nur dank dem stützenden Grabstein hinter ihm aufrecht. Unter seinen halb geschlossenen Augen prangten jetzt schon große Schatten und seine Brust bewegte sich überhaupt nicht mehr. Jede Kraft schien aus seinem schmalen Körper gewichen zu sein und selbst seine schwarzen Haare hingen trostlos in alle Richtungen.

„Wenn es dir schlechter geht oder dir etwas weh tut, dann sag Bescheid, in Ordnung? Ich trage dich.“

Ein leises Lächeln stahl sich auf seine Lippen, das sofort wieder verschwand, aber für eine Antwort war er wohl zu erschöpft. Vorsichtig schob ich einen Arm unter seine Kniekehlen, den anderen um seinen Rücken. Ich konnte ihn ohne Anstrengung tragen. Er war leicht wie ein Kind.

„Dennis, du schuldest mir eine Erklärung! Was zur Hölle ist hier passiert? Wer hat all diese Menschen umgebracht??“, fuhr mich meine Schwester an. Ihr stand das Entsetzen ins Gesicht geschrieben. Dann sah sie Jonathan. „Und was ist mit ihm? Ist er verletzt?“

„Komm mit. Wir haben jetzt keine Zeit dafür. Jonathan geht es nicht gut. Fahre uns bitte nach Hause. Da erzähl ich dir die Geschichte.“

Einen Moment lang schien es, als wollte sie noch etwas sagen, dann nickte sie nur und stolperte Richtung Ausgang.

Solange wir das Leichenfeld nicht verlassen hatten, sah ich weder nach Rechts noch nach Links. Sonst hätte ich den Geist wahrscheinlich fallen gelassen. Er war wohl eingeschlafen oder so ähnlich, denn er hatte die Augen nun vollkommen geschlossen und regte sich nicht mehr.

Sobald er aufgewacht war, würde er einiges zu erklären haben. Das würde ein langer Tag werden.

Schweigend setzte ich Jonathan hinten ins Auto und platziere mich neben ihm. Fürsorglich, nur damit er nicht umfiel, legte ich einen Arm um seine schmalen Schultern.

Polizeiautos und Krankenwagen rasten an und vorbei. Diana startete zitternd den Wagen und ordnete sich in den Verkehr ein. Langsam wurde ihr Blick glasig, ihre Handbewegungen immer mechanischer. Besorgt lehnte ich mich vor und legte ihr eine Hand auf die Schulter.

„Alles in Ordnung?“

„Hm?“ Abwesend steuerte sie um eine Ecke und knallte beinahe mit einem anderen Wagen zusammen. Der andere Fahrer konnte gerade noch so ausweichen.

Auch das weckte sie nicht aus ihrer Teilnahmslosigkeit.

Bevor noch etwas Schlimmeres geschah, zwickte ich sie kurz und fest in den Arm. Aber auch das bewirkte nichts.

Plötzlich wurden wir langsamer und hielten. Ich warf einen Blick hinaus. Wir standen vor unserer Wohnung. Ich sah zu meinen beiden Mitfahrenden. Der eine war vollkommen weggetreten, die andere war auf dem besten Weg in eine Ohnmacht.

Mit meinen begrenzten medizinischen Fachkenntnissen erriet ich, dass Diana unter Schock stand. Sie reagierte kaum, nahm nichts wahr und starrte glasig aus der Windschutzscheibe. Kein Wunder. Sie würde nur eine Weile brauchen, dann würde sie sich erholt haben, jedenfalls fürs erste. Hoffentlich traf dasselbe auch auf Jonathan zu.

Ich brachte Diana dazu, auszusteigen und trug Jonathan, gefolgt von meiner Schwester, hinauf in die Wohnung. Dann führte ich sie in mein Bett und ihn in sein eigenes. Dort waren sie gerade am besten aufgehoben. Mich selbst platzierte ich in der Küche und ließ alle Türen offen, um zu hören, wenn mit dem einen oder anderen etwas passierte.

Der Zustand des Geistes hatte sich ein wenig gebessert. Ein Funken Leben und Kraft war in sein blasses Gesicht zurückgekehrt. Er schien zu schlafen. Auch wenn man das nicht so genau sagen konnte. Aber um ihn musste ich mir nicht mehr so große Sorgen machen. Ebenso um Diana.

Nein, viel schlimmer waren der verfluchte Nekromant und die gestohlenen Knochen. Ich legte den Splitter, den ich seit Jahren besaß und den anderen Knochen vom Friedhof auf den Küchentisch. Dann öffnete ich den Rucksack des Nekromanten und vertiefte mich in dessen Inhalt.

Als erstes kamen zwei alte, verstaubte Bücher zum Vorschein. Die Schrift konnte ich nicht lesen, ich hatte nicht die geringste Ahnung, welche Sprache das war. Die krakeligen Buchstaben waren schon ziemlich verblasst und auch der Einband sah nicht gerade aus, als würde er aus der nächsten Druckerei stammen.

Darauf folgten zwei kleine Flaschen mit einer dicken roten Flüssigkeit, bei der ich auf Blut tippte. Dann kam eine gläserne Schale zum Vorschein, an der auch noch getrocknetes Blut klebte. Die beiden letzten Dinge waren ein Messer in einer geradezu mittelalterlichen Scheide mit einer sehr, sehr scharfen Klinge und ein kleines Kästchen mit verschiedenfarbiger Kreide und einigen niedergebrannte Kerzen.

Mehr angezogen als interessiert zog ich noch einmal die Scheide von dem Messer und betrachtete die Klinge erneut. Sie war schwarz, aber feine graue Linien zogen sich durch das Metall. Der vorherige Besitzer schien sie nicht besonders gepflegt zu haben, denn auch an dem Messer klebte noch Blut.

Das waren also Dinge, mit denen ein Nekromant arbeitete.

Angewidert schmiss ich alles wieder in den Beutel zurück und stopfte ihn in einen Schrank. Das war mir im Moment zu gruselig. Ich wollte gar nicht daran denken, wie viele Lebewesen er getötet hatte um sie ihres Geistes zu berauben.

„Dennis?“, rief eine leise Stimme aus meinem Schlafzimmer.

Sofort sprang ich auf und lief zu Diana, die mich matt ansah. Mit jedem Augenblick kehrte aber ihre alte Beharrlichkeit zurück und so knurrte sie: „Du bist mir noch eine Erklärung schuldig, mein Lieber. Und die sollte verdammt gut sein!“

Also setze ich mich auf die Bettkante und erzählte ihr alles, was ich erlebt hatte und was ich darüber wusste oder ahnte.

Die Zeit verging und wir rätselten immer noch über die Nekromanten und Jonathans seltsames Verhalten, als die Sonne unterging.

Diana stand dann auf und ging nach Hause, um nach ihrer Tochter zu sehen. Sie hatte sich vollständig von ihrem Schock erholt und ihre Mutterliebe siegte über ihre Sorge um Jonathan.

Ich dagegen warf mal wieder einen Blick auf den Geist, der immer noch friedlich schlummerte.


Nachdenklich starrte Paul auf den Tisch. Er war in seinem Forschungskeller unterhalb seines Hauses, einem Raum, in dem er an Geistern und Nekromantie forschte, ohne dass es jemand mitbekommen konnte.

Das größte Möbelstück, das nirgendwo sonst hin gepasst hatte, war der gewaltige Tisch, auf dem jetzt, fein säuberlich geordnet die Knochen des freien Geistes lagen.

Kein Nekromant wusste über die freien Geister wirklich viel. Ab und zu erschien einer und verschwand einige Zeit später. Nur wenige Totenbeschwörer überlebten einen Zusammenstoß, aber einer hatte es geschafft und von ihm stammten die wenigen Informationen, die man über diese mächtigen Geister hatte.

Sobald ein Knochen aus einem Grab entfernt wurde, entstand ein Geist, der niemandem gehorchte. Allerdings starb er, sobald seine Knochen wieder vollständig unter der Erde lagen.

Mehrere Nekromanten hatten bereits versucht, ein Grab zu öffnen, aber keiner von ihnen hatte es jemals geschafft. Anscheinend konnten nur sehr, sehr wenige Menschen ein Grab auf einem Friedhof öffnen, aus dem freie Geister kamen.

Nun hatte Paul den Großteil der Knochen in seinem Besitz. Und er hatte keine Ahnung, wie ihm das helfen konnte.

Fast alle Nekromanten waren tot. Sie waren normalerweise alle eher Einzelgänger, aber trotzdem hatten sie sich zusammengeschlossen, um den freien Geist mit einem der mächtigsten Beschwörungen überhaupt unter ihre Kontrolle zu bringen.

Paul hatte geahnt, dass es nicht funktionieren würde, deshalb hatte er sich einen sicheren Platz gesucht und abgewartet. Er wusste, dass Knochen wichtig waren, genauso wichtig wie Blut, um einen Geist zu beschwören. Jetzt musste er nur noch herausfinden, auf welche Weise er den Freien beherrschen konnte.

Nachdenklich betrachtete der Nekromant die kahlen grauen Wände, aber auch sie konnten ihm keine Antwort auf seine Frage geben.

Mit einem leisen Wort beschwor er einen weiteren Geist. Er hatte lange nicht mehr mit ihm gesprochen. Manche Geister wurden mit der Zeit zahm, ihr Hass auf alles Lebendige so groß, dass es ihnen Spaß machte, Nekromanten zu helfen. Andere stumpften ab und wurden gehorsame, aber schwache Diener. Und manche ließen sich nichts gefallen. Sie versuchten auch nach unzähligen Jahren noch, ihre Meister zu töten oder frei zu kommen.

Und zu der letzten Art gehörte auch dieser Geist.

Paul hatte ihn nicht getötet und dann den Geist beschworen, er hatte ihn gewissermaßen geerbt. Er hatte einen Nekromanten getötet und einen Teil seiner Geister unter seine eigene Kontrolle gebracht. Dabei war er auf diese spezielle Tote in ihrem sehr speziellen Gefängnis gestoßen, über die rein gar nichts in den Aufzeichnungen ihres ehemaligen Herrn stand. Sie war etwas Besonderes. Und besonders gefährlich.

Der Schemen eines zierlichen Mädchens entstanden vor Paul. Ihre Umrisse verschwammen im Licht, aber dennoch konnte man erkennen, dass sie nicht besonders alt sein konnte, vielleicht zwölf oder dreizehn Jahre. Sie trug ein bodenlanges Kleid, das ihr auch über die Hände fiel. Ihr Gesicht war nur ein heller Fleck, eingerahmt von roten Locken, dem einzig farbigen an ihr, die ihr bis zur Hüfte reichten.

„Wir haben uns lange nicht gesehen.“ Das Mädchen lachte leise und boshaft. Dann strich sie sich einige durchscheinende Haare aus dem Gesicht und sah sich interessiert um.

„Es ist immer wieder interessant, hier her zu kommen. Alles verändert sich. Was ist passiert, dass du meine Hilfe brauchst? Es muss etwas wichtiges sein, sonst hättest du mich nicht gerufen. Dafür hast du zu viel Angst vor mir. Wie alle Nekromanten. Ihr seid so schwach.“

Es war weder eine Vermutung noch eine Frage. Es war eine Feststellung.

Paul verschwendete keine Zeit, einen seiner üblichen Wege auszuprobieren, mit denen er sonst ungehorsame Geister bestrafte. Er wusste ganz genau, dass bei diesem Geist nichts helfen würde. Er konnte nur hoffen, dass er sie noch ein Weilchen gefangen halten konnte. Auch wenn es nicht für ewig sein würde. Bald, vielleicht in einigen Tagen, vielleicht in einigen Wochen, würde sie ihr Gefängnis zerstört haben. Es war vor sehr langer Zeit gebaut worden und nun wusste niemand mehr, wie man einen Geist auf der Erde bannen konnte und ihn gleichzeitig zwang, zu tun was der Besitzer des Gefängnisses wollte. Aber Letzteres war noch nie sicher gewesen und so war der Geist des Mädchens in ihrem Käfig von Nekromant zu Nekromant gewandert und irgendwann vergessen worden, da niemand es gewagt hatte, sie zu rufen.

„Es geht um einen freien Geist, der dir fast ebenbürtig ist. Ich hab einen Teil seiner Knochen, aber ich weiß nicht genug, um sie für meine Zwecke zu benutzen.“

„So ist das also. Ein freier Geist. Und beinahe so mächtig wie ich? Das wird ein Spaß!“

Wieder lachte sie, laut und boshaft. Sie freute sich schon auf die kommende Geisterjagd.

Knochen

„Dennis?“

Leise trat ich ins das Zimmer und schlich zum Bett.

Der Geist starrte mit offenen Augen an die Decke.

„Bist... bist du wach?“

Was für eine dumme Frage! „Natürlich bist du wach. Geht’s dir besser?“

Jonathan drehte ein wenig den Kopf und sah mich nachdenklich an. „Ja, ich denke schon.“

„Gut. Brauchst du irgendetwas?“

„Nein, danke.“

Ich biss mir auf die Zunge. Dieser Dialog hatte sicher keinen besonderen Wert, aber trotzdem wollte ich weiter mit ihm reden. Einfach, um zu wissen, dass er es noch konnte. Ich schüttelte über mich selbst den Kopf. Natürlich konnte er es noch. Er hatte sich ja nicht irgendwie verletzt. Jedenfalls nicht äußerlich.

„Dennis, setz dich hin und frag, was du fragen willst!“, sagte der Geist plötzlich. Er richtete sich auf und setzte sich im Schneidersitz auf sein Kopfkissen. „Na?“

Ich zögerte noch einen Moment, dann kletterte ich ebenfalls auf das Bett und hockte mich verkrampft ihm gegenüber auf die Matratze.

Er sah wieder vollkommen normal aus, aber trotzdem schien er sich irgendwie verändert zu haben. Seine Haare gehorchten wieder der Schwerkraft und er schien auch zu wissen, wer ich war, aber trotzdem war er nicht mehr vollkommen derselbe Jonathan.

Vielleicht lag das aber auch an mir.

Ich wusste jetzt, dass er anders sein konnte.

„Hast du Angst vor mir?“, riss mich seine Stimme aus meinen Gedanken.

„Nein, ich denke nicht. Vielleicht ein wenig. Auf dem Friedhof hatte ich wesentlich mehr Angst vor dir“, antwortete ich langsam und nachdenklich. Ehrlich.

„Es tut mir Leid, ich wollte das alles nicht tun.“ Halb verzweifelt, halb entsetzt sah mich Jonathan an, als könnte er selbst nicht glauben, was er da eigentlich auf dem Friedhof angerichtet hatte.

„Du kannst dich wieder erinnern? Warum warst du dann so anders?“

„Ja, ich weiß wieder alles, was ich getan habe. Als die Geister mich angegriffen haben, da wusste ich, dass ich keine Chance haben würde. Sie hätten mich einfach nieder gemäht... Also musste ich etwas tun. Um mein Leben zu retten.“ Er schüttelte den Kopf. „Mein Nichtleben. Ich bin wütend geworden, vollkommen ausgerastet und plötzlich konnte ich nur noch zusehen, was ich tat. Als ob jemand anderes über meinen Körper und meine Kräfte bestimmen würde. Ich wollte das alles nicht tun, aber es war nötig. Ansonsten wäre wahrscheinlich etwas sehr viel schlimmeres geschehen.“

„Wie meinst du das?“

„Was weißt du über Nekromanten?“ Er lehnte sich zurück wie ein Lehrer, der auf die Antwort eines Schülers wartete aber genau wusste, dass sie nicht kommen würde.

„Nichts. Nun ja, bis auf den Schund, den sich Fantasyautoren ausdenken. Sie erwecken Tote zum Leben und so was.“

„Das stimmt, vor allem das: „Und so was.“ Nekromanten sind gefährlich. Vielleicht nicht für dich, jedenfalls im Moment, aber für Andere. Sie töten Menschen und binden ihre Geister, die dann ihre Befehle befolgen müssen. Je mehr Geister ein Nekromant unter seiner Kontrolle hat, desto mächtiger wird er eingeschätzt. So ein Bann ist ein ständiger Zauber, den er die ganze Zeit im Hinterkopf behalten muss, je mehr Geister, desto anstrengender ist es.“

„Aber dann muss man doch einen Nekromanten doch nur töten, um die Geister zu befreien.“

„Nein. Wenn ein Mensch einen Nekromanten tötet, dann gehen all die Geister auf ihn über. Sie würden ihn verrückt machen und schließlich töten. Aber ein Geist muss entlassen werden und das kann nur der Nekromant tun, der den Geist gerade in Besitz hat. Es ist auch ein Zauber. Ansonsten schwirren die Geist nur durch diese Welt und werden sehr bösartig.“

Jonathan stand auf, zog die Vorhänge zu und knipste das Licht an. Dann setzte er sich zurück auf sein Bett.

„Woher weißt du so viel über sie?“, fragte ich ein wenig neugierig. Vor allem wollte ich, dass er nicht weiter grübelte. Er sollte sich ablenken.

„Ich habe einmal mit einem Nekromant gesprochen, als ich noch tot war. Wir Geister haben eigentlich ununterbrochen Informationen ausgetauscht. Deswegen konnte ich mich auch in dieser Welt zu Recht finden, obwohl ich mich nicht an sie gewöhnen konnte. In gewisser Weise kannte ich sie schon, wusste ich schon alles.“

„Mhm. Und... Warum sind sie hinter dir her? Was ist an dir so besonders?“

„Ich bin ein freier Geist. Ich bin hier, aber kein Nekromant hat mich getötet und gebannt. Ich war sehr lange tot, bevor ich hier her zurückgekommen bin und genau das macht mich mächtig. Ich kann viele Dinge tun, von denen selbst ich nichts weiß.“

„Warum seid ihr so selten? Wenn ihr so mächtig seid, warum rufen euch die Nekromanten nicht öfter?“

„Ein freier Geist entsteht aus einem Körper, der eine bestimmte Zeit in der Erde eines Friedhofes lag. Wenn dieser Körper nicht mehr vollständig ist, dann wird der Geist in diese Welt geholt, so lange, bis alle Knochen wieder in das Grab zurück gelangt sind. Nekromanten können keine Gräber öffnen. Sie haben es oft versucht, aber sie schaffen es nicht. Ein Grab auf einem Friedhof ist vielleicht der einzige Ort, der vor ihnen sicher ist! Jedes einzelne Grab ist vor ihnen geschützt, sodass sie die Platte nicht zerstören können. Ebenso wie den Sarg oder sonst irgendetwas auf einem Friedhof. Es ist eine Art... Anti-Nekromantenzauber.“

Erschöpft von seiner doch recht langen Rede wischte er sich mit dem Handrücken über die bleiche Stirn.

Jetzt wusste ich endlich, was sich an ihm geändert hatte. Er schien irgendwie menschlicher zu sein. Auf seiner Haut hatten sich feine Schweißtröpfchen gebildet, seine Finger zitterten ein wenig.

Das hatte ich vorher noch nie gesehen.

„Ist etwas, Dennis?“, fragte er und sah mich verwundert an.

„Nein, nein. Aber... was würde passieren, wenn ein Nekromant tatsächlich in Besitz der Knochen eines freien Geistes kommen würde?“, erkundigte ich und versuchte, mir meine Aufregung nicht anhören zu lassen. Mein Herz schlug schneller. Ich hatte Angst vor der Antwort. Nekromanten und Knochen konnten nichts Gutes ergeben!

„Ich weiß nicht. Wenn dieser freie Geist Glück hat, dann könnte der Nekromant nicht damit umgehen. Nekromanten arbeiten mit Blut und Toten, aber normalerweise nicht mit Knochen. Wenn er es schaffen würden, den Geist mit Hilfe der Knochen zu bannen, dann hätte er wahrscheinlich einen sehr starken Diener. Aber er könnte diesen Diener kaum kontrollieren! Dazu bräuchte er Blut. Du willst doch nicht etwa sagen...“

Mit weit aufgerissenen Augen starrte er mich an. „Das...“ Langsam senkte er die Lider und vergrub den Kopf in den Händen.

„Das... ist verdammt scheiße. Oh nein...“, murmelte er immer wieder und wiegte sich wie ein kleines Kind hin und her.

Er hatte Angst.

Das Klingeln des Telefons durchbrach sein leises Gewisper.

Ich wartete einen Moment. Vielleicht würde es ja wieder verstummen, aber das durchdringende Geräusch störte weiter und Jonathan knotete sich noch mehr zusammen.

Also stand ich auf und ging hinaus in den Flur.

„Ja? Dennis DeTarun?“

„Hier ist Diana. Das Krankenhaus hat gerade angerufen. Papa wird wohl nicht mehr lange leben. Ich bin schon unterwegs. Soll ich dich abholen?“ Sie klang gehetzt und ziemlich nervös. Sie hasste es, während dem Autofahren zu telefonieren.

Ich musste nicht lange überlegen, nur einen Blick in Jonathans Zimmer werfen um zu wissen, wo ich gerade sein sollte.

„Nein. Ich will ihn nicht noch einmal sehen. Sag ihm das.“

Sie seufzte leise und antwortete: „Wenn du nicht willst. Ich werde es ihm allerdings nicht ausrichten.“

„Tu was du willst. Bis nachher.“ Damit legte ich auf, ging zurück zu dem Geist und legte einen Arm um seine schmale Schulter.

„Ich bin sicher, wir kriegen das irgendwie wieder hin! Sie werden dich nicht bekommen, auf gar keine Fall!“

„Woher willst du das wissen? Dich geht das Ganze doch gar nichts an, von dir wollen sie doch gar nichts!“

Er hob den Kopf ein wenig und sah mich kläglich an.

Irgendetwas in mir zog sich schmerzhaft zusammen. Ich wollte ihn nicht so sehen, nicht so verzweifelt und traurig.

„Unsinn. Wenn ich dir irgendwie helfen kann, dann tue ich das auch! Irgendwann sollte ich doch mal damit anfangen, nicht?“ Ich versuchte zu lächeln, aber es misslang mir kläglich. Stattdessen drückte ich ihn noch einmal stumm.


„Ich kann dir erklären, was du tun musst.“ Langsam schritt das Mädchen in Pauls Arbeitszimmer auf und ab. Dabei hatte sie die Hände etwa auf Brusthöhe gehoben und ließ eine kleine Kugel zwischen ihren verschwommenen Fingern hin und her rollen, die ebenfalls aus weißem Nebel bestand.

„Aber?“, erkundigte sich der Nekromant. Er wusste, dass man bei diesem Geist darauf achten sollte, was sie sagte. Sie musste ihr Wissen nicht unbedingt mit ihm teilen, vielleicht würde sie ihm auch etwas völlig falsches sagen.

Mächtige Geister waren ein Risiko und dieser ein ganz besonders Großes.

„Was bekomme ich dafür? Den Geist willst du haben, möglichst unversehrt, nicht wahr? Also was bekomme ich dann dafür, dass ich dir helfe? Ein freier Geist, dem du befehlen kannst, ist sehr wertvoll für dich.“

„Ich kann mich nur über deine Scharfsinnigkeit wundern“, gab Paul bissig zurück.

Das Mädchen fauchte zurück: „Ich kann auch wieder verschwinden, wenn dir das lieber ist!“

Paul hob eine Augenbraue und sah sie kritisch an. Innerlich erinnerte er sich wieder einmal daran, warum er allein lebte und auch nur Geister kurz in seiner Nähe duldete. Ihre Launen erfüllten ihn Ekel.

„Du bist doch selbst versessen darauf, diesen Freien zur Strecke zu bringen. Es macht dir Spaß, einen Geist zu jagen, gegen ihn zu kämpfen und ihn schließlich ... Was auch immer du mit ihm machst. Ist das nicht genug?“ Der Nekromant schlug ein Bein über das Andere und tat, als würde er seine Aufmerksamkeit wieder dem Buch widmen, das er in den Händen hielt. In Wahrheit wartete er aber interessiert auf die Antwort des Geistes. Bisher hatten sie nicht darüber gesprochen, was das Mädchen verlangte, doch ihm war klar gewesen, dass sie ihm nicht aus Nächstenliebe helfen würde.

„Nein. Ich will, dass du mich endgültig frei lässt. Du zerstörst mein Gefängnis und vernichtest alles, was irgendwie darauf schließen lässt, wie man mich wieder einsperrt.“

Paul, der die ganze Zeit an seinem Schreibtisch gesessen hatte, lehnte sich in seinem Sessel zurück und dachte nach.

Nach einem kurzen Augenblick nickte er. Sobald er erst einen freien Geist vollkommen unter seiner Kontrolle hatte, brauchte er das Mädchen nicht mehr, der Andere würde einen sehr viel besseren Diener abgeben.

„Was soll ich tun?“

„Mit Hilfe der Knochen kannst du ihn kontrollieren. Wer die Knochen hat, der hat die Macht. Ich weiß, wie du verschiedene Dinge mit ihnen anstellen kannst.“

„Was?“

„Eine Möglichkeit ist eine Art Suche. Du kannst mir damit zeigen, wo er sich aufhält. Allerdings würden wir uns wahrscheinlich gegenseitig den Gar aus machen. Oder du kannst einfach versuchen, ihn zu kontrollieren. Aber ich weiß nicht, ob du dafür gut genug bist. Wahrscheinlich nicht.“

„Sag mir einfach, was ich tun muss. Das reicht!“

Das Mädchen lächelte hämisch und knickste formvollendet, wie man es vielleicht am Hof eines Königs erwartet hätte.

„Gib mit ein Blatt Papier, ein Messer, Blut und irgendetwas zum schreiben. Am besten eine Schreibfeder“, befahl das Mädchen. Mit einer kurzen Handbewegung erschuf sie sich einen nebulösen Sessel, in den sie sich hinein fallen ließ. „Nun, was ist?“

Paul starrte sie noch einen Moment an, dann erhob er sich ruckartig und holte zusammen, was das Mädchen von ihm verlangt hatte. Er fand mehrere Seiten dickes, altes Pergament in seinem Vorrat, sein eigenes Messer in einer Holzschachtel und sogar etwas Blut hatte er noch in seinem Kühlschrank. Er hatte es vor einiger Zeit einer Leiche abgenommen. Sogar einen Federkiel konnte der Nekromant unter seinen Arbeitsmaterialien entdecken.

Zufrieden öffnete der Geist den Plastikbeutel und tunkte die Spitze ihres Schreibgeräts hinein.

„Stör mich jetzt nicht mehr. Die Formel sollte nicht unterbrochen werden.“

Paul setzte sich wieder an seinen Schreibtisch und sah dem Mädchen zu, wie sie eine lange Reihe von seltsamen Zeichen mit Blut auf das Papier bannte.

Einige Minuten später schwebte das blutige Blatt durch die Luft bis in Pauls Hand. Der überflog die roten Zeilen und nickte zufrieden. Dann stellte er sich vor den Tisch mit den Knochen und räusperte sich.

Langsam begann er, die Worte vorzulesen, genau wie sie auf dem Papier standen. Dabei bemerkte er nicht den kleinen Luftzug, der durch die Spalte eines schlecht gebauten Fensters herein wehte und einen kleinen Tropfen Blut verwischte, der die Bedeutung des Wortes vollkommen veränderte.

Paul stockte kurz, dann las er weiter.

Lesemodus deaktivieren (?)