zur Desktop-Ansicht wechseln. zur mobilen Ansicht wechseln.

Shadowy - Episode 2

Teil 2

Lesemodus deaktivieren (?)

Informationen

Inhaltsverzeichnis

Vorwort

Hallo, hier ist nun der zweite von insgesamt drei Teilen von „Shadowy Episode 2 - News Of The World“. Wie immer gilt, über ein paar Kommentare würde ich mich freuen.

Dann wird es auch wieder Zeit, dass ich die Leistung der Beta-Leser hervorhebe, die seit Episode 1 auch die Erstkorrektur machen. Durch ihre Anregungen und Hinweise konnte ich viele Ungenauigkeiten und Unstimmigkeiten bereinigen, und natürlich haben sie die ganzen Rechtschreibfehler gefunden.

Gleichzeitig möchte ich mich an dieser Stelle bei den wenigen Lesern bedanken, die sich zu Episode 1 gemeldet haben.

LG

Martin (aka Mike)

6. - Poor Boy Down

He's a poor boy in his pocket, he's a poor boy in his shoes.

he's done his time, he's stood in line, that boy has paid his dues.


He ain't looking for a handout, he's just looking for a start,

he don't hate anyone, he don't carry a gun, you can tell that kid is smart.
Aus “Poor Boy Down” von Mike & The Mechanics

Schule bei Paradise City, Dienstag, 11.12.2035

Der neue Tag begann wie der gestrige. Wieder trafen wir Benny vor der Schule, nur wurde er diesmal von niemandem belästigt. Selbst die Drachen taten so, als würden sie ihn nicht sehen. Womit Benny jedoch wesentlich besser leben konnte, als wenn sie ihm ihre „Aufmerksamkeit“ schenkten. Alles war normal, wenn man davon absah, dass wir noch neugieriger gemustert wurden als am Tag zuvor.

Doch als wir dann mittags in die Mensa kamen, war es wesentlich ruhiger als am Vortag. Eine seltsame, nicht greifbare Stimmung lag in der Luft. Kaum hatte ich mein Tablett bestückt, sah ich mich suchend nach Benny um, doch ich fand ihn nirgends. Der Platz an dem wir am Montag gesessen hatten, war leer, nun sogar auch alle Tische darum herum.

»»Was ist los? Uns sollten sie doch inzwischen kennen««, vernahm ich Lukas, der neben mir stehend die Meute musterte.

»»Ich kann Benny nicht finden! Er wollte uns doch hier treffen««, sendete ich etwas beunruhigt zurück.

Als auch Tom und Julian ihr Essen hatten, gingen wir zu „unserem“ Tisch. Unterwegs fiel mir auf, dass alle unseren Blicken auszuweichen schienen. Nur ein blasser Typ sah uns herablassend und verächtlich an, als wir an ihm vorbei kamen. Instinktiv versuchte ich ihn zu sondieren, doch auch er war psionisch taub. Noch einer mit Implantat, stellte ich ernüchtert fest, denn wieder einmal war nur das vertraute störende Rauschen zu erfassen.

»»Kennt einer von euch den Typen?««, dabei sendete ich sein Bild.

»»Der gehört zu den Moneys, hat wenigstens Benny gestern gesagt««, meldete sich Tom.

Meine Beunruhigung stieg. Etwas war hier faul. Die ganze Meute schien auf etwas zu warten. Es war ruhig, so unheimlich ruhig, man konnte sogar das leichte Quietschen von Toms Stiefeln deutlich hören, und in dieser bedrückenden Stille nahmen wir unser Essen ein.

Noch immer versuchte ich zu sondieren, aber es waren einfach zu viele Leute hier versammelt und deren Anspannung störte mich zusätzlich. Frank hätte sicherlich mehr erfahren können. Doch wir waren es einfach nicht gewöhnt, in einem überfüllten Raum zu arbeiten. Die Leute schienen sich gegenseitig zu überlagern, so, als ob jeder in der gleichen Lautstärke ein anderes Lied summen würde. Mir war es einfach nicht möglich, eine einzelne „Melodie“ zu erfassen. Wieder etwas für unsere inzwischen reichlich lange To-Do-Liste, demnächst mussten wir auch das unbedingt trainieren.

Aber wenigstens hatten wir gestern von Robin den Grund für die vielen Implantatsträger hier auf der Schule erfahren. Aus einem uns bisher nicht bekannten Grund verkauften einige Händler im Sektor 20 solche Implantate. Ganz bewusst mit dem Hinweis, dass sie vor der „Spionage“ von Telepathen und vor Hypnosuggestion schützen. Da die Implantate eindeutig nicht von NeckTech stammten, vermuteten wir die Darwinianer als Quelle. Möglicherweise war dies der Auftakt zu einer Kampagne gegen Mutanten. Denn in Sektor 20 gab es kaum jemand, der an der Existenz von Mutanten zweifelte. Und Misstrauen war schon immer eine gute Grundlage für Anfeindungen gewesen. Je mehr Spannungen es zwischen den einzelnen Gruppierungen im Sektor gab, desto leichter konnten die Darwinianer agieren. Doch dieser Money-Typ stammte mit Sicherheit nicht aus Sektor 20. Ein Grund mehr für uns, diese Sache etwas genauer zu beobachten.


Als wir endlich mit dem Essen fertig waren, herrschte noch immer dieses bedrückende Schweigen. Wir sahen uns noch immer ruhig und aufmerksam um. Mein Blick fiel auf Boris, der in diesem Moment auch zu uns sah. Einen Moment hatte ich den Eindruck, als wollte er aufstehen und zu uns kommen. Doch dann war es ein anderer Junge, der sich von einem der „Loser“-Tische erhob und zögernd zu uns kam.

Hatte ich bisher das Gefühl, es wäre bedrückend still, so wurde es jetzt wirklich totenstill. Langsam und etwas unsicher, scheinbar über seinen eigenen Mut überrascht, kam der Junge näher und blieb dann vor unserem Tisch stehen. Sein Blick schweifte über uns und blieb dann auf mir haften, was Tom mit einem fiesen „Hab' ich's nicht gesagt“-Grinsen quittierte.

»Falls ihr auf Benny wartet, den haben sie..., er ist auf der..., - ihr findet ihn auf der Krankenstation. Er hatte einen..., äh, - einen Unfall. Er ist..., er ist...«, hilflos sah er nun von einem zum anderen. Es war offensichtlich, dass er sich im Moment nichts sehnlicher wünschte, als ein Loch, um im Boden zu verschwinden.

Während Lukas einen Stuhl zu ihm schob und ihn aufforderte sich zu setzen, schweiften mein und Toms Blick synchron zu Boris. Doch als ich in sein Gesicht sah, war ich mir sicher, dass er damit nichts zu tun hatte. Aber er wusste etwas.

»»Der Junge hier ist Carlo, einer von Bennys wenigen Freunden. Benny ist soweit ich das aus Carlos Chaos herauslese, weitgehend okay. Beruhigt euch also erstmal««, vernahm ich Julian als „Stimme der Vernunft“.

So wandte ich mich Carlo zu und versuchte ein beruhigendes Lächeln: »Ganz ruhig, wir tun dir bestimmt nichts. Also, was ist mit Benny?« Jetzt, als er bei uns saß, wurde er zusehends ruhiger.

»In der zweiten Stunde hätten wir zusammen Informatik gehabt. Da er nicht kam, bin ich ihn suchen gegangen. Wir haben ein gemeinsames Projekt und sollten heute einen Abschnitt vorstellen. Doch ich konnte ihn nirgends finden. Dann habe ich seinen PDA angerufen und so seine Position ermittelt. Aber das dürft ihr niemandem sagen, wir haben die Dinger etwas manipuliert und das ist verboten und ...«

»Schon gut, wir sagen es bestimmt nicht weiter«, unterbrach ihn Julian mit einem Lächeln.

»Ach, ja also..., also, ich fand ihn dann jedenfalls in der Toilette. Überall war Blut und ich dachte schon..., ich dachte..., so bleich..., aber er war nur bewusstlos. Doc Lazarus sagt, es wäre nicht so schlimm«, dann fuhr er aufgebracht fort, »sie behaupten, er sei ausgerutscht und gestürzt, aber da war überall Blut an den Wänden. So stürzt niemand!«. Beruhigend legte Lukas ihm die Hand auf die Schulter.

»Wer behauptet, er sei gestürzt?«, fragte Tom mit sichtlich angestrengter Ruhe.

»Direktor Schmitt und der Typ von der Sicherheit! Er hat gesagt, Benny sei „offensichtlich“ gestürzt. Dann hat er den Doc gerufen und jetzt ist Benny auf der Krankenstation.«

»Er wurde nicht in die Klinik gebracht?«, fragte ich verwundert.

»Nein, der Direktor sagt, dies sei nicht nötig. Das ist es nie, wenn einem von uns etwas passiert. Die Schule und deren Versicherung müssten dann die Kosten übernehmen«

»Was meinst du mit einem von uns?«, Julian klang nun etwas besorgt.

»Ach so, ihr seid ja nicht aus dem Sektor. Entschuldigung! Ich meinte natürlich, wenn jemandem aus dem Sektor ein Unfall passiert.“ Jetzt sah er wieder sehr eingeschüchtert aus.

Doch Tom rettete die Situation: »He, Lukas und ich kommen auch aus dem Sektor, wir wohnen nur zurzeit bei Mike und Julian“, dabei zwinkerte er ihm aufmunternd zu.

Carlo schien wirklich besorgt gewesen zu sein, uns damit beleidigt zu haben. Aber anscheinend war es hier an dieser Schule tatsächlich ein Makel aus „dem Sektor“ zu kommen. Also gab es auch hier Schüler erster und zweiter Klasse und dies war nicht nur auf das Essen beschränkt.

»Können wir zu ihm? Ich meine, ist das hier erlaubt?«, fragte Lukas.

»Ja klar, ihr wollt ihn wirklich besuchen?«, fragte Carlo ungläubig.

»Natürlich, wir wollten doch auf ihn aufpassen!«, brummte Tom.

Gemeinsam standen wir auf, und wieder brach das absolute Schweigen aus. Da Carlo nicht wusste, wer es gewesen war, mussten wir zuerst mit Benny sprechen. Dementsprechend ruhig und gelassen gingen wir an Boris und seinen Drachen vorbei. Anscheinend hatte nicht nur er mit einer anderen Reaktion unsererseits gerechnet. Als wir die Tabletts wegstellten und den Raum verließen, klang das einsetzende Gemurmel regelrecht enttäuscht.

Langsam fingen meine Mitschüler an, mich anzuwidern. Nicht wenige hatten offensichtlich auf einen „Showdown“ zwischen uns und den Drachen gehofft.

Wenig später betraten wir die Krankenstation. Sie bestand eigentlich nur aus einem Behandlungs- und einem Ruheraum. Missmutig sah Dr. Lazarus von ihren Unterlagen auf, die auf ihrem Schreibtisch ausgebreitet lagen. Sie war eine fast 50 Jahre alte, 1 Meter 75 große, etwas mollig wirkende Ärztin, die uns nun anfauchte: »Falls die Herren kommen um meinen Patienten weiter zu „verunfallen“, so verschwinden Sie sofort wieder. Denn ich werde bestimmt nicht wegsehen!«, angriffslustig stützte sie dabei beide Hände auf den Schreibtisch und erhob sich halb. Dann erkannte sie Carlo und eine steile Falte erschien auf ihrer Stirn.

»Wie geht es Benny?«, fragte Julian mit seiner sanftesten Stimme, wie ich schmunzelnd feststellte. »»He, die Löwin muss man doch etwas besänftigen.««

Doch sie fauchte nur zurück: »Der Kopf ist noch dran!«

»Ist das die ganze Diagnose?«, brummte Tom herausfordernd.

»Mehr ist bei dem Etat nicht drin!«

»Ach, und für so eine Diagnose muss man schon Arzt sein? Ein Metzger könnte das sicherlich auch«, tat Lukas erstaunt.

»Wo ist er?«, fragte ich und ging schon auf den Durchgang zum Ruheraum zu.

»Jetzt ist keine Besuchszeit!«

»Habe ich danach gefragt?« War die immer so gut drauf oder nur 24 Stunden pro Tag?

Doch als ich den Raum betrat, da verstand ich, warum sie so sauer war. Benny sah wirklich nicht gut aus. Sie hatte ihm einen Verband angelegt, da anscheinend ein paar Rippen gebrochen waren. Ein Auge war dick geschwollen und der rechte Arm gebrochen. An der Stirn hatte er noch eine Platzwunde und so wie es aussah auch noch eine am Hinterkopf.

Wie konnte der Direktor da behaupten, er sei ausgerutscht? Doch noch etwas fiel mir auf: Bennys Signatur war stärker! »»Julian, kannst du das bestätigen?««

»»Ja, eindeutig! Heute Morgen ist mir das aber noch nicht aufgefallen.««

Als ich neben dem Bett stand und Benny die Hand auf die Schulter legte, beobachtete Dr. Lazarus dies sehr misstrauisch.

»Warum haben sie seine Knochen nicht geklebt und die Wunden mit Bioplast behandelt?«, Julians Stimme klang nun so vorwurfsvoll wie er es meinte.

Doch Dr. Lazarus antwortete knapp: »Zu teuer, die Schule übernimmt nur die Basisbehandlung. Bis morgen muss er hier raus«

Unauffällig ließ ich die Reiki-Energie fließen. Nur sehr schwach, aber ich wollte einfach wissen, wie schlimm es war. Sie hatte ihm ein starkes Schmerzmittel gegeben und wohl auch ein Schlafmittel. »Er hat eine Gehirnerschütterung! Sie können ihn doch so nicht einfach nach Hause schicken!«

»Oh, Entschuldigung, Herr Kollege, ich konnte ja nicht ahnen...«, ihr Spott war nicht zu überhören. Doch dann murmelte sie mit bitterer Stimme: »Machen Sie das dem Direktor klar! Oder übernehmen Sie die Kosten?«

Lukas, der sich bis jetzt sehr zurückgehalten hatte, wandte sich ihr zu. Ohne zu zögern, zog er eine Eurocredits-Karte und reichte sie ihr: »Wir übernehmen die Kosten. Gegen 16 Uhr holen wir ihn ab und bringen ihn nach Hause«

Völlig überrascht starrte sie auf die Füllstandsanzeige der 2.000-Euro-Karte. Es wurden noch mehr als 1.800 Euro angezeigt. Diese war eine der Karten, die wir von Chris bekommen hatten, als wir zuletzt mit ihm in der City waren. Er war der Meinung, sie könnten uns ganz nützlich sein. Besonders, da Tom und Lukas nicht so gern unseren unbegrenzten Kredit nutzten, den NeckTech auf unsere ID-Karten eingetragen hatte.

»Was ist? Reicht das etwa nicht für eine anständige Behandlung?«, fuhr Tom sie nun an. Er wusste genau, dass sie selbst nichts dafür konnte. Sie musste sich an die Anweisungen der Schule halten. Dennoch, ein wenig freundlicher könnte sie wirklich sein.

Zögernd griff sie nach der Karte und schob sie in ihr Terminal, so, als wollte sie sichergehen, dass die Karte auch echt war. Doch dann reichte sie Lukas die Karte zurück - es waren nicht einmal 100 Euro abgebucht worden.

»Gegen 17 Uhr ist er transportbereit, ich werde noch ein paar Medikamente einpacken«, noch immer schien sie leicht irritiert. Aber auch Carlo sah uns nun mit großen Augen an. Und ich hatte mal wieder das Gefühl, dass wir noch einiges lernen mussten. Offensichtlich war es nicht üblich, dass jemand aus dem Sektor eine Behandlung bezahlen konnte.


Wir waren unterwegs, um Benny nach Hause zu bringen. Er war zwar wieder ansprechbar, aber noch immer etwas benebelt. Dr. Lazarus hatte ihn nun anständig versorgt, das heißt, sie hatte ihn nun so versorgt, dass er in zwei Tagen wieder zur Schule konnte.

Boris und seinen Drachen waren wir nicht mehr begegnet. Als wir Benny abholten, waren sie längst nicht mehr in der Schule. Dafür äußerte Carlo nun seine Vermutung, wer hinter dem Überfall stecken könnte.

Es hatte mich nicht sonderlich überrascht, dass er den blassen Money-Typ verdächtigte. Sigfried Huber, der Sohn von Senator Huber, wollte Jahrgangsbester werden. Leider waren ihm Benny und Carlo mit ihrem Projekt im Wege. Sie hatten es schon letztes Jahr geschafft die besten Bewertungen im Informatikkurs zu bekommen. Carlo hielt es für möglich, dass „Sigi“ dies in diesem Jahr verhindern wollte. Da er nicht nur allgemein, sondern auch in jedem seiner Kurse als Bester abschneiden wollte, könnte er, laut Carlo, versuchen seine Konkurrenten auf diese Weise auszuschalten.

Doch natürlich machte sich jemand wie Sigi die Hände selbst nicht schmutzig. Für so etwas hatte er seine Helfer. Nur ihm traute Carlo es zu, Benny anzugreifen. Da selbst die Drachen respektierten, dass Benny unter unserem Schutz stand, musste es jemand sein, den solche Details nicht interessierten.

Der Grund warum er Carlo nicht ausgeschaltet hatte, war einfach und pragmatisch. Benny war auch der Beste im Mathe-Kurs, in dem Sigi auch war. Da Benny offensichtlich Angst hatte, wollte er Carlos Theorie nicht so recht bestätigen, denn im Moment schirmte er sich total ab. Das hatten wir ihm überhaupt nicht zugetraut.

Benny wohnte in Sektor-18, der westlich an unseren Sektor grenzte. Aber leider hatten die Drachen in Sektor-17 ihr Revier. Vorsorglich war Frank von Tom schon informiert worden. Denn wir mussten durch den „Drachen-Sektor“, da dieser Weg der einzig annähernd sichere war. Eine Fahrt durch die Außensektoren wollten wir mit Carlo nicht riskieren, da jede Fahrt in den Außenbezirken ein kleines Abenteuer war. Und die halbe Stadt zu umfahren, wie das Benny für gewöhnlich tat, war uns einfach zu blöde.

Am Samstag sollte es zu einem Treffen zwischen den Hoods und den Drachen kommen. Entsprechend begeistert war Frank von der Aussicht, dass wir uns nun auf deren Territorium bewegten. Aber Eric meinte, wir wären nicht sonderlich glaubhaft, wenn wir einer Konfrontation ausweichen würden.

Lukas, der sich Bennys Quad geschnappt hatte und voraus fuhr, wurde merklich langsamer. Auf der Straße, direkt an der Grenze zu unserem Sektor warteten die Drachen. Sie waren nur zu sechst, und somit wesentlich weniger, als ich befürchtet hatte. Boris und Manuel waren in der Gruppe klar zu erkennen.

»Carlo? Egal was passiert, du bleibst mit Benny im Van!«

Carlo sah mich ängstlich an, nickte dann aber zustimmend.

»Weißt du etwas über Mutanten?«

Carlos Kopf flog kurz zu Benny, ruckte aber dann sogleich wieder zurück. Er dachte wohl auch gerade an diese idiotische „Morlock-Geschichte“. Deshalb beruhigte ich ihn: »Wir haben Freunde dort drüben, es sind Mutanten, sie werden notfalls eingreifen. Also erschrecke nicht, falls einer hier drin auftaucht und dich und Benny in Sicherheit bringt. Du weißt doch, was ein Teleporter ist?«

Wieder nickte er unsicher und sah mich nun mit noch größeren Augen an. Doch Julian lächelte ihm beruhigend zu: »Keine Angst, die sind alle sehr nett. Und eigentlich glaube ich auch nicht, dass Boris Ärger machen will. Dazu hat er nicht genug Leute mitgebracht. Ich denke, er will nur reden«

Während Tom noch etwas Unverständliches grummelte, stellte er unseren Van neben dem Quad ab. Lukas war bereits abgestiegen und es waren nur noch wenige Meter bis zu Boris und seinen Leuten.

»»Tom, bitte halte dich etwas zurück! Wir brauchen nicht noch mehr Ärger.«« Wieder kam nur ein Brummen als Antwort. Aber ich war sicher, dass er sich, so weit als möglich, beherrschen würde.

»»Wir sind in der Nähe, falls ihr uns braucht««, ließ mich Frank wissen, als wir nun langsam auf Boris und seine Leute zugingen.

»»Wer ist noch bei dir?««, informierte sich Lukas.

»»Ich««, »»Und ich««, »»Ich bin auch da««, »»Und ich auch««, waren nacheinander Nico, Eric, Kim und Thimo zu hören.

»»Na, wenigstens habt ihr euren Spaß! Kim, achte auf unseren Van! Falls etwas passiert, bring Benny und Carlo in Sicherheit!««, die Jungs schienen wirklich gut drauf zu sein. Hoffentlich würden wir es am Abend auch noch sein.

Inzwischen waren wir bei Boris angekommen: »Ihr seid auf unserem Territorium!«

Lukas sah sich demonstrativ um: »So was aber auch! Und ich dachte, dies sei eine öffentliche Straße?«

»Ihr fühlt euch wohl sehr stark - Mutantenfreunde!«

Ich sah auf. Der Typ, der das gesagt hatte, stand etwas versetzt hinter Manuel. Er machte nicht gerade den intelligentesten Eindruck. Dafür waren seine Muskeln wirklich beeindruckend, falls man sich durch so etwas beeindrucken ließ.

Tom fixierte ihn böse: »Junge, wir fühlen uns nicht stark - wir sind es.« Tom war auch heute nicht gerade diplomatisch.

»Außerdem spricht es nicht gerade für deine Intelligenz. So nahe an der Grenze zu den Hoods sollte man keine dummen Sprüche über Mutanten vom Stapel lassen«, fügte Lukas mit einem freundlichen Lächeln hinzu.

»Die Hoods!«, rief dieser jedoch verächtlich. »Hoods, Morlocks, ist doch alles das Gleiche. Die gehören nicht hierher und ihre „Freunde“ wollen wir hier auch nicht«

Julian zog nur erstaunt die rechte Augenbraue hoch, wandte sich dann aber direkt an Boris: »Ist dies auch deine Meinung? Ist das die „offizielle“ Meinung der Drachen?«

Als Boris weiter schwieg, er schien noch mit sich zu kämpfen, sagte Julian zu mir gewandt: »Ich denke, dann können wir uns das Treffen am Samstag sparen. Tom hat Recht, Frank und Eric waren da wohl etwas zu optimistisch«

»Ihr wisst von dem Treffen?« Der erste Satz, den Boris nun herauswürgte.

Lukas betrachtete mit offensichtlichem Interesse seine Fingernägel, als er murmelte: »Nö, natürlich nicht. Es war ein spontaner Einfall von Julian, völlig aus der Luft gegriffen. Wir kennen Frank und Eric überhaupt nicht. Wir wissen auch nichts von einem Treffen, an dem wir auch überhaupt nicht teilnehmen sollten. - Mann, Boris, du hast auch schon intelligentere Fragen gestellt«, bei den letzten Worten sah er Boris in die Augen.

»Boris, was soll der Unfug? Was weißt du über den Angriff auf Benny?«, fragte ich ihn nun. Lukas´ Ausführungen hatten ihm sichtlich zugesetzt. Wir hatten es als selbstverständlich vorausgesetzt, dass er die Verbindung von uns über NeckTech zu den Hoods herstellen würde. Offensichtlich hatte er dies bisher nicht getan.

»Euer Benny ist ein Morlock. Es interessiert mich einen Scheiß, wer ihn zusammengetreten hat. Keiner meiner Jungs hat ihm etwas getan, mehr gibt es von meiner Seite nicht zu sagen«, kalt, geradezu eisig war seine Stimme.

Tom durchbrach das aufkommende Schweigen völlig ruhig und mindestens genauso kalt: »Gut, wir glauben dir sogar und dabei wird es auch bleiben. Ich mache dich persönlich für seine Sicherheit verantwortlich. Wenn einer deiner Jungs ihm etwas tut, bist du dran! Du weißt doch, ich stehe zu meinen Versprechen«

Zuerst sah es aus, als wolle sich Boris auf Tom stürzen, doch dann, beim letzten Satz wurde er rot und sah nur noch auf den Boden. Tom musste da einen ziemlich fiesen, moralischen Schlag gelandet haben.

»OK, auch wenn es ein Fehler ist! Wir werden deinen Benny in Ruhe lassen, solange er niemanden anfällt. Aber es ist ein Fehler, du solltest mir glauben« , nun klang Boris´ Stimme brüchig. Er schien absolut von dem überzeugt zu sein, was er da sagte.

»Nur, weil Benny ein Mutant ist, ist er noch lange kein Monster. Morlocks sind negative Mutanten, tierhafte, nur durch ihre Triebe gesteuerte Wesen. Benny ist ein intelligenter Junge, er ist kein negativer Mutant«, ich versuchte sachlich zu bleiben.

»Ihr gebt also zu, dass er ein Mutant ist?«, grunzte der Muskel-Typ.

Ich seufzte auf: »Ja, er ist ein Mutant! Er ist ein schwacher Telepath, davon gibt es noch jede Menge«

Doch Boris schüttelte den Kopf: »Er ist nicht nur ein Gedankenschnüffler, ich habe seine wahre Gestalt gesehen! Er ist ein Monster!«

»Blödsinn, ich weiß ja nicht, was für Pillen du dir da wieder eingeschmissen hast, aber Benny ist kein Monster«, nun war Lukas wirklich böse geworden. Doch noch bevor Boris etwas erwidern konnte, legte Lukas noch einmal nach. Ihm provozierend in die Augen sehend zischte Lukas: »Du würdest einen Mutanten nicht einmal erkennen, wenn du ihm in die Augen sehen würdest.« Doch Boris war jetzt viel zu wütend um die Hintergründigkeit der Aussage zu erkennen.

»Ich habe schon mehr Morlocks gesehen als ihr ahnt.«

»Wenn du in jedem Mutanten einen Morlock siehst, glaube ich dir gerne«, brummte Tom kalt zurück.

Bevor Boris jetzt wirklich wütend wurde, hob ich beschwichtigend die Hand: »He Jungs, es hat doch so keinen Sinn. Benny ist ein Mutant, aber mit Sicherheit kein Monster. Es gibt nichts, was ihr sagen könnt, was uns vom Gegenteil überzeugen würde. Wir haben Erfahrung mit Mutanten und Benny ist sicherlich keine Bedrohung. Wenigstens zurzeit nicht. Prinzipiell ist natürlich jeder Mutant gefährlich, das trifft aber auch auf jeden anderen Menschen zu.«

»Du hast versprochen, dass deine Leute ihm nichts antun. Und um diesen Sigi werden wir uns kümmern«, Julian behielt Manuel und Boris im Auge, als er das sagte.

Deren Reaktion bestätigte Carlos Vermutung auch ohne Bennys Aussage. Beide waren kurz zusammengezuckt und sahen sich nun kurz an: »Ihr wisst, dass es die Gorillas von Sigi waren?«

Triumphierend lächelte Julian zurück: »Wir wussten es nicht 100-prozentig, aber wir bedanken uns für die Bestätigung.«

»Seid vorsichtig, ihr wisst nicht, mit wem ihr euch da anlegt!«

»Wieso? Sind sie auch Morlocks?, fragte Tom höhnisch.

Doch Boris blieb sachlich: »Fast! Sigi ist ein kaltblütiges Arschloch. Sein Vater ist Senator mit sehr viel Einfluss. Der hasst alle Mutanten, egal ob positiv oder negativ. Außerdem hasst er alles, was mit NeckTech zu tun hat. Ihr solltet die Finger von seinem Sohn lassen. Ihr würdet sie euch verbrennen«, dann fügte er mit einem bösen Lächeln hinzu, »nicht, dass es mich stören würde, wenn es euch erwischt, so oder so würde es sicherlich interessant werden, aber diesem „Sigfried“ gönne ich den Erfolg nicht«

»Danke für die Warnung. Aber wir haben nicht die Absicht, es ihm so einfach durchgehen zu lassen. Können wir uns darauf verlassen, dass ihr uns nicht in den Rücken fallt?« Ich war sicher, dieser Ansatz würde uns weiterbringen als jede Diskussion. Gemeinsame Feinde haben etwas unglaublich verbindendes. So wie Boris sprach, schien er Sigi fast noch mehr zu mögen als Morlocks.

Einen Moment sah es so aus, als ob er wirklich nachdenken müsste, doch dann nickte er zustimmend. »Wenn ihr Benny unter Kontrolle haltet, dann halten wir uns zurück. Wenn ihr aber gegen Sigi vorgeht, dann greift ihr auch Direktor Schmitt an. Sigi ist sein Liebling, niemand darf es wagen ihm zu nahe zu kommen.«

Dies war also die Erklärung, warum Benny nur ausgerutscht war. Anscheinend hielt der Direktor seine Hand schützend über seinen Lieblingsschüler und bog lieber die Wahrheit etwas zurecht. Wir mussten uns etwas überlegen, wie wir allen, und insbesondere Sigi, die Grenzen aufzeigen konnten, ohne, dass man uns etwas anhaben konnte. Doch dies war eine Sache, die wir auch mit Arne besprechen mussten. Letztlich galten wir als NeckTech-Produkte, und Senator Huber war eine unbekannte Größe in unserer Rechnung.


Unbehelligt konnten wir nach dieser Aussprache unsere Fahrt fortsetzen. Ich war froh, dass wir nicht auf die Hoods zurückgreifen mussten und mit Boris zu einer Vereinbarung kommen konnten.

Doch als hätte dieser Tag nicht schon genug Überraschungen für uns gebracht, erlebten wir die nächste, als Julian und ich Benny zu seiner Wohnung brachten. Er wohnte mit seinem Pflegevater, vier Blocks von Camelot entfernt, direkt an der Grenze zum Hood-Sektor. Die Wohnung war in der 16. Etage eines ziemlich heruntergekommenen Gebäudes. Natürlich war es ein Einheitsgebäude, doch dieses war wirklich in schlechtem Zustand. Benny schien es peinlich zu sein, dass wir sahen, wie er wohnte. Doch wir wollten ihn in seinem Zustand nicht alleine in dieses Gebäude lassen.

Kaum näherten wir uns der Wohnung, verspürte ich eine seltsame Schwingung. Ein Blick zu Julian genügte mir - ihm ging es genauso. Die Schwingung war ungewöhnlich, sie war eindeutig nicht psionisch und dennoch „übernatürlich“. Obwohl wir uns nicht bedroht fühlten, informierte ich Tom und Lukas, die unten im Wagen auf uns warteten.

Wir hatten die Wohnungstür noch nicht erreicht, als diese sich schon öffnete. Unerschütterlich stand Er in seiner ganzen Körpergröße von 1 Meter 65 in der Tür. Doch was spielte die Körpergröße für eine Rolle, bei dieser Ausstrahlung, die von ihm ausging. - Sie war einfach überwältigend.

Takashi Okada Li, Bennys Pflegevater, war 60 Jahre alt und Dozent an der Universität für asiatische Kampfsportarten gewesen. Seine Mutter war Chinesin und sein Vater Japaner. Nach der Gründung des „Großasiatischen Bundes“ war er in Europa gestrandet, da er in seiner Heimat mit Verfolgung zu rechnen hatte.

Hier bekam er aber seit 10 Jahren keine Anstellung mehr, da die Ablehnung gegen den Bund auch in Europa immer mehr zunahm. Ein sanftes Lächeln umspielte seine Lippen, als er Benny musterte, der sich auf uns stützte. Doch Julian und ich waren wie erstarrt. So eine massive Präsenz von Reiki-Energie hatten wir noch nie verspürt.

Doch auch Takashi musterte uns nun aufmerksam und ein Leuchten trat in seine Augen. Offensichtlich nahm er nun auch unsere, wesentlich schwächere, Schwingungen auf. Er machte eine einladende Bewegung mit der Hand und trat zur Seite. Kein Wort war gefallen, bis sich die Tür hinter uns schloss. Wir hatten Benny inzwischen in das gemütlich eingerichtete Wohnzimmer gebracht, als uns Takashi freundlich musterte. Ich hatte das Gefühl, noch nie so durchleuchtet worden zu sein, wie in diesem Moment.

Dann beugte er sich über Benny und legte ihm die Hand auf die Schulter. Genau dahin hatte ich meine in der Krankenstation auch gelegt und ein wissendes Lächeln erschien auf seinem glatten Gesicht. »Du wolltest nicht auffallen? Nicht wahr?«

Seine Stimme klang angenehm, leise und doch durchdringend und seine Frage war kein Vorwurf, sondern ein Feststellung.

»Leider können die schlimmsten Krankheiten der Menschen wir nicht heilen. Gegen Dummheit und Misstrauen auch Reiki ist machtlos. Doch wer euch unterrichtet hat? Noch nie ich es spürte so mächtig in einem Europäer.«

Noch immer sah er dabei auf Benny und ließ die Energie in ihn strömen. Dieser wiederum sah uns nur verständnislos an. Er hatte offensichtlich keine Ahnung, von was Takashi da redete.

Es war dann Julian, der antwortete: »Ich habe es von einem Freund „bekommen“. Doch das Ganze ist eine sehr komplizierte und üble Geschichte. Mike ist mein Freund und hat es über mich bekommen. Wie es geht, wissen wir nicht so genau.«

Takashi sah auf und Trauer erschien auf seinem Gesicht: »Ja, traurig die Geschichte mit Ralf und Mirco ist, er hatten großes Potenzial! Doch nun, - wirklich traurig es ist.«

Es war wie ein Tiefschlag. Takashi kannte Ralf und Mirco! Er wusste offensichtlich, dass beide gestorben waren! Mirco war an den Folgen der „Behandlung“ gestorben und Ralf hatte den Freitod gewählt, da er ohne Mirco nicht leben wollte.

»Wie konnte geschehen es?«, riss Takashis Frage uns aus unseren Gedanken.

Ich nahm Julian in den Arm und berichtete von dem Labor-23, unserer Entführung, dem Tod von Mirco, den Ralf nicht überwinden konnte, unsere Flucht und was danach geschehen war. Obwohl wir Takashi nicht kannten, erzählten wir ihm weitgehend alles. Benny saß da und hörte nur noch staunend zu, er hatte uns völlig falsch eingeschätzt.

Doch obwohl ich eigentlich beunruhigt sein sollte, fühlte ich mich so wohl, wie schon lange nicht mehr. Wir tranken zusammen Tee. Julian saß auf meinem Schoß und noch immer hielt ich ihn in meinen Armen. Ihm ging der Tod von Mirco und Ralf auch jetzt noch sehr nahe.

Ab und zu nickte Takashi bedächtig mit dem Kopf, doch viel mehr Reaktionen zeigte er nicht. Als ich geendet hatte, sah er nach einigen Minuten des Schweigens auf: »Ralf und Mirco meine Schüler sie waren. Doch dann sie verschwanden plötzlich, nun ich endlich verstehe, was geschehen. Seine Ausstrahlung in euch ist, sehr schwach und leicht verändert, aber doch spürbar.«

Wir redeten noch über zwei Stunden über Reiki und das, was wir uns vorgenommen hatten. Takashi hatte Ralf und dessen Möglichkeiten entdeckt. Da Mirco sein Freund war, hatte er auch ihn unterrichtet. Jedoch hatte Mirco nie das Potenzial von Ralf gehabt. Die „Behandlung“ im Labor musste dann bei Ralf etwas ausgelöst haben, was ihn zur höchsten Stufe führte. Es war diese Mischung aus psionischer und Reiki-Energie, die ihn, und letztlich auch uns, so stark machte. Bei Takashi war es die reine Reiki-Energie, die wir spüren konnten und die uns anfangs so verwirrte.

Wir sprachen dann auch über Qi Gong und wie es uns half, besser mit unseren PSI-Kräften zu arbeiten. Auch auf diesem Gebiet war Takashi ein Meister. Er erklärte uns die Bedeutung des Qi Gong in verschiedenen Kampfsportarten. Er verstand auch sofort, wie wichtig es gerade für Mutanten sei, diese Energie zu beherrschen. Dabei wurde dann Benny sehr unruhig und fühlte sich offensichtlich nicht sonderlich wohl.

Doch gerade jetzt hatten wir keine Zeit mehr, denn um 21 Uhr war wieder ein Treffen in Camelot angesagt. Wir hatten Tom und Lukas schon vorausgeschickt, als klar war, dass wir hier länger verweilen würden. Kim wollte uns in wenigen Minuten abholen, aber ich hatte noch eine wichtige Frage.

»Takashi, könnten Sie sich vorstellen wieder zu unterrichten? Wir haben Ihnen doch von unseren Problemen erzählt. Es wäre unglaublich hilfreich, wenn ein Meister wie Sie uns unterrichten würde.«

Takashi schien weder überrascht noch sonderlich begeistert zu sein. Nachdenklich sah er uns an und versprach, dass er es sich überlegen wolle. Es war dann doch nicht die Antwort, die ich mir erhofft hatte, jedoch besser als ein schnelles „Nein“.

Von einem Holotrainer zu lernen, war eine Sache, jedoch von einem wahren Meister unterrichtet zu werden, etwas völlig anderes.

Doch nun erschien Kim direkt im Wohnzimmer und nur Benny zuckte etwas zusammen. Takashi schien nur neugierig zu werden. Neugier war ja schon einmal ein Anfang, dachte ich hoffnungsvoll, als wir uns dann verabschiedeten und im gleichen Augenblick im „Tagungssaal“ standen.

Bisher tagten wir immer in Robins Büro. Doch nun, da die Tafelrunde immer größer wurde, hatte Robin einen Raum im West-Turm für unsere „Tafelrunde“ herrichten lassen. Nun würden auch zum ersten Mal Louis, Dirk und Marc, die drei Iratus Lemurum-Anwärter, an der Sitzung teilnehmen. Robin, Nico und Sandro nahmen für die Hoods teil. Sammy war sozusagen der Abgesandte von NeckTech, Thimo vertrat mehr oder weniger die Freien Mutanten. Eric, Frank, Tom, Lukas, Julian und ich selbst waren dann die erdrückende Mehrheit der Iratus Lemurum. Auch dies war nach meiner Ansicht nicht unbedingt ideal.

Da die anderen schon alle anwesend waren, schlug ich vor, dass doch eigentlich jeder der Hoods zumindest zuhören dürfte. Sie waren diejenigen, auf die wir aufbauen wollten, wir mussten ihnen sowieso vertrauen. Weshalb sollten sie dann nicht auch zuhören dürfen?

Einen Moment schien es so, als wolle Louis etwas dagegen sagen, würde dies doch das gerade gewonnene Prestige etwas schmälern. Doch Dirk konnte ihn davon überzeugen, dass die anderen ja nur als Zuhörer dabei sein würden.

»»Eitelkeit! Auch noch eine der Krankheiten, die man mit Reiki leider nicht heilen kann««, vernahm ich Julians Kommentar zu diesem Punkt.

Aber andererseits, sie kannten es nicht anders. Sicherlich war es für sie ein Problem, über diesen Schatten zu springen. Mich ärgerte nur ein wenig, dass sie dabei nicht realisierten, wie sehr dieses Verhalten die Hoods verletzte.

»»Aber sind wir nicht alle auch etwas eitel?««, meldete sich Lukas ungewohnt nachdenklich zu Wort. Und nicht zum ersten Mal hatte ich das Gefühl, die Tafelrunde der Iratus Lemurum würde in meinem Kopf stattfinden.

»»Auch sie fühlen sich von uns verletzt und zurückgewiesen««, gab Julian zu bedenken. »»Wir haben Thimo, einen der Freien Mutanten, vor ihnen, die sich doch immerhin zu uns bekennen, an Sitzungen teilnehmen lassen. Sie wissen zwar, dass dies der Vertrauensbildung diente, doch als wir sie nicht auch eingeladen haben, waren sie etwas gekränkt.««

Daran hatte ich nicht gedacht. »»Hoffentlich werden sie dann die Zeremonie nicht als Herabwürdigung ihrer Fähigkeiten sehen!«« Wie Thimo vorgeschlagen hatte, wollten wir sie mit der offiziellen Aufnahme in die Iratus Lemurum auch zu Telepathen machen. Frank hatte uns mitgeteilt, dass er mit Pascal darüber gesprochen habe. Pascal hätte dabei sehr darauf gedrungen, dass wir die „Zeremonie“ im „Verbotenen Raum“ durchführten sollten.

Über das „Warum“ habe Pascal sich allerdings ausgeschwiegen. Frank war nur der Meinung, es sei ihm sehr wichtig gewesen. Doch ich mochte diesen Raum nicht sonderlich. Ständig hatte ich das Gefühl, dass noch mehrere Personen anwesend waren, selbst wenn ich dort alleine war. Auch Tom, Lukas und Julian erging es so. Wenn es wirklich die von Dr. Neckler erwähnte Affinität der Mutanten zum Okkultismus gab, dann verspürte ich sie in diesem „Verbotenen Raum“ von Camelot.

Lukas riss mich aus meinen Gedanken: »»Wenn sie deswegen beleidigt wären, dann würden sie wirklich nicht hier her passen. Du willst mit ihnen doch das volle „Eric-Programm“ durchziehen?««

Ich warf einen flüchtigen Blick in Erics Richtung, der sich auch passenderweise gerade mit Louis und Dirk unterhielt. Wenn man es genau nahm, dann war er der schwächste Iratus Lemurum von allen. Dennoch ließen es die drei Eric gegenüber nie an Respekt fehlen, im Gegensatz zu ihrem Verhalten gegen einige der Hoods.

»»Ja, auch wenn es Frank und vor allem Thimo nicht gefallen wird. Wer ein echter Iratus Lemurum ist, der ist Telepath und beherrscht die Larualisation. Wir werden Frank dementsprechend auch noch bearbeiten müssen. - Wer ein Iratus Lemurum ist, der muss auch „Geistern“ können.«« Nicht völlig unbeabsichtigt ließ ich auch Frank diese Nachricht zukommen.

Zu meiner Überraschung huschte nur ein gequältes Lächeln über sein ansonsten meist sehr ernstes Gesicht. Ich hatte eigentlich mit einer ablehnenden Reaktion gerechnet.

»»Eric hat ihn „weich gekocht“««, vernahm ich Julians belustigte Stimme. Eric und Frank waren in letzter Zeit oft gemeinsam unterwegs. Natürlich muss es auch Frank einleuchten, wie sinnvoll die Larualisation in Kombination mit der Teleportation war. Als Ghost wäre ihm der damalige Unfall sicherlich nicht passiert.


Die eigentliche Tafelrunde war dann nicht mehr so interessant. Neben allerlei Problemen mit unseren Nachbarn, der Organisation und vielem mehr kamen auch einige Erfolge zu Tage. So hatte Sammy dann auch mit dem Training begonnen. Zusammen mit Thimo hatte er die Fähigkeiten der einzelnen Mutanten erfasst und Trainingspläne erstellt. Da wir im Moment wenig Zeit hatten, waren Kim, Remo, Mischa und Nico hierher gekommen um das Training zu beaufsichtigen. Immerhin hatten sie die Grundlagen von Qi Gong schon mitbekommen.

Julian informierte dann noch über Takashi und unsere Hoffnung, dass er das Training über Qi Gong, Reiki und vielleicht sogar den Kampfsport übernehmen würde. Man war zwar etwas verblüfft, aber dennoch war jedem klar, was für eine große Chance dies für uns sein könnte.

Zum ersten Mal sah es auch so aus, als würden Louis, Dirk und Marc begreifen, welchen Wert unsere Normalos für uns haben konnten. Auch sie hatten von Sammy ihren Trainingsplan erhalten. In der ersten Stunde „Einführung in PSI“ erfuhren sie anschließend allerlei über ihre Fähigkeiten und PSI an sich, von dem sie bisher keine Ahnung hatten.

Auch dies schien wie ein, wenn auch kleines, Licht am Ende des Tunnels zu sein. Die gesamte Sitzung dauerte dann noch bis 23 Uhr. Entsprechend müde und abgekämpft brachte uns Kim dann per Teleportation zurück zum Campus-Occursus.

Von Arne war zwischenzeitlich die Nachricht eingetroffen, dass wir bezüglich Senator Huber keine Rücksicht auf NeckTech nehmen müssten. Der Senator wäre längst nicht so wichtig, wie er sich selbst nahm, dennoch könnte er uns einige Probleme bereiten. Es wäre unsere Sache, wie wir mit diesem Problem umgehen würden.

In seinem letzten Satz entdeckten wir dann einen Humor, den wir so bei Arne bisher noch nie angetroffen hatten. Er ließ uns mitteilen, dass er „in diesem Fall eine endgültige Lösung bevorzugen würde“. Es konnte kein Zufall sein, dass er dabei dieselbe Formulierung wie die Freien Mutanten bei „King Roy“ verwendet hatte. Wir konnten doch einen Senator der Republik nicht so einfach beseitigen, selbst, wenn wir das gewollt hätten. Was für ein seltsames Spiel lief da hinter den Kulissen ab?

7. - From A Distance

From a distance, the world looks blue and green and the snow capped mountains white.

From a distance the ocean meets the stream and the eagle takes to flight.

From a distance there is harmony and it echoes through the land

It's the voice of hope,it's the voice of peace, it's the voice of ev'ry man.

From a distance, we all have enough and no one is in need.

And there are no guns, no bombs and no diseases, no hungry mouths to feed.

From a distance you look like my friend, even though we are at war.

From a distance I just cannot comprehend, what all this fighting is for.

God is watching us, god is watching us, god is watching us from a distance,

Aus “From A Distance” von Bette Midler

Schule bei Paradise City, Mittwoch, 12.12.2035

Wir hatten bis zum Mittag überlegt, wie wir uns „Sigi“ gegenüber verhalten sollten. Fest stand, dass es nicht sinnvoll war ihn direkt anzugreifen. So etwas hätte dem Direktor die Möglichkeit gegeben gegen uns vorzugehen. Doch nachdem wir uns nach der ersten Stunde mit Carlo getroffen hatten, war uns eine brauchbare Idee gekommen. Denn nun war Sigi an der Reihe sein Informatik-Projekt vorzustellen. Von Carlo wussten wir, dass er die ganze Arbeit in seinem PDA hatte. Nachdem Tom Sigis Implantat mit einem EMP-Impuls zerstört hatte, war er nicht mehr gegen unsere telepathische Überwachung immun.

So erfuhren wir, dass er für weit mehr als nur für Bennys Unfall verantwortlich war. Er schikanierte seine Mitschüler und sabotierte systematisch deren Arbeiten. Seine beiden Gorillas, Kurt und Felix, die ihm wie Schatten ständig folgten, hatten am Dienstag Benny zusammengeschlagen. Wir wollten ihm klar machen, dass wir von seinen Machenschaften wussten und sie nicht hinnehmen würden.

Etwas früher als üblich saßen wir an „unserem“ Tisch und beobachteten, wie Sigi mit Anhang die Mensa betrat. Flankiert von seinen Gorillas ging er direkt auf „seinen“ Automaten zu. Die dort Stehenden machten ihm schon völlig automatisch Platz. Als er jedoch seine Karte in den Automaten schob, um zu bezahlen, erlebte er die erste kleine Überraschung. Die Karte wurde von dem Automaten nicht akzeptiert.

Sicherlich lag das an Sigis Begegnung mit Tom. Dabei muss Tom, natürlich völlig unbeabsichtigt, den Chip auf der Karte mit einem EMP-Impuls zerstört haben. Kleine Unfälle können eben immer mal wieder passieren, dass hatten wir erst kürzlich hier in der Schule gelernt.

Hilfsbereit übernahm ein anderer das Bezahlen für den armen Sigi. - So, wie Tom diesen Typen betrachtete, war damit zu rechnen, dass dessen Karte auch nicht mehr lange funktionstüchtig sein würde. Sigi jedoch bemerkte, durchaus beabsichtigt, das böse Lächeln von Tom. Wir konnten so „live“ mitverfolgen, wie er darüber nachdachte, wann Tom Gelegenheit hatte, seine Karte zu sabotieren.

Dann jedoch brach er die Überlegungen unvermittelt ab und konzentrierte sich auf seinen Vortrag. Er war offensichtlich etwas nervös, da er in 20 Minuten seine Präsentation hatte und er nicht gern in der Öffentlichkeit stand. Seinem Charakter entsprach es viel mehr, aus dem Hintergrund zu agieren.

Sigi saß an seinem Tisch bei seinen beiden Gorillas. Er aß von seiner Lasagne, die er sich gegönnt hatte und sah noch einmal seine Präsentation durch. Als wir noch zwei Meter von ihm entfernt waren, sendete ich einen kurzen thermokinetischen Impuls. Sein nächster Happen war nun offensichtlich unbekömmlich heiß geworden, denn mit einem gurgelnden Geräusch spukte er ihn Felix ins Gesicht, der das Pech hatte ihm gegenüber zu sitzen.

Da er noch immer würgte, schlug ich ihm, hilfsbereit wie ich nun mal bin, auf den Rücken. Leider hatte ich dabei übersehen, dass er gerade nach seinem Getränk gegriffen hatte. Auch mit dem Inhalt seines Bechers beglückte er nun seinen Freund Felix. Um meinen Fehler annähernd wieder gut zu machen, flößte ich Sigi fürsorglich das Orangengetränk von Felix ein. Wobei Julian so freundlich war ihm telekinetisch beim Schlucken behilflich zu sein, dabei leitete er aber ab und zu auch etwas in die Luftröhre. Kleine Unfälle eben …

Als das Röcheln jedoch schlimmer wurde, musste ich ihm noch einige Male kräftig auf den Rücken klopfen. Dumm war dabei nur, dass ich völlig vergessen hatte, dass er sich beim Sport die Schulter geprellt hatte.

Lautstark entschuldigte ich mich dann sogleich bei ihm, als mich Felix darauf hinwies. Sigi war röchelnd aufgestanden und griff nach einem Glas Wasser, das ihm Kurt reichte. Ihm in die tränenden Augen sehend, erinnerte ihn Tom freundlich: »Kleine Unfälle können ja immer mal passieren. Nicht wahr?«

Doch dies war augenscheinlich nicht Sigis Tag. Als er sich setzen wollte, knickten doch tatsächlich die beiden hinteren Stahlrohre seines Stuhles ein. Jeder würde bestätigen können, dass es ein Materialfehler war. Geradezu unsinnig erschien da doch die Vermutung, dass es Mutanten geben könnte, die das Metallgefüge destabilisieren konnten.

Bevor dem Ärmsten noch mehr Unheil widerfuhr, überließen wir es dann Kurt, sich um seinen Herrn und Meister zu kümmern. Dass Tom durch einen weiteren EMP auch noch Sigis PDA unbrauchbar gemacht hatte, bemerkte dieser erst, als wir schon nahe beim Ausgang waren.

Anfangs schien er tatsächlich leicht in Panik zu geraten. Dann griff er in seine Tasche und brachte einen SpeicherQuat zum Vorschein. Mit einem triumphierenden Blick in unsere Richtung schob er ihn in Kurts PDA. Da hatte er offensichtlich noch keine Ahnung, dass dieser Quat einen thermokinetischen Impuls von rund 600 Grad abbekommen hatte. Wir zwinkerten ihm noch einmal aufmunternd zu, als er es bemerkte. Bedauerlicherweise hatte Sigi nun weder Original noch die Sicherungskopie seiner Arbeit. Aber kleine Unfälle…

Jetzt blieben ihm nur noch ganze fünf Minuten Zeit bis zu seiner Präsentation. Bemerkenswert fand ich, dass er im Moment mehr darüber nachgrübelte, wie wir das gemacht hatten. Wie Boris schon gesagt hatte, der Typ an sich war eiskalt. Erst ließ er Benny durch seine Schläger ausschalten, nur um dessen Präsentation zu verhindern und nun ärgerte er sich über seine verpatzte Präsentation nicht einmal so richtig.

Dafür schienen einige andere durchaus Gefallen an der Vorstellung gefunden zu haben. Boris grinste dabei sehr offen. Auch Carlo, der kurz vor uns die Mensa verlassen und das ganze vom Eingang her beobachtet hatte, war sichtlich gut gelaunt.

Doch nicht jeder schien daran Freude gefunden zu haben. Nach der nächsten Doppelstunde wurden wir zu einer Privataudienz bei Direktor Schmitt gebeten.


Direktor Schmitt hatte ein großes, um nicht zu sagen riesiges Büro. Doch ich denke, es gibt kein Büro, das groß genug für ihn und sein Ego wäre. Er selbst war so groß wie ich, also 1 Meter 90, jedoch war er wesentlich gewichtiger, wie er es sah. Andere würden sagen, dass er einfach nur fett sei. Ständig beklagte er sich über den Stress und seinen hohen Blutdruck, den ich jedoch eher seinen Essgewohnheiten zurechnen würde. Diese zügellos zu nennen, wäre noch Untertreibung.

Wir warteten nun schon 5 Minuten, während er so tat, als würde er am Computer arbeiten. Als er sich dann entschloss uns doch wahrzunehmen, stand er jammernd auf und beklagte seine ach so lädierten Knie. Dabei musterte er uns aus seinem verquollenen hochroten Gesicht, um uns mit einem Händedruck zu begrüßen, der an einen Putzlappen erinnerte.

»Es tut mir unsagbar Leid, dass es so ein..., äh, wie soll ich sagen, äh, ... bedauerlicher Vorfall ist, der mich erst jetzt die Zeit finden lässt, Sie, und das will ich hier ausdrücklich unterstreichen, auf das Herzlichste in dieser für Sie sicher sehr ungewohnten, und darauf bin ich wirklich stolz, modernen und großzügig eingerichteten und mit hervorragenden Lehrkräften, um nicht zu sagen Spitzenkräften, bestens ausgestatteten Bildungseinrichtung zu begrüßen, und darauf möchte ich…«

Die Botschaft hör ich wohl, allein mir fehlt der Glaube. Seine kalten Augen starrten uns während seines endlosen Redeschwalls lauernd an.

Ich hatte keine Lust, mir diesen Monolog anzuhören und so unterbrach ich ihn mit einer Handbewegung.

»...äh, ja - Sie haben eine Frage?«, jetzt funkelten seine Augen boshaft, während sein feistes Gesicht ein joviales Lächeln zustande brachte.

Genauso freundlich lächelnd fragte ich: »Von was für einem..., äh, ... bedauerlichem Vorfall sprechen Sie?«

Ich wusste, dass er großen Wert darauf legte, als „Direktor Schmitt“ oder mit „Herr Direktor“ angesprochen zu werden. Deshalb ließ ich diese Floskel auch weg.

»Ach, äh, ja, gut, dass Sie von selbst darauf zu sprechen kommen, das zeigt, dass Sie es ähnlich...«

Diesmal war es Tom, der ihn, allerdings ohne jede Rücksicht, unterbrach: »Entschuldigen Sie, wenn ich Sie unterbreche, aber Sie haben davon angefangen, wenn Sie sich erinnern?«, dabei lächelte er fast so falsch wie der Direx.

»Habe ich? Oh, das kann doch eigentlich...«

Es schien der Tag, der nicht zu Ende gesprochenen Sätze für unseren Direktor zu sein. Denn nun war es Julian, der ihn gekonnt imitierend, die Begrüßungsworte vortrug: »Es tut mir unsagbar Leid, dass es so ein..., äh, wie soll ich sagen, äh, ...bedauerlicher Vorfall ist, der mich erst jetzt die Zeit finden lässt, ...«

Schweißperlen bildeten sich auf seinem rosigen Gesicht: »Nun ja, es freut mich, dass Sie so aufmerksam, und dies ist keineswegs eine Selbstverständlichkeit in dieser schnelllebigen und von Hektik geprägten Welt, meinen Ausführungen folgen, und hier möchte ich...«

Da jetzt nur noch Lukas fehlte, ergriff dieser die Gelegenheit und unterbrach das Geschwafel: »Sie wollten etwas über einen Vorfall mit uns besprechen?«

Jetzt war sogar das falsche Lächeln von seinem Gesicht gewichen. Zornig sah er uns an. »Nun gut, wenn Sie es unbedingt so wollen! Ich spreche von ihrem Überfall auf einen Schüler. Sie haben ihren Mitschüler Sigfried Huber vor Zeugen in der Mensa misshandelt und ihm seine Unterlagen zerstört.«

»Wenn Sie diese Zeugen befragen würden, dann wüssten Sie, dass wir ihm zur Hilfe eilten, als er sich an einem zu großen Bissen verschluckt hat. Von zerstörten Unterlagen ist mir nichts bekannt. Ich hoffe doch, es geht ihm besser? Hier an dieser..., äh, ...Bildungseinrichtung scheinen sich kleine Unfälle zu häufen«, es gelang mir sogar dabei ein absolut unschuldiges Gesicht zu machen.

»Sie haben wohl keine Ahnung, wen sie da angegriffen haben! Sigfried Huber stammt aus einer der angesehensten Familien der Republik. Seine Vorfahren haben mehr für Europa getan, als sie sich auch nur vorstellen können. Diese Familie ist zu Recht Träger unzähliger…«

Julian wollte auch jetzt wieder unseren Direx nicht all zu sehr in Fahrt kommen lassen: »Wer sich nur seiner Vorfahren rühmt, bekennt damit, dass er einer Familie angehört, die tot mehr wert ist als lebendig. - Nur ein Zitat eines Juristen«, beeilte sich Julian zu erklären, als er Direktor Schmitts plötzliche Blässe bemerkte.

Noch immer bleich und fast schon wirklich schockiert, unternahm unser Direktor einen weiteren Versuch: »Man hat sie vielleicht noch nicht darüber informiert, aber die Mensa wird videoüberwacht. Es wird ihnen also nicht gelingen, sich hier heraus zu reden. Es ist alles dokumentiert«, keifte er uns bissig entgegen. Dabei tätschelte seine fette rechte Pranke eine unschuldige VideoDisc.

»In der Tat, das haben wir nicht gewusst«, gestand ich ihm ein, um dann sein breites Grinsen mit meiner nächsten Bemerkung zu vernichten, »um so erfreulicher für uns, dass Sie dann dieses bedauerliche Missverständnis so leicht aufklären können. Werden die Toiletten ebenfalls überwacht? Ich denke, so könnten Sie auch zu weiteren interessanten Erkenntnissen kommen.«

Mit dieser Reaktion hatte ich nicht gerechnet. Erst wurde Direktor Schmitt krebsrot und dann wich jegliche Farbe aus seinem Gesicht. »»Vorsicht! Da hast du etwas angeschnitten, was er absolut verdrängen will. Ich muss noch ein wenig weiter forschen««, Julians Nachricht brachte mich auf eine sehr merkwürdige Idee. Konnte es sein, dass...?

»Was bilden Sie sich ein? Was glauben Sie, wen sie vor sich haben?«, brüllte er unterdessen los. Ich sah kurz zum Fenster, denn scheinbar war Sprühregen angesagt.

Lukas fand an diesem Auftritt sichtlich Gefallen. Mit gnadenloser Ruhe und völlig monotoner Stimme las er das Schild, welches auf dem Schreibtisch stand: »D i r e k t o r S c h m i t t. Ich denke, wenn das ihr Büro ist, dann müssten Sie Direktor Schmitt sein«, dabei sah er sich triumphierend um, als habe er gerade eines der größten Probleme der Menschheit gelöst.

Direktor Schmitt schnappte nun nach Luft. Halb aus seinem Sessel hochgefahren, sackte er nun wieder in sich zusammen. Dabei griff er theatralisch an sein Herz, oder zumindest an die Stelle, wo er es unter dem Fettgewebe vermutete.

»Verschwinden Sie aus meinem Büro! Und seien Sie gewarnt, ich werde nicht zulassen, dass Sie sich an Schülern vergreifen. Von jetzt an stehen Sie unter Beobachtung!«, noch immer schnappte er nach Luft. Doch ich war mir nicht sicher, wie viel davon nur Theater war. Nur um ihn noch mehr zu reizen, stichelte ich: »Ach, stehen Sie darauf? - Ich meine Jungs zu beobachten?« Wieder zuckte er zusammen wie ein getretener Hund, jegliche Farbe war aus seinem Gesicht gewichen. Die sonst rosig feisten Wangen wirkten nun wässrig und eingefallen.

Im Herausgehen drehte sich Tom noch einmal um und sagte im vertraulichen Ton: »Übrigens, wenn Sie den Monitor anschließen würden, dann könnten Sie wahrscheinlich auch mit dem Computer arbeiten. Ich finde es jedenfalls in der Regel sehr hilfreich«

Mit einem kräftigen Ruck zog er die Tür hinter sich zu und grinste uns an. Das lief doch eigentlich besser als befürchtet. Wir hatten seinem „Liebling“ die Tour vermasselt und er konnte uns nur ermahnen, vorsichtiger zu sein.

»»Julian, was hat ihn da so aus dem Konzept gebracht?««

Der sah mich einen Augenblick nachdenklich an: »»Man hat ihm vorgeworfen, dass er auf kleine Jungs steht. Deswegen hat er schon einmal seinen Posten an einer anderen Schule verloren. Das muss vor 12 Jahren gewesen sein. Sein „Freund“ Senator Huber hat ihm diesen Posten verschafft. Jetzt bekam er Panik, dass die Sache wieder hochgekocht wird.««

»»Und steht er auf Jungs?««, wollte nun Tom wissen.

»»Nein! Er beneidet uns um unser Aussehen, aber das hat keinerlei sexuellen Hintergrund. Er war mit sich und der Welt absolut zufrieden, was angesichts seines Egos eigentlich auch nicht anders sein kann. Doch nun hat er Angst vor uns! Er weiß natürlich, dass NeckTech sehr gute Verbindungen hat. Er befürchtet jetzt, dass wir von der alten Geschichte wissen und sie gegen ihn ausspielen könnten.««

Fast könnte er mir Leid tun. War so ein Verdacht einmal im Umlauf, gab es praktisch nichts, was man dagegen machen konnte. Sprüche wie „Wer sich verteidigt, klagt sich an“ oder „Wer schweigt, gesteht“ machen jede Verteidigung zunichte. Der dümmste Spruch von allen und das absolute Totschlagargument war aber: „Irgendetwas wird schon dran sein.“

»»Warten wir noch auf Carlo? Ich würde zu gerne wissen, wie es Sigi ergangen ist««, fragte Lukas mit einem frechen Grinsen.

Natürlich wollten wir es auch erfahren und so warteten wir noch die restlichen 15 Minuten bis 16 Uhr 30. Wie wir gehofft hatten, war Sigi mit einem ziemlich dummen Gesicht im Seminar erschienen. Da er nichts vorzuweisen hatte, wurde er mit null Punkten bewertet. Auch der Direktor konnte für seinen Schützling nichts machen. In so einem Fall war der Hololehrer nicht um zu stimmen. Auch der menschliche Lehrer hatte sich an die Regeln zu halten, und dies zu gewährleisten, war auch eine der Aufgaben der Hololehrer.

Da Carlo wenigstens seinen Teil des Projekts abgegeben hatte und Benny durch das Attest von Dr. Lazarus entschuldigt war, bestand für sie die Möglichkeit, doch noch einen großen Teil ihrer Punkte zu bekommen. Wenn der Direktor fair gewesen wäre, hätte er das Fehlen von Carlo auch entschuldigt, dieser hatte ja in der Zeit nach Benny gesucht. So aber wurden nur die abgegebenen Unterlagen bewertet und Benny musste seine bis Freitag nachreichen.


Den Abend verbrachten wir dann in Camelot, wo nun das Training mit den Jungs stattfand. Sammy hatte den Tag über wieder „Einführung in PSI“ unterrichtet, und nach allem was wir hörten, waren die Jungs sehr erstaunt, was sie alles über ihre Fähigkeiten nicht gewusst hatten.

Besonders die Haltung von Louis, Dirk und Marc hatte sich innerhalb der letzten zwei Tage merklich geändert. Die Erklärung, dass sie eigentlich Mutanten „Erster Klasse“ waren kam längst nicht mehr so oft. Auch verhielten sie sich den Hoods gegenüber wesentlich kollegialer.

Frank hatte unseren Unterricht über Qi Gong schon mittels Holotrainer vorbereitet. Die Jungs hatten den ganzen Nachmittag die wesentlichen Grundlagen kennen gelernt. Frank, Nico, Remo und Mischa waren bemüht, so weit sie es konnten, die Fragen zu beantworten. Unsere Aufgabe war es nun, die Verbindung von Qi Gong und der PSI-Energie herzuleiten.

Mehr den je wünschte ich, Takashi könnte sich dazu entschließen, uns zu unterstützen. Bei so vielen Schülern war es sehr schwer, jedem gerecht zu werden. Natürlich hatten wir uns in Gruppen aufgeteilt, Tom, Lukas und Julian unterrichteten jeweils sechs Jungs.

Während es bei mir gleich deren acht waren. Mit Louis, Dirk, Marc und Thimo hatte ich vier, die wirklich bei null anfingen. Dazu kamen dann noch Robin, Nico, Frank und Eric, die schon mehr als nur Vorkenntnisse hatten. Es war die Idee von Frank gewesen, Thimo nun sogar zum Training einzuladen. Sicherlich hatte er damit Recht, denn mehr und mehr schien sich Thimo als einer von uns zu fühlen.

Eine der ersten „Übungen“ die wir machten war es, einen telepathischen Block zu bilden. Da Louis, Dirk und Marc keine Telepathen waren, nahmen sie nur passiv oder unter Vermittlung eines der Telepathen an der Runde teil.

Ich kannte das schon aus dem Labor, als Julian ständig für mich „vermitteln“ musste. Aber erstens war so das Lernen wesentlich leichter und zweitens wollte ich auf diesem Wege den dreien die Telepathie schmackhaft machen. Die Idee war mir gekommen, als wir am Dienstag darüber diskutiert hatten.

Tatsächlich war es Louis, der schon nach 10 Minuten ziemlich genervt reagierte. Damit hatte ich gerechnet, denn er hatte wirklich ein südländisches Temperament. Vorsichtig ließ ich die Information durchsickern, dass es Möglichkeiten gab, Mutanten die Telepathie näher zu bringen. Die drei waren sofort mehr als nur interessiert. Sie waren derart aufgeregt, dass sie nicht einmal das hämische Grinsen von Eric und Frank bemerkten.

Ich ließ sie jedoch einige Zeit zappeln, bis es dann wieder Louis war, der Näheres darüber erfahren wollte. Inzwischen hatten alle anderen längst begriffen, worauf ich abzielte. Stück für Stück rückte ich damit heraus, wie Eric zum Telepath wurde.

Ab da bestand absolut keine Gefahr mehr, dass sie es als Herabwürdigung ansehen würden, wenn sie Telepathen werden sollten. Julian sah nur lächelnd zu mir herüber, jetzt war ich wirklich etwas stolz auf mich. Besonders, als Dirk dann auch noch nach der Larualisation fragte und dabei fast schon unverschämt grinste. Es sah wirklich so aus, als könnten wir sie nun, wie am Dienstag geplant, zu vollwertigen Iratus Lemurum machen. Auch wenn mich Thimo dabei etwas besorgt ansah.

Den Rest des Abends verbrachten wir mit praktischen Übungen. Es war eine Sache über die PSI-Energie etwas zu erfahren und eine völlig andere, sie tatsächlich zu spüren. Letztlich war es schon wieder fast null Uhr, als Julian, Tom, Lukas und ich von Kim zurückgebracht wurden.

Sehr erschöpft sprangen wir nur noch für eine Runde in unser Schwimmbad, welches wir wirklich viel zu selten nutzen konnten und gingen dann zu Bett. Es musste bald etwas geschehen, denn so konnte es auf Dauer einfach nicht weiter gehen. Wir hatten praktisch keine Zeit mehr für uns. Ständig waren wir in der Schule oder in Camelot. Ich vermisste es einfach, mal wieder mit Julian zu kuscheln, oder auch mit Tom, Lukas und Eric.

8. - School

I can see you in the morning when you go to school

Don't forget your books, you know you've got to learn the golden rule,

Teacher tells you stop your play and get on with your work

And be like Johnnie - too-good, well don't you know he never shirks

- he's coming along!

aus „School“ von Supertramp

Schule bei Paradise City, Freitag, 14.12.2035

Der Donnerstag verging ausnahmsweise völlig ereignislos, wenn man den einsetzenden Schneefall außer Acht ließ. Dieses Jahr sollte es wieder eine weiße Weihnacht geben. Es waren zwar noch zehn Tage, doch die Temperaturen fielen wie in den letzten Jahren rapide ab. Auch hatten wir unseren Frühsport lieber in die Schwimmhalle verlegt und statt Waldlauf war nun Schwimmen angesagt.

In der Schule wurden wir nach wie vor mit einer Mischung aus Bewunderung, Verachtung und Neugier betrachtet. Was wir wiederum konsequent ignorierten. Nachdem Carlo den Anfang gemacht hatte, schienen wenigstens die „Techno-Freaks“ sich dazu durchgerungen zu haben, uns als ihresgleichen anzuerkennen. Sie versuchten einen einigermaßen lockeren Umgang mit uns. Wie die aber auf uns reagieren würden, wenn sie dahinter kamen, dass wir keine „Biomechs“ waren, wollte ich mir lieber nicht vorstellen. Denn das schien bei den „Technos“ das Hauptmotiv zu sein.

Nach der ersten Doppelstunde trafen wir auf den sichtlich nervösen Carlo, der uns im Vorbeihasten sagte, dass Benny noch immer nicht aufgetaucht sei, obwohl er doch kommen sollte. Auch wir hatten ihn bis jetzt noch nicht gesehen und wieder machte sich ein flaues Gefühl in meinem Magen breit.

Wir saßen gerade an unserem Tisch in der Mensa, als mein Blick wieder zu Sigi und seinen Gorillas fiel, die sich angeregt unterhielten. Offensichtlich hatte Sigi seinen Blockadechip erneuert, denn er war wieder nicht zu belauschen. Auch das war etwas, was mir Sorgen machte Wie hatte er bemerkt, dass der Chip nicht mehr funktioniert? Bisher hatte uns das nicht interessiert, doch es musste eine Möglichkeit geben.

Julian lenkte meine Aufmerksamkeit auf einen Jungen, der nahe bei Kurt saß und offensichtlich keinen Blockadechip trug. Er hatte Teile der Unterhaltung mitbekommen und war aufgrund dessen zu der Ansicht gekommen, dass Kurt und Felix am Morgen für Benny einen Unfall arrangiert hatten. Von Carlo erfuhren wir dann, dass einem Mitschüler aufgefallen sei, dass die beiden diesmal aus Richtung Sektor 20 gekommen seien und nicht wie gewöhnlich aus „Paradies City“.

Jetzt war mir die Warnung von Direktor Schmitt egal, zumal Sigi schon wieder dieses triumphierende Lächeln zeigte. Betont ruhig stand ich mit meinem Tablett auf und setzte mich neben Felix, dem nun das dämliche Grinsen verging. Auch Sigi schien sich nun doch nicht mehr so sicher zu fühlen.

Ohne mich umzusehen, wusste ich, dass uns nun die Aufmerksamkeit aller zuteil wurde. Tom, Lukas und Julian waren mir, allerdings ohne Tabletts, gefolgt und standen um den Tisch. »Wolltet ihr uns nicht gerade etwas über einen Unfall berichten?«, knurrte ich Felix an und sah ihm dabei mit meinem eisigsten Blick in die Augen. Schon öfters hatte mir Julian erklärt, dass ich mit diesem Blick die Hölle zufrieren lassen könnte. Muss ich erwähnen, dass er es nicht mochte, wenn ich jemanden so ansah?

Auf Felix jedenfalls hatte es eine enorme Wirkung. Klappernd fiel ihm die Gabel aus der Hand und jede Farbe wich aus seinem Gesicht. Ich spürte, wie er sich abwenden wollte, doch anscheinend hielt mein Blick ihn gefangen. Er zitterte am ganzen Körper und sein Atmen klang nun fast schon keuchend.

Jeder konnte sehen, dass ich ihn nicht berührte. Im Gegensatz zu Sigi und Kurt, die von Tom und Lukas scheinbar sachte in ihre Stühle gedrückt wurden. In Wirklichkeit war die Hand auf ihren Schultern nur der sichtbare Teil. Unsichtbar für unsere Mitschüler wurden die beiden telekinetisch zur absoluten Bewegungslosigkeit gezwungen.

»Was ist? Hat es dir die Sprache verschlagen? Gerade noch warst du doch so fleißig am Erzählen. Was habt ihr heute Morgen mit Benny gemacht?«, anscheinend gelang es mir meine Stimme nun noch kälter klingen zu lassen. Aus dem Augenwinkel sah ich, wie sogar Boris besorgt die Stirn runzelte.

Stück für Stück brachte ich die beiden Gorillas zum Reden, während Sigi von Lukas zum Schweigen gezwungen wurde. Dieser bekam im wahrsten Sinn des Wortes seinen Mund nicht auf. Dafür berichteten Kurt und Felix nun, für alle hörbar, was sie getan hatten.

Sie hatten Benny auf dem Weg zur Schule mit ihrem Van gerammt und von der Straße geschleudert. Er hatte mit seinem Quad keine Chance und landete an einem Baum. Was mit ihm war, wussten sie nicht, der Schnee hatte ihn verschluckt und so war nichts von dem „Unfall“ zu sehen.

Voller Wut griff ich mit aller Energie nach dem Bewusstsein von Felix, der auch der Fahrer gewesen war. Die Störung seines Blockadechips wischte ich mit einem starken Impuls, der ihn aufschreien ließ, beiseite und sein Bewusstsein lag vor mir. Ich erfuhr genau, wo der Unfall geschehen war und auch wie schwer er wirklich war. Möglicherweise hatte Benny es überlebt. Doch bei diesem Wetter und den Temperaturen sanken seine Chancen mit jeder Minute.

Mein Hass auf Sigi überflutete Felix, doch die Folgen davon realisierten wir erst, als wir den Ausgang schon fast erreicht hatten. Kaum hatten wir uns von ihnen abgewandt, überschüttete Sigi seine Gorillas mit Vorwürfen. Schwächlinge und Stümper nannte er sie und fand auch sonst noch etliche andere Bezeichnungen. Dass sein Verhalten angesichts einer Videoüberwachung auch nicht besonders intelligent war, vergaß er in diesem Moment anscheinend völlig.

Felix, der unter meiner „Behandlung“ schreiend in sich zusammengesunken war, sprang nun auf. Mit einem irren und hasserfüllten Blick stürzte er sich auf Sigi und traktierte jede Körperstelle, der er habhaft werden konnte, mit seinen Händen, Füßen und sogar Zähnen. Sigi lag schon blutend auf dem Boden, als es Tom, der umgekehrt war, gelang den Tobenden festzuhalten.

»»MIKE! MIKE, GIB IHN FREI! LASS VON IHM AB; DU ZERSTÖRST SEINEN VERSTAND««, hörte ich Julian in meinem Inneren schreien. Da erst realisierte ich, dass ich noch immer eine Verbindung zu Felix unterhielt. Nicht Felix griff Sigi an, ich selbst war es, der ihn immer wieder gegen ihn hetzte. Felix befand sich in meiner zwangssuggestiven Gewalt! In dem Moment, als ich es realisierte, unterbrach ich meinen Einfluss und Felix sank haltlos in sich zusammen. Neben seinem Meister ließ ihn Tom zu Boden gleiten, um dann zusammen mit uns die totenstille Mensa zu verlassen.


Wir waren unterwegs in Richtung Sektor 20; betroffenes Schweigen herrschte im Wagen. Einerseits, weil wir alle uns um Benny sorgten, aber auch weil keiner so recht verstand, was da gerade geschehen war. Ich hatte Felix in meiner Gewalt, hätte ihn zwingen können, sich ein Messer in die Rippen zu stoßen oder vom nächsten Dach zu springen. Ich hatte ihn suggestiv übernommen, ihn immer wieder gegen Sigi gehetzt, er reagierte wie ferngesteuert.

Julian hielt mich während der ganzen Fahrt in seinen Armen und sendete beruhigende Impulse aus. Es war, als würde ich in einer schönen Melodie baden, es umspielte mich, hüllte mich ein. Doch ich wurde das hässliche Gefühl der Freude nicht so recht los. Dieses dunkle Gefühl der Freude, das ich dabei empfand, wenn ich an den auf dem Boden liegenden Sigi dachte.

Das also war unsere „Dunkle Seite“, vor der uns auch Frank schon gewarnt hatte. Das Gefühl der absoluten Überlegenheit, aber auch der Kälte. Mutanten wie „King Roy“ und dieser Janus waren diesem Gefühl erlegen. Sie glaubten, dass es niemanden geben könne, der stärker war als sie. Sie empfanden nur Verachtung für normale Menschen und hielten sich selbst für unüberwindlich. Zumindest „King Roy“ hatte sich geirrt und diesen Irrtum mit seinem Leben bezahlt.

Doch nun war keine Zeit für derlei Gedanken, wir hatten die Stelle erreicht, an der es passiert sein musste. Lukas hatte die ganze Zeit über mittels Teleortung den Straßenrand abgesucht und nun die Stelle gefunden. Bennys Quad war schleudernd zehn Meter weit über die Böschung geschossen und an den Baum geklatscht. Doch noch im Flug war es Benny gelungen, sich von seinem Gefährt zu lösen. Nur um Zentimeter war er so an dem Baum vorbei geschrammt und nach einigen Metern im Schnee versunken.

Die gute Nachricht war, dass er noch lebte, die schlechte, dass es sehr knapp wurde. Er war am Ende seiner Kräfte, völlig unterkühlt und zudem auch noch schwer verletzt. Als der Van ihn gerammt hatte, war sein linkes Bein gequetscht worden. Ein offener Bruch und hoher Blutverlust waren die Folge. Während Julian, Lukas und ich ihn mit Reiki-Energie voll pumpten, alarmierte Tom zuerst Kim und dann Stefan.

Kim musste den Transport nach Camelot übernehmen, Stefan sollte sich mit der Abwehr und NeckTech in Verbindung setzen. Wie ich unseren Direktor kannte, würde er versuchen, uns die Schuld für den ganzen Vorfall zu geben. Dem mussten wir mit einer offiziellen Untersuchung vorbeugen. Schon nach dem ersten Zwischenfall von und mit Benny waren gewisse Verbindungen hergestellt worden. Wie ich NeckTech kannte, würde unser Direktor schneller Besuch von der Polizei bekommen, als er seinen deformierten Körper vom Stuhl erheben konnte.


Benny war außer Lebensgefahr, die Video-Aufzeichnung unseres Mensa-Treffens sichergestellt, Kurt verhaftet, Felix in der Psychiatrie, Sigi im Krankenhaus, ihr Van beschlagnahmt und wir suspendiert. Wen das Letzte verwundert, der kannte eben Direktor Schmitt nicht.

Nicht nur, dass er uns der Störung des Schulfriedens bezichtigte, was nur sehr schwer zu beweisen war, nein, viel schlimmer - wir hatten tatsächlich gegen die Schulordnung verstoßen.

Unerlaubtes Entfernen aus dem Unterricht und Verstoß gegen die Mensa-Ordnung war unser Vergehen. Wir hatten es tatsächlich unterlassen unsere Tabletts aufzuräumen. Dies zeige ganz eindeutig, wie undiszipliniert und unsozial wir seien. Ich gebe zu, mir verschlug es bei diesem Vorwurf für einige Minuten die Sprache.

Laut Carlo war dies das erste Mal, dass eine Suspendierung aus so lächerlichem Anlass verhängt wurde. Unter normalen Umständen wäre der Angriff von Felix gegen Sigi ein möglicher Grund gewesen, ihn zu suspendieren.

Bei uns reichte ein nicht aufgeräumtes Tablett, nämlich meines, aus, uns alle vier zu suspendieren. Carlo hatte uns versichert, dass er selbstverständlich die Tabletts von Lukas, Julian und Tom nach unserem so plötzlichen Abgang weggeräumt hatte. Carlo hatte mit uns am Tisch gesessen und für ihn war es selbstverständlich gewesen, dass er sie wegräumte. Dass er dabei nicht an mein Tablett dachte, welches ich neben dem von Felix abgestellt hatte, tat ihm wirklich Leid.

Nun, für uns gab es Wichtigeres als sich über so etwas zu ärgern. Kim hatte Benny und uns nach Camelot gebracht, wo sich dann Sandro um ihn kümmerte. Es war wichtig, dass ein Arzt die Verletzungen dokumentierte. Erst danach durften wir mit dem Reiki weitermachen.

Thimo hatte es übernommen, Takashi zu verständigen und nach Camelot zu bringen. Obwohl Benny physisch nun vollständig geheilt war, benötigte er noch einige Tage Ruhe. Die Schmerzen hatten wir ihm natürlich gleich genommen, doch das Trauma, zweimal innerhalb weniger Tage derart attackiert zu werden, konnten wir ihm nicht nehmen.

An dem Van von Felix waren die Unfallspuren noch deutlich zu sehen gewesen. Der ganze Fall wurde nun, völlig übertrieben, wie unser Direktor meinte, von der Mordkommission untersucht. Offiziell war dies dann der zweite Mordanschlag auf Benny und gleichzeitig hatte unser Direktor ein Verfahren wegen Verschleierung am Hals.

Leider blieb aber auch Dr. Lazarus da nicht ganz ungeschoren. Sie hätte den Vorfall der Schulbehörde melden müssen, auch wenn der Direktor ihr dies ausdrücklich untersagt hatte.

Nach der ganzen Aufregung irrte ich ziellos durch Camelot. Ständig grübelte ich darüber nach, was da geschehen war, und wie ich Felix derart übernehmen konnte. Es dauerte einige Zeit bis ich realisierte, dass ich im Meditationsraum angelangt war.

Dieser befand sich direkt über dem „Verbotene Raum“. Die Wände waren in einem warmen Beige gehalten und die Decke strahlte in einem freundlichen Blau. Der Boden war mit einem weichen, moosgrünen Belag ausgelegt, der zum Sitzen einlud. In der Mitte des 25 Meter durchmessenden Raumes befand sich ein Brunnen. Ein schwarzer Steinblock mit vielen terrassenförmigen Ausbuchtungen, über die Wasser hinab lief, befand sich in dessen Mitte. Sanfte Musik erfüllte den ganzen Raum, ohne jedoch aufdringlich zu wirken.

Nahe beim Brunnen setzte ich mich nieder und ließ meine Gedanken strömen. Wieder und wieder versuchte ich mir das Geschehene zu vergegenwärtigen. Es war eindeutig keine Telepathie gewesen. Ich hatte Felix suggestiv „übernommen“, doch seit wann konnte ich so was?

»»Seit „King Roy“ gestorben ist!««, vernahm ich Julians sanfte Stimme. Er hatte sich wieder einmal bei mir eingeklinkt.

Von mir unbemerkt war er zusammen mit Lukas, Tom und Sammy hier erschienen. Alle vier setzten sich nun ebenfalls auf den Boden. Julian direkt hinter mich, wobei er mich dann auch gleich „vereinnahmte“. »»Nicht, dass du uns gleich wieder abhaust. Sammy hat eine neue These.««

Unwillkürlich stöhnte ich auf. Es wäre wirklich etwas Neues, wenn Sammy mal keine neue Theorie hätte. Nicht, dass ich unseren Parapsychologen, Physiker und ausgewiesenen Quälgeist nicht schätzen gelernt hätte. Aber wenn er sich darauf beschränken würde nur drei neue Theorien pro Woche zu präsentieren, wäre er wesentlich angesehener.

»Was ist es denn diesmal?«, fragte ich entsprechend begeistert.

Doch Sammy war unsere Reaktion schon längst gewohnt. Vielleicht aber auch, weil einfach ausnahmslos alle Menschen, die ihn länger als drei Tage kannten, so reagierten. Sein fröhliches Lachen zog jedoch meine Aufmerksamkeit förmlich an: »Also, ich habe noch einmal mit Frank und Robin gesprochen. Die waren bei einem gewissen Vorfall, nämlich dem Ableben des selbst ernannten Königs, zwar nicht vor Ort, aber die Energie, die dabei frei wurde, trug, nach ihren Worten, eindeutig dessen Signatur. Im Prinzip verkündete er damit selbst seinen Tod.«

Zufrieden sah er mich an, so als ob mir nun alles klar sein sollte. War es aber nicht! Natürlich erinnerte ich mich, dass Frank mit uns gekommen war. Er hatte dann jedoch zusammen mit Nico die Mutanten evakuiert, da die telekinetischen Begleiterscheinungen unseres Disputs mit dem King doch sehr heftig wurden.

Julian und ich hatten King Roy angegriffen und letztlich war ich es, der ihn desintegrierte. Dabei wurde dann die von ihm gespeicherte PSI-Energie frei. Aber was hatte das mit meiner Suggestion zu tun?

Da ich nicht wie erwünscht reagierte, begann Sammy von neuem: »Als du dich am Wochenende zuvor sehr mit Lukas beschäftigt hast, - oder er mit dir?«, dabei grinste er wirklich unverschämt, »da hast du ab einem bestimmten Punkt eurer „Interaktion“ einen großen Teil seiner PSI-Energie abgesaugt. Die, wie du selbst sagtest, seine Signatur enthielt«

Heureka, der Groschen war gefallen!

Darauf also wollte Sammy hinaus! Doch der Moment der Freude währte nur kurz. Dann wurde mir die Tragweite dessen, was er da andeutete bewusst. »Heißt das, dass Julian und ich so etwas wie PSI-Vampire sind? Nicht nur, dass wir anderen die Energie absaugen können, jetzt bekommen wir auch noch deren Fähigkeiten, wenn wir sie töten?« Der Vorwurf und Ekel, der aus meiner Stimme sprach, überraschte mich selbst ein wenig.

Etwas betroffen sah mich Sammy an, während Julians Griff nur noch stärker wurde. Wieder einmal hatte er sein Kinn auf meine Schulter gelegt und hielt mich fest umschlungen.

»Also, als PSI-Vampire würde ich euch nicht bezeichnen! Das wäre wirklich absurd! Es ist eine Fähigkeit, eine mächtige, aber auch eine verantwortungsvolle! Mutanten wie King Roy, Janus oder andere, die nur auf Erweiterung ihrer eigene Macht aus sind, die würden wahrscheinlich rücksichtslos von dieser Fähigkeit Gebrauch machen.

Stell es dir vor, durch Töten ihrer Feinde werden sie wirklich stärker! Das wäre für viele sicherlich eine Versuchung. Und du? Du ekelst dich vor dir selbst? Aber weswegen? Es ist eine Fähigkeit wie die anderen auch, und positiv gesehen bringt es euch auch weiter«

»Weiter? Ja, weiter an den Abgrund! Wie würden andere Mutanten darauf reagieren? Wenn wir in einem Kampf einen anderen töten, dann wird sich doch jeder fragen: „Hat er das vielleicht nur getan, um seine Fähigkeiten zu erweitern?“ In deren Augen haben wir einen echten Vorteil, wenn wir einen anderen töten. Es ist dann wie ein Raubmord!«

Doch Sammy lächelte nur über meine Empörung. Erst jetzt bemerkte ich, dass sich auch Eric zu uns gesellt hatte. Auch er schien mehr belustigt als besorgt zu sein. Was er mit den nächsten Worten auch bestätigte. »Habe ich es euch nicht gesagt? Er kann einfach nicht über seinen Schatten springen.«

Das besänftigte mich jedoch keineswegs. Eric warf mir immer vor, alles viel zu kompliziert zu sehen, aber die Welt war nun mal kompliziert. Doch nun war es Julian, der mich auf völlig andere Weise aus dem Grübeln riss. Zum einen, als er mich einfach lange und sehr tief küsste, bis ich wirklich nur noch an ihn dachte. Dann brachte er mich mit einem sehr nüchternen Bericht, was sie über unsere neuen Fähigkeiten erfahren hatten, wieder in die grausame Realität zurück.

Natürlich hatte Julian dieselben Kräfte wie ich auch. Wir hatten uns vereinigt und waren zu PSI-Zwillingen geworden. Was der eine konnte, das konnte auch der andere. Dies ging schon so weit, dass wir für einen ungeübten Telepathen nicht mehr zu unterscheiden waren, natürlich nur, was die Signatur betraf. Noch dachte jeder für sich, wenigstens weitgehend.

Julian begann also zu erklären: »Das mit der Suggestion muss ich dir nicht mehr erzählen. Übrigens kommt es oft vor, dass ein Suggestor seine Fähigkeit entdeckt, wenn er wütend ist. Außerdem ist jeder bekannte Suggestor auch ein Telepath. Es gibt sogar Vermutungen, die dahin gehen, dass die Suggestion eine höhere Stufe der Telepathie ist. Es ist im Prinzip wie das aktive Senden, nur dass es die Person dann auch noch zu einem Handeln zwingt. Ein Telepath kann sich natürlich dagegen wehren und sich abschirmen.

Doch „King Roy“ hatte noch andere Fähigkeiten, die wir abbekommen haben. Wie Thimo, Metin, Dorian, Rene und Jan leidvoll erfahren mussten, beherrschte er die Hydrokinese.«

Ohne sich sonderlich zu konzentrieren, bildete er aus dem Wasser vor mir eine Säule. Dann begann sich diese zu strecken, wie eine Schlange zu winden, wurde länger und reckte sich mir entgegen. Dabei verlor dieses Wassergebilde aber nie den Kontakt zur Wasseroberfläche. Es fächerte sich nun auf und bildete mein Gesicht nach. Dann, mit einem leisen Platsch, flutschte das Wasser wieder zurück in das Becken.

»Du wirst sehen, es geht völlig einfach! Wir sind es gewohnt mit Telekinese zu arbeiten. Mit viel Konzentration hätten wir dies auch schon mit reiner Telekinese gekonnt, doch nun ist es wesentlich einfacher. Du fühlst die Wassermoleküle, selbst die in der Luft, wenn du dich darauf konzentrierst«, sein Versuch mich damit aufzumuntern war offensichtlich, doch viel mehr gefiel mir sein Streicheln meiner Brust.

Grinsend, weil er wieder bei mir geschnüffelt hatte, fuhr er fort: »Dann war da die Sache mit der Elektrokinese! Ehrlich, ich verstehe nicht, wie „King Roy“ da nur so schwach sein konnte.« Wie zur Bestätigung zuckte eine gewaltige Entladung aus der Luft direkt in den Brunnen. Danach erfüllte der Geruch von Ozon die Luft.

»Es ist im Prinzip das Gleiche wie bei der Hydrokinese oder der Annihilation. Auch hier nimmst du die Teilchen, die du beeinflussen willst, also die Elektronen, „abstrakt“ wahr. Du greifst dir einfach ein paar verstreute Teilchen und ziehst sie zusammen. Das gerade eben waren so ungefähr 100 Teilchen«

Beruhigend kraulte er mir weiter die Brust, während er erzählte: »Bei der Elektrokinese haben mir Danny und Marc geholfen. Natürlich bin ich nicht so stark wie Danny, und Marc ist sowieso eine Klasse für sich, aber dank unserer Kapazität bringen wir es auch schon ziemlich weit. Der Vorteil ist, dass wir damit etwas haben, was nicht so vernichtend ist wie das Destruieren oder die Annihilation.

Das Letzte haben dann Sammy und Eric herausgefunden. Wir konnten „King Roy“ doch nie so direkt angreifen? Das lag an einer Fähigkeit, die Sammy als Conturbation bezeichnet, das bedeutet Verwirrung. Es ist eine Art psionischer Störsender oder Nebelwerfer. Du spürst, dass da etwas ist, findest aber keinen Ansatzpunkt. Bei Eric geht die Sache nur noch weiter, da spürst du ihn nicht einmal.«

Langsam sah ich in die Gesichter meiner Freunde, es war fast schon komisch, so gespannt sahen sie mich an. Lukas brachte es dann auf den Punkt: »Wenn ihr so weitermacht, wird es bald wieder leicht euch auszuschalten. Während ihr überlegt, welche eurer vielen Fähigkeiten ihr einsetzt, habe ich euch schon eins auf die Nase gegeben«

OK, das war ein Argument! Denn Lukas war wirklich schnell.

Doch Eric sah mich mahnend an: »Das denke ich nicht, sobald er angegriffen wird, greift er auf das Vertraute zurück. Mike neigt dann eher dazu sein Destruieren einzusetzen, während Julian dann zur Annihilation greift. Es besteht dann nur die Gefahr, dass unser „Großer“ sich hinterher wieder in Selbstvorwürfen wälzt und fragt: „Warum habe ich es nicht erstmal mit Elektrokinese probiert?“«, dabei klang seine Stimme richtig weinerlich.

Ich wusste genau worauf er hinaus wollte: »Wieder nur „Analysieren, Besprechen, Verbessern“?«

Er lächelte nachdenklich: »Jep, genau so, und nur so. Es war diesmal noch viel weniger deine Schuld! Du wusstest nicht, dass du ihn suggestiv beeinflussen konntest, weshalb willst du dir dann Vorwürfe machen?«

Diese Diskussion hatten wir schon einmal geführt und eigentlich wusste ich, dass er bis zu einem gewissen Punkt Recht hatte. Doch so einfach wollte ich es mir nicht machen, vielleicht war ich wirklich etwas anstrengend.

Julian stupste mich in die Seite und sah mir in die Augen: »Ich will mit Tom, Lukas und Eric noch ein Experiment versuchen.« Als ich ihn interessiert ansah, erläuterte er andeutungsweise: »Es geht um den Raum unter uns und das, was wir mit Marc, Dirk und Louis durchziehen wollen.«

Sammy seufzte lautstark und murmelte etwas Unverständliches, von wegen „nicht wissen wollen“, „nicht gefallen“ und „Thimo“. Dann verließ er ungewöhnlich schnell den Raum. Eric, Tom und Lukas sahen uns hingegen sehr interessiert an.


Strange Magic

„Verbotener Raum“, Camelot, Freitag, 14.12.2035

Eric hatte an der Schwelle nur kurz gezögert, sie dann aber doch überschritten. Mit uns zusammen schien jeder den „Verbotenen Raum“ betreten zu können. Wie der Meditationsraum war auch der „Verbotene Raum“ kreisrund und nahm die ganze Fläche des Turm-Querschnitts ein. Hier jedoch herrschte die Farbe schwarz vor. Der Boden, die mit Nischen versehenen Wände und die Decke, alles war mit diesem mattschwarzen Material überzogen.

Es schien Stein zu sein, wies aber mindestens genauso viele metallische Eigenschaften auf. Olaf hatte mein „Telin“ untersucht, kam jedoch mit der Oberflächlichenanalyse nicht weiter. Er hätte „Materialproben“ entnehmen müssen, was ich natürlich nicht erlaubte. Es war ein Geschenk und hatte zudem eine tiefere Bedeutung, jedenfalls für Pascal.

Im Zentrum des Raumes war ein 16-zackiger Stern in den Boden eingelassen. Er war ebenfalls schwarz, nur nicht matt, sondern glänzend. Jede Zacke des Sternes zeigte auf eine der Nischen. Von jeder dieser Nischen verlief an der Decke eine Art Balken bis zum Zentrum des Raumes. Zwischen diesen Balken und der eigentlichen Decke drang mattes, rotes Licht hervor. Genau im Zentrum des Sternes war jedoch das Ungewöhnlichste in diesem Raum - hier stand ein vier Meter hoher schwarzer Obelisk.

Wie jedes Mal, wenn ich den Raum betrat, hatte ich das Gefühl, nicht alleine zu sein. Damit meine ich natürlich nicht Julian, Tom, Lukas und Eric. Ich hatte das Gefühl, dass noch viel mehr Personen hier seien. Und wenn ein Telepath so ein Gefühl hat, dann hat dies in der Regel wesentlich mehr zu bedeuten, als wenn ein Normalo so etwas fühlt. Dennoch, egal was wir schon probiert hatten, wir konnten niemanden aufspüren. Dieser Raum ängstigte mich wirklich ein wenig. Es war einfach nichts Greifbares, das war es wahrscheinlich auch, was mich so beunruhigte.

Mit einer spielerischen Handbewegung, und etwas Telekinese, ließ Julian für jeden von uns ein Sitzkissen aus den Nischen herbeirutschen. Er schien die Atmosphäre dieses Raumes zu genießen. Nein, ganz offensichtlich, er fühlte sich hier richtig wohl! Auch Lukas bewegte sich hier völlig unbefangen, während es Tom und Eric eher so wie mir erging. Doch für Julian würde ich durch die Hölle gehen, wenn er hier eine Zeremonie durchziehen wollte, dann würde ich ihm helfen.

Die Sitzkissen waren kreisförmig um den Obelisken angeordnet, und nach Julians einladender Handbewegung ließ ich mich neben ihm nieder. Dann reichten wir uns die Hände und bildeten einen telepathischen Block. Sofort fiel jedes Unbehagen von mir ab. Ich hielt Julians Hand, das genügte völlig. Rechts von mir saß Eric. Auch er hatte keine rechte Vorstellung, was genau Julian hier wollte. Doch dieses „Geheimnis“ offenbarte er uns nun.

»»Pascal hat uns geraten, hierher zu kommen. Dies hier war das Conventiculum der Bruderschaft, also ihr Versammlungsort. Auch bei der Bruderschaft gab es eine Art von Großem Rat oder eine Tafelrunde, dort hieß es Konvent. Hier versammelten sich die „Meister“ der Bruderschaft. Jeder aus der Bruderschaft durfte an der Sitzung teilnehmen, aber nur die Meister waren stimmberechtigt.

Aber unter den Meistern gab es den „Primus inter pares“, den Sprecher des Konvents, also der, welcher nach außen für alle sprechen durfte.««

Der „Primus inter pares“, der Erste unter Gleichen. Woher wusste Julian dies alles? Doch schon fuhr Julian fort und gebannt lauschten wir seinen Ausführungen.

»»Als Frank am Dienstag bei der Tafelrunde erwähnte, dass es Pascal wichtig sei, bin ich noch einmal hierher gekommen. Der Obelisk ist viel mehr als nur ein okkultes Symbol, er kann anscheinend Wissen über Vergangenes vermitteln. Er ist unter anderem eine Art von telepathischer Bibliothek, wobei Orakel wohl treffender wäre. Denn mit dem Finden der gesuchten Informationen klappt es meist nicht so recht, dafür erfährt man dann anderes, Sachen, nach denen man überhaupt nicht gefragt hat.«« Wieder machte er eine Pause und sah uns dann aufmunternd an.

»»Wenn ihr euch konzentriert, dann spürt ihr die positiven Schwingungen, die von diesem Obelisken ausgehen. Sie werden uns helfen, wenn wir Louis, Dirk und Marc aufnehmen. Doch zuvor möchte ich etwas mit euch ausprobieren.

Mike und ich haben ja schon erfolgreich die Larualisation und Telepathie weitergegeben. Ich denke, ihr solltet zumindest auch die Elektrokinese und die Hydrokinese erhalten. Lukas und Tom, ihr beherrscht schon lange die allgemeine Telekinese, für euch ist es entsprechend nur ein kleiner Schritt. Bei dir, Eric, bin ich mir nicht sicher, wir sollten es zuerst nur mit der Elektrokinese probieren. Falls es gelingt, dann sollte es mit der Telekinese und Hydrokinese auch gehen.

Nach Sammys Energie-Modell könnten es für eine gewisse Zeit deine Kräfte schwächen, wenn du zu viele neue Fähigkeiten erhältst. Bei Mike, Tom und mir war die Larualisation sofort verfügbar, bei dir dauerte es mehr als 24 Stunden. Dies hängt mit deiner im Moment noch geringeren Kapazität zusammen.««

Ich sah zu Eric, doch für ihn war dies keineswegs ein Problem. Louis, Dirk, Marc und andere „geborene Mutanten“ reagierten unheimlich empfindlich, wenn man ihnen in dieser Hinsicht eine Schwäche unterstellt.

Ein kurzer Händedruck von Julian und ich konzentrierte mich wieder. Lukas, Tom und Eric warteten mit Spannung darauf, was nun kommen sollte. Ich natürlich auch. »»Konzentriert euch auf den Obelisken, spürt seine Schwingung, nehmt sie in euch auf!««, vernahmen wir nun Julians ruhige Stimme.

Der Energiegehalt des Raumes schien drastisch anzusteigen. Für mich war es nun fast so wie in der Maschine, nur, dass die Energie nicht in mich gepresst wurde, sondern um uns herum strömte. Jeder konnte nach Belieben die Energie in sich aufnehmen, so viel wie er konnte und wollte.

Ich spürte, wie Julian begann die Energie zu modulieren, er modulierte sie für die Elektrokinese und sogleich passte ich mich ihm an. Gemeinsam sammelten wir immer mehr dieser modulierten Energie in uns auf. Ich überließ Julian die völlige Kontrolle, passte mich ihm an - wir agierten wieder wie ein Wesen.

Dann konzentrierte er sich auf Tom und nun begann auch dieser sich auf diese Schwingung einzustellen. Seine Signatur verschob sich, aber wirklich nur minimal. Nun war Lukas an der Reihe und auch seine Signatur veränderte sich entsprechend.

Bei Eric mussten wir, wie erwartet, mehr Energie aufwenden. Mit einem Mal aber „schluckte“ er eine ganze Portion davon. Seine Signatur verschob sich nicht, sie machte einen Sprung. Uns war sofort klar, dass es bei ihm auch gelungen war. Doch genauso sicher wussten wir, dass wir ihm nun Zeit geben mussten.

Dafür begannen wir nun die Energie wieder neu zu modulieren. Bei Tom und Lukas vollzogen wir nun dasselbe noch einmal, nun jedoch für die Hydrokinese.

Als auch das gelungen war, löste sich unser Verbund langsam wieder auf. Julian und ich wurden wieder zwei getrennte Persönlichkeiten, doch noch immer war der Raum erfüllt von Energie. Kaum hatten wir uns völlig getrennt, da begann diese Energie sich um den Obelisken zusammenzuziehen. Wie eine kosmische Gaswolke wurde sie dabei in Rotation versetzt. Immer schneller und schneller rotierte die Wolke, deren Drehachse der Obelisk war.

Plötzlich schoss ein Strahl aus ihrem Zentrum hervor, genau in Richtung Nische hinter Eric. Immer mehr Energie schoss aus der Wolke, die nun stetig kleiner und schwächer wurde. In einem letzten kurzen Aufblitzen erlosch alles. Der Raum war so ruhig und friedlich wie zuvor.

Langsam ließen wir unsere Hände sinken. Auch Julian, unser Zeremonienmeister, sah etwas verwundert aus. Neugierde packte mich - was hatte die Energie in der Nische gemacht? Warum nur in Erics Nische und nicht auch in denen von Tom und Lukas?

Als ich vor der Nische stand, wusste ich es. Langsam beugte ich mich hinab und hob das „Telin“ hoch, welches nun hier abgelegt war. Auf der einen Seite war, wie bei uns auch, das vertraute Kreuz der Templer und auf der anderen Seite das Sternzeichen Löwe. Eric hatte am 30. Juli Geburtstag, er war Löwe und dies war nun ganz offensichtlich sein „Telin“.

Schweigend sahen wir uns an, als ich Eric den Anhänger reichte. Dr. Neckler hatte mal gesagt, dass die Mutanten einen Hang zum Okkulten hätten, doch als was würde er dies nun bezeichnen?

Gemeinsam, jeder mit seinen Gedanken beschäftigt, verließen wir das Conventiculum, um Thimo und die meisten unserer Schüler im großen Schulungsraum zu treffen. Das erwartungsvolle Schweigen beantwortete Lukas mit einer lässigen Handbewegung und einer donnernden Entladung, die in die goldene Kugel unseres Elektokinese-Trainers schlug. Die Anzeige zuckte heftig, auf Anhieb erreichte Lukas ein Viertel von Dannys Wert.

Thimo sah uns an und sagte mit ernster Stimme: »Ich habe noch nie so viel PSI-Energie gespürt wie in der letzten Stunde. Jetzt dürfte kaum noch jemand daran zweifeln, dass ihr wirklich die „Erben“ der Bruderschaft seid. Die...«, er stockte und ging dann auf Eric zu - jetzt hatte er dessen „Telin“ bemerkt.

Noch bevor jemand etwas sagen konnte, sah ich zu unseren drei Anwärtern. Sie hatten die Sache nicht ganz so glücklich aufgenommen. Anscheinend befürchteten sie nun, dass wir sie zur Bestätigung unserer Ansprüche nicht mehr benötigten. »Wir brauchen eure Unterstützung nach wie vor. Ihr kennt unsere Einstellung, jeder soll in der zukünftigen neuen Bruderschaft seinen Platz finden können. Egal, ob Mutant oder Normalo. Wir wollen und brauchen euch, doch nicht um den Preis andere verstoßen zu müssen.«

Die drei sahen sich an und waren sich offensichtlich einig. Sie würden die Nächsten sein, die uns in das Conventiculum begleiten würden. Doch zuvor mussten wir noch einiges in der „Tafelrunde“ besprechen. Dieser Schritt war einfach zu wichtig, als dass er überstürzt werden durfte. Tom schob sich unauffällig dicht an mich heran und flüsterte spöttisch: »Primus inter pares!«


Dicht neben Julian lag ich in unserem Bett. Ich war unglaublich müde und konnte dennoch keinen Schlaf finden. Die letzten Stunden zogen wieder an mir vorbei. Nach unserem Auftritt war ich schon sehr müde und so beschlossen wir zurück zum Campus-Occursus zu fahren. Benny und Takashi begleiteten uns, da Benny bei uns doch etwas mehr Ruhe finden würde als in Camelot. Camelot war zwar nicht gerade klein, dennoch herrschte dort inzwischen ein ziemlicher Trubel.

Zurzeit wohnten dort annähernd 80 Personen, wovon gerade einmal 26 Mutanten waren. Robin hatte auch einigen Straßenkids Unterschlupf gewährt, wobei es eigentlich Sandro war, der sich um sie kümmerte. Diese Kids hatten weder mit den Hoods noch mit uns direkt etwas zu tun. Es hatte sich nur herumgesprochen, dass sie bei uns vernünftiges Essen und medizinische Hilfe bekommen konnten. Den Rest erledigte dann die Mundpropaganda.

Da wir das Wochenende über zusammen mit Louis, Dirk und Marc verschärft trainieren wollten, hatten die uns dann auch noch begleitet, während Robin und Frank wieder einmal die „Burg“ hüteten und sich um alles weiter kümmerten.

Unruhig wälzte ich mich umher, bis Julian sich endlich erbarmte und mich fest an sich zog. Innerhalb weniger Augenblicke wurde ich ruhiger, und dennoch hatte ich wieder so ein mieses Gefühl. Etwas braute sich zusammen, etwas Ungewöhnliches war im Gange. Ich hatte dies schon viel zu oft erlebt, als dass ich mich täuschen konnte. Grübelnd, was es denn sein könnte, schlief ich dann endlich ein.

9. - Moon Over Bourbonstreet

There's a moon over Bourbon Street tonight

I see faces as they pass beneath the pale lamplight

I've no choice but to follow that call

The bright lights, the people, and the moon and all

I pray everyday to be strong

For I know what I do must be wrong

Oh you'll never see my shade or hear the sound of my feet

While there's a moon over Bourbon Street

aus „Moon over Bourbon Street“ von Sting

Campus-Occursus, Samstag, 15.12.2035

Etwas Schweres lag auf meinem Brustkorb, und dieses Etwas schlief noch tief und fest. Als ich mich überwinden konnte die Augen zu öffnen, erkannte ich Julian, der mich fast völlig vereinnahmte. Lächelnd begann ich seinen Rücken zu streicheln, ab und zu glitt meine Hand dann auch etwas tiefer.

Zusammen mit unseren drei „Kandidaten“ wollten wir das ganze Wochenende verbringen, um sie einfach noch besser kennen zu lernen und gemeinsam zu trainieren. Deshalb vertrat Eric uns, als offizielles Mitglied der Iratus Lemurum, bei dem Treffen mit Boris. Doch jetzt war erstmal wieder eine Runde Gruppenknuddeln angesagt. Da Julian nun nicht mehr so tat, als ob er schlafen würde, konnten wir alle zusammen, das heißt Lukas, Tom, Julian und ich, endlich wieder einen schönen Morgen erleben.

Leider war selbst das Wochenende ziemlich verplant. Gleich nach dem Frühstück begannen wir mit dem Qi Gong-Training. Mir blieb nicht verborgen, dass uns Takashi dabei mit gerunzelter Stirn beobachtete. Anscheinend gefiel ihm einiges von dem, was er da sah, nicht so recht.

Danach war gemeinsames PSI-Training angesagt. Wobei wir immer mal wieder feststellten, dass auch wir von unseren Schülern noch einiges lernen konnten. Dirk zum Beispiel war einfach ein unglaublich guter Teleorter und Telekinet. Das mit dem Teleorten war vielleicht nicht sonderlich verwunderlich, wenn man bedenkt, dass er blind war. Dennoch, gegen ihn war selbst Lukas, unser bester Teleorter, ein Dilettant.

Nach dem Mittagessen besuchten wir Benny, dem es schon wieder etwas besser ging. Doch wieder fiel mir auf, dass seine Kapazität gestiegen war. Sie war sogar beträchtlich angestiegen. Ohne darauf einzugehen, sahen wir uns nur fragend an. Was ging da mit Benny vor? Wieso stieg seine Kapazität derart an?

Da wir noch einiges vor hatten, gönnten wir uns erst noch eine weitere Stunde Qi Gong. Bei dieser Gelegenheit begann Takashi uns sehr zurückhaltend, wie es seine Art war, „kleine“ Verbesserungen vorzuschlagen, die wir dann auch sogleich umsetzten, oder wenigstens versuchten umzusetzen.

Danach war wieder PSI-Training angesagt. Diesmal führten wir Dirk den ForceFight vor, da er als einziger der drei auch Telekinet war. Takashi, der uns auch dabei beobachtete, war nun sichtlich beeindruckt. Zwar waren selbst die Bewegungsabläufe von Julian unserem „Meister“ nicht perfekt genug, dennoch war er sehr erstaunt über die Möglichkeiten, die wir damit hatten.

Für ihn war die „Mutanten“-Art zu kämpfen einfach nur faszinierend. Wobei er Toms Kampfstil als brachial bezeichnete. Bei mir war ihm alles zu mechanisch und zu einstudiert. Lukas war viel zu verspielt und nur Julian fand einigermaßen Gnade vor seinen Augen. So verbrachten wir dann den Rest des Tages damit, uns unter seiner Anleitung etwas zu verbessern, wobei er sich fast ausschließlich auf Dirk konzentrierte und uns meist nur korrigierte.

Als ich zum Abschluss ein weitere Qi Gong-Stunde ansetzte, hatten wir ihn endlich soweit, dass er bereit war, uns von nun an richtig zu unterrichten. Natürlich war ihm klar, dass wir es darauf angelegt hatten. Aber uns blieb sonst nur die Alternative des Holotrainer, den er gerade einmal als hilfreich bewertete. Uns sollte und konnte dies nur recht sein, denn nun hatten wir einen echten Trainer und Meister.

Louis hatte Takashi danach noch nach Hause „gebracht“, da er noch einiges vorbereiten wollte, bevor er bei uns als Lehrer anfing. Unterdessen saßen wir mit Benny zusammen, der aber anfing, einen sichtlich nervösen Eindruck zu machen, nachdem Takashi gegangen war. Immer wieder sah er aus dem Fenster in die vom Vollmond beschiedene Winterlandschaft. Der gefrorene See lag funkelnd und glitzernd in dessen kaltem Licht und regte zum Träumen an. Wir alle waren jedoch vom Training viel zu ermattet, um dies noch so richtig zu würdigen. So verabschiedeten wir uns dann auch bald von Benny und gingen zu Bett.


Etwas hatte mich geweckt. Mein Blick glitt zur Uhr, es war 3 Uhr 34. Aber was hatte mich geweckt? War es ein Schrei? - Nein!

Es war etwas anderes, es war eine psionische Explosion, eine Schockwelle, ähnlich der beim Tod von King Roy. Nur diese war bei weitem schwächer, und sie trug keine Signatur. Dies alles erfasste ich innerhalb weniger Augenblicke. Ich wollte Julian wachrütteln, doch dieser war auch schon selbst erwacht und zusammen lauschten wir in die Nacht.

Als Tom gerade aufstand, begann der Kommunikator zu fiepen. Es war diese Art von nervendem Fiepen, das selbst Tote zum Leben erwecken konnte. Jemand befand sich im Haus! Dies war eindeutig eine Einbruchswarnung. Doch wer war so verrückt bei uns einzubrechen? »»Jedenfalls niemand, der weiß wer wir sind!««, pflichtete mir Julian bei.

»»Oder jemand wie „King Roy“, der glaubt, uns grenzenlos überlegen zu sein. Doch davon dürfte es nun nicht mehr all zu viele geben««, sinnierte Lukas.

»»Nicht, wenn er mitbekommen hat, wie es „King Roy“ ergangen ist««, grummelte nun auch Tom, der es nicht ausstehen konnte, mitten in der Nacht geweckt zu werden.

Währenddessen waren wir längst dabei uns anzukleiden. Instinktiv hatten wir uns für unsere neuen Kampfanzüge entschieden, was mir sagte, dass nicht nur ich mich bedroht fühlte.

Ein Monitor auf dem Kommunikator leuchtete auf und Martins Gesicht erschien. Er war hier auf dem Campus für die Sicherheit verantwortlich. Ein kurzes Lächeln huschte über sein Gesicht, als er unsere Kleidung sah und erläuterte: »Wir haben ein gewaltsames Eindringen in der 3. Etage eures Wohnblocks detektiert. Es ist das Zimmer von Benny! Ein Sicherheitsteam ist unterwegs, aber ich denke, ihr wollt euch selbst darum kümmern?«

Benny! Plötzlich erinnerte ich mich an seinen nervösen Blick aus dem Fenster. Hatte er geahnt, dass da draußen etwas auf ihn lauerte? Warum hatte er nichts gesagt?

Doch Martin erläuterte weiter: »Die Außensensoren habe keine Annäherung einer Person registriert, jedoch entfernt sich jetzt jemand ungewöhnlich schnell vom Gebäude in Richtung Wald. Ich halte diesen Kanal offen.«

Nachdenklich nickte ich ihm zu und ging durch die Wand in das Apartment neben uns, in dem Louis, Dirk und Marc nächtigten. Sie standen sich zwar nahe, aber längst nicht so nahe wie Lukas, Tom, Julian und ich. Jeder lag in seinem eigenen Bett, besser gesagt, hatte gelegen. Denn auch hier war der Alarm ertönt und die Jungs waren längst aufgestanden. Auch sie trugen die neuen Anzüge, mit denen wir sie eigentlich erst vertraut machen wollten. Nun erschienen Julian, Tom und Lukas ebenfalls durch die Wand.

»Ich nehme an, ihr wollt uns sagen: „Dies ist keine Übung.“«, murmelte Dirk etwas verschlafen und verschloss seine Panzerweste.

»Stimmt, jemand oder etwas ist in Bennys Zimmer eingedrungen, aber scheinbar schon wieder auf der Flucht«, bestätigte ich und synchron mit Julian griff ich nach Louis.

Der verstand diese Aufforderung auch sofort und in derselben Sekunde standen wir vor Bennys Zimmer. »»Ist doch ein pfiffiges Kerlchen««, grinste Julian, da Louis uns nun die Gelegenheit gab als Ghost in das Zimmer einzudringen.

Nebenbei erfasste ich, dass Tom und Lukas sich bei mir eingeklinkt hatten. Dirk hatte sich mit Lukas zusammengeschlossen und tastete das Gebäude ab, während Tom es übernahm mit Martin Kontakt zu halten.

Der Raum von Benny war leer, das Fenster aufgebrochen und im Schnee, drei Stockwerke tiefer, sah man Spuren, die auf den Wald zu führten. Vollmond und Schnee ergänzten sich in idealer Weise - die Sicht war wirklich hervorragend. Und während ich noch die Spuren im Schnee betrachtete, sprach Julian aus, was mir an ihnen so seltsam erschien. Es waren die Spuren eines Tieres, oder jedenfalls von etwas, das vier Beine zur Fortbewegung nutzte. Ein Morlock, hier?

Telekinetisch öffnete ich die Tür und Louis folgte dieser stummen Einladung. Da hallten auch schon die schweren Stiefel des herannahenden Sicherheitsteams durch den Gang. Schweigend zeigte ich auf den Rand des Waldes und in der Sekunde, in der ich seine Hand auf der Schulter spürte, waren wir auch schon da. »Daran könnte man sich gewöhnen - nicht?«, grinste Louis, der meine Gedanken erraten hatte.

Dann sahen wir betroffen auf die Spuren, und ein Schauer fuhr mir den Rücken hinab. Eindeutig war Blut im Schnee zu erkennen. Wir zögerten nun keine Sekunde mehr. Sogleich hetzten Julian und ich durch den kniehohen Schnee, immer den Spuren nach, während Louis ständig hinter uns her teleportierte. Da wir nun mit ForceSpeed rannten, konnte er uns unmöglich auf normalem Wege folgen. Doch falls Benny verletzt war, war es besser, wenn er in der Nähe blieb.

Immer tiefer drangen wir in den Wald ein. Mit weiten Sprüngen und höchster Konzentration brachen wir eine Schneise durch den dichten Wald. Nur durch Teleortung gelang es uns, einigermaßen sicher durch das vom Schnee bedeckte Unterholz zu kommen. Kleine Schneelawinen brachen, von den in ihrer winterlichen Ruhe gestörten Bäumen, auf uns und Louis nieder. Dieser hatte immer wieder das Pech genau dann zu erscheinen, wenn die von uns ausgelöste Schneeladung herunterprasselte. Dann erreichten wir eine Lichtung, auf der die Bestie saß, die in Bennys Zimmer eingedrungen war.

Das Vieh trug sogar Bennys Hose, und als es sich zu uns umdrehte - da erkannte ich sogar Bennys Gesichtszüge unter dem mit Fell bedeckten Gesicht. Es bedurfte dann nicht einmal mehr Bennys Stimme um uns klar werden zu lassen, wen wir da verfolgt hatten. Auch etwas anderes wurde uns unmittelbar klar. Wir wussten nun, wie Boris auf diese Morlock-Geschichte gekommen war.

Während uns Benny nur mit traurigen Augen ansah, stöhnte Louis überrascht hervor: »Benny? - Du bist ein Biomet?«

Noch überraschter als wir, denn wir wussten nicht so genau, was Benny seiner Ansicht nach denn nun war, schien Benny selbst zu sein. Völlig fassungslos sah er Louis an, der locker auf ihn zuging. Erst als der Bennys Überraschung realisierte, blieb er stehen. Nachdenklich sah er Benny an, um dann den Blick in den Himmel zu richten: »Du glaubst doch hoffentlich nicht, dass du so etwas wie ein Werwolf bist?«

Doch als Benny noch geknickter als bisher dreinschaute, brüllte Louis los vor Lachen. Dann legte er die letzten Schritte zu Benny zurück und murmelte nur noch: »Du dummer Junge, wer hat dir denn so einen Unsinn eingeredet? Wie bist du bloß auf so eine bescheuerte Idee gekommen?«

Auch wir waren zu unserem „Werwolf“ gegangen und betrachteten ihn eingehend. Seine zu einer Tatze verformte Hand war blutig, denn er hatte sich beim Aufbrechen des Fensters verletzt. Gemeinsam teleportierte uns Louis zurück in die Wärme unseres Zimmers, wo die anderen auf uns warteten.


Louis hatte für Benny eine Decke organisiert, während ich Martin beruhigte. Zusehends entspannte sich die Lage und es war dann Dirk, der uns erklärte, was es mit den Biomets auf sich hatte. Sie galten als „verunglückte“ Heiler, wohl der Grund, warum auch nie viel darüber gesprochen wurde. Biomet war die Kurzform für Biometabolist, und im Gegensatz zu Heiko, unserem Pseudometabolisten, war es ihr echter Körper, den sie veränderten. Doch sie konnten ihren Körper in nur sehr engen Grenzen verändern, die Masse blieb immer gleich und der Größenänderung waren enge Grenzen gesetzt.

Benny konnte sich also nicht in eine Maus „verwandeln“. Soweit Dirk wusste, beschränkten sich die meisten Biomets darauf, die Gestalt anderer Menschen nachzuahmen. Sei es um damit „Geschäfte“ zu machen oder einfach nur als Spaß. Als „verunglückte“ Heiler galten sie deswegen, weil sie im Prinzip sehr ähnliche Fähigkeiten hatten, nur dass sie diese nicht auf andere wirken lassen konnten.

Doch da stellte sich bei uns natürlich die Frage, warum Benny sich nie selbst geheilt hatte. Dass er ein Biomet war, hatte er nach langem Zureden von Louis selbst bewiesen. Louis übernahm dabei „unsere“ Herangehensweise und ließ Benny Zeit sich zu konzentrieren. Dann griff Benny telepathisch nach Louis, der das auch unterstützte. Nach und nach veränderten sich die Gesichtszüge von Benny. Er wurde zu einem Louis-Zwilling. Erst als dies gelungen war, schien Benny endlich zu akzeptieren, dass er wirklich kein Werwolf war.

Nachdem dies geklärt war, wollte ich nur noch duschen und schlafen. Zusammen mit Julian verzog ich mich in unser großes Bad, um schon nach wenigen Augenblicken von Louis gestört zu werden.

»Kann ich bei euch duschen? Bei uns geht die Heizung nicht.«

»Klar, aber warum habt ihr nichts gesagt? Hier gibt es doch genug freie Apartments«, rief ich.

Louis drehte sich um, als Julian nun rief: »He, Louis, also wenn es dich nicht stört - hier ist genug Platz.« Dabei warf er mir einen schiefen Blick zu, so als überlege er sich gerade, ob dies eine gute Idee sei.

Als Louis mich dann genauso ansah, hob ich resignierend meine Arme. »Okay, okay, ich werde mich zurückhalten.«

Was die beiden nur hatten? Nur, weil ich mal gedacht hatte, dass Louis eigentlich ganz schnuckelig sei. OK, ich hatte mir wirklich auch vorgestellt, wie ich ihm den „Ghost“ machen würde. Aber das konnte er doch nicht wissen. Außerdem war ich viel zu müde für so etwas, also wirklich, was dachten denn die von mir...

Da zu unserem Apartment auch eine Sauna gehörte, gab es keine Duschkabine, sondern einen richtigen Duschraum. Wir hatten also wirklich mehr als genug Platz. Doch während mir Julian massierend den Rücken einseifte, rückte mir Louis immer näher. Und so verflog meine Müdigkeit doch recht schnell, denn Louis wäre bestimmt niemand, den ich von der Bettkante stoßen würde, jedenfalls nicht um ihn zu vertreiben.

»»Wo ist nur der zurückhaltende, passive Mike geblieben?««, spottete Julian in meinen Gedanken.

»»Den hast du mir ausgetrieben.««

»»Also, wenn er will, ich habe nichts dagegen. Er ist wirklich süß.««

Huch, war das der Julian, der ihn noch vor kurzem als Napoleon gesehen hatte?

»»Ach, jetzt hab dich nicht so! Ja, ich finde ihn sehr nett. Und er dich offensichtlich auch. Wenn er dir noch näher rückt, spießt du ihn noch auf.««

Das mit der Nähe, stimmte schon, aber das mit dem Aufspießen war doch etwas übertrieben. Auch, wenn der kleine Mike inzwischen munter geworden war, was nun auch Louis zur Kenntnis genommen hatte.

Denn er grinste mich nun ziemlich frech an und sah dann zu Julian.

Schnell kamen wir uns näher, viel näher, als wir doch eigentlich vorgehabt hatten. Oder hatte ich von Anfang an darauf spekuliert?

Louis hatte mich wirklich schon sehr lange gereizt und nun war es doch so weit gekommen. Er stand vor mir, sich mit den Händen an der Wand abstützend und präsentierte mir geradezu seinen knackigen Hintern. Wer konnte da schon widerstehen?

Nun, den Rest kann man sich denken! Es war in der Hauptsache einfach nur Sex - geiler, hemmungsloser Sex. Julian und ich „vernaschten“ ihn regelrecht und unser „Kleiner“ stieg voll darauf ein.

Völlig ausgepowert hielt ich ihn schließlich in meinen Armen, seine strubbeligen schwarzen Haare waren noch stärker zerzaust als sonst. Doch seine dunkelbraunen Augen strahlten in ungekannter Helligkeit. Einerseits müde und doch aufgeputscht und ausgelassen standen wir noch immer in der Dusche und versuchten unserer Gefühle Herr zu werden.

Louis war, nicht nur wenn es darum ging seine Fähigkeiten herauszustellen, wirklich sehr temperamentvoll. Kuschelnd und streichelnd seiften wir uns noch einmal gegenseitig ein, um wenig später zu den anderen zurückzukehren.

Wie es schien, war es denen auch nicht langweilig geworden. Zumindest Tom und Lukas vergnügten sich mal wieder sehr ausgiebig, aber auch Marc und Dirk waren sich offensichtlich näher gekommen. Zum Glück hatten wir eine große Spielwiese, immerhin zwei zusammengestellte Kingsize-Betten. So fanden wir dann auch noch ein Plätzchen für uns, ohne die anderen in ihrer Interaktion zu stören. Eigentlich wollten wir dieses Wochenende nutzen, um unsere neuen Partner näher kennen zu lernen. Doch, dass es so nahe werden würde, daran hatten wir wirklich nicht gedacht.

Das Erstaunliche für uns war, dass Dirk, Louis und Marc bisher untereinander nie so weit gegangen waren. Sie mochten sich einfach nur. Doch da unsere Duschorgie mit Louis ihnen nicht verborgen geblieben war, hatte sie dies dann auch sehr angeregt. Julian und ich kümmerten uns nun auch noch ein wenig umeinander, während sich Louis zu Benny legte, der von der ganzen Werwolf-Sache doch sehr mitgenommen war. So war er im Moment wohl schon zufrieden, dass er sich ein wenig an Louis kuscheln durfte.


Nach dieser anstrengenden Nacht schliefen wir entsprechend lange und ließen alles gemütlicher angehen als geplant. Andererseits waren wir uns nun wirklich sehr viel näher gekommen. Keinem von uns war es peinlich, was da in der Nacht geschehen war und so konnten wir den Tag so richtig genießen.

Wir nahmen uns dann auch sehr viel Zeit, um uns mit Benny und seinem Werwolf-Leben auseinanderzusetzen. Und das, was er uns da berichten konnte, war schon sehr heftig, selbst für Tom und Lukas, die ja selbst auch schon einiges erleben mussten. Denn was Benny uns dann diesen Vormittag nüchtern berichtete, war für uns ein kleiner Schock. Wir hatten gewusst, dass Takashi sein Pflegevater war, jedoch wieso und warum, davon hatten wir keine Ahnung gehabt.

Bennys Geschichte rührte uns alle, doch gerade Tom, Lukas und Louis fühlten sich besonders angesprochen. Wie auch Tom, so hatte Benny schon von Kindheit an mit einem herrsch- und trunksüchtigen Vater zu kämpfen. Erschwerend kam bei ihm hinzu, dass er auch noch eine desinteressierte, ihn ablehnende Mutter hatte. Immer, wenn sein Vater nicht anwesend war, jammerte sie ihm vor, wie viel besser es ihr ohne ihn ergangen wäre. Dies gipfelte dann regelmäßig in solchen Nettigkeiten wie: „Ich wünschte, du wärst nie geboren worden.“

Seinem Vater war er zu „verweichlicht“, zu „schmächtig“, zu „kränklich“, und er sorgte auch immer dafür, dass es so blieb, wenigstens was das kränklich betraf. Denn fast täglich wurde Benny aus nichtigen Anlässen verprügelt und gedemütigt. Sein Wunsch es ihnen einmal, wenigstens ein einziges Mal zu zeigen, ihnen auch einmal solche Qualen zuzufügen, wie sie sie ihm zufügten, wurde langsam übermächtig.

Wenige Tage nach seinem 14. Geburtstag geschah dann das Unfassbare. Es war Anfang Dezember, sein Vater hatte gerade einen neuen Job als Forstaufseher bei einem reichen Grundbesitzer angetreten. Sie mussten ihn in seiner Waldhütte „besuchen“, weil er so stolz auf seinen neuen Job war. Benny hatte fast den ganzen Tag mit dem 19-jährigen Sohn des Grundbesitzers verbracht. Der war unheimlich nett zu ihm, hatte ihm das ganze Anwesen gezeigt und er durfte sogar auf einem Pony reiten.

Doch als er abends zurück zur Hütte kam, zum ersten Mal seit langer Zeit fröhlich, brach die Hölle über ihn herein. Er hatte weder gewusst noch geahnt, dass der Junge schwul war, doch sein Vater wusste es. Und für den war dann auch alles klar: Dies war der Grund, warum Benny kein echter Kerl war! Völlig besoffen wie er war, verprügelte er Benny, beschimpfte ihn als abartig, schwul, pervers...

Angestachelt durch das ständige Giften seiner Mutter wollte sein Vater ihm diese Abartigkeiten austreiben. Dabei hatte Benny bis zu diesem Zeitpunkt nicht einmal geahnt, dass er schwul sein könnte. Benny erinnerte sich dann nur noch, wie er nackt auf dem Tisch lag und hörte wie seine Mutter seinen Vater anfeuerte, „es“ nun endlich zu tun. Dann hörte er draußen einen Wolf heulen, ein furchtbar lautes, verstörendes Heulen.

Doch die nächsten Schreie waren kaum leiser - diese kamen jedoch aus der Hütte. Sein Vater brüllte, wobei er auf seinen halb abgetrennten Arm starrte. Dann zerfetzte eine Pranke, die plötzlich in Bennys Blickfeld kam, die Kehle des Vaters. Seine Mutter wich kreischend vor ihm zurück. Verängstigt suchte sie nach einem Ausweg - doch es gab keinen!

Wieder war es die Pranke, die sie mit einer schnellen Bewegung förmlich aus Bennys eingeengtem Sichtfeld wischte. Er hörte, wie sie gegen die Wand geschmettert wurde. Dann sah er, wie ihr aus einer klaffenden Wunde am Bauch Blut strömte. Mit ihren Händen versuchte sie, am Boden kriechend, ein Versteck zu finden. Doch sie kam nicht weit, nicht in diesem Leben. Mit einem hässlichen Geräusch brach die Pranke ihr mit einem Hieb das Genick.

Benny konnte uns nicht erzählen, was er mit ihnen noch angestellt hatte, letztlich erinnerte er sich nur noch daran, dass überall Blut war und ihre zerfetzten Körper am Boden lagen.

Dann erinnerte er sich, dass da eine Präsenz war, etwas Unheimliches, etwas Mächtiges. Er wusste, dass die Tür aufflog, doch er konnte nicht beschreiben, wer oder was da in der Tür stand. Er erinnerte sich dann nur noch, dass er wieder das berstende Geräusch von Knochen hörte und sah, wie Wölfe die Überreste seines Vaters und seiner Mutter aus der Hütte schleiften.

Am nächsten Morgen wachte er bei Takashi auf, der ihm nur bestätigte, dass seine Eltern tot waren. Ein Mutant hatte ihn noch in der Nacht zu ihm gebracht. Offiziell waren seine Eltern trotz Warnung unvorsichtig gewesen und von einem Rudel hungriger Wölfe zerfleischt worden. Er selbst sei den ganzen Tag bei seinem „Lehrer“ Takashi gewesen. Niemand zweifelte an dieser Version, da sie auch von anderen bestätigt wurde. Das Wohlfahrtsbüro akzeptierte Takashi als Pflegevater, bei dem Benny seitdem wohnte.

Takashi war es auch, der ihn lehrte, diese Energie, die in ihm strömte, abzuführen, damit sie sich nicht anstaute. Dies gelang ihm auch die nächsten beiden Jahre. Doch dann war er mit Carlo eines Nachts unterwegs, als sie von einer Gang überfallen wurden. Wieder war es Vollmond und wieder brach der Wolf in ihm hervor. Diesmal tötete er zwar nicht, die Jungs konnten rechtzeitig fliehen, doch er wurde anscheinend von Boris gesehen.

Es war Carlo, der ihm zusprach und zu ihm hielt. Dennoch war es Benny nun klar, dass er ein Werwolf sein musste, und nur mit den speziellen Qi Gong-Übungen verhindern konnte, dass er zum Wolf wurde. Doch als er hier verletzt im Bett lag, kam er nicht dazu die Übungen zu machen, so wurde er in der Nacht wieder zum Wolf. Damit er niemanden verletzen konnte, brach er aus und flüchtete in den Wald.

Benny hatte geendet und sah uns nun wieder mit seinen traurigen Augen an. Tom und Louis saßen bei ihm und bemühten sich ihn zu trösten. Unter diesen Gesichtspunkten verstand ich, dass er sich für einen Werwolf hielt, aber...: »Warum hat Takashi dich nie unterrichtet? Ich meine, warum hat er dir nicht gesagt, dass du ein Mutant bist und dass alles nur ...?«

Doch Benny schüttelte in stummer Verzweiflung den Kopf: »Takashi hält nicht so viel von Mutanten. Er glaubt, ihr stört das natürliche Gleichgewicht. Erst, als er euch kennen gelernt hat, änderte sich diese Einstellung. Du weißt doch wie Mutanten sind, die suchen nicht gerade Kontakt zu Normalos. Er hatte einfach keine genaue Ahnung was ich war. Die Telepathie habe ich auch nur mehr zufällig entdeckt«

Ich musste es mir verkneifen, ihm zu sagen, dass ich seine Telepathie auch nur zufällig entdeckt hatte, so schwach wie er war. Aber das würde sich nun bald ändern, wir würden auch ihn schulen. Auch musste er lernen seine Fähigkeiten zu akzeptieren und zu beherrschen. Doch eine andere Frage war noch ungelöst: »Du hast gesagt, ein Mutant habe dich zu Takashi gebracht. Wer war das und warum zu Takashi?«

»Wir wissen es nicht, ich glaube manchmal, es könnte der Sohn des Gutsbesitzers gewesen sein. Aber ich kann mich an den nicht mehr erinnern! Takashi hat mir gesagt, der Mutant habe mir die schlimmsten Emotionen neutralisiert.

Ich weiß größtenteils, was geschehen ist, ich fühle aber nichts dabei. Ich sehe noch ihre entsetzten Blicke, aber ich verspüre weder Mitleid noch Befriedigung. Auch verschiedene andere Dinge sind einfach weg. Viele Einzelheiten sind wie weggewischt. Ich weiß wirklich nicht, woher die Wölfe kamen oder wer da in der Tür stand, es war aber ein Mensch, da bin ich mir sehr sicher.«

Nachdenklich sahen wir ihn an und ich tastete ihn vorsichtig ab. Da war tatsächlich etwas - ein Hypnoblock, ein Block ungeheurer Stärke. Wer auch immer das gemacht hatte, er wollte sichergehen, dass Benny nie mit diesem Ereignis konfrontiert wurde. Den Block zu brechen, würde Benny den Verstand kosten, dessen war ich mir sicher.

»Weißt du noch, wie die Leute hießen, für die dein Vater arbeiten sollte?«, fragte Lukas und etwas Alarmierendes lag in seiner Stimme.

»Ja, ich habe es dann in dem Polizeibericht gefunden. Sie heißen Walleras!«

Betroffen sahen wir uns an. Ich wäre nicht erstaunt, wenn deren Sohn Leon heißen würde. Leon Walleras, der uns beim Kampf gegen King Roy geholfen hatte. Er war es auch gewesen, der uns gesagt hatte, dass man Hypno-Kräfte nur einsetzen dürfe, um anderen zu helfen. Ich war mir sicher, dass er es war, der Benny vor dem Schlimmsten bewahrt hatte. Jetzt war er mit Patrick in Australien, um ihn zu einem „guten“ Hypno zu machen. Die Welt war manchmal wirklich verdammt klein.

»Wir kennen einen Leon Walleras, er ist ein Telepath und Hypno«, sagte Julian mit ruhiger Stimme. Dann sendete er Benny das Bild von Leon. Für ein paar Sekunden schien so etwas wie Erkennen in Bennys Augen aufzuleuchten, doch sicher war ich mir nicht. Wir würden Leon bei Gelegenheit einmal fragen. Sicherlich würde er sich dafür interessieren was aus Benny geworden ist.

»Dann hat er die Wölfe gerufen?«, fragte Benny und unterbrach meine Gedanken.

»Ich denke, Ja. Er ist ein sehr starker Hypno, das was du über die Präsenz erzählt hast, würde sehr gut zu ihm passen. Und als Hypno fällt es ihm sicherlich nicht schwer Tiere zu beeinflussen«

Wir waren alle noch immer sehr mit Bennys Schicksal beschäftigt. Nach all dem, was da passiert war, gelang es ihm ein Stipendium zu erlangen. Nur um dann an der Schule auf Boris und seine Jungs zu treffen, die glaubten ihn schikanieren zu müssen.

»»Und wir haben gesagt, von Benny würde keine Gefahr ausgehen. Boris hatte wirklich Glück, dass Benny mehr Angst vor seinen Fähigkeiten als vor ihm hatte««, Julian sah mich leicht spöttisch dabei an.

»»OK, ich habe mich geirrt, aber auch du warst der Meinung, mit so geringer Kapazität könne er einfach nichts gefährliches tun. Wer konnte schon auf die Idee kommen, dass er morgens immer alle PSI-Energie verbraucht?««

Plötzlich zuckte Julian zusammen: »»Nach Sammys Theorie müsste seine Kapazität dann aber inzwischen ziemlich groß sein, ich meine, sobald er es zulässt, dass sie sich staut.««

»»Eigentlich schon. Aber ich denke, wir sollten das erst schrittweise ausprobieren. Jemand von uns sollte sich um ihn kümmern. Wenigstens so lange, bis er damit klar kommt, dass er kein Werwolf sondern ein Gestaltswandler oder Biomet ist««, gab ich zu bedenken.

Jetzt grinste Julian wieder und nickte bezeichnend mit dem Kopf in Richtung Benny »»Ich denke, er hat seinen Mentor schon gefunden.««

Gerade war Benny noch ein Stück näher an Louis herangerückt. Louis legte sonst immer so großen Wert darauf „Mutant erster Klasse“ zu sein. Zu den Hoods wahrte er immer eine gewisse Distanz. Doch Benny schien er ins Herz geschlossen zu haben. Es war kein Annäherungsversuch, für ihn war Benny mehr der kleine Bruder.

»»Nur im Moment. Es würde mich wundern, wenn Benny die Rolle des kleinen Bruders genügen würde. Er wollte gestern schon mehr, und Louis zu erobern, lohnt sich. Oder was meinst du?««, Julians telepathisches Feixen war unüberhörbar.

Aber wo er Recht hatte... Louis war wirklich eine Sünde wert und Benny sollte man nicht unterschätzen. Der Gauner hatte uns auch ganz schön hinters Licht geführt.


Den Rest des Tages verbrachten wir dann mehr oder weniger mit Faulenzen. In der Schwimmhalle, unter der Kuppel unseres Wohnblocks, führte Marc uns seine Flugkünste vor. Julian, Tom, Lukas und ich testeten währenddessen unsere Hydrokinese. Es war wirklich unglaublich - wir konnten regelrechte Brücken aus Wasser bauen, die auch wirklich einen Menschen tragen konnten.

Louis hatte uns darauf gebracht. Er war, was ich ab und zu vergaß, auch Aerokinet. Er konnte die Luftmoleküle erfassen und somit auch manipulieren. Dies war der eigentliche Grund, weshalb wir überhaupt die Unterscheidungen zwischen Aerokinese, Hydrokinese, Elektrokinese, Thermokinese, Photokinese, ...und „nur“ Telekinese machten. Alle diese Fähigkeiten basierten auf der Telekinese, also der Manipulation von Materie. Der reine Telekinet erfasste jedoch nur die Materie, die er direkt sah: Steine, Sand, Gegenstände, ...Moleküle, Elektronen und dergleichen konnte man nicht sehen und somit auch nicht manipulieren.

Als Hydrokinet erfasste man nun plötzlich die Wassermoleküle und konnte auf diese seine Kräfte anwenden. Ein weiterer, sehr seltsamer Effekt dieser „speziellen“ Telekinese war der, dass man dazu weit weniger Energie benötigte als ein Telekinet. Ich hatte dies schon einmal im Labor bemerkt, als Julian den Whirlpool mit über 600 Litern Wasser innerhalb von 10 Sekunden von 18°C zum Kochen brachte. Dies entsprach einer Leistung, die in der Größenordnung von ca. 20.000 Kilowatt lag. Doch mit der reinen Telekinese konnte er nur eine wesentlich geringere Leistung vollbringen.

Ähnlich sah es auch mit Dirks Photokinese und Telekinese aus. Zwar war Dirk ein wesentlich stärkerer Telekinet als wir, doch auch bei ihm blieb die telekinetische Hebe-Leistung weit hinter seiner photokinetischen Licht-Leistung zurück.

Wenn Dirk einen Lichtblitz hoher Intensität erzeugte, dann ähnelte dies mehr einem extrem starken Laser als einem einfachen Lichtstrahl. Und dieser Strahl ging dann von ihm zum anvisierten Ziel. Wenn er ein Ziel anvisierte, stellte er eine Verbindung zwischen sich und dem Ziel her. Sobald er dann die Energie freigab, entstand dieser Lichtstrahl entlang der Verbindung. Doch er konnte auch „nur“ die ganze Luft „flimmern“ lassen.

Louis als Aerokinet konnte seine Kräfte auf die Luftmolekühle wirken lassen. Wenn er ein Tiefdruckgebiet um mich aufbaute, dann blieb mir wirklich die Luft weg. Einen anderen „Trick“ hatte er uns auf dem Schießstand vorgeführt. Er konnte eine relativ stabile Mauer aus Luft um sich aufbauen.

Geschosse, die auf diese trafen, wurden abgelenkt, abgebremst oder verglühten teilweise einfach - wie ein Raumschiff, das ungebremst in die Atmosphäre eintritt. Dort war es die Geschwindigkeit, die selbst die dünne Luft zur Mauer macht. Bei Louis war er es, der die Luft entsprechend „dick“ machte. Der Effekt war in beiden Fällen der gleiche.

Doch auch hier zeigte sich das von Lukas schon einmal erwähnte Problem. Unsere Fähigkeiten eröffneten uns so viele Möglichkeiten, dass wir einfach nicht alle voll ausschöpfen konnten.

Dirk war der stärkste Telekinet, den wir bis jetzt getroffen hatten, doch er selbst sagte, dass es noch weit stärkere gab. Waren wir von Dannys Elektrokinese beeindruckt, so übertraf Marc sie dann doch um einiges.

Wir waren zwar auch stark, doch vieles kam bei uns durch die Kapazität und nicht, wie bei den anderen durch die Effizienz. Doch bei der Sammlung an Fähigkeiten, die wir, insbesondere Julian und ich, inzwischen angesammelt hatten, war es schwer auf Effizienz zu trainieren. Und zu allem spielte ich noch immer mit dem Gedanken, mir auch noch die Teleportation zu „besorgen“. Obwohl er sich der Begleiterscheinung durchaus bewusst war, hatte es mir Louis noch in der Nacht angeboten. Nach Nico war er nun der zweite, der bereit war, mir den „Ghost“, äh, den „Teleporter“ zu machen.

»»Nicht, bevor wir die drei zu echten Iratus Lemurum gemacht haben!««, kommentierte Julian meine Gedanken, der mal wieder bei mir mitdachte.

Lesemodus deaktivieren (?)