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Zwei von Millionen von Sternen

Teil 3

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Inhaltsverzeichnis

13

Völlig munter kam Timo an den Frühstückstisch, an dem schon sein Vater und seine kleine Schwester saßen. Er trug einen Bademantel über seinem kurzen Schlafanzug. So gut hatte er lange nicht mehr geschlafen. Er fühlte sich wie neugeboren.

"Verliebt müsste man noch einmal sein ...", seufzte seine Mutter theatralisch als sie aus der Küche kam.

Timo grinste. "Neidisch?"

Sein Vater hatte den Sportteil der Sonntagszeitung in den Händen. Er ließ die Zeitung sinken und sah sie erst geschockt und dann mit traurigen Augen an. "Was? Du bist nicht mehr verliebt in mich?"

Timo konnte sich nicht erinnern, seine Eltern so ausgelassen zu erleben. Er genoss es ebenso wie Sarah, die sich über das Schauspiel köstlich amüsierte.

"Kommt Mike heute wieder und spielt mit dir?", wollte sie wissen.

Timo lachte. "Ich weiß noch nicht, ob er zum Trainieren herkommt. Wir wollen noch telefonieren. Vielleicht besuche ich ihn zuhause."

"Meinst du, er hat mit seiner Mutter gesprochen?" Sein Vater legte die Zeitung zur Seite, sobald alle am Tisch waren. Das war ungeschriebenes Gesetz.

Timo zuckte die Achseln. Er hoffte es sehr, dass Mike mit seiner Mutter gesprochen hatte. Er hatte keine Lust mehr auf Heimlichtuerei und Versteckspiele.

Während des weiteren Frühstücks erzählte Sarah von ihren Erlebnissen im Zoo. Am meisten war sie von den Geiern entzückt gewesen, die aus dem Käfig heraus auf den Weg gepinkelt und ihren Vater nur um Haaresbreite verfehlt hatten. Nur ein hastiger Satz hatte ihn außer Reichweite gebracht. Die Lamas waren zielsicherer gewesen. Sie trafen ihren Vater mitten ins Gesicht. Timo musste lachen wie lange nicht mehr. Den glücklichen Blick, den sich seine Eltern zuwarfen, nahm er wohl wahr.

Als das Telefon klingelte, stürzte Timo sofort in den Flur, schnappte sich das Mobilteil und verschwand mit dem Telefon in seinem Zimmer.

"Timo Arndt?", meldete er sich atemlos.

"Hallo, mein Augenstern."

"Hallo, mein Schatz", flüsterte Timo. Er hatte Angst, dass alles vorbei sein könnte, dass er aus dem Traum erwachen würde, wenn er zu laut spräche.

"Hast du gut geschlafen?"

"Wie ein Toter. Aber nur halb so gut wie gestern Nachmittag."

Timo hörte Mike förmlich grinsen. Mike hörte sich sehr gut gelaunt an. Die Neugierde trieb Timo um.

"Hast du mit deiner Mutter gesprochen?", fragte er vorsichtig.

"Ja. Alles in Ordnung. Sie weiß auch von uns."

Timo fiel eine Last von der Seele. Vielleicht würde tatsächlich alles gut werden. Entschlossen verscheuchte er die dunklen Ahnungen, die sich ihm aufdrängen wollten.

"Möchtest du zu uns kommen, Timo? Meine Mutter würde dich gerne mal kennen lernen."

"Natürlich komme ich. Ich mache mich gleich fertig."

"Super. Und bring deine Judosachen mit. Wir müssen noch trainieren." Auf dieses Training freute sich Timo.

"Na klar." Timo überlegte kurz. War das der richtige Zeitpunkt? Sollte er es schon sagen? Ja, beantwortete er sich die Frage selbst. Timo gab sich einen Ruck.

"Mike?"

"Ja, mein Augenstern?"

"Ich glaube ..." Timo holte tief Luft und setzte noch einmal an. Er flüsterte fast. "Ich liebe dich, Mike."

Mit bangem Herzen wartete er auf Mikes Antwort.

"Ich liebe dich auch, Timo."

14

Der Sonntag war viel zu schnell vergangen. Timo hatte einen wunderbaren Tag verbracht. Mikes Mutter hatte ihn sofort in ihr Herz geschlossen und ihn in ihrer Kleinfamilie, wie sie sagte, willkommen geheißen. Was wollte Timo mehr?

Nachmittags hatte Mike ihm dann doch noch ein wenig Judogrundtechniken beigebracht. Es war ihnen sehr schwer gefallen, die Finger voneinander zu lassen, aber Timo wollte unbedingt weiterkommen. Außerdem hatten sie ja noch den Abend gehabt. Timo unterdrückte ein lustvolles Grinsen. Sie hatten die Zeit zu nutzen gewusst.

Jetzt war er auf dem Weg zur Schule. Erst zum Training am Abend würden sie sich wieder sehen. Timo seufzte.

Über Nacht war das Wetter umgeschlagen. Dunkle Gewitterwolken machten die Welt trist und grau. Es würde bestimmt bald losgehen. Elektrische Entladungen lagen spürbar in der schwülen Morgenluft. Das wird schon kein schlechtes Omen sein, versuchte Timo sich selbst zu beruhigen. Er konnte sein Unbehagen aber nicht ganz abschütteln.

Als Timo um die letzte Hausecke vor der Schule bog, sah er Sven mit seinen beiden beiden idiotischen Freunden Dick und Doof – ihre richtigen Namen wusste Timo nicht – am Tor zum Schulhof herumlungern. Sven war übertrieben lässig an die Mauer gelehnt.

Auf die Idioten hatte er nun wirklich keinen Bock. Aber bevor er umkehren und den Weg zum Seiteneingang der Schule nehmen konnte, deutete der Dicke auf ihn.

Timo straffte sich. Er setzte seinen Weg scheinbar unbekümmert fort, aber Dick und Doof versperrten ihm den Weg. Timos Eingeweide verkrampften sich und ein Gefühl des Déjà-vu überkam ihm. Er hatte ein verdammt ungutes Gefühl. Mit hasserfülltem Blick kam Sven auf ihn zu, baute sich zwischen seinen Handlangern vor Timo auf. Da Timo einen Kopf kleiner als Sven war, blieb ihm nichts übrig als zu Sven aufzuschauen.

"Hast wohl gedacht, wir kriegen das nicht raus?", zischte er bösartig.

Timos Gesicht verlor alle Farbe, aber er wollte nicht klein beigeben. Er wusste sofort, worauf Sven hinaus wollte. Genau den gleichen Gesichtsausdruck hatte das Arschloch aus seiner früheren Klasse gehabt, als er mit seinen Kumpanen auf ihn losgegangen war. Aber diesmal würde er nicht davonlaufen.

"Ich verstehe nicht", tat er ahnungslos. Sollte Sven doch aussprechen, was er meinte.

"Du weißt genau, was ich meine." Hohn und Verachtung verzerrten Svens Stimme, verliehen ihr einen unmenschlichen Klang. "Hast du geglaubt, wir würden nicht herausfinden, was du für eine perverse Sau bist?"

"Inwiefern?", fragte Timo trotzig nach. Er wollte, dass Sven es aussprach.

Das brachte Sven erst recht in Rage. Sekundenlang fehlten ihm die Worte. Er war es wohl gewohnt, andere sofort einzuschüchtern, ging es Timo durch den Kopf. Sven trat drohend ganz nah an Timo heran, der sich seinerseits Sven näherte, ihn fast berührte. Als Sven das bewusst wurde, brachte er sich mit einem Satz aus Timos Reichweite. Ekel und Hass mischten sich in Blick und Stimme.

"Fass mich nicht an du ...", er kam ins Stottern. "Du ... du schwule Sau." Die letzten Worte schrie er. Geifer sprühte aus seinem Mund. Sein Gesicht war zu einer Fratze verzerrt. Selbst Dick und Doof schienen erstaunt über diesen Gefühlsausbruch. Von der Lässigkeit von vor ein paar Minuten war nichts mehr übrig.

"Was willst du von mir?", fragte Timo trotzig und ging einen Schritt auf ihn zu. Etwas Mut war zurückgekehrt. Einige Schüler waren stehen geblieben und hatten zugehört, bildeten einen Halbkreis um sie. Hier würde Sven nichts unternehmen. Dazu war er zu feige. Aber als er dem Blick von Sven begegnete, wusste Timo, dass er auf der Hut sein musste. Dieser mörderische Blick war ihm nur allzu vertraut. Timo konnte sehen, dass Sven einen Entschluss gefasst hatte, der nichts Gutes bedeutete.

Sven trat noch einmal auf Timo zu. Eiseskälte lag in seiner Stimme: "Wenn du Schwuchtel dich noch einmal im Training blicken lässt, bringe ich zu Ende, was die an deiner alten Schule angefangen haben."

Mit diesen Worten ließ er Timo geschockt stehen. Die Schulklingel rief zur ersten Schulstunde. Das Gewitter entlud sich mit einem gewaltigen ersten Donnerschlag.

15

Timo war endlich auf dem Weg zum Training. Der Himmel hatte sich am späten Nachmittag erneut zugezogen, nachdem er tagsüber ein wenig freundlicher gewesen war und brütender Hitze Platz gemacht hatte. Er schien Timos Gefühlswelt zu spiegeln. Du spinnst doch, sagte sich Timo.

Die Unterrichtsstunden hatte Timo kaum wahrgenommen. Wie in Trance war der Tag um ihn herum abgelaufen, als wäre er gar nicht vorhanden. Er hatte nicht gewusst, wie er der Klasse sagen sollte, dass er schwul war. Es gab ja auch keinen Grund dafür. Er hatte es nicht verheimlicht. Es ging die anderen schlicht nichts an. Aber auf diese Weise hätte es nicht sein müssen. Ein paar tuschelten hinter seinem Rücken. Andere warfen ihm neugierige bis aufmunternde Blicke zu. Nur wenige schienen so wie Sven zu denken, der ihn keines Blickes gewürdigt hatte. Das war schon ein Riesenunterschied zu seiner alten Schule, in der auch der Fremdenhass gepflegt worden war.

Timo hatte zuhause nichts erzählt. Er wollte seine Eltern nicht unnötig ängstigen. Sie hatten so viel für ihn aufgegeben, um mit ihm in diese Stadt zu ziehen. Er würde sich diesmal nicht einschüchtern lassen.

Wie gerne hätte er mit Mike darüber gesprochen, ihn um Rat gefragt. Aber, wenn er ehrlich war, eigentlich war seine Entscheidung schon gefallen, da hatte Sven seine Drohung noch nicht vollständig ausgesprochen. Er würde schon damit fertig werden. So hoffte er wenigstens.

Der Weg zur Trainingshalle war nicht weit. Timo nahm die übliche Abkürzung über ein stillgelegtes Firmengelände, an das die Trainingshalle unmittelbar angrenzte. Er betrat einen kleinen Platz zwischen niedrigen Baracken. Der leichte Wind, der ihn bisher begleitet hatte, frischte noch einmal kurz auf. Jetzt fehlen nur noch ein paar herumrollende Dornenbüsche, schoss es Timo durch den Kopf. Der Gedanke behagte ihm gar nicht. Der Wind erstarb. Totenstille machte sich breit. Ruhe vor dem Sturm.

Aus dem Schatten einer Baracke löste sich eine Gestalt. Es war Sven. Er hatte offensichtlich auf ihn gewartet. Erschrocken drehte er sich um, als er ein Geräusch hinter sich hörte. Wie nicht anders zu erwarten standen Dick und Doof hinter ihm und grinsten ihn dümmlich an. Der Rückweg war versperrt.

Drohend kam Sven auf Timo zu, die Hände zu Fäusten geballt. Das ärmellose enganliegende Shirt betonte seine muskulöse Gestalt. Dem hatte Timo nichts entgegenzusetzen.

"Ich habe dir gesagt, du sollst dich von hier fernhalten." Svens Stimme war heiser. Timo war sich sicher, keine Abscheu in der Stimme zu hören, nur Vorfreude. "Du hättest nicht herkommen sollen."

Panik machte sich in Timo breit. Der kleine Platz hatte nur zwei Zugänge. Hinter ihm waren Svens willige Helfer und vor ihm versperrte Sven den Fluchtweg. In seiner alten Schule hatten sie ihn auf dem Weg zur Toilette abgefangen. Sie hatten ihn beschimpft bis er in Tränen ausgebrochen war. Als sie ihn dann verprügeln wollten, war er ihnen davongelaufen. Kopflos war er durch die Gänge der Schule gestürmt. Er hatte nur noch einen Gedanken im Kopf. Er musste raus. Raus aus der Schule. Und dann war er in ein Auto gelaufen. Das Entsetzen, das ihn damals gepackt hatte, packte ihn erneut und schüttelte ihn. Wie gelähmt stand er an seinem Platz. Seine Sporttasche hatte er längst fallen lassen.

Hektisch sah er sich um. Es gab keinen Ausweg. Hilfe war hier nicht zu erwarten. Timo schalt sich einen Narren, diesen einsamen Weg nach der Drohung vom Morgen genommen zu haben. Er fragte sich, woher Sven gewusst haben konnte, wo er lang gehen würde. Aber diese Frage war bedeutungslos. Sie waren hier.

Timos Puls raste. Sven musste seine panische Angst sehen, denn er grinste wie ein Irrer.

"Jetzt mach ich dich fertig, du perverses Stück Scheiße."

Der erste Schlag traf Timo voll in den Magen. Er klappte zusammen, wie eine Marionette, der man die Schnüre durchtrennt hatte. Timo würgte und rang nach Luft. Den Tritt gegen seinen Kopf sah er nicht einmal kommen. Die Wucht des Aufpralls riss ihn nach hinten.

"Das war erst der Anfang." Sven wandte sich an seine Kumpane. "Hebt ihn auf und haltet ihn gut fest."

Timo war vor Entsetzen und Schmerz wie gelähmt. Er spürte, wie er von den beiden hochgezerrt wurde. Was brachte Sven dazu, so auf ihn einzuschlagen? Timos Gedanken bewegten sich schwerfällig. Er spürte Blut aus dem Mundwinkel tropfen. Oder lief ihm das Blut von einer aufgeplatzten Augenbraue? Er verlor die Orientierung. Woher der Hass?

Sven stellte sich in Positur, als würde er sein Karatetraining am Sandsack beginnen. Diesmal am lebenden Sandsack.

Schläge und Tritte prasselten auf Timo ein. Bei jedem Schlag stieß Sven einen Schrei aus als würde ihm Leid zugefügt und nicht Timo. Timo spürte, wie Rippen brachen. Hätten ihn Dick und Doof nicht gehalten, wäre er längst am Boden gelegen.

Woher der Hass? Das war der einzige Gedanke, der immer wieder durch seinen Kopf kreiste. Er versuchte, in Svens Augen zu schauen, aber Sven wich seinem Blick bewusst aus. Für Sven war aus Timo nichts als ein Trainingsgerät geworden, an dem er seinen Frust auslassen konnte. Wie besessen drosch er auf Timo ein, immer wieder auf Brust und Magen, nie ins Gesicht, denn dann hätte er Timo anschauen müssen.

Selbst seinen Helfern wurde es auf einmal zu viel. Sie ließen Timo los und wichen zurück. Für Sekunden blieb Timo aufrecht stehen. Aus tränenverschleierten Augen sah er Sven an, der ihm anscheinend endgültig den Garaus machen wollte. Sven setzte zum Sidekick an und traf Timos Schädel mit seinen schweren Springerstiefeln mit voller Wucht an der Schläfe. Timo wurde herumgerissen. Ihm war, als begänne er zu schweben. Die Zeit dehnte sich. Er breitete die Arme aus und bildete sich ein, Mike auf ihn zustürzen zu sehen. Er versuchte, ihm zuzulächeln, aber die Dunkelheit holte ihn ein. Er spürte kaum noch, dass Mike tatsächlich da war und ihn auffing.

16

Mikes Entsetzen war grenzenlos. Er hielt Timos leblosen Körper in den Armen. Was war hier geschehen? Unbändige Trauer brach sich Bahn und ließ ihn laut aufschreien. Er sah nicht, wie Robby hinter ihm angesichts des Schmerzes in seiner Stimme, das Blut fast in den Adern gefror.

Robby hatte ihn am Nachmittag wie üblich mit dem Rad zuhause abgeholt. Gemeinsam wollten sie Timo überraschen und ihn zum Training abholen.

"Timo ist heute schon früher los", erklärte ihnen seine Mutter. "Er wollte dich wohl so früh wie möglich wieder sehen", fügte sie hinzu, da Timo ihr von Robby erzählt hatte.

"Und wir wollten ihn überraschen." Mike und Robby grinsten sie an. "Dann wollen wir ihm mal hinterherfahren." Er war bestimmt über die alte Fabrik gegangen. Das war der kürzeste Weg.

Bevor sie sich verabschieden konnten, hielt Timos Mutter sie zurück. Sie wirkte besorgt.

"Ich weiß ja, dass ihr und Timo auf unterschiedliche Schulen geht. Aber ... " Sie zögerte. "Wisst ihr vielleicht, ob etwas an seiner Schule vorgefallen ist? Timo war ein wenig merkwürdig heute ... wie damals an seiner alten Schule."

Mike sah Robby kurz an. Das gefiel ihm gar nicht. Sie zuckten beide mit den Schultern. "Keine Ahnung. Wir fragen ihn mal."

"Tut das." Sie setzte wieder ein fröhlicheres Gesicht auf. "Viel Spaß beim Training."

Mit düsteren Gedanken fuhren sie auf dem schnellsten Weg in Richtung Trainingshalle. Mike warf einen Blick zum Himmel. Die Wolken wurden immer dichter. Anscheinend bahnte sich ein Unwetter an.

Mike und Robby waren kaum auf dem Fabrikgelände angelangt, als sie Schreie hörten. Sie traten fester in die Pedale.

Als sie um die letzte Ecke kamen, sahen sie, wie zwei Jugendliche – der eine kurz und stämmig, der andere lang und dürr – Timo an den Armen hielten und Sven wie ein Irrer auf ihn einschlug.

Irrsinnige Wut baute sich in Sekundenbruchteilen in Mike auf. Adrenalin peitschte durch seine Adern. Schlingernd brachte er sein Rad zum Stehen. Die Welt schien sich immer langsamer um ihn herum zu bewegen. Das Rad fiel langsam um. Alles schien auf einmal an Detailschärfe zu gewinnen. Mike hatte auf einmal das Gefühl in der Matrix zu sein. Wie in Zeitlupe ließen die beiden Jugendlichen Timo los. Mike begann auf Timo loszulaufen. Sven startete seinen Tritt gegen Svens Kopf. Mike lief weiter auf Timo zu. Der Tritt traf Timos Schläfe. Timo wurde herumgerissen, schien einen Moment in der Luft zu verharren. Timos Augen strahlten Mike an ... und erloschen.

Mikes Herz brach als er Timos leblosen Körper auffing.

17

"Der Schwuchtel habe ich es aber gegeben." Sven verströmte pure Selbstzufriedenheit. Was für ein guter Mensch er doch war.

Mörderische Wut packte Mike. Aus tränenverschleierten Augen sah er zu Sven auf, der immer noch in Kampfpose dastand.

"Die steht nicht mehr auf, die Sau."

Nur am Rande bemerkte er, dass sich die beiden anderen Jungen aus dem Staub machten. Robby rief gerade einen Rettungswagen mit seinem Handy.

Vorsichtig ließ Mike Timos Körper zu Boden gleiten.

"Das wirst du mir büßen." Mike stieß jedes Wort einzeln aus.

"Was hast du mit dem Schwein am Hut?", kam es bösartig zurück.

"Das war mein Freund." Seine Wut und seine Trauer machten ihm das Sprechen fast unmöglich.

"Was meinst du damit?"

Langsam schien es Sven zu dämmern.

"Du bist auch eine Schwuchtel?"

Der Groschen war also gefallen.

Mit einem Aufschrei warf sich Mike auf Sven, der von der Wildheit des Angriffs überrascht wurde. Wie ein Berserker ging Mike auf ihn los, warf Sven zu Boden. Aber Sven war zu kräftig. Er schüttelte den wild um sich schlagenden Mike wie ein lästiges Insekt ab. Ein schwerer Schlag ins Gesicht ließ Mikes Verstand wiederkehren.

Keuchend lagen beide im Staub. Der Himmel hatte sich nun völlig verfinstert. Das Unwetter stand unmittelbar bevor.

Eiseskälte umklammerte Mikes Herz und mörderische Wut brannte in seinen Adern. Als sich ihre Blicke kreuzten, wussten sie, dass nur einer den Platz lebend verlassen würde.

Sie standen auf. Umkreisten einander.

"Du hast noch nie gegen mich gewonnen."

"Es ging auch noch nie um etwas."

"Es geht doch auch jetzt um nichts." Sven spuckte höhnisch in die Richtung, wo Timo lag. Robby kümmerte sich mittlerweile um ihn. Er sah verzweifelt und hilflos aus.

Mike ließ sich nicht mehr provozieren. Seine Gefühle schienen ihm weit entfernt. Er fühlte sich wie betäubt. Adrenalin hatte ihn so aufgepumpt, dass er jede Bewegung von Sven im Voraus ahnte. Svens Schläge und Tritte verfehlten ihn oder trafen ihn nur mit dem Bruchteil ihrer Wucht. Mike wartete auf seine Gelegenheit. Und sie kam. Ein Tritt, der an Mike vorbeiging, brachte ihn hinter Sven. Blitzschnell ergriff er Svens Arm, ließ sich fallen und brachte den Arm unter Kontrolle. Langsam hebelte er ihn. Svens Oberkörper lag unter Mikes Beinen. Zwischen den Beinen hatte Mike Svens Arm hindurchgelegt. Mit seinen Leisten hob er das Armgelenk Stück für Stück an. Sven begann zu schreien wie am Spieß, wurde immer hysterischer. Mit unbändiger Wut überdehnte Mike Svens Arm immer weiter. Mit einem lauten Geräusch, das in einem trockenen Donnerschlag unterging, brach das Gelenk.

Aber Mike hatte nicht genug. Er rollte sich von dem wimmernden Elend herunter und schob sich hinter Sven. Er umklammerte Sven mit den Beinen von hinten. Sie saßen direkt hintereinander.

"Jetzt wirst du sterben", flüsterte er Sven mit rauer Stimme ins Ohr. Er erkannte sich selbst kaum wieder. Sven hielt nur schlaff seinen gebrochenen Arm und wimmerte teilnahmslos vor sich hin. Er wehrte sich kaum noch.

Mike schlang seinen rechten Arm um Svens Hals, legte seine rechte Hand in die Beuge seines linken Arms und begann, Sven langsam zu würgen. Mike hob den Blick. Er hatte Sven so vor sich gesetzt, dass sie beide Timos leblosen Körper sehen konnten. Er wollte, dass Sven sein Opfer als letztes sah, wenn das Leben ihn verließ. Er wollte, dass sein Leben langsam versiegte, Pulsschlag für Pulsschlag. Er wollte, dass es in Agonie endete.

Wieder und wieder sah er Timo fallen. Er sah das Leben in Timos Augen verlöschen. Wieder und wieder. Tränen liefen ihm über die Wangen, benetzten unweigerlich Svens Hals. Immer fester drückte er zu. Er spürte, wie Sven sich erst verkrampfte, und dann, wie auch die letzte Gegenwehr immer mehr nachließ. Und er sah, wie sich Timo auf einmal regte und ihn aus blutunterlaufenen Augen ansah.

"Nein", formten Timos Lippen das Wort. "Nein."

Dass Robby schon eine Weile flehte und rief, war nicht zu ihm durchgedrungen.

Von plötzlichem Ekel gepackt, stieß er Sven von sich. Röchelnd und nach Luft ringend, blieb Sven liegen.

Mike eilte zu Timo. Blutverschmiert lag er in Robbys Schoß. Ein feiner hellroter Blutfaden rann beständig aus seinem Mund. Aber er lebte und seine Augen strahlten ihn an, obwohl er doch große Schmerzen haben musste. Zwei von Millionen von Sternen, die sich nie mehr voneinander entfernen, textete er das Lied in Gedanken um. Mike hatte seinen Augenstern nicht verloren. Seine Gefühle kehrten mit einem Schlag zurück. Beinahe hätte er jemanden umgebracht und damit seine Seele verloren.

Er begann zu weinen. Seine Tränen fielen auf Timos Gesicht. Mike versuchte, sie vorsichtig weg zu küssen, aber es waren zu viele, die aus ihm herausströmten. Von Weinkrämpfen geschüttelt, kauerte er sich neben Timo zusammen, hielt dessen Hand umklammert. Erleichterung und Erschöpfung wechselten einander ab. Auch vom Himmel fielen nun die ersten Tropfen und mischten sich mit seinen Tränen. Der Himmel war nicht mehr düster. Es würde kein Unwetter kommen, nur noch ein leichter Sommerregen.

Endlich hörten sie die Sirene des Rettungswagens.

18

Angenehme Wärme umgab Timo. Er fühlte sich leicht. Er wollte nicht aufwachen. Langsam setzte die Erinnerung ein. Die brutalen Schläge. Mikes Kampf mit Sven. Nein. Mike.

Timo schlug die Augen auf. Er lag im Krankenhaus. Ein Monitor piepste leise vor sich hin. Aus einer Flasche tröpfelte langsam eine Flüssigkeit in den Infusionsschlauch, der in seinem linken Handrücken mündete.

Er wollte sich räuspern, aber ein Schlauch in seinem Hals hinderte ihn daran. Der Schlauch ängstigte ihn einen Augenblick, aber als sein Blick auf Mikes Haarschopf fiel, beruhigte er sich. Mike hatte wohl die Nacht auf einem Stuhl an seinem Bett verbracht und war eingeschlafen. Er lag mit leicht verrenktem Kopf auf den verschränkten Armen. Vorsichtig und mit großer Mühe hob Timo seine Hand und streichelte Mikes Kopf.

Es dauerte eine Weile, bis Mike zu sich kam. Er musste tief geschlafen haben. Auch er schien ein wenig die Orientierung verloren zu haben. Er streckte sich, massierte kurz seinen offenbar schmerzenden Hals und hielt inne. Sein Kopf ruckte herum. Ihre Augen fanden sich.

Mike griff nach der Klingel und rief eine Schwester herbei.

"Ich bin so froh, dass du wieder wach bist. Ich habe mir solche Sorgen gemacht."

Timo konnte nur versuchen, beruhigend zu lächeln, was ihm angesichts der Intubierung schwer fiel. Aber Mike verstand ihn. Seine Sorgenfalten verschwanden.

Die Schwester kam mit dem Stationsarzt. Nach einer kurzen Untersuchung kam er zum Schluss, dass der Beatmungsschlauch nicht mehr nötig war.

"Auch, wenn es jetzt ein wenig weh tut: Atmen Sie erst einmal tief ein, Herr Arndt." Der Arzt nahm den Tubus in die Hand, während die Schwester Timo an den Schulter fest hielt. "Und jetzt atmen Sie ganz fest aus." Während Timo den Anweisungen folgte, zog der Arzt gleichzeitig den Schlauch aus seinem Hals. Es war ein scheußliches Gefühl. Seine Kehle fühlte sich furchtbar an.

"Was ...", versuchte er zu sagen.

"Sie bekommen gleich etwas zu trinken. Bitte sprechen Sie so wenig wie möglich, damit sich ihr Hals wieder beruhigen kann." Er wandte sich an Mike. "Bitte achten Sie darauf, dass sich ihr Freund daran hält." Er lächelte ihn an. "Vielleicht wollen Sie ihm etwas Tee aus der Stationsküche holen?"

Mike nickte nur und eilte hinaus. Auch der Arzt verließ das Zimmer nach einem aufmunternden Lächeln an Timos Adresse.

Die Schwester bettete ihn etwas höher und schärfte Timo ein, nach ihr zu klingeln, wenn er etwas bräuchte.

Timo nickte ergeben. Er deutete auf seine Brust. Seine Rippen begannen allmählich zu schmerzen.

"Ich lasse Ihnen ein Schmerzzäpfchen da. Versuchen Sie, so lange wie möglich zu warten, bevor sie es nehmen. Ich helfe Ihnen gerne dabei ..." Sie unterbrach sich, als die Tür aufging und Mike mit dem Tee zurückkam. "...aber ich denke, Sie haben da ausgezeichnete Unterstützung." Mit mütterlich aufmunterndem Lächeln verließ sie das Zimmer.

Mike gab Timo etwas Tee. Timo genoss die Flüssigkeit in seiner rauen Kehle. Er wollte tief durchatmen, aber seine Rippen protestierten. Er verzog kurz das Gesicht.

Timo wollte so viel wissen. Aber bevor er den Mund richtig öffnen konnte, verschloss Mike ihn mit einem zärtlichen Kuss.

"Ich soll doch dafür sorgen, dass du die Klappe hältst." Mike lächelte ihn an.

"Du willst sicher wissen, was passiert ist." Er holte tief Luft und setzte sich vorsichtig auf die Bettkante. Mit den Händen knetete er Timos Hand.

"Als du vor fünf Tagen ins Krankenhaus eingeliefert wurdest, sah es gar nicht gut um dich aus."

Timo erschrak. Fünf Tage lag er schon hier?

"Du hattest mehrere gebrochene Rippen. Eine hatte sich in den einen Lungenflügel gebohrt. Daher hast du so schlecht atmen können und daher das hellrote Blut." Mike musste innehalten. Die Erzählung wühlte ihn offenbar mehr auf als Timo. Beruhigend drückte Timo Mikes Hand.

"Dazu kam eine schwere Gehirnerschütterung, die dich außer Gefecht gesetzt hatte. Ich dachte wirklich, du wärst tot." Mikes Stimme brach. Tränen liefen ihm über das Gesicht. Stockend berichtete Mike weiter. "Sven hatte dich schwer am Kopf getroffen. Als du in meine Arme gestürzt bist, dachte ich, es sei aus mit dir." Er atmete tief durch, sah zu Boden. "Aber glücklicherweise hatte ich mich geirrt." Er schaute Timo wieder an.

"Sven?" Timo flüsterte heiser.

"Sven geht es besser als dir." Zorn schlich sich in Mikes Stimme, ließ seine Tränen versiegen. Er putzte sich die Nase. "Er hat nur einen gebrochenen Arm und ein paar Kratzer. Er wurde auch gleich von der Polizei verhaftet. Robby und ich haben inzwischen entsprechende Aussagen gemacht. Er wird außerdem in eine Therapie müssen. Da scheint zuhause bei ihm einiges schief zu laufen."

"Bin froh, dass Sven lebt." Timo verstand seine eigenen Worte kaum. Er wünschte Sven zur Hölle, aber er wusste, dass Mike damit nicht hätte leben können.

"Ja, ich bin auch froh, dass..." Er sprach nicht weiter. Sie schwiegen eine Weile.

Timo wollte nichts mehr davon hören. Die Sache war erledigt. Jetzt wollte er nur noch gesund werden.

Die Schmerzen in seiner Brust wurden stärker. Sie brachten ihn auf eine Idee, und die Idee würde Mike mit Sicherheit auf andere Gedanken bringen.

"Zäpfchen." Mike verstand nicht. Er sah Timo mit ziemlich dämlichem Gesichtsausdruck an. Er war ja während des Gesprächs mit der Schwester nicht dabei gewesen.

Timo tastete neben sich auf dem Nachttisch herum und warf dabei das eingepackte Zäpfchen herunter.

Mike bückte sich und hob es auf. Er grinste anzüglich. Timo war mit sich zufrieden. Die Ablenkung funktionierte.

Liebevoll versorgte ihn Mike mit dem Schmerzkiller. Jetzt konnte es nur noch aufwärts gehen, dachte Timo.

– ENDE –

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