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Und wenn ich mal groß bin...

Teil 3 - ... dann werden wir gemeinsam fliegen

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Es ist jeden Tag das Gleiche. Ich stehe auf dem Schulhof bei meinen Freunden und alles ist in Ordnung. Und dann kommt er und meine Welt bleibt stehen. Ich kenne ihn nicht einmal. Also, eigentlich kenne ich ihn schon, schließlich sind wir im gleichen Jahrgang und haben auch zwei Kurse zusammen. Doch zu mehr als einem freundlichen Kopfnicken hat es bisher nicht gereicht. Dabei ist es das, was ich mir wünsche, einmal mit ihm zu reden, seine Stimme zu hören, die mit mir spricht. Ihn nicht nur aus der Ferne sprechen oder lachen zu hören, wie bisher.

Und trotzdem werde ich diesen Schritt nie gehen. Warum auch? Ich meine, wieso sollte ich mich von all den Komplexen ausnehmen, die wohl jeder Zweite in so einer Situation haben würde. Die ganzen - hätte, wäre, wenn – Sachen gehen auch an mir nicht einfach so vorbei. Und davon abgesehen leben wir beide sowieso in zwei verschiedenen Welten. Er ist der Sportler und sogar ein kleiner, verkappter Streber. Ich bin eher der Träumer und definitiv kein verkappter Streber. Das, um kurz abzuschweifen, würde mir auch ums verrecken nicht in den Sinn kommen, da mich einerseits der Unterricht nicht wirklich interessiert und ich andererseits nicht wirklich interessiert am Unterricht bin.

Und sollte jetzt wirklich jemand mit dem -Versuch macht klug – Argument kommen, spalte ich ihm ohne zu zögern den Schädel. Das ist nämlich eine schöne Redensart, aber ist von den Herren und Damen die diese Redensart pflegen schon einmal einer vom Zehner gesprungen ohne zu wissen, ob er oder sie schwimmen kann? Ich glaube eher nicht.

Tja, was hätten wir sonst noch an Problemen, Ängsten und Sorgen zu bieten? Nun ja, da wäre zuallererst einmal, dass ich ihn total toll finde und mich selbst total doof finde. Und auch wenn ich schon mal gesagt bekommen habe, dass ich doch gar nicht so schlecht aussehen würde, glauben kann ich das trotzdem nicht. Ich bin ja nicht einmal im Stande zu mir Selbst zu stehen. Wie soll ich dann bitte in irgendeiner Weise auf jemand anderen wirken?

Normalerweise erzählt man so etwas seinem besten Freund oder seiner besten Freundin, die ich sogar habe. Aber nicht einmal ihr gegenüber traue ich mich, den Mund aufzumachen. Güte Gott. Dabei wäre das wirklich einer der einfachsten Schritte auf der Welt, denn sie würde mir dafür wohl keinesfalls den Kopf abreißen. Aber wie sagt man so schön. Am Ende kackt die Ente. Bloß bei mir nicht. Da frisst sie einfach alles in sich hinein und wartet darauf irgendwann zu platzen.

Es kotzt mich an. Einfach alles. Das Ganze hier ist falsch. Ich bin falsch. Aber den Mut, auch nur das kleinste Bisschen zu verändern, habe ich trotz allem nicht. Dabei wäre es das Einfachste der Welt, diesen einen Satz auszusprechen, diese eine Frage zu stellen, die ich mir in den letzten zwei Jahren immer und immer wieder gestellt habe. Ich bin mir ja sogar fast sicher, dass er mir nicht den Kopf abreißen oder mich zum Beispiel anspucken würde. Dafür ist er nämlich meiner Meinung nach gar nicht der Typ.

Trotzdem wage ich diesen einfachen Schritt nicht und drehe mich statt dessen lieber im Kreis. Reibe mich an viel zu vielen Fronten auf, weil ich mit allem und jedem zu kämpfen habe. Mit den Ansprüchen, Wünschen und auch den Forderungen, mit denen mich meine Umwelt bombardiert, ohne auch nur ein einziges Mal die Frage zu stellen, wie ich mich dabei fühle. Was ich selbst eigentlich möchte. Gut, es ist wirklich meine Schuld, denn wer anders als ich selbst hat sich diese Rolle ausgesucht, sie sich an der einen oder anderen Stelle auch aufdiktieren lassen. Es war dennoch in letzter Instanz immer noch meine Entscheidung. Es war und ist immer noch ein langer Weg und ich habe mir manches Mal die Frage gestellt, ob ich es wirklich will, aber es hat eben einfach Spaß gemacht diesen Weg zu gehen. Und genau das ist inzwischen der Punkt. Es hat, aber es tut es nicht mehr.

Es ist jetzt fast auf den Tag genau zwei Jahre her, seit sich alles verändert hat. Davor war mein Leben einfach. Ich wusste was ich wollte und ich akzeptierte die Wünsche, die andere an mich hatten, denn sie kamen meinen eigenen Zielen sehr nahe. Und dann macht es mit einem Mal Klick und man weiß genau, das man nicht mehr in das Schema passt, welches man bis dato als sein eigenes anerkannt hat. Und wenn auch sonst nichts klar ist, so ist doch sicher, dass man die einmal gestellten Anforderungen nie mehr erfüllen kann, so sehr man es auch versucht. Es bleibt einem nur die Möglichkeit, zu wählen. Eine Wahl die bar jeder Logik ist, denn sie verneint die eigenen Wünsche, wenn man den Wünschen anderer nachkommt und versperrt einem den Weg zu den eigenen Zielen, wenn man sich seine Wünsche nicht verbietet.

... ein Tag wie jeder andere und doch ein Tag, der alles verändert. Ein Augenblick, ein Blick, ein Herzschlag, ein Gefühl und alles verändert sich. Ein Schwall unausgesprochener Worte, Angst, widerstreitende Gefühle und nichts bleibt, wie es war. Er ist einfach in mein Leben getreten, ohne dass ich es verhindern konnte, es, wie ich inzwischen sicher bin, auch nicht wollte. Und doch wünsche ich mir, diesen Tag nie erlebt zu haben...

Meine Tage sind dunkel und das, obwohl die Sonne scheint. Allein sie vermag es nicht, mich zu erreichen, obwohl mich ihre Strahlen auch gerade in diesem Augenblick streicheln. Philosophischer Nonsens? Ultradramatischer Kitsch? Ich weiß, aber es passt irgendwie im Moment.

Alles ist wie immer. Ich sitze an meinem Platz, starre an die Tafel und weiß schon seit den ersten Minuten des Unterrichts nicht mehr worum es geht. Da vorn stehen zwar Wörter, aber ich sehe einfach hindurch. Jetzt im Moment weiß ich nicht einmal, ob eine Frage an mich gerichtet worden ist und ich deshalb aufgeschreckt bin. Das Einzige, was ich sicher weiß, ist, dass er bis eben geredet hat und meine Tagträume irgendwie noch heller gewesen sind als sonst.

Und immer wieder stelle ich mir diese eine Frage. Was wäre, wenn er einfach so vor mir stehen würde und mich anspräche? Was würde ich sagen? Wie auf seine Nähe reagieren? Ich glaube, wenn ich die Zeit hätte nachzudenken, würde ich schnellstmöglich das Weite suchen. Ich gehe diesen Momenten ja sowieso schon die ganze Zeit aus dem Weg und versuche einen gewissen räumlichen Abstand zwischen uns aufrecht zu erhalten. Ich weiß nicht einmal genau wieso. Vielleicht ist es die Angst, enttäuscht zu werden. Vielleicht die Sorge, zu erkennen, dass er nicht der Mensch ist, für den ich ihn halte. Und sicherlich auch einfach, weil ich nicht Gefahr laufen will, dass meine Träume wie eine Seifenblase zerplatzen.

Ich weiß selbst, dass ich feige bin, weil ich es einfach nicht hinbekomme, diesen einen Schritt zu gehen. Ich fürchte mich eben davor, das Risiko zu akzeptieren und den Versuch zu unternehmen, meine Träume Wirklichkeit werden zu lassen. Denn was ist, wenn es schief geht? So bleiben sie mir zumindest. Niemand kann sie mir nehmen, denn keiner kennt sie.

Meine bessere Hälfte, die sozusagen mein Gewissen ist, würde mich höchstwahrscheinlich schlagen. Ja, sie würde mich drängen es einfach zu tun. Aber sie weiß es eben nicht und sie wird es, soweit es mich betrifft, auch nicht erfahren. Denn sogar vor ihrer Aktion habe ich Angst. Angst, dass sie schlimmer ausfallen könnte, als ich es mir in meinen dunkelsten Albträumen auszumalen vermag.

Sie ist mein Begleiter. Schon immer. Seit ich denken kann. Sie hat sich ungefragt zu mir ins Bett gelegt, hat mich mit ihren leisen, säuselnden Stimmen umfangen und ich vermag es nicht, mich von ihr zu befreien. Sie steht neben mir, wann immer ich in den Spiegel sehe. Unsichtbar für alle um mich herum. Unsichtbar für mich selbst und gleichwohl ein bedrohlicher Schatten, der alles Licht um mich herum auszulöschen droht.

Besiege Sie. Vertreibe Sie. Setze ihrem unheimlichen Treiben ein Ende. Starke Worte denen starke Taten folgen können. Man müsste nur den Mut haben und einen ersten Schritt tun.

Die Zeit heilt alle Wunden? Was ist, wenn man immer weniger Zeit hat und sie die Wunden zudem eher verschlimmert, anstatt sie zu lindern? Ich weiß, es klingt überspitzt, doch mir läuft die Zeit davon.

Ich kann mich inzwischen so gut wie gar nicht mehr auf irgendeine Sache konzentrieren, weil ich mich von Allem einfach nur noch bedrängt fühle. Bisher ist es niemandem aufgefallen, zum Glück. Aber wenn der Punkt einmal erreicht ist, dann werden die ersten Fragen kommen und je öfter ich ausweiche, desto eindringlicher werden die Fragen werden. Und dann werde ich mich irgendwann entscheiden müssen, ob ich eine Antwort gebe oder ob ich mich auf andere Art und Weise von meinem bisherigen Leben entfremde. Letzten Endes bleibt es das Gleiche. Denn mein bisheriges Leben kann ich dann nicht mehr weiterleben.

Wann ist das Ganze eigentlich so kompliziert geworden?

... Diese Zeilen werden dich sicherlich nie erreichen, denn sie existieren nur in meinem Kopf. Es war eigentlich ein Tag, wie jeder andere. Und doch war es dieser eine Tag, der meine Welt ins Wanken gebracht hat. Dabei habe ich mich einfach nur umgedreht.

Es war eine der wirklich langweiligen Englischstunden, soviel weiß ich noch. Irgendwann hat sie uns eine Frage gestellt und, da sich keiner bereit erklärt hat, hat sie sich dich ausgesucht. Sie hat das in solchen Momenten oft getan, denn sie kannte dich.

Genau in dem Augenblick, als ich mich umgesehen habe, schien es, als ob du aus einer anderen Welt auftauchen würdest. Ich hätte es nie für möglich gehalten, das man sich im Glanz von Augen so sehr verlieren könnte. Aber sie haben soviel erzählt in dieser einen Sekunde und meine Welt ist aus den Fugen geraten...

Es muss endlich etwas geschehen. Ich muss mich entscheiden, denn so kann es einfach nicht weitergehen. Ich würde lügen, wenn ich sage, dass mir vor dieser Entscheidung nicht graut, dass ich gehofft habe, nie an diesen Punkt zu kommen, aber nun habe ich ihn erreicht.

Heute ist irgendwie alles anders. Ich bin anders. Warum? Ganz einfach. Wir haben geredet, endlich. Nein nicht dieses wir, sondern das andere. Ich bin endlich nicht mehr allein in meiner Welt. Noch vor einer Woche hätte ich mir selbst nicht geglaubt, dass ich diesen Punkt je erreichen würde. Ich hätte mich selbst ausgelacht, für so einen Satz.

Es ist anders gekommen. Anders, als ich es mir immer vorgestellt habe. Anders, als ich es erwartet hätte. Ich hätte es nicht sagen müssen. Niemand hat mich vor die Wahl gestellt oder mich in eine Ecke gedrängt. Ich habe es einfach so erzählt, aus einer Laune heraus. Nein das trifft es nicht. Ich wusste einfach, dass ich es erzählen wollte.

Es war einer dieser seltenen Abende, an denen alles schön ist. An denen man für einige Stunden mit sich selbst im reinen ist. Wir saßen im Kreis und spielten eines der Spiele, die wir früher gespielt hatten. Ich sah ihr beim drehen zu. Sie zeigte auf mich und ich wurde vor die Wahl gestellt. Wie schon oft zuvor an diesem Abend. Ich wählte und ich hörte zu. Sie wollten es wissen. Also sagte ich es ihnen ohne lange zu überlegen. Es war keine Lüge, denn das hatten sie gefordert. Also log ich nicht, sondern sagte ihnen meine drei Worte.

Sie hatten es nicht erwartet. Sie hatten erwartet, ich würde ihnen ein kleines schmutziges Geheimnis enthüllen, aber es war weder das eine, noch das andere. Es war still danach. Ich ließ die Stecknadel fallen, zerstörte die Stille und tat, was mir übrig blieb.

An der Treppe hatte sie mich dann eingeholt. Sie ging mir nach und stand neben mir als wir kleine Wolken ihren großen Brüdern nachbildeten. Wir redeten nicht. Dennoch folgte ich ihr zurück ins Haus.

Sie waren neugierig. Sie haben mir zugehört. Und ich konnte endlich einen Teil des Gewichts von meinen Schultern nehmen. Konnte ein wenig die Sonnenstrahlen genießen, die sich in den letzten Jahren in der Mauer über meinem Kopf verfangen hatten und mich nun endlich erreichten.

Ich weiß nicht, ob ich mich jetzt befreiter fühle, ob ich ein anderer Mensch geworden bin, vielleicht noch werde. Ich muss es nicht, denn ich muss mich nicht mehr verstecken. Sie haben es mir bewiesen. Sie mögen mich, nicht die Fassade, sondern einfach nur mich.

Es bleibt nichts. Das, was war, scheint verloren, ist verloren. Ich verwünsche diesen einen Tag, auch wenn ich ihn nicht missen möchte. Es waren nur drei Worte, die alles zerstört haben. Worte, deren Keim lange zuvor schon in mir aufgegangen ist. Ich musste es einfach versuchen, es tun, auch wenn ich die Konsequenzen vorher kannte. Es musste sein. Und es ist so gekommen, wie ich es befürchtet hatte. Warum konnte es nicht anders sein? Warum konnte ich mich nicht wenigstens dieses eine Mal irren.

Es bleibt unter uns, das war das Versprechen. Ich soll in mich gehen, mich besinnen und wieder davon ablassen, wovon ich nicht mehr ablassen kann. Ich habe es versucht. So lange habe ich es versucht. Es geht einfach nicht. Es ist ein Teil von mir. Ohne ihn bin ich nicht mehr ich, kann es auch nicht mehr sein, will es nicht.

Alle Türen sind verschlossen. Es bleibt mir nur noch diese Eine von der ich nie gedacht hätte, dass ich sie je öffnen würde. Allein, es ist die Einzige, die sich mir noch öffnen wird. Sie haben es mir gesagt, auch wenn sie dafür keine Worte benutzt haben. Worte hätten mich auch nicht so verletzen können, wie ihr Schweigen es vermochte.

Eine Sache muss ich noch erledigen, dann werde ich die Tür öffnen. Ich habe sie nie näher betrachtet und dennoch weiß ich, dass es auf der anderen Seite keine Klinke gibt. Sie nicht geben kann.

Ich müsste glücklich sein. Endlich ist der Schritt getan, vor dem ich mich so lange gefürchtet habe. Doch ich bin nicht glücklich, kann es nicht sein. Denn jeden Tag sehe ich ihn. Und jeden Tag aufs Neue sehe ich, dass er immer weniger er selbst ist. Niemand um mich herum scheint es zu bemerken. Vielleicht, weil sie nie wie ich solche Masken benutzt haben. Vielleicht auch, weil sie es einfach nicht sehen wollen.

Es wäre nur ein einziger Schritt. Ich war schon so oft davor ihn zu gehen, so oft versucht das ewig säuselnde „Wenn“ und „Aber“ die Klippen hinunterzuwerfen. Doch jedes Mal, wenn ich mit dem Gedanken spiele, es zu tun, hält mich etwas zurück. Er hält mich zurück.

War es am Anfang noch meine Angst, so scheint er inzwischen gänzlich von ihr umgeben, in ihr gefangen zu sein.

Ich kann nicht einmal mehr träumen, denn seine Stimme begleitet mich nicht mehr. Sie ist nicht mehr da. Wenn der Mund, der früher gesprochen hat, sich jetzt öffnet, klingen die Töne, die ihn verlassen, hohl. So als ob das, was früher da war, nicht mehr da ist.

Nicht mehr lange und es ist soweit. Ich habe Angst. Angst, dass ich es nicht schaffe, diese eine letzte Sache zu tun, wegen der ich noch verweile. War es zuerst die Nähe, die sie mir verweigerten, erdrücken sie mich jetzt vielmehr damit. Ihre Forderungen schlagen mit jedem Satz noch tiefere Wunden.

Ich muss es einfach schaffen. Ich habe es mir geschworen. Es ist das Einzige, was den letzten Monaten einen Sinn geben kann. Nein, ich erwarte mir nichts davon. Ich bin sicher, dass ich auch in dieser einen Sache nicht falsch liegen werde.

Sein Blick hat sich verändert. Es irritiert mich und es ängstigt mich noch mehr als alles andere sonst, was um mich herum geschieht. Ich kann es nicht erklären. Er sieht älter aus und wirkt gleichzeitig jünger. Wo früher Verletzlichkeit war, ist nun Stärke. Es zieht mich an und zwingt mich, mich noch mehr als bisher zu verstecken.

Seine Blicke suchen mich und ich weiche ihnen aus. Ich kann nicht mehr.

Ich weiß es nicht. Ich weiß einfach nicht, was heute mit mir los ist. Es hat schon heute Morgen auf dem Weg zur Schule begonnen. Es war ein komisches Gefühl. Ich habe mich umgedreht und nichts gesehen. Das Gefühl ist geblieben, auch wenn ich nichts entdecken konnte.

Mein Magen rebelliert. Das ist nichts Ungewöhnliches und doch will ich am liebsten sofort weg von hier. Ich kann es mir nicht erklären, aber ich bin mir sicher, dass etwas nicht stimmt. Ganz und gar nicht stimmt.

Geschafft. Ich hätte es zwar gern noch gewusst, aber auch ohne sie zu hören, kenne ich die Antwort. Es ging mir dabei auch nicht wirklich um eine Antwort. Es ging darum endlich diesen Schritt zu tun, auch wenn er unnütz ist und zu spät kommt. Ich bereue es, ihm das anzutun, aber irgendwann wird er es vielleicht verstehen.

Es ist etwas passiert. Ich weiß nicht, was es ist, aber ich bin mir sicher. Viel zu sicher. Sie wussten nicht wo er war. Niemand wusste wo er war.

Ich hätte gehen sollen. Ich hätte heute Morgen sofort umdrehen sollen. Wieso bin ich nicht eher gegangen? Habe in der Schule gesessen und mir den Kopf zerbrochen, obwohl ich es geahnt habe. Wieso habe ich schon wieder nicht auf das gehört, was mir mein Herz gesagt hat?


Der Umschlag liegt vor mir. Es ist seine Handschrift. Ich kenne sie, denn ich habe sie schon einige Male gesehen. Ich weiß nicht, was mich hinter diesem dünnen Stück Papier erwartet, aber ich ahne, dass ich es nicht wissen will.

Es ist schön hier.

Es kann nicht sein. Es darf nicht sein. Ich kann weder den Weg erkennen, noch höre ich was um mich herum passiert. Ich hätte nicht so lange warten sollen. Es darf einfach nicht sein. Ich darf einfach nicht zu spät sein.

Sie wussten es nicht. Auch sie wussten nicht, wo er war und es war ihnen egal. Sie wussten es, das habe ich ihnen angesehen. Es muss ihn viel gekostet haben und sie haben es dennoch nicht verstanden.

Warum hat er es mir nicht eher gesagt? Warum habe ich es nicht gesagt? Warum?


Es ist warm um mich herum. Die Sonne scheint. Allein, ihre Strahlen erreichen mich nicht. Es ist ein schönes Fleckchen Erde. Das Wasser funkelt, als bestünde es aus Abermillionen von Diamanten. Die Linden wiegen sich sanft in der ab und zu aufkommenden Brise und es duftet nach Sommer. Ich kann es nicht wahrnehmen, ich fühle die Schönheit um mich herum nicht, obwohl sie allgegenwärtig ist.

Ich halte es in Händen. Ich habe es niemandem gezeigt. Es ist das Einzige was mir von ihm geblieben ist. Die Schrift kann ich schon lange nicht mehr lesen. Viel ist von ihr auch nicht übrig geblieben, denn, wie an den unzähligen Nachmittagen vor diesem, ist das Blatt Papier durchnässt von meinen Tränen. Ich brauche es auch nicht zu lesen, denn ich kenne die Worte. Jedes Einzelne von ihnen.

Ich war zu spät. Überall war Blaulicht, als ich ihn endlich gefunden hatte. Er hatte mich hierher geleitet, denn es war ein wunderschöner Ort. Er ist es vielleicht immer noch, doch für mich hat er all seinen Glanz verloren. Trotzdem komme ich jede Woche hierher und sitze hier. Hoffe, dass alles ein Traum war. Hoffe, dass er im nächsten Augenblick hinter einem Baum hervorkommt. Hoffe vergebens.

Es hätte nicht sein müssen. Nicht so. Niemals.

Ich hätte es nie für möglich gehalten, dass ich das jetzt tue. Ich war mir immer so sicher, dass dich meine Gedanken nie erreichen würden. Doch es hat sich alles verändert. Nichts ist mehr so, wie es war und wird es auch nie wieder sein. Ich hätte nie gedacht, dass ich an diesen Punkt komme und diese Entscheidung auch nur in Erwägung ziehe. Deswegen kann ich diesen letzten Schritt nun auch tun. Sei mir bitte nicht böse, verfluche mich und vor allem auch dich nicht, denn du kannst am allerwenigsten dafür.

Weißt du, früher war meine Welt noch in Ordnung. Es lief alles so, wie es laufen sollte. Genau so, wie es andere für mich geplant und ich selbst für mich akzeptiert hatte. Aber dann hast du alles verändert.

Du hast es nicht bemerkt, da bin ich mir sicher. Es war nur ein Augenblick, der für mich alles ins Wanken gebracht hat. Es war eigentlich nur ein Blick von dir, der soviel gesagt hat, ohne auch nur ein einziges Wort gefallen ist.

Genau in dieser Sekunde habe ich mich in dich verliebt. Genau seit dieser Sekunde habe ich in Angst vor mir selbst und der Welt um mich herum gelebt. Natürlich hätte ich etwas sagen können, aber auch wenn du es nicht nachvollziehen kannst, das ist ein Schritt, den zu tun niemandem leicht fällt. Ich habe ihn getan, an anderer Stelle und es ist genau das eingetreten, was ich befürchtet habe. Es hat mir das Letzte an Kraft geraubt, das ich noch besaß. Ich hatte und habe keine Kraft mehr um weitere Schritte zu tun und noch einmal die selbe Ablehnung zu erfahren.

Ich wäre gerne für dich der Mensch gewesen, den du liebst. Allein ich weiß, dass diese Hoffnung vergebens ist. Du bist ein wunderbarer Mensch und ich wünsche dir, dass du jemanden findest, der das erkennt und der dich so liebt, wie du es verdienst und den auch du ohne Vorbehalte lieben kannst.

Es tut mir leid. Verzeih mir, dass ich dich mit meinen Worten belaste. Ich musste es einfach tun. Ich konnte es nicht unausgesprochen lassen. Ich hoffe du hasst mich nicht dafür und bitte nimm es dir nicht zu Herzen, denn am allerwenigsten ist es deine Schuld.

Irgendwann. Irgendwann werde ich aufhören mir die Schuld zu geben. Ich hätte es verhindern können. Wir beide hätten es ändern können. Es war, ist und wird nie richtig sein. Du hättest es verstanden, wenn du nur genau genug hingeschaut hättest. Ich habe es verstanden. Und ich werde immer hier sein und darauf warten, dass du hinter einem der Bäume hervorkommst und dich neben mich setzt.

Und dann werden wir gemeinsam fliegen.

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