zur Desktop-Ansicht wechseln. zur mobilen Ansicht wechseln.

Durch die Nacht

Lesemodus deaktivieren (?)

Informationen

 

Lieber Tobi,

ich hoffe, Du bist nicht böse, weil ich schon wieder so lange brauche um Dir zu antworten. Aber wie Du weißt läuft es momentan bei mir nicht unbedingt gut. Nein, keine Sorge, ich fange jetzt nicht schon wieder davon an ...

Was Deine eigentliche Frage angeht: Klar würde ich Dich gern mal wieder besuchen kommen. Pfingsten klingt ziemlich gut, ich denke, da kann ich sogar noch den einen oder anderen Urlaubstag dranhängen, dann lohnt sich der Weg wenigstens – falls Du mich so lange aushalten kannst ;-)

Hast Du Milo schon vorgewarnt, dass ich komme? Bestimmt freut er sich 'tierisch', mich wieder zu sehen. Echt, ich kenne niemanden, mit dem ich mich schon einmal so klasse gefetzt habe *g*. Dein Schatz war am Anfang echt ein harter Brocken, aber ich kann inzwischen wirklich verstehen, warum Du so verrückt nach ihm bist. Ihr beiden seid ein Traumpaar, ich beneide Euch.

Mist, ich wollte doch nicht schon wieder damit anfangen ...

Also gut, anderes Thema. Ach ja, ehe ich es vergesse, Du wirst nie erraten, was

Es klingelt an der Tür und ich schrecke aus der E-Mail, die ich gerade schreibe, hoch. Wer um alles in der Welt kann das jetzt sein? Er stört. Ich schreibe gerade meinem besten Kumpel und gebe mir wirklich große Mühe, nicht nur von meinem nie enden wollenden Liebeskummer zu reden. Jede Unterbrechung meiner Konzentration ist dabei wenig förderlich. Ich werde das also einfach ignorieren. Also wo war ich stehen geblieben? Ach ja.

Du wirst nie erraten, was mir letzte Woche

Noch einmal klingelt es. Offensichtlich meint es der Besucher wirklich ernst. Vermutlich ist es besser, doch nachzugeben, sonst nervt der noch wer weiß wie lange. Einen letzten wehmütigen Blick auf den Monitor werfend, stehe ich auf und gehe zur Tür. Ich habe nicht die geringste Ahnung, wer jetzt, an einem Freitagabend um neun Uhr bei mir klingelt. Falls es Andy sein sollte, braucht er nicht zu glauben, er könnte mich doch noch überreden, mit in die Stadt zu kommen. Nicht einmal, wenn er die ganze Bande mitgebracht hat. Ich werde ihn einfach abwimmeln und dann weiter schreiben. Und ich werde heute Abend allein zu Hause bleiben, es mir gemütlich machen und ein bisschen Fernsehen. Ich muss langsam lernen, wieder mit mir allein sein zu können.

Ich öffne die Tür, schon voll auf Abwehr eingestellt und erstarre. Es ist die Person, mit der ich am allerwenigsten gerechnet hätte. Die Person, die vor sechs Wochen von jetzt auf gleich aus meinem Leben verschwunden ist. Nachdem wir drei Jahre zusammen gewesen waren. Die Person, die mir so ähnlich ist, dass uns viele für Geschwister gehalten haben. Die Person, die mir so vertraut ist, als wäre sie ein Teil von mir, der sich nur zufällig außerhalb meines Körpers befindet.

Alex steht vor mir. Ich sehe sein Haar, das die gleiche Farbe hat wie meines und das immer so ähnlich geschnitten ist, wie ich meines auch trage. Ich sehe seine blauen Augen, die fast wie meine in einem Spiegel aussehen. Seinen Körper, der eine ähnliche Größe und Statur hat, wie meiner.

Oft haben wir zur Verwirrung unserer Freunde unsere Klamotten getauscht. Er ging als ich und ich als er. Manchmal haben wir es sogar geschafft, sie damit in die Irre zu führen und hatten immer einen riesigen Spaß dabei. Überhaupt hatten wir viel Spaß zusammen. Nur hörte der vor sechs Wochen für mich völlig unerwartet auf.

Und nach mehr als drei Jahren Beziehung hatte er mich dann verlassen. Einfach so.

"Ich habe jemanden kennen gelernt." hatte er gesagt. "Tut mir so leid, Sammy."

Zuerst hatte ich es nicht glauben können, aber als er später an diesem Abend aufgestanden und gegangen war, anstatt wie sonst bei mir zu übernachten und mich zum Abschied nicht einmal geküsst hatte, hatte ich keine Wahl mehr gehabt und ich hatte es glauben müssen. Ich hatte mich unendlich leer gefühlt, unendlich traurig und unendlich einsam.

Drei Jahre lang waren wir ein Herz und eine Seele gewesen, beste Freunde und Geliebte vom ersten Moment an. Und nun war das vorbei. Nichts war mehr übrig von dem, worauf ich mein Leben aufgebaut hatte, nichts mehr von dem, was mein gesamtes Gefühlsleben kontrolliert hatte.

Ich war am Ende gewesen, kopflos, rastlos, ratlos. Total außer Kontrolle. Ich wusste nicht, wie es weiter gehen sollte. Ein Leben ohne ihn konnte ich mir nicht mehr vorstellen, aber er war weg. Verschwunden, ausgelöscht. Und ich war allein mit meinem kalten Herzen zurück geblieben und hatte nur noch fassungslos hinter ihm her sehen können.

Und jetzt, plötzlich, ohne Vorwarnung steht er vor mir und drängt sich wieder in mein Leben.

Innerhalb von Sekundenbruchteilen ist all der Schmerz wieder da, den ich in der Zeit seit seinem Weggang empfunden habe. Noch heute Nachmittag hätte ich gedacht, dass ich jetzt langsam auf dem Wege der Besserung bin, aber das war ein Irrtum. Es tut immer noch höllisch weh und es ist noch lange nicht vorbei.

Alex, mein Alex.

Egal, was ich mir in den letzten Wochen versucht habe, vorzumachen, ich habe nicht einen einzigen Augenblick lang aufgehört, ihn zu lieben. Ich bin nicht einmal sicher, ob ich es je können werde. Vermutlich nicht. Er ist so sehr in meine Seele eingebrannt, dass die Narbe für alle Zeit sichtbar sein wird. Und sie wird nie aufhören, weh zu tun.

Mit klopfendem Herzen stehe ich ihm gegenüber, zitternd, völlig ratlos, was er um diese Zeit hier will. Vielleicht hat er nur irgendetwas bei mir vergessen, das er jetzt holen will. Vielleicht ist die Hoffnung, die sich in mir ausbreitet, seit er vor mir steht, völlig umsonst.

Unfähig, mich zu bewegen, stehe ich da und sehe ihn einfach nur an. Er sieht direkt in meine Augen, dann erwacht er aus seiner Starre und sagt leise "Hi Sammy."

Er hat von Anfang an immer 'Sammy' zu mir gesagt. Meinen vollen Namen verwenden allerdings die wenigsten Leute, Samuel ist auch einfach zu umständlich. Die meisten nennen mich daher 'Sam'. Nur er nicht.

"Hi Alex", antworte ich und erschrecke darüber, wie dünn meine Stimme klingt. Und wie sehr man die Verzweiflung, den Schmerz und die Hoffnung heraushören kann. Was für ein jämmerliches Bild muss ich ihm bieten? Wie ich hier stehe, an einem Freitagabend, wenn alle anderen ausgehen, wie wir beiden es auch für gewöhnlich getan haben, in einer ausgewaschenen Jeans und einem verblichenen T-Shirt, barfuß.

Früher, wenn wir mal nicht ausgegangen waren, hatten wir beide diesen Look getragen und es uns hier bei mir gemütlich gemacht. Wir hatten vor dem Fernseher herumgehangen und mit der Playstation gespielt, lachend miteinander gekämpft und oft genug die Siegesfeier knutschend auf dem Boden verbracht. Seit er weg ist, liegen die Controller ungenutzt im Schrank. Auch sie konnte ich nicht mehr ertragen, also habe ich sie kurzerhand weggeschlossen.

Ich muss wieder daran denken, wie nahe wir uns immer waren. Nicht nur seelisch, auch körperlich natürlich. Ich kenne seinen Körper so gut wie meinen eigenen. Wenn nicht sogar besser. Ich weiß, an welchen Stellen er kitzlig ist, wo er sich besonders gern berühren lässt, was ihm einen Schauer über die Haut jagt. Und ich weiß, was ihn anmacht. Ich weiß, wie sein Körper sich verändert, wenn die Erregung wächst und ich bin in der Lage, zu spüren, in welcher Stimmung er ist. Ob er sich lieber verwöhnen lassen oder selbst tätig sein möchte. Nein, ich muss mich korrigieren. Ich WAR in dieser Lage. Jetzt bin ich es nicht mehr, jetzt hat er dafür einen anderen.

Immer noch stehen wir in der geöffneten Wohnungstür und auch wenn es mir vorkommt, als stünden wir seit einer Ewigkeit hier, sind wohl in Wirklichkeit erst ein paar Minuten vergangen.

Immer noch sieht er mich an. Er sieht geradezu in mich hinein, als könne er meine Gedanken lesen, die mich jetzt gerade mit der Gewalt eines Wirbelsturms überfallen. So viele verschiedene Emotionen stürzen auf mich herein. Ich erinnere mich daran, wie glücklich wir miteinander waren, an Momente, in den wir gestritten haben, dass die Fetzen flogen, daran, wie wir aneinander geklammert um einen toten Freund geweint haben und daran, wie wir zitternd vor Leidenschaft miteinander gerungen haben. All das vermischt sich in meinem Inneren zu einem dicken, undurchdringlichen Wust, der nach außen nur ein einziges Gefühl kommuniziert. Das Gefühl des Verlustes. Das Gefühl, das wichtigste in meinem Leben verloren zu haben. Das Einzige, was je gezählt hat.

Würde ich meinem Herzen folgen, würde ich jetzt einen Schritt auf ihn zu treten, ihn in meine Arme nehmen und an mich drücken. Ich würde ihn ganz fest halten und ihn bitten, nie wieder fortzugehen, für immer bei mir zu bleiben und wieder all diese Dinge mit mir zu teilen. Ich würde ihn bitten, wieder seinen Körper ganz nah bei meinem spüren zu dürfen, wieder hören zu dürfen, wie er nachts im Bett neben mir atmet, wieder seine Hand nehmen zu dürfen, wenn wir zusammen die Straße entlang gehen und wieder seine Stimme hören zu dürfen, die mir sagt, dass er mich liebt.

Aber mein Herz schafft es nicht, meinen Körper in Bewegung zu setzen. Und mein Mund schafft es nicht, die Worte auszusprechen. Also warte ich weiter ab.

Alex hebt eine Hand und streicht sich langsam durch den Nacken. Ich weiß, wie sein Nacken sich jetzt fühlt, denn ich kenne das Gefühl, von seiner Hand gestreichelt zu werden. Es fühlt sich wunderbar an. Er ist in der Lage, so viel Zärtlichkeit nur durch das Streicheln eines Nackens oder eines Arms auszudrücken, dass man keine weitere Liebeserklärung braucht. Trotzdem hatte ich sie immer wieder von ihm bekommen.

Er hatte mir oft mit Worten gesagt, dass er mich liebt, aber das war nichts gegen das Leuchten seiner Augen, wenn er mich ansah. Oder gegen die Umarmung, in der wir abends einschliefen und morgens aufwachten. Hintereinander liegend, wobei der hintere den Vorderen umklammert hielt oder einander zugewandt, Arme und Beine umeinander geschlungen.

Morgens aufzuwachen und als Erstes seinen Atem zu hören und sein Gesicht zu sehen, zu spüren, wie seine Hand auf meiner Hüfte lag und ganz langsam begann, meine Haut zu streicheln, noch bevor wir beide richtig wach waren, das ist eines der schönsten Gefühle, die ich in meinem Leben je hatte.

Wir hatten uns im Dämmerlicht angesehen und ohne uns nennenswert zu bewegen, begonnen, uns zu küssen und zu liebkosen, unsere Finger hatten einfach begonnen, den anderen da zu streicheln, wo sie gerade lagen. Dann waren wir näher aneinander gerückt, hatten weitere Zärtlichkeiten ausgetauscht und der Sex, den wir bei diesen Gelegenheiten gehabt hatten, war sanft und liebevoll gewesen. Wenn wir dann überhaupt welchen gehabt hatten. Manchmal hatten wir auch nur da gelegen und gekuschelt, bis wir aufgestanden und frühstücken gegangen waren.

Ich habe diese Momente so sehr geliebt. Dann waren wir uns so unendlich nahe gewesen, als lebten unsere Seelen wirklich gemeinsam in einem einzigen Körper. Wenn ich jetzt morgens aufwache, liegt niemand neben mir, und wenn ich die Hand ausstrecke und auf seine Seite des Bettes lege, fühlt es sich kalt an.

Ich spüre, wie ganz langsam Tränen in meinen Augen aufsteigen. Noch kann ich sie halten. Aber es wird immer schwerer.

Alex' Hand sinkt herunter. Er sieht kurz zu Boden, dann richtet er das Blau seiner Augen wieder auf mich.

"Ich bin hier um dich zu bitten, mir zu verzeihen." sagt er leise. "Ich habe eine große Dummheit gemacht und dir sehr weh getan. Es tut mir unendlich leid."

Seine Stimme klingt dünner als sonst. All das Selbstbewusstsein ist daraus verschwunden und ich höre Angst darin. Sie ist der Gegenpart zu meinem Schmerz. Beide passen ineinander wie Teile eines Puzzles.

"Glaubst du, dass du mir vielleicht irgendwann verzeihen kannst?" fragt er leise.

Glaube ich, dass ich ihm irgendwann verzeihen kann? Ich betrachte ihn und versuche mir über meine Gefühle klar zu werden. Ich habe nicht eine Minute lang aufgehört, ihn zu lieben, das ist mir klar. Aber kann ich ihm verzeihen? Kann ich ihm verzeihen, dass er alles auf eine Karte gesetzt hat, auf der nicht mein Bild war? Kann ich ihm verzeihen, dass er so ehrlich war, mir zu sagen, dass er sich möglicherweise in einen anderen verliebt hatte? Kann ich ihm verzeihen, dass er sich von mir getrennt hat, um herauszufinden, ob es wirklich so ist?

"Bitte Sammy. Ich würde dir gern alles erklären, wenn du mich lässt. Und vor allem würde ich gern wieder mit dir zusammen sein. Es gibt nichts, was ich mir mehr wünsche. Ich weiß, dass ich dir sehr weh getan habe und ich wünschte, ich hätte es nicht. Aber ich ..."

Ich sehe ihn an und weiß, dass ich ihn so sehr liebe, dass ich keine andere Wahl habe als dies zu tun: Ich trete einen Schritt nach vorn und lege meinen Zeigefinger sanft auf seine Lippen.

"Nein." sage ich und schüttle den Kopf. "Sag mir nur, ob du jetzt mit dem anderen zusammen bist."

"Das bin ich nicht. Und ich war es auch nie", sagt Alex. "In dem Moment, als ich hier wegging, wusste ich irgendwie schon, dass es falsch war. Dass du derjenige bist, mit dem ich zusammen sein will. Aber ich war zu feige, sofort umzukehren. Ich dachte, es liegt daran, dass wir so lange zusammen waren und so viel zusammen erlebt haben. Ich dachte, wenn ich ihm erst gegenüberstehe, dann klärt sich alles. Und das hat es auch. Mir wurde klar, dass ich ein unglaublicher Idiot war. Die restliche Zeit habe ich gebraucht um genug Mut zu sammeln um herzukommen."

Er schließt die Augen. "Bitte schick mich nicht weg, Sammy, auch wenn ich es verdient hätte", flüstert er. "Bitte. Wenn Du auch nur noch ein wenig für mich empfindest, dann bestrafe nicht uns beide für meine Dummheit."

Ich kann nicht sprechen, ich habe einen so dicken Kloß im Hals, dass ich kein Wort heraus bekomme. Ich spüre seinen Schmerz, als wäre es mein eigener. Und der kommt noch dazu. Beide verschmelzen zu einem rot glühenden Ball, der meine Eingeweide zu verbrennen scheint.

Alex öffnet seine Augen wieder. Tränen schimmern darin. Er hebt seine Hand und wischt damit zärtlich über meine Wange, die wie ich gerade fest stellen muss, ebenfalls nass ist. Ich habe nicht einmal bemerkt, dass ich weine.

"Es tut mir so Leid, Sammy", flüstert er.

Mühsam schlucke ich den riesigen Brocken herunter. Er ist zurück, wieder bei mir! Ich kann wieder atmen! Ich kann wieder leben! Die Tränen in seinen Augen kitten mein zerbrochenes Herz.

Ich lege meine Arme um ihn und ziehe ihn in die Wohnung. Noch bevor die Tür ins Schloss gefallen ist, kleben meine Lippen auf seinen. Sechs Wochen voller Sehnsucht und Schmerzen sind im selben Moment weggewischt. Sechs Wochen voller Leid und Einsamkeit sind schon jetzt fast völlig vergessen.

Nur ein leichtes Ziehen in meiner Brust erinnert mich daran, dass der Klebstoff an meinem Herzen noch frisch ist. Doch sein Atem, der über meine Wange streicht, beginnt bereits, ihn zu trocknen.

Lesemodus deaktivieren (?)