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Mein bester Feind

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Ich fühlte mich wie der letzte Idiot, als ich an diesem 30. September 2013 neben Frau Hellmann zwischen Lehrerpult und Tafel stand und von 25 neugierigen und trotzdem irgendwie desinteressierten Augenpaaren angestarrt wurde. Mein Rucksack hing an einer Schnalle über meiner Schulter, als meine zukünftige Klassenlehrerin das Wort ergriff: „Wir haben ab heute einen neuen Mitschüler in unserer 10a. Miguel... Möchtest du dich der Klasse kurz vorstellen?“

„Ja... Ähm Hallo.“ Wie immer, wenn ich nervös war, fuhr ich mir mit der Hand durch meine halblangen Haare und stammelte weiter: „Mein Name ist Miguel Garcia, ich komme eigentlich aus Freiburg und wohne jetzt seit Samstag in Münsingen.“

„Uuuh, sexy“, säuselte eine aufgebrezelte Tusse von links aus der zweiten Reihe, wobei ich nicht richtig heraushören konnte, ob das ernst gemeint oder gespottet war.

„Das war sooo klar, dass du bei 'nem Kanaken sofort wieder läufig wirst, Laura“, lästerte jemand aus der letzten Reihe. In den Reihen meiner neuen Klassenkameraden hörte man einige Leute fies kichern.

Das scharfe „Nils!“, das Frau Hellmann ausrief, ging bei mir in einem Ohr rein und aus dem anderen raus. Als sich mein Blick nämlich im selben Augenblick mit dem des Stänkerers kreuzte, tat das gleich doppelt weh.

Vielleicht ist es am Besten, wenn ich, bevor ich weiter schreibe, euch Lesern ein bisschen mehr über mich erzähle, als ich es vor der Klasse getan hatte. Wie ihr es ja eben gerade gelesen habt, ist mein Name Miguel Garcia. Ich bin in Freiburg im Breisgau geboren und groß geworden. Aber jetzt, mit 16 Jahren und kurz nach Beginn meines 10. Schuljahres, wurde mein Vater beruflich versetzt und mir blieb nichts anderes übrig, als gemeinsam mit meinen Eltern umzuziehen. In ein Städtchen in der Schwäbischen Alb namens Münsingen. Diese Entscheidung hatte mir echt weh getan. Denn in Freiburg war ich tief verwurzelt. Ich spielte dort Fußball, hatte einen fantastischen Freundeskreis und in der Schule eine weltoffene Klassengemeinschaft, in der ich mich wohl gefühlt hatte. Alles hoffnungsvolle Voraussetzungen für jemanden wie mich, der sich während der letzten Monate seine Homosexualität selbst eingestanden hatte und gerade dabei war, den Mut für sein Coming Out zu sammeln.

Und nun, wo ich noch keine drei Minuten in meiner neuen Klasse war und schon als Kanake beschimpft wurde, bekam ich eine schmerzhafte Ahnung, dass ab heute alles anders werden würde. In meiner alten Klasse in Freiburg waren einige verschiedene Ethnien vertreten gewesen. Zwei Dunkelhäutige, ein Mädchen mit koreanischen Wurzeln, ein Türke und ein Albaner. Doch wenn ich hier in Münsingen meinen Blick durch die Schulbänke schweifen ließ, wurde mir bewusst, dass ich als Sohn spanischer Eltern augenscheinlich der größte Exot war. Ich hatte schwarze Haare, eine südeuropäisch-braune Haut und schwarz-braune Augen.

Für Leute wie diesen Nils war das wohl Grund genug, mich zu beleidigen. Schon der erste Blick auf diesen Typen ließ mich mehr als nur erahnen, welch Geistes Kind er war. Er trug einen Kapuzenpulli mit dem Schriftzug 'Consdaple' auf der Brust, einer Marke, von der ich wusste, dass sie nur von Rechtsradikalen getragen wurde. Dazu einen martialischen Haarschnitt mit kurz geschorenen Schläfen, während die blonden Oberhaare zu einem Seitenscheitel frisiert waren. Doch was mich am meisten verstörte, als Nils mich mit seinen haselnussbraunen Augen herausfordernd angrinste, war, dass er so süß war. Keine grobschlächtige Schlägervisage oder eine prollige aufgepumpte Figur, sondern ein weiches, angenehm freches Gesicht und von der Gestalt her eher sportlich-grazil. Ich weiß, es ist lächerlich, die Leute danach zu beurteilen. Aber gerade diese Tatsache machte die Anfeindung für mich besonders schwer erträglich.

Es kam dann, wie es kommen musste. In der Klasse waren alle Plätze belegt, bis auf einen. In der hintersten Reihe rechts außen direkt am Fenster war noch ein Platz frei. Natürlich neben Nils.

Frau Hellmann wies mit dem Kopf zu genau diesem freien Stuhl: „Miguel, ich schlage vor, du nimmst gleich Platz und arbeitest dich direkt in die Unterrichtsthematik mit ein.“

„Okay.“

„Ich will aber nicht, dass der Kanake neben mir sitzt“, motzte Nils, als ich auf ihn zuging.

„Nils! Es reicht jetzt! Noch ein Wort und du gehst zum Direktor!“, schrie Frau Hellmann ihn an, was mit einem selbstgefälligen Lächeln von Nils quittiert wurde.

Ich fühlte mich nun zwar alles andere als wohl in meiner Haut und stellte mir auch die Frage, ob Nils vielleicht nur ein Teil einer Nazi-Clique war, die hier die Schule unsicher machte und mir gefährlich werden könnte. Trotzdem beschloss ich auf die Schnelle, mich von diesem Ekelpaket nicht einschüchtern zu lassen. Nils rümpfte die Nase, so als ob ich stinken würde, als ich mich neben ihn setzte. Als Antwort schob ich seinen Rucksack, der halb auf meiner Seite unter der Bank lag, mit dem Fuß zur Seite und kommentierte die Tat mit den Worten: „Mach Platz, Nazi.“

Nils und ich tauschten einen bitterbösen Blick aus.

Der restliche Tag und meine erste Woche in Münsingen verliefen dann so lala. Gut war vor allem die Tatsache, dass der Lehrstoff derselbe war, wie in Freiburg, weshalb es mir nicht allzu schwer fiel, Fuß zu fassen. Außerdem bestätigte sich meine Angst nicht, dass es hier ein Neonazi-Problem geben könnte. Nils war der einzige offen rechtsradikale hier in der Schule und ein Außenseiter. Seltsam empfand ich, dass seine rechten Sprüche und sein Hang zu abstrusen Verschwörungstheorien in der Klasse eher als liebenswerte Spinnereien abgetan wurden. Die allgemeine Haltung meiner neuen Mitschüler entpuppte sich zumindest doch eher als engstirnig und kleinbürgerlich und Nils war nicht einmal unbeliebt. Kontakte knüpfte ich derweil kaum. Unter den Jungs herrschte sowieso meistens eine provinzielle Macho-Attitüde, mit der ich nichts anfangen konnte. Deshalb unterhielt ich mich meistens mit ein paar der Mädchen, mit denen ich besser klar kam. Es war nicht zu übersehen, dass sich die ein oder andere an mich ran machen wollte.

Wahrscheinlich würde ich mit der Zeit ein bisschen blöde rüberkommen, wenn ich sie mir vom Hals halten müsste. Aber das würde ich in Kauf nehmen müssen. Wegen der latenten Homophobie, die hier überall zu spüren war, wurde mir schnell bewusst, dass ich mich hier in Münsingen nicht outen würde. Das Wissen, dass in dem Versteckspiel, das ich immer so gehasst hatte, jetzt erst mal kein Ende in Sicht war, tat zwar weh, aber ich wollte mich auch nicht selbst zum Abschuss freigeben. Und es war ja nicht mal mehr ein Jahr, bis nach meiner Mittleren Reife die Karten neu gemischt werden würden, sagte ich mir ständig.

Gegen meinen widerlichen Sitznachbarn hatte ich mich während der ersten Woche einigermaßen behaupten können. Unsere Streitereien wurden in der Klasse schon bald zum Unterhaltungsprogramm Nummer Eins. Und spätestens, als sich die Woche dem Ende entgegen neigte, hatte ich sogar Spaß daran gefunden, dem Neonazi Kontra zu geben und ihn, wenn sich die Gelegenheit ergab, zu ärgern. Ich glaubte nämlich, ein gewisses Gespür für Nils entwickelt zu haben und hatte den Eindruck gewonnen, dass er trotz seiner schrecklichen Haltung nicht zur Gewalttätigkeit neigte.

Der Wendepunkt kam am Dienstag meiner zweiten Woche in Münsingen. Da stand nachmittags noch Geographie auf dem Plan. Wie üblich war es mittags mit der Konzentration nicht mehr so weit her wie morgens. Herr Thoma hielt vorne einen eintönigen Monolog über die Verstädterung der Landschaften und deren Auswirkung auf die Umwelt und ließ sich durch das immer lauter werdende Gemurmel in der Klasse nicht aus der Ruhe bringen. Ich selbst hatte meine Arme auf dem Tisch verschränkt und mein Kinn auf dem linken Unterarm aufgelegt. Auf diese Weise dämmerte ich vor mich hin und ließ mich von der monotonen Stimme unseres Lehrers einschläfern.

Meine Augen waren nur noch einen winzigen Spalt geöffnet und von außen sah es vielleicht so aus, als ob ich schlafen würde. Da registrierte ich verschwommen aus dem Augenwinkel, wie Nils nach meinem Mäppchen griff und es zu sich zog. Sofort war ich wieder hellwach. Ich griff auch nach meinem Mäppchen, und im nächsten Augenblick entstand ein Gezerre darum, während alle Augen der Klassenkameraden auf Nils und mich gerichtet wurden.

„Gib das Ding her, du miese Sau“, fluchte ich, während ich versuchte, Nils mein Mäppchen zu entreißen. Nils zerrte mit seiner linken Hand ebenfalls an meinem Mäppchen und versuchte die Oberhand darüber zu gewinnen. In der rechten hielt er seinen Edding, mit dem er es wohl beschmieren wollte und malte mir jetzt, während des Kampfs, damit schwarze Punkte und Striche auf die Hand: „Hättest du gerne, Türke.“

„Ich bin kein Türke, sondern Spanier!“

„Schluss jetzt, die Herren Waldorf und Statler!“, brüllte Herr Thoma, der seine hypnotisierende Ansprache unterbrochen hatte.

„Wer sind Waldorf und Statler?“, fragte Nils, während er tatsächlich mein Mäppchen los ließ.

„Das sind die zwei Alten aus der Muppet Show – Idiot“, belehrte ich ihn.

Plötzlich gab Nils mir – wahrscheinlich wegen des letzten Wortes - eine Ohrfeige. Sie kam zwar nur aus dem Handgelenk und tat kaum weh, aber für einen Augenblick fühlte ich mich so gedemütigt und provoziert, dass ich ihn mit beiden Händen gegen die Schulter stieß. Fest genug, dass Nils mitsamt Stuhl auf den Boden kippte.

„Hey, Türke! Du...“, wollte Nils losledern, während er sich aufrappelte, aber Herr Thoma war mit feuerrotem Kopf zu unserer Bank gekommen: „Schnauze, Nils!“ Ich kicherte zufrieden vor mich hin. „Und du auch, Miguel! Ich habe von euch langsam die Faxen dicke!“ Die ganze Klasse war jetzt mucksmäuschenstill geworden. Dieses Temperament, das er jetzt an den Tag legte, hatte der chronischen Schlaftablette Thoma niemand zugetraut und er war noch nicht mit uns fertig: „Für euch beiden habe ich eine besondere Aufgabe. Ihr arbeitet mir gemeinsam eine Präsentation über Modelle der nachhaltigen Städteentwicklung aus und stellt sie uns am Donnerstag vor.“ - Dramaturgische Pause. - „Und ich rate euch, das gut zu machen, sonst gibt das ernste Konsequenzen“, schob er drohend nach.

Nils und ich schauten erst Herrn Thoma und dann uns gegenseitig entsetzt an. Doch alles Jammern und Lamentieren half nichts. Ich und der Nazi saßen für die nächsten zwei Tage in einem Boot.

„So ein Depp, der Thoma“, maulte Nils, nachdem die Stunde und damit auch die Mittagsschule an diesem Tag aus war. „Das hast du uns ja super eingebrockt.“

„DU hast uns das eingebrockt mit deiner Scheiße im Kopf“, berichtigte ich ihn. „Was sollen wir jetzt machen?“

„Jeder macht ein bisschen was und am Donnerstag Morgen bringen wir es zusammen“, schlug Nils vor.

„Das wird doch niemals klappen. Ich befürchte, wir müssen uns wirklich zusammensetzen und gemeinsam etwas ausarbeiten.“

Nils schaute mich an, als ob er mich fressen wollte, aber ich stand zu meiner Idee: „Glaubst du vielleicht, ich hätte Bock darauf, mit dir meine Freizeit zu verbringen? Je schneller wir anfangen, umso schneller sind wir fertig. Am Besten jetzt gleich.“

„Und wo gehen wir hin?“, fragte Nils.

Das war eine gute Frage. Bei uns zu Hause war noch alles sehr chaotisch, weil wir uns noch voll im Umzugsstress befanden. Und so wie ich Nils kannte, würde er dann am nächsten Tag herumerzählen, wie asozial es bei den Kanaken zuginge. Außerdem hatte ich keine Lust darauf, meinen Eltern einen offensichtlichen Neonazi ins Haus zu schleppen.

„Zu dir“, sagte ich nur.

„Vergiss es.“

„Unsere Wohnung ist noch eine Baustelle und das Internet ist auch noch nicht eingerichtet“, log ich, aber das Argument zog. Nils verzog sein unverschämt-süßes Gesicht: „Na dann, packen wir's.“

Wir verließen die Schule zu Fuß und gingen die ersten Minuten schweigend nebeneinander her. Dann murmelte Nils: „Holen wir uns erst noch etwas zu essen.“

Ein bisschen wunderte mich das schon, denn für mich war es gewöhnlich, dass es zuhause etwas zu essen gab, wenn ich von der Schule heimkam. Statt das anzusprechen sagte ich nur: „Döner vielleicht?“, eher aus Gewohnheit und weil in Sichtweite ein Kebab-Laden zu sehen war, wo gerade zwei andere Schüler aus unserer Klasse rein gingen.

Statt der erwarteten Beschimpfung erklärte Nils mir altklug: „Im Leben nicht. Der Özer wichst sein Sperma in die Dönersoße. Hat das Gesundheitsamt letztens festgestellt.“

„Echt?“, fragte ich, wobei Nils die Ironie nicht heraushörte.

„Ja. Aber weil er ein Türke ist, dürfen die nichts machen.“

„Aha.“

Nils führte mich durch mehrere Seitenstraßen an den Rand eines angrenzenden Industriegebietes und dort gab es eine abgeschiffte Frittenbude. Während ich Pommes verdrückte, die nach ranzigem Fett schmeckten und eine von der Soße totgeschlagene Currywurst, lag mir die Frage nach Nils' berühmt-berüchtigten Gesundheitsamt auf der Zunge. Nach dem Essen lag noch einmal ein fast viertelstündiger Fußweg vor uns. Hauptsächlich weil das Schweigen zwischen uns beinahe lächerlich wurde, versuchte ich ein Gespräch in Gang zu bringen.

„Machst du eigentlich Sport?“, fragte ich, weil seine Figur darauf schließen ließ, dass dem so war.

„Im Moment nicht. Bis vor einem Jahr war ich noch bei den Ringern. Da ist auch mein Vater und mein Bruder dabei. Aber das Kampf-Zeugs ist nicht so mein Ding.“

„Und an anderen Sportarten hast du auch kein Interesse?“

„Früher habe ich mal Handball gespielt. Aber heutzutage kannst du ja in kaum einen Verein mehr gehen. Die werden alle von den Ausländern unterwandert, damit sie sie übernehmen können. Und du?“

„In Freiburg habe ich Fußball gespielt. Hab eigentlich vor, nächste Woche die TSG Münsingen zu unterwandern. Mal sehen, ob ich sie in absehbarer Zeit übernehmen kann.“

„So wie die im Moment unten rumkrebsen, kann es danach nur besser werden.“

Ich warf einen Blick zur Seite auf Nils, der vor sich hin grinste und konnte es kaum glauben. Hatte er wirklich gerade einen Witz gemacht, der nicht auf meine Kosten ging?

Der kleine Anflug von Sympathie, den dieses kurze Gespräch geweckt hatte, wurde aber schon bald auf eine harte Probe gestellt. Nils führte mich zu einer Doppelhaushälfte, die von außen einen netten, wenn auch wegen des kitschigen Vorgartens mit den Gartenzwergen etwas spießigen Eindruck machte. Er schloss die Haustür auf und als wir gerade durch die Diele traten, erklang eine raue Frauenstimme: „Bist du das, Nils?“

„Ja.“

Im nächsten Moment kam eine kleine dickliche Frau, deren Gesicht etwas aufgequollen wirkte, aus einer Tür heraus, die, glaube ich, ins Bad führte. Sie schaute mich an, als ob ich von einem anderen Stern käme.

„Was hast du da für Einen mitgebracht?“, fragte sie voller Verachtung.

„Das ist Miguel. Wir müssen für Geographie zusammen eine Aufgabe machen.“

„Und du lässt dir den aufs Auge drücken?“ Sie schüttelte fassungslos mit dem Kopf. „Da wartet man jahrelang, dass du endlich mal ein Mädchen mitbringst und dir fällt nichts besseres ein, als mir so eine Kanaille ins Haus zu holen? Danke auch. Wegen dir und dem Dreck, den du mir da anschleppst, muss ich später wieder putzen.“

„Mama...“

„Nimm dir mal ein Beispiel an deinem Bruder. Der ist aus einem ganz anderen Holz geschnitzt!“

„Ach, halt die Klappe“, sagte Nils genervt zu seiner Mutter. Er schob mich grob an ihr vorbei den Flur entlang zu seinem Zimmer, während ich viel zu schockiert war, um überhaupt zu reagieren.

„Warte nur, bis dein Vater heim kommt!“, rief sie uns noch hinterher und Nils machte eine abwertende Geste, ähnlich eines Stinkefingers, nur ohne erhobenen Mittelfinger, die mich auf eine bizarre Weise rührte.

Als mich Nils durch die Tür in sein Zimmer schob, fühlte ich mich für eine Sekunde erleichtert. Es war so eine Art Rückzugsgebiet vor seiner Mutter. Aber der nächste Schock ließ nicht lange auf sich warten. Die schwarz-rot-goldene Flagge mit Bundesadler in der Mitte, die an der gegenüberliegenden Wand von der Tür hing, war ja noch im Rahmen. Aber die Reichskriegsflagge über Nils' Bett, die das Zimmer dominierte, gab mir den Rest. Ein seltsam beklemmendes Gefühl, überkam mich, als Nils die Tür hinter uns schloss. So als ob mein Verstand keine Luft bekäme.

„Herzlich willkommen in der Wolfsschanze“, murmelte ich niedergeschlagen und Nils grinste hämisch über meine Reaktion.

Seine Augen folgten meinem Blick zur Reichskriegsflagge: „Hab ich letztes Jahr von meinem Bruder zu Weihnachten geschenkt bekommen.“

„Du tust mir leid.“

So langsam bekam ich eine Vorstellung, woher die vergifteten Gedanken kamen, die Nils mit sich trug. Nils schien bemerkt zu haben, dass in meinen Worten weder Sarkasmus noch irgendwelche Häme steckten. Sein Grinsen verschwand aus seinem Gesicht, so als ob ich einen wunden Punkt getroffen hätte.

„Ich würde sagen, wir schauen, dass wir anfangen“, sagte er nur und fuhr seinen PC hoch.

Was in den nächsten zwei, drei Stunden geschah, war für mich noch irritierender, als alles was ich bisher mit Nils erlebt hatte. Ich schätze, wenn wir uns gegenseitig angekeift und uns das Leben schwer gemacht hätten, wäre ich gut damit klar gekommen. Aber dem war nicht so. Wir saßen nebeneinander, Knie an Knie an Nils' Schreibtisch vor dem PC und recherchierten konzentriert und irgendwie auch harmonisch unser Thema an verschiedenen Beispielen weltweit, die wir finden konnten. Ich hatte gerade mein Geographiebuch zu diesem Thema aufgeschlagen auf dem Tisch liegen und las mich durch einen Absatz, um einen Wikipediafund mit den Angaben in unserem Lehrmaterial zu vergleichen. Da sah ich aus dem Augenwinkel, wie Nils seinen Kopf zu mir gedreht hatte und mich anlächelte. Als ich den Augenkontakt suchte, drehte er sein Gesicht schnell weg und wurde wieder ernst.

Ohne, dass wir uns vom Referatsthema ablenken ließen, bemerkte ich immer wieder, wie Nils mich betrachtete, wenn er dachte, ich würde es nicht bemerken und immer wieder meinem Blick auswich, wenn ich ihn dann anschaute. Mit der Zeit schaffte ich es auch, seinen Blick einzufangen. Wir redeten über Fernwärme in Kopenhagen oder Greenovate Boston und mit den Augen tauschten wir so viel Humor aus, dass ich mich schon fragte, ob wir flirteten. Die Zeit verflog überraschend schnell. Obwohl ich insgeheim immer damit gerechnet hatte, dass Nils' Eltern irgendwann das Zimmer stürmen würden, um mich rauszuziehen und auf die Straße zu setzen, gab es keine Zwischenfälle.

Es war schon kurz nach 19 Uhr. Ich war müde, mein Blick wurde verschwommen und von der stundenlangen konzentrierten Arbeit fühlte sich mein Hirn schwammig an: „Ich glaube, ich geh langsam heim. Den Rest können wir ja morgen machen. Viel ist es nicht mehr.“

„Okay.“

Nils schaute mich verträumt an und war offenkundig geistig auch irgendwo anders. Beide hatten wir eng nebeneinander sitzend unsere Ellbogen auf der Tischplatte abgestützt und müde unsere Köpfe auf den Fäusten aufgelegt. Unsere Gesichter waren in dieser Haltung nur wenig von einander entfernt und plötzlich passierte es. Nils' Lippen lagen auf meinen. Ich riss die Augen weit auf und zog reflexartig meinen Kopf zurück. Nils tat das gleiche und ihn hätte der Schreck beinahe vom Stuhl gehauen. Das Ganze kam so aus dem Nichts, dass ich im ersten Augenblick nicht einmal wusste, ob die Initiative von mir oder von Nils ausgegangen war. Aber als ich Nils' verschämte Augen sah, wusste ich es.

„Alter, was war das denn?“, pflaumte ich ihn an und bereute den Tonfall im nächsten Moment wieder.

„Du... Das war ein Versehen. Ich bin abgerutscht.“

„Ähm... Okayyyy“, sagte ich und ließ Nils durch die Betonung erkennen, dass ich kein Wort glaubte.

Nils flehte jetzt schon fast: „Bitte, Miguel. Sag das niemandem weiter.“

Irgendwie fühlte ich einen Reiz, nachzutreten und den Nazi bluten zu lassen. Stattdessen sagte ich nur: „Ich werde vergessen, was da eben passiert ist“, und stand auf.

„Danke.“

Ich hatte schon die Tür zur Diele geöffnet und stand im Türrahmen, da drehte ich mich noch einmal um. Aus dem Wohnzimmer, schräg gegenüberliegend, war gedämpft das Fernsehprogramm zu hören.

„Und wenn du darüber reden willst, kannst du mir vertrauen. Überleg es dir.“

Dann ging ich hinaus und ließ Nils mit diesem Angebot in seinem Zimmer zurück. Keine Sekunde später schrie, wohl als ungebetene Antwort auf meine Worte an Nils, eine harte Männerstimme aus dem Wohnzimmer: „Verpiss dich lieber aus meinem Haus und lass meinen Sohn in Ruhe, du widerlicher Kanake!“

Schlagartig wurde ich aus meiner pathetischen Stimmung gerissen. Mein Zwerchfell verkrampfte sich schockiert, als ich dann noch zu hören glaubte, wie jemand im Wohnzimmer abrupt aufstand und ich hetzte panisch zur Haustür. Mit rasendem Herzen warf ich von der Straße aus noch einen verstörten Blick auf dieses Horrorhaus mit dem gepflegten Vorgarten. Auf dem Weg nach Hause war ich den Tränen nah.

In dieser Nacht brauchte ich lange, um einzuschlafen. Meine Gedanken kreisten um Rassismus, so menschenverachtend, wie ich ihn noch nie am eigenen Leib erlebt hatte, um Reichskriegsflaggen unter dem Weihnachtsbaum, Nils' Lächeln, das bezaubernd war, wenn kein Spott darin lag und die Weichheit seiner Lippen.

„Wer bist du wirklich, Nils?“, murmelte ich im Halbschlaf mitten in der Nacht. Irgendwann schlief ich dann doch noch ein.


Am nächsten Tag ging ich mit einem flauen Gefühl zur Schule. Ich war unausgeschlafen und hatte Bammel. Gestern hatte ich zwar eine fast schon liebenswerte Seite von Nils kennengelernt, aber so ganz traute ich dem Braten nicht. Ich hielt es für wahrscheinlich, dass er in der Gesellschaft unserer Klasse wieder in seine Kotzbrocken-Mentalität zurückfallen würde. Was wäre, wenn Nils die Tatsachen verdrehen und in der Klasse behaupten würde, ich hätte versucht, ihn zu küssen? Einige würden ihm das sicher glauben, schon alleine wegen der Sensation. Und wenn ich dann sagen würde, dass es genau umgekehrt geschehen wäre? Ich hätte mich lächerlich gemacht. Keiner hätte Nils so etwas zugetraut...

Über solche Gedankenspiele zerbrach ich mir den Kopf, als ich kurz vor Unterrichtsbeginn das Klassenzimmer betrat. Wie jeden Morgen um diese Zeit war die Atmosphäre chaotisch. Es wurde gestritten, gelacht, auf die Schnelle noch Hausaufgaben abgekritzelt und durcheinander geredet. Ausnahmsweise war ich heute mal erleichtert, dass mich die meisten meiner neuen Klassenkameraden ignorierten, so wie meistens. Nur Sophie, von der ich das Gefühl hatte, dass sie sich an mich ran machen wollte und mit der ich mich menschlich auf einer Wellenlänge fühlte, rief mir ein fröhliches „Hallo Miguel“ zu. Ich warf ihr ein Lächeln zurück, das genauso nett wie neutral wirken sollte.

Nils war auch schon da. Er saß schweigend auf seinem Platz und seine Augen fixierten mich, wie ich durch die Tür kam und auf ihn zuging. An diesem Morgen trug Nils einmal kein Shirt, das mit rechtem Gedankengut in Verbindung zu bringen war. Er trug einen grauen Pullover, auf dem keine Marke zu erkennen war. Die Augen, die mich betrachteten, wirkten übernächtigt und erschöpft. Ich erkannte auf den ersten Blick, dass mir von dieser Seite heute kein Ungemach drohte.

„Hey“, sagten wir beide fast gleichzeitig zur Begrüßung, als ich mich neben Nils setzte.

Während ich meine Bücher für die erste Stunde aus meinem Rucksack holte und auf den Tisch legte, schaute Nils verstohlen zu mir rüber, so als ob ihm etwas auf dem Herzen läge und er sich nicht traute, es anzusprechen.

„Haben dir deine Eltern wegen mir gestern noch Ärger gemacht?“, fragte ich, hauptsächlich um überhaupt etwas zu sagen.

„Nein, passt schon“, war Nils Antwort, die ich ihm nicht glaubte.

„Gut.“

Wieder ein betretenes Schweigen zwischen uns, das gar nicht zu der morgendlichen Allgemeinstimmung in der Klasse passte. Es war schon eine kleine Erleichterung, als Frau Hellmann das Klassenzimmer betrat und mit dem Unterricht begann. Wahrscheinlich warteten unsere Mitschüler schon darauf, dass Nils und ich mit unseren täglichen Streitereien und Giftpfeilen loslegten. Für diese Showeinlagen waren wir bis dahin immer gut gewesen, aber heute war es anders. Etwas wie eine Katerstimmung lag zwischen uns. Ich wusste nicht, wie ich mit Nils umgehen sollte und er war in seiner Schweigsamkeit nicht zu durchschauen, was in seinem Kopf vor sich ging.

 

Als die große Pause kam, trottete ich alleine auf den Schulhof. Der Geruch des Neuen haftete immer noch an mir und meine Mitschüler machten es mir immer noch nicht leicht, reinzukommen. Wehmütig betrachtete ich die Grüppchen, die zusammenstanden und quatschten oder auf dem etwas abgesetzten Betonplatz kickten.

„Hey Miguel“, klang es fröhlich, während ich in meinem Selbstmitleid schwelgte und jemand kniff mir von hinten ins Ohrläppchen. Ich drehte mich und sah erst mal nichts. Doch als ich meinen Kopf in die andere Richtung drehte, war da Sophie, die sich hinter meinem Rücken versucht hatte zu verstecken und mich nun liebenswert anlächelte. Das Lächeln steckte mich sofort an und ich war ihr dankbar, dass sie mich aus meiner Einsamkeit herausholte.

„Ich hoffe, ich störe dich nicht beim melancholieren?“, scherzte sie, weil mich meine Körperhaltung wohl verraten hatte.

„Nein. Bin gerade damit fertig geworden.“

„Dann bin ich ja erleichtert.“ Ein verlegenes Schweigen, weil niemand so richtig wusste, worüber wir reden sollten. „Und hast du dich inzwischen schon ein bisschen eingelebt?“

„Noch nicht so richtig“, gab ich zu. „Die Leute hier kommen mir zugeknöpfter vor, als in Freiburg.“

„Ach, das wird schon. Du musst sie nur richtig kennen lernen.“ - Wieder so ein offenherziges Lachen von Sophie, das sie noch sympathischer machte.

„Na hoffentlich.“

„Weißt du was, Miguel? Ich schenke dir hiermit eine Stadtführung durch Münsingen. Die schönsten Orte, die nettesten Menschen und die spannendsten Sehenswürdigkeiten an einem Nachmittag. Was sagst du dazu?“

Jetzt hatte es Sophie endgültig geschafft, mich mit ihrer Art zum lachen zu bringen: „Bei so einem Angebot kann ich nicht nein sagen. Und wann möchtest du mich durch die City führen?“

„Gleich heute nach der Schule?“

„Das klingt jetzt zwar verlockend, aber heute Nachmittag hab ich schon ein anderes Date.“

Ich musste grinsen, als ich sah, wie Sophies Kinnlade herunterklappte.

Zur Erklärung schaute ich zu Nils, der alleine auf einer Staffel in der Nähe der Tischtennisplatten saß, von wo er Sophie und mich die ganze Zeit auffällig unauffällig beobachtet hatte und nun, wo wir hinschauten, schnell den Kopf wegdrehte: „Nils und ich sind gestern mit unserer Strafarbeit nicht fertig geworden. Da müssen wir heute noch mal nachlegen.“

„Oh je“, bedauerte mich Sophie. „Ausgerechnet mit dem Nazi.“

„Mit dem werde ich schon fertig“, gab ich an. „Der soll lieber mal aufpassen, dass er später noch gesund genug ist, dass wir am Referat arbeiten können“, schob ich hinterher, denn es roch nach Ärger für Nils. Eine Gruppe Türken aus unserer Parallelklasse und aus der Neunten hatte sich nicht weit von ihm versammelt, hörten auf einem Smartphone Gangsta-Rap und ab und zu gab es für Nils böse Blicke.

„Das hättest du wohl gerne, damit du heute Nachmittag Zeit für mich hast“, lachte Sophie. „Aber mach dir keine Hoffnungen. Die lassen Nils in Ruhe.“

„Da bist du dir so sicher?“

„Du weißt wohl nicht, wie sein Bruder drauf ist. Oder?“

„Erzähl's mir.“

Sophie holte Luft: „Also. Sein Bruder Torsten – der ist jetzt glaub ich 19 oder 20 - ist ein richtig gefährlicher Fascho. Der ist auch in so einer Burschenschaft oder wie man das bei denen nennt. Und wenn Nils jemand Ärger macht, dann kommt Brüderchen mit seinen Freunden, um ihn zu rächen. Da gibt es dann nichts mehr zu lachen“, erklärte sie mir bitter-sarkastisch.

„Also nochmal so Einer“, murmelte ich, aber Sophie relativierte mich.

„Du kannst Nils nicht mit Torsten vergleichen.“ Sie machte eine kurze Denkpause, um zu überlegen, wie sie es am besten verdeutlichen konnte. „Ich kenne Nils ja schon seit dem Kindergarten. Ob du's glaubst oder nicht. Nils hat auch eine gute, sensible Seite und er kann ziemlich nett sein. Aber diese Seite zeigt er immer seltener... Kennst du seine Eltern schon?“

Ich nickte mit bitteren Erinnerungen.

„Die haben sich als NPD-Funktionäre kennengelernt und stecken bis über die Kinnlade im braunen Sumpf. Was soll aus jemandem wie Nils werden, wenn er ein Leben lang von morgens bis abends mit so einem Nazi-Gedankenmüll zugeschüttet wird?! Und jedes Jahr in den Sommerferien, wenn wir eine schöne Zeit erleben, wird er für die nötige Gehirnwäsche zum Ferienlager der Jungen Nationalisten geschickt.“

Ich hätte glatt grinsen können, wie sich Sophie von Wort zu Wort mehr in Rage geredet hatte, wären ihre Sätze nicht so verstörend gewesen. Es kam aber deutlich durch, dass sie Nils noch gerne hatte.

„Und dieser Torsten... Wohnt der auch noch bei den Eltern?“, wollte ich wissen.

„Nein. So viel ich weiß, ist er vor ein paar Monaten nach Blaubeuren gezogen.“

 

Als wir uns nach der großen Pause wieder an unseren Tisch gesetzt hatten, warf mir Nils einen eingeschnappten Blick zu: „Hast du mit Sophie jetzt schön über mich gelästert?“

„Sophie hat behauptet, dass du auch eine nette Seite hättest. Verrückt. Oder?“

„Hmh.“

Kurze Schweig-Pause.

„Wie sieht's jetzt aus, Nils. Machen wir heute Mittag mit dem Referat weiter?“

„Müssen wir ja.“

„Aber eines kannst du mir glauben. Zu dir gehe ich nicht noch einmal mit heim. Heute gehen wir zu mir.“

In Nils' Blick, der bis dahin lächerlich-trotzig (eifersüchtig?!) gewesen war, spiegelte sich für ein, zwei Sekunden ein Schamgefühl, das mir Hoffnung machte: „Wenn du meinst...“

 

Nachdem wir um 13 Uhr Schulschluss gehabt hatten, machten Nils und ich uns tatsächlich gemeinsam auf den Weg zu mir nach Hause. Nils war zumindest nicht mehr ganz so verstockt, wie am Morgen, aber er schien sich trotzdem nicht wohl in seiner Haut zu fühlen.

„Holen wir uns noch etwas zu essen?“, fragte er, kurz nachdem wir das Schulgelände verlassen hatten.

„Ich hab meiner Mutter eine Nachricht geschickt, dass ich jemanden mitbringe. Sie kocht jetzt ein bisschen mehr.“

„Aha. Okay.“

Es kostete mich Mühe, nicht zu lachen, als ich Nils' fast schon verzweifelten Blick sah: „Keine Sorge. Mama wird den deutschen Jungen schon nicht vergiften. Ich hab nur einen Spritzer Abführmittel für deine Portion bestellt, aber das war's dann auch.“

„Depp“, raunzte Nils, aber er schaffte es nicht, sein Grinsen zu unterdrücken.

Wieder trat ein mehrminütiges Schweigen ein, als wir die Hauff-Straße entlanggingen, das Nils beendete: „Ähm... Miguel...“

„Ja?“

„Danke, dass du das mit der... Sache... von gestern niemandem erzählt hast.“

„Geschenkt.“

„Das war wirklich nur ein Versehen. Du musst nicht denken, dass ich ein Homo bin.“

„Mann, Nils. Du musst dich deswegen nicht vor mir rechtfertigen. Selbst wenn es so wäre, wäre das nichts, womit ich ein Problem hätte.“

Nils warf mir einen verblüfften Blick zu, der genauso kurz, wie verräterisch war. Dann schaute er, dass er das Thema wechseln konnte: „Habt ihr euer Internet jetzt eigentlich zum Laufen gebracht?“

„Ich hab dich darüber gestern angelogen“, sagte ich trocken.

„Hab's mir gedacht.“

 

Nun stand eine echte Bewährungsprobe für Nils an. Essen mit den Spaniern. Wegen des Umzugsstresses hatte in dieser Woche auch mein Vater noch Urlaub und natürlich hatten meine Eltern mit dem Mittagessen auf mich gewartet. Und jetzt, wo meine Mutter wusste, dass ich noch einen Gast mitbrachte, hatte sie der Ehrgeiz gepackt. Sie hatte eine große Pfanne voll mit einer andalusischen Hühnchenpaella-Variante gemacht, die in unserer Familie das Leibgericht war. Und für jemanden wie Nils, der dank seiner Erziehung keiner Nahrung traute, die exotischer als ein Zigeunerschnitzel war, war dieses Essen in Gesellschaft mit uns 'Schwarzköpfen' eine Herausforderung.

Zum Glück war Nils an diesem Tag mit seinem grauen Pullover und den New Ballance Sneakers zivil angezogen und in dieser Kombination ging seine Frisur auch als missratener Undercut durch. Außerdem erwies es sich auch als glückliche Fügung, dass ich meinen Eltern gegenüber, wenn ich während der letzten Tage über ihn gemotzt hatte, nie den Namen 'Nils' verwendet hatte, sondern immer nur abfällig von 'dem Nazi' gesprochen hatte. Mama und Papa, die zur Kenntnis für die Strafarbeit eine Unterschrift abgeben mussten, hatte ich am Vorabend erzählt, dass Nils mein bester Freund in der Klasse sei und wir in der mittäglichen Unkonzentriertheit einfach zu viel Blödsinn gemacht hätten. Schon alleine, weil sie wahrscheinlich durchgedreht wären, wenn ich ihnen die Wahrheit gesagt hätte, was ich bei Nils zu Hause erlebt hatte.

Aus diesen Gründen war die Stimmung am Esstisch, als wir um die dampfende Pfanne herum saßen, wie eigentlich immer gelöst und auch ziemlich lustig. Aus dem Augenwinkel registrierte ich voller Schadenfreude, wie Nils vorsichtig mit seinem Löffel die Paella auf seinem Teller antippte, so dass nur an der Vorderseite etwas Reis kleben blieb, den er dann probierte.

„Du kannst ruhig zuschlagen, Nils. Die ist nicht mehr so heiß“, meinte Mama, die das Bild falsch gedeutet hatte. Und lustigerweise haute Nils nach seinem zögerlichen Vortasten tatsächlich rein, als hätte er schon seit Wochen nichts mehr gegessen. Dabei erzählte ich meinen Eltern vom Schultag und, dass mir Sophie morgen ein bisschen die Stadt zeigen wollte.

„Und hat dich der Nazi heute in Ruhe gelassen?“, fragte Mutter, auch um Papa zuvorzukommen, der mich wohl lieber über Sophie ausgefragt hätte. Er sah sich nämlich als ehemaliger Casanova und hatte sich ein bisschen in den Kopf gesetzt, ich solle in seine Fußstapfen treten.

„Ja. Mit dem komme ich im Moment besser zurecht“, antwortete ich.

„Gut. Lass dich da nicht provozieren. Vielleicht kann dir auch Nils helfen, wenn er dir Probleme macht. Und wenn das nicht hilft, reden wir darüber mit Frau Hellmann.“

„Auf mich können Sie sich da aber verlassen“, gab Nils mit vollem Mund an und schöpfte sich einen Nachschlag ein. „Aber ich kenne den Nazi auch schon länger. Der ist nicht so böse, wie alle denken.“

Papa sah Nils nachdenklich an: „Dein Wort in Gottes Ohr, Nils. Weißt du... Wir zwei haben in den Neunzigern schlimme Zeiten wegen den Rechtsradikalen durchmachen müssen, was du dir gar nicht vorstellen möchtest. Dagegen hat Miguel bis jetzt immer Glück mit seinem Umfeld gehabt. Es würde uns das Herz brechen, wenn sich das jetzt ändern würde.“

„Machen sie sich keine Sorgen. Das ist ja nur der Eine. Und mit dem werden wir schon fertig“, murmelte Nils ziemlich verlegen und ich hielt mir eine Faust vor den Mund, um mein Grinsen zu verbergen.

„Wir Zwei wuppen das schon“, sagte ich dann feierlich zu Nils.

Zum Schluss war dann die Pfanne tatsächlich leer, obwohl Mom ziemlich üppig gekocht hatte. Und das lag hauptsächlich an Nils. Dann verabschiedeten wir uns vorerst von meinen Eltern und gingen durch den Flur über auf dem Boden ausgelegte Kartons, weil Dad da gerade am Streichen war, in mein Zimmer.

Auch mein Zimmer war noch sehr improvisiert und machte noch nicht viel her. Bis jetzt hatten wir einfach mal in dem Raum die ganzen Einrichtungssachen untergebracht, aber mit dem Einrichtungs-Feintuning wollten wir frühestens nächste Woche beginnen. Doch Nils lästerte nicht darüber, sondern sein Blick fiel auf das große Bild über meinem Schreibtisch: „Schön.“

Das Poster zeigte eine von Klippen zerfurchte Bucht, wo an einem kleinen Sandsträndchen Fischer ihre Boote herrichteten oder gerade ins Wasser stachen. Darüber waren weiße Häuser eines Dorfs und im Hintergrund, unter dem orangeroten Himmel des Sonnenaufgangs, die schroffen Berge der Sierra Nevada.

„Das Bild hab ich selbst aufgenommen“, sagte ich nicht ohne Stolz. „Das ist bei Nerja in Andalusien. Meine Großeltern wohnen knappe zehn Kilometer von der Stelle entfernt.“

Als ich sah, dass Nils das Bild mit einer gewissen Sehnsucht betrachtete, schob ich noch genüsslich hinterher: „In den Herbstferien besuche ich sie wieder.“

„Hmh.“

„Warst du eigentlich schon mal in Spanien?“

„Nein. Da wird man doch nur abgezockt. Meine Eltern meinen sowieso, dass wir unser Geld in Deutschland lassen müssen“, antwortete Nils erschrocken, so als ob ich gefragt hätte, ob er nicht Lust hätte, in Afghanistan Urlaub zu machen.

„Schade. Ich glaube, das würde dir gut tun.“ Ich klappte mein Notebook auf und holte auch die Notizen, die wir gestern schon gemacht hatten, aus meinem Rucksack. „Okay. Wo waren wir stehen geblieben?“

Ich hätte niemals geglaubt, dass mir Schulaufgaben oder sogar eine Strafarbeit Spaß machen könnten, aber an diesem Nachmittag hatte es mir Spaß gemacht, gemeinsam mit Nils zu arbeiten. Ich musste an Sophies Worte aus der großen Pause denken. An diesem Nachmittag zeigte sich Nils von seiner liebenswerten und sensiblen Seite und passte so gar nicht mehr in das Bild, das ich bis dahin von ihm gehabt hatte. Ein kleines Highlight war noch mal, als wir raus zu meinen Eltern gingen und ihnen mit viel Lachen und Geschäker, während sie den Flur strichen, probeweise unser Referat vortrugen. Ich hatte den Eindruck, dass es Nils danach hinausziehen wollte, heimzugehen. Denn er bestand darauf, dass wir auch noch die restlichen Hausaufgaben gemeinsam machten. Und ich muss zugeben, ich freute mich darüber. Doch irgendwann, es war schon nach 17 Uhr, machte sich Nils bereit, aufzubrechen. Er hatte gerade wieder seine Sachen in seinen Rucksack gepackt, da musste ich es einfach sagen.

„Mann Nils, auch wenn ich es selbst nicht für möglich gehalten hätte, hatte Sophie doch recht. Du hast wirklich eine nette Seite.“

„So was aber auch...“, antwortete Nils gespielt empört.

Ich lachte: „Wenn du mich und meine Eltern nicht hassen würdest, könnten wir glatt Freunde werden.“

„Mensch, Miguel... Ich hasse euch doch nicht.“ Nils' Tonfall ließ erkennen, dass ich ihn getroffen hatte.

„Doch. Du hasst alle Ausländer. Wenn du jetzt sagst, alle Ausländer sind Scheiße und nur ich oder wir Drei sind da eine Ausnahme, dann nehme ich dir das ab.“

„Ja ja“, murrte Nils deutlich schlechter gelaunt, als noch Sekunden zuvor, schwang sich seinen Rucksack über die Schulter und ging zu meiner Zimmertür. Das Gespräch war zwar damit beendet, aber ich war ganz zufrieden mit mir. Nach dem positiven Eindruck, den ich heute von Nils gewonnen hatte, hatte ich Hoffnung, ihm etwas zum nachdenken mit auf den Weg gegeben zu haben.

„Wenn du möchtest, kannst du gerne wieder bei uns vorbeikommen, Nils. Du bist hier immer willkommen“, sagte ihm meine Mutter, die Nils schon ins Herz geschlossen hatte, zum Abschied, als wir auf dem Weg zur Wohnungstür waren.

„Aber sag rechtzeitig Bescheid, wenn du mitessen willst. Bei deinem Appetit muss Ines nämlich vorher noch einkaufen gehen“, hängte Papa noch frech hintendran und brachte uns damit alle wieder zum Lachen, wie so häufig an diesem Nachmittag.

Ich brachte Nils noch die Treppen hinunter und bis zur Straße. „Also... Bis morgen dann“, sagte ich zum Abschied.

„Bis morgen. Ähm Miguel... Du und deine Eltern. Ihr SEID in Ordnung. Auch wenn du das von mir nicht gerne hörst.“

Nils lächelte mich mit trotzigen Augen an und ich war bis unter die Haut gerührt.

Er hatte sich schon umgedreht und war einige Schritte weiter gegangen, ehe ich Nils hinterher rief: „Und Nils.“

Er drehte sich noch einmal um: „Ja?“

„Deine Lippen fühlen sich fantastisch an.“

Einen Moment entglitten Nils' Gesichtszüge. Er dachte wohl, ich wollte ihm jetzt zum Abschluss doch noch einen rein würgen. Aber als er mein ehrliches Lächeln sah, fand er wieder seine Fassung und nickte mir nur verwirrt zu: „Bis morgen.“

Ich ging mit einer ordentlichen Portion Hummeln im Bauch hinein. In diesen Momenten war ich stolz auf meine Eltern, wie sie Nils heute ein anderes Familienleben gezeigt hatten, als er es wohl kannte. Ein Unbeschwertes. Ich war schon gespannt, was der morgige Tag mit sich bringen würde, ohne zu wissen, dass bis dahin – im wahrsten Sinne des Worte über Nacht - meine Welt eine andere sein würde.

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