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Oberstorf

Teil 1

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Er musste ihn wieder sehen. Die zwei Wochen im Trainingscamp waren viel zu schnell vergangen. Gleich am ersten Abend war er ihm im Hüttenzauber aufgefallen. Es war ihm ganz schön peinlich gewesen, dass er erst später mitbekam, dass er sich mit einem Bronzemedaillengewinner unterhielt, der für die kommende Deutsche Meisterschaft hoch gehandelt wurde. Aber er hatte sich nun einmal noch nie viel aus Eiskunstlauf gemacht. Jedenfalls bis zu diesem Tag nicht. Inzwischen hatte sich das etwas geändert, woran ein zierlicher blonder Mann aus Essen einen wesentlichen Anteil hatte. Seit einem Monat hatte er ihn nicht mehr gesehen, jedenfalls nicht live und in Farbe. Sein Bild trug er auf seinem Handy stets mit sich, und immer wenn er die Möglichkeit hatte rief er es auf. Wenn er dachte, dass er alleine war, streichelte er auch oft darüber. Einmal hatte Tom, sein Teamkollege, ihn fast dabei erwischt, als er sein Handy nach dem Eishockeytraining rausgezogen hatte. Zum Glück war Tom nicht aufgefallen, dass er etwas rot im Gesicht geworden war. Wie hätte er ihm auch erklären sollen, dass er sich in einen Mann verliebt hatte – er, der Frauenschwarm seiner ganzen Stufe?

Gleich am ersten Abend hatten sie sich – soweit es die Geräuschkulisse zuließ – stundenlang unterhalten. Naja, er musste zugeben, dass er die meiste Zeit nur zugehört hatte. Aber was sollte er auch machen, gegen so eine Quasselstrippe kam er einfach nicht an. Unwillkürlich musste er grinsen, als er daran dachte, wie sich ihre Hände im Brezelkorb getroffen hatten. Wie ein Blitz war es durch seinen Körper gezuckt und ein Blick in seine Augen hatte ihm gesagt, dass es ihm genauso gegangen war. Ausgerechnet in dem Moment war ihr Trainer auf der Bildfläche erschienen und hatte sie ins Bett gescheucht. Wenigstens hatten sie denselben Weg, da alle Sportler in dem zum Sportzentrum gehörenden Hotel wohnten, wenn auch auf unterschiedlichen Etagen. Wie froh war er um die Dunkelheit gewesen, so hatten seine Teammitglieder nicht mitbekommen, dass sich zuerst immer und immer wieder ihre Hände getroffen und schließlich ineinander verschränkt hatten. Im Hotel hatten sie dann vor der schwierigen Frage gestanden, wie sie sich verabschieden sollten. Er konnte sich es selbst nicht erklären, aber er hatte einen unbändigen Drang gefühlt, ihn zu küssen. Dabei dachte er doch, dass er diese Phase überwunden hätte, dass es einfach nur eine pubertäre Gefühlsverirrung war, als er sich damals in seinen besten Freund verliebt hatte. Es durfte doch nicht sein. Die Jahre zuvor hatte er sich das immer wieder eingeredet, aber es ließ sich nicht länger leugnen. Aber ihn vor den Augen seiner Kumpels zu küssen, hatte er sich dann doch nicht getraut, sondern sich nur mit einem lapidaren „Schlaf gut“ verabschiedet. Den traurigen Ausdruck der blauen Augen war er die ganze Nacht nicht losgeworden und hatte sich von links nach rechts gewälzt. Irgendwann so gegen 6 Uhr hatte er sich dann in seinen Jogginganzug geschmissen um ein bisschen laufen zu gehen. Wenn er gewusst hätte, wie kalt es draußen war, hätte er es sich vielleicht noch einmal überlegt, aber dann wäre ihm etwas Wunderbares entgangen. Ein Lächeln trat auf sein Gesicht als er an den Zusammenstoß dachte. Mit gesenktem Kopf war er um eine Ecke gefegt und war direkt in ihn reingelaufen. Nach einem Moment des Schrecks oder mehr der Verblüffung hatten sie beide lachen müssen. Im Schein der aufgehenden Sonne waren sie einander schließlich in die Arme gefallen und hatten sich zuerst zögerlich und dann heftiger geküsst.

„Essen Hauptbahnhof“ erklang die Durchsage und holte ihn damit aus seinem Tagtraum.

Schnell raffte er seine Sachen zusammen. Sein Handy, das er die ganze Fahrt über von München nach Essen gehalten hatte, steckte er erst einmal in die Hosentasche, allerdings nicht ohne noch einmal einen sehnsüchtigen Blick darauf geworfen zu haben.

Auf dem Weg zu seinem Vater beschlichen ihn dann doch leise Zweifel. Vielleicht hätte er ihn doch vorher mal darüber informieren sollen, dass er keineswegs nur für ein Wochenende nach Essen auf Besuch kam. Aber bislang war er mit ihm eigentlich immer ganz gut klar gekommen, wenngleich der Kontakt über die Jahre sich hauptsächlich auf Telefonate beschränkte. Die Entfernung München/Essen war nun einmal kein Katzensprung, und sein Vater war erst durch den Kurierdienst und seit kurzem durch seine Kneipe so beschäftigt, dass er ihn nicht besuchen konnte. Allerdings bezweifelte er, dass das wirklich der einzige Grund war. Seine Mutter ließ kein gutes Haar an seinem Vater, und seit sie mit Hans-Peter liiert war, war es nur noch schlimmer geworden. Hans-Peter, an den durfte er gar nicht erst denken. Aber er musste jetzt erst mal sehen, dass er den richtigen Bus erwischte, denn für ein Taxi hatte er nicht genug Geld.

Nachdem er eine halbe Rundreise durch Essen gemacht hatte, stand er endlich vor der 7. Er hatte hin und her überlegt und war zu dem Schluss gekommen, dass es besser war, seinem Vater nicht zu erzählen, dass er länger bleiben wollte. In zwei Tagen wurde er 18. Dann konnte er schließlich machen was er wollte. Mein Gott hatte sich Hans-Peter erst letzte Woche wieder aufgeführt. „Solange Du Deine Füße unter meinen Tisch stellst...“ hatte er gebrüllt. Gut, es war wirklich sein Tisch. Seine Mutter hatte ja unbedingt darauf bestehen müssen, dass sie zu ihm zogen. Vielleicht hätte er schon damals darauf bestehen sollen, zu seinem Vater zu ziehen. Aber wer weiß, was ihn hier erwartete. Sein Dad hatte zwar nichts von einer neuen Freundin erzählt, aber wer wusste das schon. Er wusste jedenfalls nur eins: Mit Hans-Peter konnte er nicht länger unter einem Dach leben. Nach der Ansage wäre er ihm fast an die Gurgel gegangen. Ein Grund mehr, nach Essen zu kommen.

Indem wurde die Tür der 7 aufgerissen und sein Vater stand in der Tür. „Mit dir habe ich ja noch gar nicht gerechnet. Ich dachte, du kommst erst heute Mittag.“

„Ich habe nen Zug früher erwischt.“ Dass er im Morgengrauen das Haus verlassen hatte, nur damit keiner mitbekam, dass er für ein Wochenende ein bisschen viele Klamotten mit hatte, behielt er wohl besser für sich.

Nachdem Marian ihn richtig begrüßt hatte, entschuldigte er sich, weil er unbedingt nochmal zum Großmarkt musste, bevor dieser zu machte. So bekam Deniz von ihm die Wohnungsschlüssel in die Hand gedrückt und wurde auf später vertröstet. Aber was sollte er alleine in der leeren Wohnung? Er war schließlich nach Essen gekommen um IHN zu sehen. Der Mann, der sein Herz im Sturm erobert hatte, wusste noch gar nicht, dass er in Essen war.

Am Abend zuvor war er drauf und dran gewesen, ihm von seinem Vorhaben zu erzählen, aber zum einen hatte Roman fast die ganze Zeit von seinem Training und anderen Dingen erzählt, dass er kaum ein Wort dazwischen bekam und zum anderen wollte er ihn überraschen. Er war gespannt, wie er reagieren würde, wenn er ihn sehen würde. Sie hatten zwar täglich telefoniert, aber das war irgendwie nicht dasselbe. Er wollte ihn sehen, riechen, schmecken und vor allem küssen. Und zwar jetzt und sofort.

Um die Uhrzeit müsste er eigentlich Training haben. Er würde einfach mal in der Eishalle nachsehen, das Steinkamp-Zentrum war ja nicht zu verfehlen, und irgendwo würde er ihn schon finden.

Wozu jahrelanges Training im Frauenbezirzen nicht alles gut war, dachte er sich grinsend, als er schließlich in der Eishalle stand. Und da war er …mitten auf dem Eis. Da nur die Eisfläche gut beleuchtet und die Halle ansonsten relativ dunkel war, konnte er sich – unbemerkt von Roman und diesem Typen, der offensichtlich sein Trainer war – nähern. Er wollte ihn nicht beim Training stören, außerdem konnte er ihm so ungestört zusehen, wie er übers Eis glitt, mitleiden, wenn er stürzte, sich wieder aufrappelte und fluchend weiterlief.

„Roman, jetzt konzentrier Dich doch mal endlich! Wozu gehst Du überhaupt ins Trainingslager, wenn Du hinterher fast noch schlechter läufst als vorher?“ wurde er von seinem Trainer angebrüllt.

Obwohl es nur einen Moment lang über sein Gesicht huschte, hatte er es gesehen, das Lächeln.

„Mike, jetzt übertreibs nicht, ich hab einfach schlecht geschlafen. Okayyy?“

„Gut, machen wir für heute Schluss. So bringt das eh nix.“ verabschiedete sich Mike.

Deniz wollte gerade schon aufstehen, um endlich zu ihm zu gehen, als er sah, dass Roman in die Mitte des Eises fuhr, einen Moment die Augen schloss und dann begann zu laufen. Es war alles so anders als zuvor. Seine Bewegungen schienen viel kraftvoller und an einigen Stellen auch weicher und überhaupt war alles anders. Das war ein ganz anderes Programm. Das konnte selbst er sehen, obwohl er kein Eiskunstlaufexperte war. Wie gebannt sah er ihm zu und genoss den Anblick. Erst als Roman nach Luft schnappend wieder in der Mitte der Eisfläche stand, betrat er das Eis und näherte sich ihm von hinten an. Roman war offensichtlich mit seinen Gedanken wo ganz anders gewesen, jedenfalls bemerkte er ihn erst, als er nur noch 5 Meter von ihm entfernt war.

Mit einem „Deniz? Was machst du denn hier?“ kam er ihm entgegen und sie fielen sich in die Arme. Aber als er ihn küssen wollte, hielt ihn Roman zurück. „Nicht hier bitte. Ich muss dir noch was sagen.“

Was sollte das denn nun? Und warum guckte Roman auf einmal so traurig?

„Aber nicht hier ... kommst du mit in die Umkleide? “ versuchte Roman das Gespräch hinauszuzögern, weil er nicht wusste, wie er es Deniz beibringen sollte. Vor allem wollte er aber vermeiden, dass Mike sie zusammen sah. Umso weniger Leute von ihnen wussten, umso besser.

Deniz sah ihn misstrauisch an, stimmte dann aber doch zu. Was hatte das alles zu bedeuten? Gestern noch hatte ihm am Telefon erzählt, wie sehr er ihn vermissen würde und nun das? Hatte Roman etwa einen Freund, von dem er nichts wusste? Aber das konnte doch nicht sein, so oft wie sie miteinander telefoniert hatten, oder? Und der Inhalt der Telefonate erst. Wie oft hatte er gesagt: „Ich liebe dich... Ich vermisse dich...Wie gerne wäre ich bei dir und würde neben dir liegen, dich küssen, dich berühren. Das konnte doch nicht alles gespielt gewesen sein. Aber andererseits ...Roman hatte ihm nie seine Festnetznummer gegeben und auch die E-Mail-Adresse war nichtssagend. Kein Hinweis auf Roman Wild. Irgendwas mit Bergmann und Essen. Gut, das konnte damit zu tun haben, dass er einen gewissen Berühmtheitsgrad hatte und nicht jeder sofort seine private E-Mail-Adresse herausfinden sollte. Aber wieso ausgerechnet Bergmann? Essen war ja klar, schließlich wohnte Roman in Essen. Aber wie kam er auf den Bergbau? Was machte sein Vater eigentlich beruflich? Sehr viel hatte er ja nicht gerade erzählt, nur, dass seine Eltern nach Australien ausgewandert waren. Aber das machte doch alles keinen Sinn. In den zwei Wochen in Oberstorf hatten sie gar nicht genug voneinander bekommen können. In jeder freien Minute, die ihnen das Training ließ, hingen sie zusammen. Allerdings im Nachhinein...es war schon komisch, dass Roman nie versucht hatte, ihn zu küssen, wenn jemand dabei war. Er selbst hatte es sich bis zum Schluss nicht getraut, obwohl er sehr oft kurz davor war. Aber ständig war irgendeiner seiner Eishockeykumpel in der Nähe und er hatte einfach Angst vor ihren Reaktionen. Zum Glück hatte Roman – im Gegensatz zu ihm – ein Einzelzimmer, so dass sie sich wenigstens dort näher kommen konnten. Selbst an seinem Abreisetag hatten sie sich dort verabschieden müssen, weil Roman zu irgendeiner Untersuchung musste. Halt Moment mal...vielleicht war das alles nur ein Vorwand gewesen, damit nicht herauskam, dass zwischen ihnen etwas lief. Aber warum? Hatte er in Essen wirklich einen Freund?

Während Deniz noch in Gedanken vertieft war, hatte Roman schon längst die Schoner über die Kufen gezogen und das Eis verlassen, so dass Deniz die liebe Not hatte, ihm zu folgen. Kaum hatte er die Umkleide betreten, hatte Roman auch schon die Tür zugemacht und ihn gegen den Schrank gedrückt. Fast zeitgleich fühlte er Romans eine Hand in seinem Nacken und die andere an seiner Hüfte. „Roman, was...“ Weiter kam er nicht mehr, da Roman begonnen hatte ihn ungestüm zu küssen. Er musste wissen, warum er ihn auf dem Eis zurückgewiesen hatte, aber da waren diese zarten Lippen auf seinen...die Hand, die von der Hüfte inzwischen nach hinten gewandert war und sich ihren Weg in seine Jeans bahnte. Wie oft hatte er sich das in den vergangenen Wochen gewünscht, Roman endlich wieder zu spüren?

Deniz war so damit beschäftigt, sich den Berührungen hinzugeben und den Körper seines Gegenübers mit den Händen und der Zunge zu erkunden, dass er erst gar nicht mitbekommen hatte, dass er ihm eine Frage gestellt hatte. Grinsend wiederholte Roman: „Kommst du mit unter die Dusche?“ und zog ihn auch schon in die Richtung. In Rekordzeit entkleideten sie sich und sprangen unter die Dusche. Kaum hatten sie angefangen, sich gegenseitig einzuseifen, hörten sie, wie die Tür aufgerissen wurde und eine Männerstimme rief „Roman kommst du nachher zur Bar?“ Roman brauchte einen kleinen Moment, um betont fröhlich zu antworten: „Ja klar.“

Das war doch...Wieso guckte Roman denn jetzt bitte so erschrocken. Hatte er etwa Angst, mit ihm zusammen in der Dusche entdeckt zu werden? Da waren sie wieder, seine Bedenken...Er musste es jetzt ein für alle mal klären. „Roman, was ist los?“

„Ich bin nicht schwul.“ Deniz hörte die Worte aus Romans Mund kommen, aber glauben konnte er sie nicht. Warum sagte er sowas? Und warum hatte er Tränen in den Augen? Er hatte sich die letzten Wochen und vor allem die beiden in Oberstorf doch nicht nur eingebildet. Bevor Deniz auch nur irgendetwas fragen oder sagen konnte, stürmte Roman aus der Dusche und begann, nass wie er war, seine Klamotten anzuziehen, was naturgemäß nicht sonderlich gut funktionierte.

„Roman, jetzt renn nicht weg. Bitte sprich mit mir.“ Als darauf keine Reaktion von diesem erfolgte, hockte Deniz sich vor ihn hin, nahm seinen Kopf in die Hände und zwang ihn so, ihn anzusehen. „Wieso bist du nicht schwul? Was soll das alles bedeuten?“

Statt einer Antwort kamen nur noch mehr Tränen, die Roman offensichtlich peinlich waren. Er wischte sie mit den Händen so gut es ging fort und versuchte sich zu sammeln. Solange er Deniz nicht direkt in die Augen sah, klappte das auch ganz gut, aber wenn er dann doch einen Blick riskierte, schossen ihm sofort wieder die Tränen in die Augen. Er war ein Mann von 23 Jahren und trotzdem heulte er wie ein kleines Baby, noch nicht einmal das bekam er hin. Er hätte erst gar nicht seine Gefühle für Deniz zulassen sollen. Er wusste, dass es ein Fehler war, aber an dem Abend war alles so anders gewesen. Noch nie war ihm das passiert, dass er einen Mann sah, der ihn vom ersten Moment an fasziniert hatte. Ganz entgegen seiner sonstigen Art hatte er ihm Dinge erzählt, die außer seiner besten Freundin niemand wusste. An dem Abend hatte er sich seit langem wieder so gefühlt wie vor einem bestimmten Ereignis. Als sich ihre Hände im Brezelkorb getroffen hatten, war es wie ein Blitz durch seinen Körper geschossen. Er hatte einfach nicht mehr überlegt, sondern ausnahmsweise nur auf sein Herz gehört. Die Zeit war im Fluge vergangen und so hatte er gar nicht gemerkt, wie spät es eigentlich war. Die Trainer taten ja auch nur ihre Pflicht, aber er hätte seinen wahlweise am liebsten angefleht ihm noch ein paar Minuten zu gönnen oder ihn angebrüllt. Letzten Endes hatte er es doch sein lassen, zumal er am nächsten Morgen wirklich früh raus musste. Der Weg zum Hotel hätte von ihm aus ewig dauern können. Zu gerne hätte er die Nähe zu Deniz noch etwas genossen und Deniz' warme Hand in seiner gespürt. Als sie dann schließlich im Hotel waren, hatte er nur noch denken können: nun küss mich doch endlich. Er hatte schon den Eindruck gehabt, dass Deniz es auch wollte, sich nur nicht traute. Die kalte Luft hatte ihn auch wieder ein bisschen nüchtern werden lassen, und so war er fast ein wenig froh, dass Deniz ihn nicht geküsst hatte. Denn dann wäre alles direkt rausgekommen.

Als er dann in seinem Bett gelegen hatte, hatte er es sich vorgestellt, wie es sich wohl angefühlt hätte, Deniz' Lippen auf seinen zu spüren. Und mit jeder Stunde, die er sich von einer Seite auf die andere drehte, wurde der Gedanke intensiver. Wie sollte er Deniz vergessen? Er würde ihn mit Sicherheit jeden Tag sehen bis zu seiner Abreise in zwei Wochen. Aber er musste hart sein, durfte sich keine Schwäche erlauben. Gegen Morgengrauen hatte er noch nicht eine Minute geschlafen. Da ihm Sport meist in solchen Momenten half, beschloss er laufen zu gehen. Allerdings konnte er seinen Kopf nicht wirklich abschalten. Die ganze Zeit kreisten seine Gedanken um einen bestimmten Mann. So hatte er auch nicht bemerkt, dass Deniz die ganze Zeit unweit von ihm durch den Wald rannte, und war an einer Ecke mit ihm zusammengestoßen. Auch wenn es noch halbdunkel war, hatte ein Blick genügt, um seinen Verstand wieder auszuschalten. Er wusste nicht, wie lange sie da gestanden und sich geküsst hatten. Aber so kalt, wie ihm nachher war, musste es eine ganze Weile gewesen sein. Die Sonne war inzwischen auch schon aufgegangen und ein paar Sonnenstrahlen hatten ihren Weg durch die Wolkendecke gefunden. Nur wie sollte es jetzt weitergehen, hatte er sich gefragt. Ehe er zu einem Ergebnis gekommen war, hatte ihm Deniz quasi die Antwort abgenommen, als er sich plötzlich von ihm löste und einen halben Meter von ihm weg getreten war. Er hatte auch keine Sekunde zu früh reagiert, denn in dem Moment tauchten mehrere Jogger, die sich als Deniz' Teammitglieder entpuppten, aus dem Wald auf. Offensichtlich hatten die anderen nichts mitbekommen, jedenfalls erschallte nur ein verwundert klingendes „Guten Morgen. Ihr seid ja früh dran“ bevor sie weiterliefen. Er hatte ihn nie auf seine Reaktion angesprochen, sonst hätte Deniz vielleicht noch Fragen gestellt, die er nicht beantworten wollte oder konnte.

Als sie zurück ins Hotel kamen, wussten sie nicht recht weiter. So verschwitzt, wie sie waren, konnten sie unmöglich Frühstücken gehen, aber trennen wollten sie sich auch irgendwie nicht.

„Ich äh...muss Dir was sagen.“ hatte Deniz schließlich stotternd hervorgebracht. Oh Gott, wenn er daran dachte, was ihm da alles durch den Kopf geschossen war. Angefangen von „Sorry, aber ich hab nen Freund daheim“, bis hin zu „Hast du Kondome da?“ Keine Ahnung wie er darauf gekommen war. Der Gedanke war einfach auf einmal da. Deniz wirkte zwar auf den ersten Blick wie der typische Draufgänger, der alles mitnahm, was nicht bei 3 auf den Bäumen war, aber wenn man ihn näher kannte, dann wurde einem klar, dass er innen drin ganz anders war. Aber das Geständnis, das Deniz ihm dann schließlich in seinem Zimmer machte, weil er es draußen auf dem Gang nicht so richtig über die Lippen bekam, erstaunte ihn dann doch ein wenig. Dieser gut aussehende Mann sollte noch nie etwas mit einem Mann gehabt haben? Deniz hatte seine Reaktion damals wohl etwas missverstanden und wollte schon enttäuscht das Zimmer verlassen, als er ihn an der Schulter festgehalten hatte. Nur wie sollte er ihm begreiflich machen, was in ihm vorging? Wie sollte er ihm erklären, dass ihre Beziehung keine Zukunft hätte? Dabei wäre ihm insgeheim nichts lieber gewesen als dass sie zusammenbleiben könnten. Er wollte nicht einfach nur einen One-Night-Stand und das war's dann. Dieser Mann hatte es geschafft, sein Herz schneller schlagen zu lassen und Gefühle in ihm zu wecken, die er so lange unterdrückt hatte, aber es konnte einfach keine Zukunft für sie geben.

Nachdem sie sich einen Moment lang nur in die Augen gesehen hatten, hatte er schließlich das Schweigen gebrochen und vorgeschlagen gemeinsam duschen zu gehen. Als er Deniz' erschrockenes Gesicht gesehen hatte, hatte er sofort hinterher geschoben: Nur duschen, nichts anderes. Oder willst Du lieber alleine duschen?“ Deniz hatte nur stumm mit dem Kopf geschüttelt und dann langsam seine Trainingsjacke geöffnet. Als er da so vor ihm stand in seinem weißen Unterhemd, das seine Muskeln noch mehr zur Geltung brachte, hatte er schwer schlucken müssen. Wie Trance hatte er dann auch angefangen sich selbst auszuziehen. Mit der Zeit hatten sie das Tempo gesteigert und so dauerte es auch nicht lange, bis sie nackt voreinander standen. Es war ja nun nicht so, dass er nicht öfters andere Männer nackt sah, wenn auch nur in der Umkleidekabine, aber Deniz dann so zu sehen... Ihm schien es da ganz ähnlich zu gehen.

Zum Glück war die Dusche groß genug, um zu zweit zu duschen. Nachdem er die richtige Temperatur eingestellt hatte, war er hineingestiegen und hatte Deniz aufgefordert, ihm zu folgen, was er dann auch ein wenig zögerlich tat. Soviel zum Draufgänger hatte er sich gedacht. Zuerst zaghaft und mit jeder Minute sicherer, hatten sie sich gegenseitig eingeseift. Zwischendurch hatten sie sich immer wieder geküsst. Mit der Zeit ließ sich ihre beider Erregung nicht mehr verbergen. Er war sich wirklich nicht sicher gewesen, ob er damit nicht zu weit ging, aber als er in Deniz Augen nichts hatte entdecken können, was dagegen sprach, hatte er langsam begonnen ihn unterhalb der Taille zu streicheln. Deniz schien es zu gefallen, jedenfalls legte er seinen Kopf an die Fliesenwand und schloss die Augen. Mit jeder Berührung hatte sich Deniz' Erregung gesteigert und er hatte ein leises Stöhnen vernommen, das immer lauter zu werden schien und in einem laut gestöhnten „Roman“ gipfelte. Anscheinend war ihm das hinterher etwas peinlich, aber seinen Kuss hatte er ziemlich fordernd erwidert. Als er gefühlt hatte, wie Deniz versuchte ihm die gleichen Freuden zukommen zu lassen, hatte er ihn zunächst aufhalten wollen, aber er hatte sich nicht beirren lassen und so hatte es nicht lange gedauert, bis auch er schwer atmend in der Dusche stand. Während er versuchte, wieder zu Atem zu kommen, hatte er seinen Kopf an Deniz Schulter gelegt und seine Hüfte umfasst. Sie standen ganz dicht beieinander und er hatte den Herzschlag seines Gegenübers spüren können. Wie sollte das nur weitergehen? Zwei Wochen waren nicht lang, und dann würde Deniz wieder nach München zurückfahren und er würde auch kurz darauf wieder nach Essen zurückkehren. Unterdessen hatte es auch schon an der Türe geklopft und sein Trainer hatte etwas von „Frühstück“ gerufen und war dann wieder verschwunden.

Eine Stimme holte ihn aus seinen Gedanken, „Roman?“ Was sollte er ihm nun sagen? Sollte er ihm alles erzählen? Wie würde er reagieren?

„Roman was ist los? Was soll das heißen, du bist nicht schwul?“

„Hier weiß keiner, dass ich schwul bin. Alle denken, dass ich mit Annette zusammen bin, dabei sind wir nur Freunde. Aber lange geht das eh nicht mehr, weil sie in Ingo verliebt ist, aber sie will es ihm nicht sagen, damit nicht rauskommt, dass wir nicht wirklich zusammen sind. Aber das geht einfach nicht. Du solltest sie mal sehen, wenn sie wie ein Häufchen Elend dasitzt und ihn heimlich anschmachtet. Und Ingo mag sie auch sehr, das hat er mir selbst gesagt. Ich kann doch nicht zulassen, dass die beiden wegen mir unglücklich sind...Aber wenn die Presse davon Wind bekommt, dass ich schwul bin, dann weiß es hier bald jeder und ich ...ich ...ich will das nicht nochmal erleben.“

„Was willst du nicht nochmal erleben?“ hakte Deniz vorsichtig nach, weil er merkte, wie schwer es Roman fiel darüber zu sprechen.

In Gedanken durchlebte dieser gerade noch einmal das schreckliche Ereignis und die Zeit danach im Krankenhaus. Er konnte die Tränen, die ihm unaufhörlich über die Wangen liefen nicht aufhalten, obwohl es ihm äußerst peinlich war, vor Deniz zu weinen.

„Heh, komm mal her.“ flüsterte Deniz und zog ihn in seine Arme. Mit dem Kopf an Deniz' Brust wurde er langsam ruhiger und richtete sich schließlich wieder auf. Er musste es ihm jetzt sagen. Dann würde er es hoffentlich verstehen, warum er nicht zu seiner Homosexualität stehen konnte. Noch einmal holte er tief Luft und wischte sich die Tränen mit den Händen weg.

„Ein paar homophobe A........ haben mich vor ein paar Jahren in dem Dorf, wo ich ursprünglich herkomme, zusammengeschlagen und zwar so, dass ich eine Woche im Koma lag. Und weißt du, was der erste Kommentar meines Vaters war?“

„Nein.“

„Siehst du, das hast du nun davon. Ich hab dir doch gleich gesagt, dass das nochmal schlimm enden wird mit dir.“

„Wie bitte??? Was soll das denn heißen? Der spinnt doch. Und was hat deine Mutter dazu gesagt?“

„Nichts. Sie hat nur geheult.“

„Und dann? Du hast ihm hoffentlich die Meinung gesagt.“

„Ja hab ich. Und als ich halbwegs wieder o.k. war, bin ich weggegangen. Ich dachte, hier in Essen wäre es besser. Ich habe auch gleich jemanden kennengelernt und mich in ihn verliebt. Später hat sich dann herausgestellt, dass der Typ nur jemanden für eine Nacht haben wollte. Da habe ich mir dann geschworen, mich nicht wieder zu verlieben.“

„Aber ...“ setzte Deniz an.

Roman nahm seine Hand und sah ihm tief in die Augen.

„Bei dir war das irgendwie anders. Ich kann es dir auch nicht erklären, aber ich habe irgendwie sofort gespürt, dass da was ist zwischen uns, obwohl wir uns gar nicht kannten. Als sich unsere Hände im Brezelkorb getroffen haben ... das war ... ja das war, als wenn mich ein Blitz getroffen hätte.“

„Bei mir auch.“ grinste Deniz und zauberte damit auch Roman wieder ein kleines Lächeln auf die Lippen. „Heh, du lachst wieder. So gefällst du mir gleich viel besser.“

„Spinner.“ gab Roman lachend zurück und boxte ihn leicht.

Einen Moment lagen sie sich in den Armen, bis sich Deniz wieder löste, weil ihm eine Frage keine Ruhe ließ: „Aber warum bist du dann mit Annette zusammen?“

„Ich habe sie ganz am Anfang meiner Karriere hier, mit zu einer Veranstaltung genommen, weil sie unbedingt einen Schauspieler treffen wollte, der auch kommen sollte. Naja, und die Presse hat dann aus ihr meine Freundin gemacht. Und auf einmal bekam ich lukrative Sponsorenverträge ohne Ende. Und immer wieder klang durch, dass sie genau so einen Eiskunstläufer gesucht hätten. Eben ne Hete mit Freundin. Einer hat mal ganz klar zu mir gesagt, dass er eigentlich gedacht hätte, ich wäre schwul, und dass er mich dann nicht unter Vertrag genommen hätte.“

„Aber es muss doch auch Sponsoren geben, die nicht so eine bescheuerte Einstellung haben.“ empörte sich Deniz.

„Das ist alles nicht so einfach.“

„Wissen deine Freunde wenigstens, dass du schwul bist?“

„Nein, außer Annette weiß es keiner.“

„Wahnsinn!“

„Und du? Jetzt erzähl mir nicht, dass es bei dir alle wissen. Das glaube ich nämlich nicht.“

Er hätte sich wohl besser nicht so weit aus dem Fenster hängen sollen, dachte sich Deniz. Sollte er zugeben, dass es außer Kerstin niemand wusste? Und selbst dieses Geständnis war nicht ganz freiwillig gewesen. Sie hatte ihn nämlich eines Tages dabei überrascht, wie er gerade mal wieder heimlich in der Pause sehnsuchtsvoll Romans Bild in seinem Handy betrachtet hatte. Er hatte es an ihrem letzten Abend gemacht, als Roman noch mit feuchten Haaren und nur mit einem Handtuch bekleidet vom Duschen gekommen war. Auf seinem Oberkörper glitzerten noch vereinzelte Wassertropfen. Gerade, als er sich vorstellte, diese mit der Zunge aufzunehmen, hatte er Schritte hinter sich gehört. Er hatte zwar blitzschnell das Menü wechseln können, hatte aber nicht verhindern können, dass ihm die Röte ins Gesicht stieg. Natürlich hatte Kerstin sofort nachgehakt und Vermutungen angestellt, was er sich da angesehen hatte. Als sie ihm auf den Kopf zugesagt hatte, dass er den Mann auf dem Foto sehr lieben müsse, hatte er nur nicken können. Erst ein paar Sekunden später war ihm aufgefallen, dass er vorher überhaupt nichts von einem Mann gesagt hatte. Dabei war er sich doch sicher gewesen, dass sie gar nichts hatte sehen können. Im Gespräch stellte sich dann heraus, dass Kerstin schon immer so eine Vermutung gehabt hatte. Die Pause war leider viel zu schnell zu Ende gewesen und so hatten sie sich für den Nachmittag verabredet. Er war froh gewesen, endlich mit jemandem über seine Gefühle sprechen zu können. Soviel wie an diesem Nachmittag hatte er noch nie an einem Stück erzählt. Kerstin hatte ihm die ganze Zeit aufmerksam zugehört und nur dann und wann eine Zwischenfrage gestellt. Später hatte er sie dann darauf angesprochen, wie sie denn überhaupt auf die Idee gekommen war, dass er in einen Mann verliebt war, und sie hatte ihm von ihrer Vorliebe für schwule Liebesgeschichten erzählt. Zuerst hatte er es gar nicht glauben können, dass sich eine heterosexuelle Frau dafür interessieren könnte, aber an der Art und Weise, wie Kerstin darüber sprach, war ihm sehr schnell klar geworden, mit welcher Leidenschaft sie bei der Sache war. Aber Kerstin war eh schon immer anders als die Mädels in seiner Stufe gewesen. Wenn er doch nur vorher gewusst hätte, womit sie sich beschäftigte, hätte er schon viel früher über seine Gefühle sprechen und vielleicht auch dazu stehen können, aber es war alles nicht so einfach. Er hatte einfach Angst vor den Reaktionen der anderen. Und so hatten sie erst einmal vereinbart, dass es ihr kleines Geheimnis bleiben sollte. In ihrer Jahrgangsstufe wurden sie schon bald als das neue Traumpaar gehandelt, so oft wie sie zusammenhingen. Am Anfang hatte sie die Gerüchte noch dementiert und sich betont kumpelhaft gegeben, aber gerade darin sahen die anderen einen Beweis dafür, dass sie doch zusammen waren.

Am Vortag hatte ihn Kerstin zu sich eingeladen. Auf dem Weg zu ihr war ihm ein schwules Paar begegnet, das offensichtlich kein Problem damit hatte, sich in der Öffentlichkeit zu küssen. Unwillkürlich musste er sie angestarrt haben, jedenfalls hatte ihn einer der beiden darauf angesprochen. Es war ihm schrecklich peinlich gewesen, so dass er schnell das Weite gesucht hatte. Dabei hatte er sich eigentlich nur vorgestellt, dass Roman und er sich so küssen könnten. Aber Roman war weit weg in Essen gewesen und so war er ziemlich missmutig bei Kerstin angekommen. Aber sie hatte es irgendwie geschafft, ihn aufzubauen. Als sie sich dann auch noch zusammen den Film Sommersturm angesehen hatten, war ihm klar geworden, dass er endlich zu seinen Gefühlen stehen musste, auch wenn es vielleicht schwer werden würde. Nach einer erneuten abendlichen Diskussion mit seinem Stiefvater war dann schließlich das Maß voll gewesen. Roman wollte er mit seinen Problemen nicht belasten. Nicht mitten in den Vorbereitungen für die Deutschen Meisterschaften. Erst in ihrem letzten Telefonat hatte er darüber geklagt, dass er zwischen den Trainingseinheiten kaum zum Luftholen kam und hatte schließlich Kerstin angerufen und ihr auch von dem schwulen Paar erzählt. Sie war es dann auch gewesen, die ihn darin bestärkt hatte, nach Essen zu fahren.

Und nun war er hier, aber immer noch kein Stück weiter. Er hatte gehofft, dass Roman ihm bei seinem Outing helfen könnte, aber so, wie es nun aussah, würde es wohl eher umgekehrt laufen.

„Roman, ich...“ setzte er an und brach wieder ab. Was sollte er ihm nur sagen? Er wusste ja noch nicht einmal, dass Marian sein Vater war. Oh Gott, an seinen Dad durfte er ja gar nicht erst denken. Er war zwar nicht gerade ein gläubiger Moslem und ansonsten auch sehr weltoffen, aber ob er mit der Homosexualität seines Sohnes zurechtkommen würde? So langsam machte sich ein unangenehmes Gefühl in seiner Magengrube breit.

„Deniz, nun sag doch was.“ forderte ihn Roman auf. Der Klang seiner Stimme, der Blick in seine blauen Augen und dazu seine Hand, die zärtlich seinen Hals streichelte...genau das hatte er in den letzten Wochen so sehr vermisst, und plötzlich war er sich sicher: er wollte endlich allen anderen zeigen, wie sehr er Roman liebt. Zusammen würden sie es schon irgendwie schaffen.

„Ich ... ich“ setzte Deniz an, wurde aber jäh von dem plötzlichen Aufstoßen der Tür unterbrochen. Roman konnte gerade noch seine Hand zurückziehen. Mike wusste nicht so recht, was er von der Situation halten sollte. Roman, der offensichtlich geweint hatte, und was bitte machte der fremde Mann in der Umkleide, der zudem auch nur mit einem Handtuch bekleidet war? Irgendwo hatte er ihn doch schon mal gesehen, er wusste allerdings nicht, wo. Aber er hatte jetzt keine Zeit sich darum zu kümmern. Eigentlich war er ja auch nur gekommen, um Roman Bescheid zu geben, dass er nicht mehr länger warten konnte. Ursprünglich hatte er mit ihm nochmal die Kürelemente besprechen wollen, aber wenn er sich nicht beeilte, würde jemand anders die Wohnung bekommen, für die er sich – wie so viele andere auch – beworben hatte. Auf die Dauer war das Übernachten im Auto nämlich nicht gerade angenehm und außerdem lag die Wohnung ziemlich in der Nähe des Zentrums und die Miete war auch erschwinglich.

Roman war es nur ganz recht, dass Mike es so eilig hatte. Was hätte er ihm auch sagen sollen, wer Deniz war? Als ein Eiskunstläufer wäre er nicht unbedingt durchgegangen, zumal Mike auch die meisten Läufer zumindest vom Sehen her kannte. Und erzählen, wer er wirklich war? Konnte er das Risiko eingehen? Wer sagte ihm denn, dass er nicht aus Versehen irgendwas ausplauderte? Vor allem wenn er daran dachte, wie redselig sein Trainer wurde, wenn er etwas getrunken hatte. Er konnte Deniz anmerken, dass er enttäuscht war, aber so schnell und einfach, wie Deniz sich das vorstellte, ging das nun einmal nicht. Wenn er sich jetzt outete, dann war er womöglich einen Großteil seiner Sponsoren los, und damit stand seine Position im Steinkamp-Team auch auf etwas wackeligen Füßen. Okay, er hatte eine Medaille gewonnen, aber ob ihn das vor dem Rauswurf bewahrte? So ganz sicher war er sich da nicht. Vor allem, wie lange würde Deniz überhaupt bleiben? Länger als das Wochenende über doch wohl kaum. Er hatte ja noch nicht einmal Sachen zum Wechseln dabei. Spätestens morgen würde er wieder alleine sein...alleine mit seinen Ängsten, und aber auch mit seinen Sehnsüchten, die ihn den letzten Wochen immer wieder begleitet hatten. Die wenigen Minuten am Tag, die sie miteinander telefonierten, reichten einfach nicht aus. Aber er konnte weder verlangen, dass Deniz in München alles aufgab, noch konnte er so einfach mit ihm nach Bayern gehen. Für beide stand viel auf dem Spiel. Für Deniz das Abi, und er stand kurz vor der Meisterschaft. Eigentlich sollte er sich jetzt komplett auf sein Training konzentrieren, aber wie sollte er das schaffen? Die körperlichen Voraussetzungen, um weit vorne mitzulaufen hatte er zwar, aber solange er in Gedanken und vor allem mit dem Herzen woanders war, nutzte ihm das nicht viel. Aber jetzt waren erst einmal andere Dinge wichtig. Noch länger konnten sie hier nicht sitzen bleiben. Gleich würde das Training des hauseigenen Eishockeyteams beginnen.

Während Roman seinen Gedanken nachgehangen war, hatte Deniz sich angezogen und warf ihm nun die Jacke zu. „Hier, zieh die schnell an, sonst erkältest du dich noch.“ Dankbar hatte er ihm zugelächelt und gedacht, wie schön es wäre, jetzt einfach den Arm um Deniz' Hüfte zu legen und mit ihm gemeinsam nach Hause zu gehen...Aber es ging nicht...Auch wenn ihm eher zum Weinen zumute war, versuchte er doch, sich das nicht anmerken zu lassen. In Oberstorf war alles anders. Zwar waren sie da auch nicht alleine gewesen, aber es war für ihn nicht so schwer gewesen, ihre Liebe geheim zu halten. Die meiste Zeit des Tages war sowieso mit Training ausgefüllt, und wenn sie morgens und abends zusammen joggen gegangen waren, hatte keiner Verdacht geschöpft. Dass sie dabei immer wieder Pausen eingelegt und sich geküsst und umarmt hatten, hatte nie jemand mitbekommen. Und ansonsten gab es ja auch noch das Hotelzimmer. Aber er konnte hier in Essen doch wohl kaum mit Deniz ins Hotel gehen. Sollte er ihn mit ins Loft nehmen? Annette wusste schließlich, dass er schwul war, aber die anderen?

Ohne es zu wissen nahm ihm Deniz die Beantwortung der Frage ab:“ Sei mir nicht böse, aber ich muss mich mal bei meinem Dad blicken lassen. Er ist bestimmt schon aus dem Großmarkt zurück.“

„Dein Dad?“ Ach ja, Marian, der neue Pächter der Kneipe in der Siedlung. Sieben hatte er sie soweit er wusste getauft.

„Kommst du mit in die Sieben?“

„Weiß dein Vater Bescheid?“

„Klar weiß er, dass ich komme. Wir haben uns ja schon gesehen“, umging Deniz die Antwort, die Roman eigentlich erwartete.

„Das habe ich nicht gemeint, sondern ob er weiß, dass du schwul bist und vor allem, dass wir zusammen sind. Das sind wir doch oder?“

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