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Little Lies

Teil 4

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Inhaltsverzeichnis

Janosch: Freitag Abend, 19:15 Uhr

Mir war alles zu viel geworden. Ich konnte einfach nicht begreifen, was in den letzten drei Tagen alles geschehen war. Und jetzt hatte ich auch noch meinen einzigen wirklichen Freund abgrundtief verletzt. Kaum war ich von Rips Grundstück gelaufen, war mir klar geworden, was ich eigentlich zu Luke gesagt hatte. Und genauso klar war mir, dass er mich dafür hassen würde und garantiert nie wieder ein Wort mit mir reden würde.

Als ich auf der Straße vor dem Zaun stand, hörte ich plötzlich ein vertrautes Winseln. Rinty stand hinterm Zaun und sah mich mit seinem typischen Hundeblick an - wohl der einzige Freund, den ich jetzt noch hatte. »Na, Kleiner, willst du mitkommen?«, fragte ich ihn, und als Antwort kam nur ein kurzes, kräftiges Bellen. Das reichte mir. Ich öffnete die Gartentür, Rinty wischte flink hindurch und sprang an mir hoch. Zum Glück war er damals noch nicht ausgewachsen, sonst hätte er mich wahrscheinlich glatt umgeworfen.

Wir liefen langsam die Straße herunter, ohne ein bestimmtes Ziel. Unterwegs trafen wir eine ältere Dame, die mit zwei Einkaufstaschen in der Hand in unsere Richtung lief. Als wir sie erreicht hatten, lief Rinty schwanzwedelnd auf sie zu. Sie stellte ihre Tüten ab, beugte sich herunter, streichelte ihm über den Kopf und redete ein bisschen auf ihn ein. »Na, mein Kleiner, ich hab' dich ja lange nicht gesehen.« Rinty fühlte sich offensichtlich wohl in ihrer Gesellschaft. Schließlich wandte sie sich auch mir zu.

»Bist du bei Dr. Masters zu Besuch?«, fragte sie mich. Ich nickte stumm. Sie lächelte. »Na, dann scheinst du in Rinty auch gleich einen Freund gefunden zu haben. So zutraulich ist er nicht zu jedem.« Ich versuchte ein Lächeln, schließlich konnte sie auch nichts dafür, dass ich mich so miserabel fühlte. »Zu Ihnen aber doch auch.« Sie gab mir die Hand. »Ich bin Charlotte von Bergheim, die Nachbarin von Dr. Masters«, stellte sie sich vor. »Janosch Reilly.« »Komm' doch mal vorbei, wenn du magst. Ich wohne allein und freue mich immer über ein bisschen Gesellschaft.« Ich nickte. »Ja, vielleicht mache ich das. Ich weiß aber nicht, wie lange ich noch bei Rip ... Dr. Masters bin.« Sie nickte. »Dann wünsche ich dir noch viel Spaß mit Rinty. Und du passt gut auf den Jungen auf, hörst du?«, sagte sie an Rinty gewandt.

Ich ging weiter und war froh darüber, dass die Unterhaltung nicht zu lange gedauert hatte. Ich wollte momentan einfach nur allein sein ... allein mit Rinty, der momentan mein einziger Freund war. Ich lief eine Weile durch die Straßen, bis ich schließlich an der S-Bahn-Station angekommen war. Ganz plötzlich kam mir die Idee, irgendwohin zu fahren. Also setzte ich mich in die nächste S-Bahn und fuhr zum Hauptbahnhof.


Ripley: Freitagabend, 19:20 Uhr

»So, ganz ruhig, alle tief durchatmen und dann geht's weiter.« Mittlerweile hatten wir uns alle in der Küche zu einer Lagebesprechung eingefunden. Luke war völlig durcheinander, Richie kümmerte sich ein bisschen um ihn und redete beruhigend auf ihn ein. »Rinty ist übrigens auch nicht aufzufinden«, merkte Jason knapp an. »Dann hoffe ich, dass Janosch ihn dabei hat.« Ich drückte meine Zigarette im Aschenbecher aus. »Okay, los geht's. Jason und Richie, ihr sucht die Richtung stadtauswärts. Nick, du und Luke ihr sucht stadteinwärts und in Richtung S-Bahn. Ich werde die Polizei informieren, vielleicht kann Matthies uns helfen.«

Luke schniefte. »Was ist mit Mum?« Ich schüttelte den Kopf - hoffentlich energisch genug. »Auf gar keinen Fall. Wenn wir Glück haben, finden wir Janosch so schnell wie möglich und sie bekommt gar nichts davon mit. Sie wollte sich noch mit Barbara zusammensetzen.« »Wer ist Barbara?«, war die einzige, völlig irrationale Frage, die Luke dazu einfiel. »Die Frau von Roland. Und jetzt los.«

Die anderen brachen ohne ein weiteres Wort auf, während ich verzweifelt versuchte, Herrn Matthies zu erreichen. Leider hatte ich seine Handynummer nicht, und so musste ich mich durch die Polizeizentrale arbeiten. Es gab drei Matthies in Hamburg, und ich wurde von Revier zu Revier weitergereicht, nur um schließlich zu erfahren, dass er schon Feierabend hatte. Kaum hatte ich wütend den Hörer wieder aufgeknallt, stürmte Richie in die Küche. »Rip, ich habe gerade mit Frau von Bergheim gesprochen, sie hat Janosch und Rinty gesehen, auf dem Weg die Straße 'runter.« »Wann war das?«, fragte ich. »Muss vor fünf oder zehn Minuten gewesen sein.«

Ich griff wieder zum Telefon und rief Nick auf dem Handy an - insgeheim war ich froh darüber, dass die Jungs sich mir gegenüber durchgesetzt hatten. Ich informierte ihn kurz, aber die beiden hatten nichts gesehen. »Okay, kommt so schnell wie möglich wieder her, wir fahren mit den Autos los.« Zum Glück behielt wenigstens Nick einen klaren Kopf, von Luke konnte man das nicht unbedingt behaupten - und wenn ich das so im Nachhinein betrachte, machte ich mir wohl genauso viele Sorgen um Janosch wie er das tat.


Nick: Freitagabend, 19:30 Uhr

Rip hatte uns noch ein paar Anweisungen gegeben, wo wir suchen sollten, in unserem Fall endete die Suche an der S-Bahn-Station. Als wir dort angekommen waren, sprang Luke aus dem Wagen und rannte sofort auf den Fahrplan zu. »Verdammter Mist!«, hörte ich ihn brüllen, noch bevor ich den Wagen abgeschlossen hatte. »Was ist los?«, rief ich ihm zu. »Die Bahn ist vor vier Minuten abgefahren.« »Dann fahren wir zu den nächsten Stationen.« »Und wenn wir auf dem falschen Weg sind?«, warf Luke ein. Ich schüttelte den Kopf. »Kann ich mir nicht vorstellen. Das ist das Einzige, was überhaupt Sinn machen würde für Janosch. Wenn er wirklich weg will, dann wahrscheinlich weit. Und da gibt's zwei Möglichkeiten - Bahnhof oder Flughafen. Für ein Ticket hat er kein Geld, also bleibt nur der Bahnhof.«

Luke sah mich einen Moment lang schweigend an, dann erwiderte er: »Nick, an dieser ganzen Scheiße ist nichts logisch.« Ich zuckte zusammen - ich hatte ihn noch nie in einem solchen Tonfall reden gehört. Aber ich musste ihm Recht geben, was jedoch nichts an der Tatsache änderte, dass wir weitersuchen mussten. »Willst du hier jetzt Wurzeln schlagen oder suchen wir weiter?«, fragte ich knapp. Er stieg wortlos in den Wagen, den ich während unseres Gespräches wieder aufgeschlossen hatte.

Wir klapperten der Reihe nach die S-Bahn-Stationen ab, aber keine Spur von Janosch. Schließlich rief ich bei Rip an. »Habt ihr schon was? ... Wir sind jetzt in Altona. ... Wenn überhaupt, dann zum Bahnhof. ... Ja, kann auch sein. Wir melden uns später.« »Und?«, fragte Luke. Ich schüttelte nur traurig den Kopf. »Nichts.« »Dann lass' uns direkt zum Hauptbahnhof fahren, vielleicht erwischen wir ihn da.« Er sah auf die Uhr. »Immerhin ist er mittlerweile seit über einer Stunde verschwunden.«


Janosch: Freitagabend, 19:35 Uhr

Ich stieg aus der S-Bahn und versuchte, mich durch die Menschenmassen hindurchzuzwängen. Einige wichen mir freiwillig aus - was wohl daran lag, dass meine Lippen und meine Wange immer noch geschwollen waren, von dem Schlag den Dad mir verpasst hatte. Es erschien mir völlig absurd - gestern hatte er mich noch geschlagen, und jetzt war er tot. Einfach weg. Vorbei, Schluss, aus. Er würde mich nie wieder quälen, da hatte Luke recht gehabt.

Luke ... als ich an ihn dachte, schossen mir die Tränen in die Augen. Ich wusste nicht, wie ich das wieder gutmachen sollte, was ich ihm angetan hatte. Ich tastete nach hinten und spürte Rintys warme, feuchte Schnauze an meiner Hand. Er leckte einmal kurz darüber, als wenn er mir beweisen wollte, dass er wirklich da sei. Ein bisschen wie in Trance ging ich die Treppen hoch, von Menschenmassen umgeben, und stand schließlich in der Wandelhalle des Hauptbahnhofs. Mein Blick fand schnell, was er suchte - den Fahrplan.

Ich kämpfte mich weiter durch die Masse, bis ich schließlich vor dem Fahrplan stand. Wieder schwappten die Ereignisse wie eine Welle über mich hinweg und die Zahlen und Städtenamen verschwommen vor meinen Augen. So stand ich ein paar Minuten, bis ich beschloss, den nächstbesten Zug zu nehmen, der abfuhr. Ganz weit weg. Ich drehte mich um ... und prallte mit voller Wucht gegen jemanden, der hinter mir stand.

»Oh ... äh ... tut mir leid«, stammelte ich. »Keine Sorge, ist ja nichts passiert«, sagte diese Person. Ich wischte mir die Tränen aus den Augen und schaute mir dann an, mit wem ich zusammengestoßen war. Ein Mädchen, ungefähr in Lukes Alter, mit einem Rucksack auf der Schulter und einer kleinen Tasche in der Hand. »War wirklich keine Absicht«, sagte ich noch einmal. Sie lächelte. »Du scheinst ziemlich durcheinander zu sein, hm?« Bevor ich noch antworten konnte, hatte sie mir ein Taschentuch in die Hand gedrückt.

Ich nahm es wortlos, putzte mir die Nase und wischte mir noch einmal über die Augen. Rinty beschnüffelte sie neugierig. Sie beugte sich zu ihm herab. »Ist der bissig?«, fragte sie. Ich schüttelte den Kopf. »Nein, der ist ganz harmlos.« Sie hielt ihm erst ihre Hand hin und streichelte ihm dann über den Kopf. »Scheint wirklich ein lieber Kerl zu sein - oder eine sie?« »Rinty ist ein Rüde.« Sie lächelte wieder. »Aber wenigstens nicht so rüde im Umgang.« Ich brauchte einen Moment, bis ich den Witz kapiert hatte, dann musste ich auch grinsen.

Schließlich wandte sie sich wieder mir zu. »Und was ist mit dir los? Du siehst auch nicht gerade besonders glücklich aus.« sagte sie. »Es ist ein bisschen zu viel passiert in den letzten Tagen. Mein Vater ist heute Morgen gestorben.« Sie sah mich erschrocken an. Ich unterbrach sie jedoch, bevor sie noch etwas sagen konnte. »Bloß kein Beileid.« Sie schluckte und sagte dann: »Magst du drüber reden?« Ich sah mich wortlos um. »Hier?« Sie lachte. »Nein, das ist wohl wirklich nicht besonders günstig. Komm, ich lad' dich auf 'ne Cola ein, wenn du willst.« »Du siehst eher so aus, als ob du auch verreisen willst?«, fragte ich. Sie schüttelte den Kopf. »Nein, ich bin gerade wiedergekommen, aber schon einen Zug eher als geplant. Mich erwartet also noch niemand.«

Wir gingen zusammen die Treppe zur Empore der Wandelhalle hoch und suchten uns einen ruhigen Platz in einem der zahlreichen Cafés dort oben. Ich wusste nicht warum, aber irgendwie machte sie auf mich einen vertrauenerweckenden Eindruck. Sie bestellte die Getränke, Rinty ließ sich auf meinem Füßen nieder, und dann erzählte ich ihr die ganze Geschichte, zumindest eine Kurzfassung davon. Sie hörte schweigend zu, nur an ihrem Gesicht konnte ich hin und wieder eine Reaktion bemerken.

Schließlich hatte ich meine Erzählung beendet. Sie leerte ihr Glas mit einem Zug aus und fing dann an zu reden. »Und du glaubst wirklich, dass dein Bruder dir das nie verzeihen würde? So wie du erzählt hast, liebt er dich über alles.« »Ja. Aber ich habe ihn einfach verletzt, das hätte ich nicht tun dürfen.« Sie nickte. »Das stimmt zwar, aber nach dem, was du erzählt hast, ist es kein Wunder, dass du völlig durcheinander warst. Und dafür wird auch Lucas Verständnis haben, oder?« Ich war mir da noch nicht so sicher. Andererseits klang sie sehr überzeugend.

Sie kramte in ihrem Rucksack und hielt mir dann ein Handy hin. »Hier. Ruf' ihn an und sag' ihm, er soll dich abholen. Sonst bring' ich dich nach Hause«, fügte sie lächelnd hinzu. Sie hatte mich überzeugt. Ich wählte Rips Nummer, und nach dem ersten Klingeln ging er an den Apparat. »Ja?« »Rip, hier ist Janosch.« Ich hörte einen tiefen Seufzer. »Janosch, wo steckst du? Die Jungs suchen gerade die halbe Stadt nach dir ab.« »Ist ... ist Luke noch sauer?«, fragte ich mit zitternder Stimme. »Nein, im Gegenteil. Er macht sich unheimlich Sorgen um dich. Janosch, von dem was mal eure Familie war, ist nicht mehr viel übrig. Dich jetzt auch noch zu verlieren ... ich denke, das würde er nicht durchstehen.«

Ich schluckte. »Kannst du ihn erreichen? Ich bin am Hauptbahnhof.« »Okay, bleib' wo du bist. Ich sag' ihm Bescheid, dass er dich abholen soll. Wo bist du genau?« Ich hielt die Sprechmuschel zu. »Wie heißt der Laden hier?« Das Mädchen schob mir ein Streichholzbriefchen zu, und ich gab Rip den Namen des Cafés durch. »Okay, ich sag' Luke Bescheid. Rühr' dich nicht von der Stelle, und mach' dir keine Sorgen - Luke wird bestimmt nicht böse sein, das verspreche ich dir.« »Danke, Rip.« »Kein Problem, wir sehen uns später.«

Ich gab ihr das Handy zurück. »Sag' mal, wie heißt du eigentlich?«, fragte ich sie dann. »Ich heiße Jessica, und du?« »Janosch«, sagte ich. Wir schüttelten einander die Hände. »Hast du mit deinem Bruder gesprochen?«, fragte sie dann. Ich schüttelte den Kopf. »Nein, er sucht mich. Ich hab' mit dem Bekannten telefoniert, bei dem wir momentan wohnen, er will Luke Bescheid geben.« Sie nickte. »Okay, dann würde ich sagen, wir können noch 'ne Cola vertragen. Ich werde hier nämlich nicht eher verschwinden, als bis dein Bruder dich in Empfang genommen hat«, fügte sie freundlich lächelnd hinzu.


Nick: Freitagabend, 20:40 Uhr

Entgegen unserer ursprünglichen Planung waren wir doch erst mal die Strecke der S1 abgefahren, die bei uns in der Nähe abfuhr. Mittlerweile waren wir an den Landungsbrücken angekommen - dass Janosch sich auf der Reeperbahn herumtrieb, konnten wir uns beide beim besten Willen nicht vorstellen. Luke deutete mit einem Kopfnicken auf den alten Elbtunnel. »Da könnten wir nachschauen, da ist er gerne.« Ich nickte. »Okay, dann gehen wir 'runter.«

Wir machten uns an den Abstieg, die Wendeltreppen hinunter. Zum Glück waren wir beide schwindelfrei. Jeder von uns nahm sich eine Tunnelröhre vor, am anderen Ende trafen wir uns wieder. Keine Spur von Janosch. Wir beschlossen, nach oben zu gehen und auf der Aussichtsplattform zu schauen. »Würde Rinty die Stufen überhaupt schaffen? Immerhin ist das 'ne ganze Menge«, überlegte Luke laut. Ich nickte. »Ja, das würde er, und zur Not gibt's immer noch den Aufzug. Außerdem, so wie Janosch Rinty ins Herz geschlossen hat, würde er ihn wahrscheinlich auch über die Treppen tragen, wenn es sein müsste.«

Kaum waren wir aus dem Tunnelgebäude getreten, klingelte mein Handy. Meine Mailbox war dran, Rip hatte mir eine Nachricht hinterlassen. Ich hörte sie ab, während wir weitergingen »Hallo Nick, hier ist Rip. Janosch hat gerade angerufen, er ist am Hauptbahnhof im Café ...« ... Rip nannte mir den Namen ... »... in der Wandelhalle, ihr könnt ihn dort abholen. Ruf' mich bitte sofort zurück, wenn du die Nachricht abfragst.« Ich informierte Luke, und ihm fielt sichtlich ein Stein von Herzen. Wir kehrten wieder um, ich informierte nur schnell Rip, dass wir uns auf den Weg machten.

Für alle Nicht-Hamburger sei noch folgendes erklärt: Der alte St.-Pauli-Elbtunnel ist eines der schönsten Bauwerke, die Hamburg zu bieten hat. Er stammt aus dem Jahr 1872 und ist entsprechend umständlich angelegt. Statt langer Zufahrten wie beim neuen Elbtunnel gibt es hier nur zwei Röhren und dazu zwei Kopfbauten mit jeweils vier Aufzügen, drei für Fahrzeuge und einen für Personen. Wer möchte, kann statt des Aufzugs auch die Treppen nehmen, aber zumindest aufwärts ist das nicht gerade eine der leichtesten Übungen. Ach ja, und natürlich ist hier unten, drei Meter unter dem Grund der Elbe, kein Handyempfang möglich.


Luke: Freitagabend, 21:05 Uhr

Nachdem wir uns durch den Verkehr gekämpft hatten, waren wir um kurz nach neun endlich beim Hauptbahnhof angekommen. Nick parkte den Wagen alles andere als vorschriftsmäßig, und wir beide stürmten in die Wandelhalle und die Treppen hinauf. Zum Glück kannte ich das Café. Janosch saß mit einem Mädchen am Tisch und unterhielt sich angeregt mit ihr. Mir war völlig egal, was die Leute dachten, ich rannte durch den Laden auf ihn zu und nahm ihn in die Arme. »Janosch!« Zu mehr als diesem Ausruf war ich nicht fähig, ich kniete mich vor ihm hin, hielt ihn im Arm und fing an zu heulen.

»Luke, es tut mir leid«, flüsterte er mir ins Ohr. Rinty, der bei meinem Ansturm erschrocken ausgewichen war, beäugte uns aus sicherer Entfernung, fing aber nicht an zu bellen. Offensichtlich hatte er die Situation erkannt. Ich hielt Janosch eine Weile im Arm und wandte mich schließlich dem Mädchen zu, mit der er am Tisch gesessen hatte. »Danke, dass du dich im ihn gekümmert hast«, sagte ich. Sie winkte ab. »Keine Ursache - ich bin froh, dass sich alles zum Guten gewandt hat.« Dann fügte sie hinzu: »Ich heiße Jessica«, und gab mir die Hand. Ich erwiderte den Gruß. »Lucas, aber mich nennen alle sowieso nur Luke.« Sie grinste. »Ja, das hab' ich schon gehört.«

Eine Weile standen wir uns gegenüber, keiner wusste so recht, was er sagen sollte. Meine Sorge wegen Janosch war verflogen, statt dessen spürte ich plötzlich etwas anderes - ein Kribbeln in der Bauchgegend. Plötzlich tippte Nick mir grinsend auf die Schulter. »Komm, wir sollten Rip Bescheid sagen, dass alles okay ist.« Ich nickte und fragte Jessica dann: »Kann ich dich vielleicht mal anrufen?« Sie lächelte und schrieb mir ihre Telefonnummer auf. »Klar. Schließlich will ich doch wissen, wie es Janosch geht.« Dann wandte sie sich noch einmal an ihn: »Und du überlegst dir in Zukunft zweimal, bevor du deinen Bruder hängen lässt, okay?« Janosch nickte stumm. »Vielen Dank fürs Zuhören.« Sie winkte ab. »Keine Ursache.«

Schließlich trennten sich unsere Wege, wir fuhren nach Hause. Oder besser gesagt: Nick fuhr, Janosch und ich saßen auf der Rückbank des Wagens und redeten miteinander. »Was war denn plötzlich los mit dir?«, fragte ich ihn. »Es ist mir einfach alles zu viel geworden. Luke, es tut mir leid, was ich vorhin gesagt habe - das wollte ich nicht.« Ich schluckte. »Du glaubst gar nicht, was du mir für einen Schrecken eingejagt hast, Kleiner. Ich dachte, ich hätte irgendwas Blödes gesagt oder so, ich hatte nicht damit gerechnet, dass dir das irgendwann mal alles hochkommt.« Ich war den schon wieder Tränen nahe. Statt einer Antwort war diesmal Janosch derjenige, der mich in den Arm nahm. Und eines war mir klar: So schnell würde uns nichts und niemand mehr auseinanderbringen.

Als wir bei Rip angekommen waren, vergewisserte der sich erst mal, dass mit Janosch alles in Ordnung war. Kein böses Wort, kein Ärger - Rip verhielt sich so, wie ich mir das von Jochen immer gewünscht hatte. Dabei war auch ihm die Sorge um Janosch jetzt noch deutlich anzusehen. Wir redeten noch eine Weile, und dann gingen wir ins Bett. Die letzte Nacht verlief nicht anders als die vorhergegangenen auch.


Luke: Samstagmorgen, 08:15 Uhr

Am nächsten Morgen war ich als Erster wach und ging nach unten. Rip saß wie immer am Frühstückstisch und las das Hamburger Abendblatt. Ich setzte mich zu ihm. »Und, habt ihr gut geschlafen.« »Na ja ... Janosch hat wohl wieder einen Albtraum gehabt, denke ich. Jedenfalls hat er sich ein paar Mal hin und hergewälzt, nach Mum und mir gerufen und geschrien. Ich musste ihn aber nicht wecken - wenn er gespürt hat, dass ich bei ihm war, war mit ihm alles okay.« Rip nickte. »Das wird noch eine Weile so weitergehen, befürchte ich. Was hältst du davon, wenn du mit ihm heute Nachmittag nach Soltau in den Heidepark 'runterfährst? Dann habt ihr beide etwas Ablenkung, und ich denke, die könnt ihr auf jeden Fall gebrauchen.« Ich lächelte. »Gute Idee, Janosch wird sich bestimmt freuen. Ich weck' ihn gleich mal.«

Janosch war wie erwartet begeistert und machte sich schnell fertig - das Problem mit dem Rasieren kam ja erst in ein paar Jahren auf ihn zu, da hatte er zum Glück noch Ruhe vor. Wir setzten uns ins Auto, und nach etwas über einer Stunde waren wir in Soltau. Da der Himmel ziemlich bedeckt war und vereinzelt Regentropfen fielen, war nicht viel los.

Ich erlebte Janosch fröhlich und ausgelassen wie schon lange nicht mehr. Die Luftveränderung und der Umstand, dass er einmal alle Sorgen weit hinter sich lassen konnte, machten aus ihm einen völlig neuen Menschen. Außerdem trafen wir noch zwei Klassenkameraden von ihm, die mit ihren Eltern da waren, so verbrachten wir dann einige Stunden zusammen. Zum Abschluss des Tages lud die Mutter von Andreas, einem der beiden, uns noch alle auf eine große Portion Eis ein. Außerdem wollten sich die Jungs in den Ferien auf jeden Fall noch einmal treffen.

Auf der Rückfahrt sprach Janosch ein Thema an, über dass ich auch schon eine ganze Zeit lang nachgedacht hatte. »Werden wir eigentlich in Hamburg bleiben, Luke?« »Ich weiß es nicht. Möchtest du?« »Meine ganzen Freunde sind hier. Andererseits - ich wäre froh, wenn ich unser Haus nie wieder betreten müsste.« Ich nickte. »Das ist mir schon klar, und ich denke mal, umziehen werden wir in jedem Fall. Das möchtest du, das möchte ich und das möchte mit Sicherheit auch Mum. Wir werden das schon schaffen, gemeinsam, als Team.« Ein Lächeln huschte über Janoschs Gesicht. »Ja, mit euch beiden kann mir nichts mehr passieren, denke ich.« Ich nahm eine Hand vom Lenkrad und verwuschelte ihm die Haare. »Außer dass ich dir hin und wieder die Frisur ruiniere, nichts, nein.« Und dann hörte ich von Janosch etwas, dass ich die ganze letzten Monate vermisst hatte - sein glockenhelles Lachen. Zum ersten Mal seit meiner Rückkehr von Kreta schienen wir beide wieder glücklich zu sein.


Luke: Samstagabend, 18:45 Uhr

Als wir wieder in Hamburg waren, trafen wir Rip im Büro an - in derselben Pose wir auch vor einigen Tagen, mit dem Unterschied, dass er einige Röntgenbilder auf der Durchlichteinheit an der Wand hängen hatte. Während er ab und an einen Blick darauf warf, machte er sich ein paar Notizen.

Ich räusperte mich. »Rip, wir sind wieder da.« Er blickte auf und grinste. »Und, habt ihr Euren Spaß gehabt?« Janosch nickte. »Ja, es war toll ...« Er erzählte erst mal ein paar Minuten von dem heutigen Tag, während ich ans Fenster trat - Rinty bellte im Garten, und ich sah, dass ein Junge in Janoschs Alter mit ihm spielte - oder Rinty mit dem Jungen? Das war nicht so ganz klar.

»Luke, komm' doch bitte auch mal kurz her. Ich wollte euch nur sagen, dass wir noch einen weiteren Besucher im Haus haben. David hat einen kleinen Unfall gehabt und sich dabei ein paar Vorderzähne ausgeschlagen, da das Ganze etwas länger dauern wird, bleibt er hier.« Ich warf einen Blick auf die Röntgenbilder. »Deswegen arbeitest du an einem Samstagnachmittag? Bei diesem Wetter?« Mittlerweile war wieder strahlender Sonnenschein. Rip nickte. »Ja, manchmal lässt sich das nicht vermeiden.« Dann lächelte er. »Aber dafür habe ich ja auch unter der Woche hin und wieder frei, also mach' dir deswegen keine Gedanken. Kommt, ich stelle euch kurz vor.«

Wir gingen in den Garten und hörten schon von Weitem Davids Rufe und Rintys Gebell. David versuchte offensichtlich, ihm irgendetwas zu erklären, auch wenn mir nicht ganz klar war, was das eigentlich war. In jedem Fall wälzte er sich wie ein Verrückter auf dem Rasen hin und her, was Rinty aber nicht im geringsten interessierte. Wir konnten uns das Lachen kaum verkneifen, bis Rip schließlich rief: »Interessante Vorstellung, du solltest Eintritt nehmen.«

David überschlug sich fast, als er aufsprang - offensichtlich war es ihm peinlich, dass wir das Ganze mitbekommen hatten. Ich versuchte den Moment zu überspielen, in dem ich uns vorstellte. »Hi, das ist Janosch und ich bin Luke, wir wohnen auch für ein paar Tage hier. Rinty gehorcht wohl noch nicht aufs Wort, wie?« »Ja, hat eigentlich ganz gut geklappt, nur zum Schluss hat er nicht mehr mitgemacht, aber das bring ich ihm noch bei!«, erwiderte David. Rip lachte. »Da hast du dir ja was vorgenommen. Na komm, gehen wir rein, es gibt gleich Abendessen und vielleicht möchtest du dich vorher noch waschen und umziehen«, schlug er vor. »Waschen ja, aber Umziehen wird schwierig, denn mein Zeug ist gerade in der Waschmaschine.« »Kein Problem, einer der Jungs kann dir bestimmt ein T-Shirt leihen.«

Anschließend nahm Rip David noch kurz beiseite, ich konnte nicht hören, was sie besprachen. »Hast du sein Gesicht gesehen?«, fragte Janosch mich. Ich nickte. »Ja. Sieht so aus, als hätte er ganz schön was mitbekommen. Es wundert mich ein bisschen, dass Rip nichts weiter dazu gesagt hat.« Ich hatte noch etwas gesehen, was Janosch offensichtlich nicht aufgefallen war: als David sich auf dem Boden herumgerollt hatte, war sein T-Shirt ein Stück hochgerutscht, und es waren ganz deutlich ein paar blaue Flecke und Striemen zu sehen gewesen. »Auf mich macht er jedenfalls den Eindruck, als ob er okay wäre«, meinte Janosch.

Wir gingen ins Haus und setzten uns an den Tisch, ein paar Minuten später kamen auch Nick und David dazu - allerdings machte David nicht gerade den Eindruck, als ob er besonders glücklich wäre. Janosch brachte jedoch ein völlig anderes Thema auf den Tisch: »Sag' mal Rip, der Baum da im Garten stört doch eigentlich nur, oder?« Richie schloss sich ihm sofort an. »Stimmt, er nimmt auf der Terrasse viel zu viel Licht weg. Was meinst du, Dad, sollen wir das mal in Angriff nehmen? Wir könnten die Terrasse etwas vergrößern, und da könnte David ja auch helfen, es macht bestimmt Spaß, den großen Baum zu fällen!«

Rip blickte zweifelnd von einem zum anderen, aber noch bevor jemand etwas erwidern konnte, mischte Nick sich ein - kurz, knapp und für seine Verhältnisse ungewohnt lautstark. »Nein!« Nick funkelte Richie wütend an - ich hatte es noch nie erlebt, dass die beiden sich ernsthaft gestritten hatten, aber momentan sah Nick so aus, als wäre ihm das völlig egal. Rip holte sein diplomatisches Geschick heraus, in dem er in diesem Moment gar nicht weiter darauf einging. »Wie dem auch sei, eure Arbeitsbereitschaft in allen Ehren, aber ich bin auch nicht so begeistert. Der Garten gefällt mir so, wie er ist.« Irgendwie hatte ich jedoch so den leisen Verdacht, dass es ihm weniger um den Garten selbst ging.

Wir beendeten das Essen relativ schweigend, nur das Telefon klingelte irgendwann. Rip ging 'ran und gab den Hörer dann gleich an mich weiter. »Für dich.« »Ja, Luke hier?« »Hi Luke, hier ist Jessica. Äh ... erinnerst du dich noch an mich?« Ich lächelte. »Na klar. Jemanden, der es schafft, meinen kleinen Bruder ruhigzustellen, vergesse ich bestimmt nicht so schnell. Aber ich hab' dich nicht nur deswegen in Erinnerung behalten«, schob ich sofort nach. Sie lachte. »Sag' mal, ich wollte dich fragen, ob du vielleicht Lust hättest, mit mir heute Abend in die Disco zu gehen?« Ich war etwas überrascht - weniger wegen der Frage sondern weil sie von ihr kam. »Klar, gerne. Wann soll ich dich abholen?« Wir einigten uns auf acht Uhr und machten einen Treffpunkt aus.

Die anderen waren bereits mit dem Essen fertig, als ich wieder in die Küche kam, nur mein Teller stand noch auf dem Tisch. »Und, wer war das?«, fragte Janosch. »Das war Jessica von gestern, wir wollen gleich in die Disco.« Rip stand grinsend in der Tür. »Nanu? So plötzlich?« Ich zuckte mit den Schultern. »Tja, manchmal ergibt sich so was eben ganz spontan. Janosch, ich kann dich doch ein paar Stunden hier in der Obhut von Rip lassen, oder?« Janosch nickte. »Klar doch, ich bin ja kein kleines Kind mehr. Bestell' Jessica einen schönen Gruß und verhaltet euch anständig, okay?« Ich jagte ihn zweimal um den Küchentisch, bevor ich aufgab. »Bis nachher.«


Janosch: Samstagabend, 20:05 Uhr

Luke war seit ein paar Minuten weg und ich hatte mich in den Garten verzogen. Rinty leistete mir Gesellschaft, und aus irgendeinem Grund wurde ich traurig. Ich dachte noch mal über die Ereignisse der letzten Tage nach ... ich hatte Luke alles erzählt, und dann war alles so schnell gegangen. Und jetzt war Dad tot. Ganz einfach so weg. Auch wenn ich ihn nicht wirklich vermisste, ich fing trotzdem an zu heulen.

Plötzlich merkte ich, dass Rinty sich anspannte und die Ohren spitzte, er beruhigte sich jedoch sofort wieder. David stand vor mir und sah mich etwas verwirrt an. »Oh ... sorry, wenn du willst, lass ich dich allein.« Ich winkte ab. »Nein, schon okay ... bleib ruhig hier.« David setzte sich auf den Boden und kraulte Rinty das Nackenfell. »Was ist 'n los mit dir?«, fragte er dann. »Mein Vater ist gestern gestorben.« David erschrak sichtlich. »Tut mir leid.«

»Mir nicht«, antwortete ich knapp, während ich mir die Tränen aus den Augen wischte. »Stress mit ihm gehabt?« Ich nickte. »Ja, so ungefähr.« »Hm, ich hab zwar keinen blassen Schimmer, wer mein Vater ist, aber ich glaub', ich würd' auch weinen, wenn er gestorben wär'.« Ich sah ihn überrascht an. »Du kennst Deinen Vater nicht?« »Nee, echt nicht. Ich glaub, so ganz genau weiß meine Mutter das auch nicht, sie hat jedenfalls nie was gesagt.« Ich dachte kurz darüber nach.

Alles was mir dann dazu einfiel war: »Ich wünschte, ich hätte das Glück wie du.« Er widersprach mir ziemlich schnell. »Dann hättest du aber vielleicht 'n Stiefvater gekriegt und das ist dann echt der letzte Scheiß und ... was meinst du, wer mir die Zähne rausgehauen hat?« »Was?!?« Jetzt klappte mir wirklich die Kinnlade herunter - offensichtlich hatte ich einen Leidensgenossen gefunden. David kam in Fahrt. »Ja, nach der Beerdigung wollt' ich nicht nach Hause und am nächsten Tag hat er mich dann so richtig verprügelt und im Krankenhaus hab ich dann mit den Bullen geredet, aber dann ist er wieder aus dem Knast gekommen und da bin ich dann abgehauen.«

Ich verstand nur Bahnhof. »Was?«, war auch diesmal meine einzige Reaktion. »Kannst du auch noch 'n anderes Wort?« Ich nickte und schüttelte dann kurz den Kopf, um ihn klar zubekommen. »Klar. Aber ich hab' irgendwie nicht mal die Hälfte von dem verstanden, was du gerade erzählt hast - Beerdigung, Knast und so weiter.« David zündete sich eine Zigarette an - Rips Marke, wie ich feststellte - und fing an zu erzählen.

Seinen richtigen Vater hatte er nie kennengelernt, seine Mutter hatte wieder geheiratet und sein Stiefvater hatte seinen Sohn aus erster Ehe mitgebracht. Die beiden Jungen hatten sich gut verstanden, aber der Stiefvater hatte sie beide verprügelt. Irgendwann war Davids Bruder krank geworden und gestorben, und nach der Beerdigung hatte es dann richtig geknallt zwischen den Beiden. Daraufhin war David abgehauen.

Mir blieb ziemlich die Spucke weg ... ich starrte erst mal auf die Zigarettenschachtel und fragte dann: »Kann ich auch 'ne Kippe haben?« David zog die Augenbrauen hoch. »Du rauchst? Wie alt bist 'n du?« »14. Und ich rauche nur manchmal. Also, kann ich?« David gab mir wortlos die Schachtel und das Feuerzeug. Rinty, der die ganze Zeit ruhig zwischen uns gelegen hatte und es genoss, dass wir ihn gedankenverloren kraulten, schnappte kurz nach der Schachtel, aber als er merkte, dass wir beide nicht zum Spielen aufgelegt waren, legte er sich wieder hin. »Ich hätte das auch machen sollen.«, sagte ich dann, als meine Zigarette brannte.

»Was hast damit gemeint? Das du das auch hättest machen sollen?«, fragte David. »Na, abhauen.« »Lass mal, so toll is' das nicht. Und nur wegen 'n bisschen Ärger haut man nicht ab.« Ich schnaubte. »Nein, nicht wegen ein bisschen.« Er hatte mir praktisch seine ganze Lebensgeschichte erzählt, und ich dachte, so hatte er auch ein Recht darauf, meine zu erfahren. Ich drückte die Kippe im Rasen aus und zog dann mein T-Shirt aus. »Aber deswegen vielleicht.«

David schnappte nach Luft. »Das gottverdammte Arschloch!« Schlagartig wurden sämtliche Erinnerungen in mir wieder wach - es war, als wäre ich im Kino und plötzlich hätte jemand den Film angestellt. »Er ... er hat mich vergewaltigt«, flüsterte ich, dann fing ich wieder an zu heulen. Ich weiß nicht, was dann passierte, ich erinnere mich nur noch, dass David mich in den Arm nahm und mich tröstete - so wie Luke das auch immer tat. In diesem Moment wurde mir klar, dass er genau verstand, was ich fühlte.

Wir saßen eine Weile zusammen, David hielt mich einfach nur im Arm. Doch schließlich stupste Rinty uns mit der Nase an - offensichtlich wollte er auch mal wieder ein bisschen Aufmerksamkeit. Ich wischte mir mit dem Ärmel übers Gesicht und versuchte dann, David zuzulächeln. »Wollen wir noch mal versuchen, ob wir ihm zusammen was beibringen können?« Er lächelte breit - was mit seinem Zahnlücken etwas seltsam aussah - und dann versuchten wir unser Glück. Offenbar hatte Rinty sich die Aufmerksamkeit doch etwas anders vorgestellt, jedenfalls verschwand er irgendwann.

»Langsam wird's eh' schon dunkel, sollen wir reingehen?«, schlug ich vor. »Klar ... was meinst du, gibt's noch was zu essen?« Ich grinste. »Ich bin hier noch nie verhungert und Rips Kühlschrank ist eigentlich immer voll. Was meinst du, ob die anderen auch was wollen?« »Fragen kann nicht schaden«, antwortete David. Wir gingen ins Haus und fanden nur Rip, der im Wohnzimmer vor dem Fernseher saß und angespannt einen Beitrag zum Thema Homo-Ehe verfolgte. Klar, das Ganze betraf ja auch Richie und Jason. Jedenfalls wollte er auch nur eine Kleinigkeit.

Wir einigten uns auf Rühreier - David hatte offensichtlich Erfahrung in der Küche, jedenfalls hatte er das Essen im Handumdrehen fertig - und setzten uns dann wieder zu Rip. Nachdem David ein bisschen Überzeugungsarbeit geleistet hatte, durften wir uns sogar noch einen Krimi anschauen, aber Rip selbst ging irgendwann mittendrin ins Bett. Besonders vom Hocker riss uns der Film allerdings nicht, also machten wir den Fernseher auch irgendwann aus.

»Also, so richtig müde bin ich noch nicht«, sagte David. »Ich auch nicht. Bei mir im Zimmer steht 'ne kleine Anlage, sollen wir hingehen?«, schlug ich vor. »Klar!« Ein bisschen Musik konnte nie schaden. David und ich gingen nach oben, träumten noch ein bisschen vor uns hin, und irgendwann schlief ich in seinen Armen ein.


Janosch: Sonntagmorgen

Irgendwas kitzelte mich im Ohr. David. »Hi, Kleiner! Rip meint, das jetzt Frühstück ist, mieser Kaffee und trocken Brot, also hau rein!« Ich gähnte herzhaft und rang mir ein Lächeln ab. »Morgen, David. Also, miesen Kaffee hab ich hier noch nie bekommen. Dann lass' uns 'runter gehen, bevor es wirklich nichts mehr gibt.«

Jason saß auch noch am Tisch und unterhielt sich angeregt mit Mum, die ihn ein bisschen über Hollywood ausquetschte - er hatte irgendwann mal einen Film mit einem ihrer Lieblingsschauspieler gedreht, und sie wollte alles über ihn wissen. Zwischendurch gesellte sich Nick zu uns und verschwand dann mit David, die beiden wollten wohl irgendetwas zusammen unternehmen. Kaum waren sie verschwunden, kam auch Luke an den Frühstückstisch. Er sah müde aus.

»Na, Bruderherz, was hast du denn gestern Abend angestellt?« Er lächelte. »Och, eigentlich nichts besonderes.« Statt näher darauf einzugehen, köpfte er ein Ei und bestrich sich ein Brötchen mit Butter. Ich grinste. »Du warst doch mit Jessica unterwegs, oder?«, hakte ich nach. Auch Mum wurde hellhörig. »Wer ist Jessica?«, fragte sie. Luke erdolchte mich mit seinem Blick und zwinkerte mir dann zu. »Eine Bekannte von mir, Mum. Und Janosch: Ja, war ich.« Sowohl Mum als auch ich bohrten noch ein bisschen nach, aber aus Luke war nichts herauszubekommen - nur, dass sie sich in den nächsten Tagen mal wieder treffen wollten. Jason war der Einzige, der das ganze völlig nüchtern sah. »Tja, Luke, und ich hatte schon drauf gehofft, dass wir dich irgendwann bei uns begrüßen können, aber daraus wird dann ja wohl nichts.«

Luke fiel der Eierlöffel aus der Hand, Jason grinste frech und wir anderen drei - Rip, der mittlerweile wieder bei uns war, Mum und ich - fingen an zu lachen. Luke fing sich einen Moment später auch wieder und stand dann auf. »So, du willst mich begrüßen? Na dann komm her!« Mit einem Kampfschrei stürzte er sich auf Jason und fing an, ihn durchzukitzeln - da die beiden und auch Richie sich öfter mal ein wenig im Garten balgten, wusste er ziemlich gut, wo Jason besonders empfindlich war. Wir anderen kamen aus dem Lachen nicht mehr heraus, während sich Luke und Jason auf dem Boden kugelten.

Von dem Geschrei und Gelächter angelockt kam Richie herein. »Was ist denn ...?«, fing er an. Weiter kam er nicht, dann musste auch er lachen. Rip schnappte nach Luft. »Luke hat sich gerade als Hetero geoutet, Jason hat bedauert, dass er ihn nicht bei euch begrüßen konnte und daraufhin hat Luke ihm die Begrüßung abgenommen«, fasste er alles zusammen. Richie schüttelte den Kopf. »Luke, wehe dir, wenn du mir Jason kaputt machst - der ist einmalig.« Jason und Luke hielten kurz inne, sahen sich an, und noch bevor Richie irgendetwas sagen konnte, hatten sie sich auf ihn gestürzt. Gegen diese Übermacht kam er einfach nicht an und zog natürlich den Kürzeren.


Luke: Sonntagvormittag

Etwas später hatten sich die Wogen wieder geglättet. Rip hatte uns noch mal in sein Büro gebeten, das war momentan so ziemlich der einzige Ort, wo wir alle in Ruhe miteinander reden konnten. »Übrigens, falls es euch interessiert - diesen Artikel habe ich gestern noch im 'Abendblatt' gefunden.« Er gab uns einen Zeitungsausschnitt Wir warfen einen Blick auf den Artikel, aber keiner von uns sagte etwas dazu - das ganze war nun mal geschehen, und es kümmerte uns nicht weiter. Nur bei Janosch war ich mir noch nicht sicher.

Hamburger Abendblatt, 15. Juli 2000

»Wie soll es jetzt weitergehen?«, fragte Janosch - die Frage hörte ich nicht zum ersten Mal. Rip warf Lynn einen fragenden Blick zu. »Willst du erst mal erzählen?« Sie schüttelte den Kopf. »Nein, fang' du an.« »Okay. Also, zwei Dinge haben sich gestern noch ergeben. Erstens, Janosch, wir haben für dich eine Therapeutin gefunden, die das alles mit dir aufarbeiten wird. Das wird für dich mit Sicherheit nicht leicht werden, das ist uns allen klar, aber es ist für dich die einzige Möglichkeit, auf Dauer damit klarzukommen und das ganze zu verarbeiten. Verstehst du, worum es uns geht?« Janosch nickte schweigend und rutschte etwas dichter an mich heran. Ich legte meinen Arm um seine Schultern.

Rip übergab das Gespräch per Blickkontakt an Lynn. »Jungs, ich weiß nicht, wie es euch geht, aber in den letzten Tagen hat sich für mich unheimlich viel geändert. Ich denke, für uns alle beginnt ein neuer Lebensabschnitt, und ich hoffe, dass er eines Tages erfreulicher endet als der Letzte.« Sie trank einen Schluck Kaffee. »Wie dem auch sei, ich war gestern ein bisschen unterwegs und habe mir einige Wohnungen angeschaut, sowohl hier im Viertel als auch in anderen Teilen der Stadt. Wenn ihr möchtet, können wir jederzeit unsere Sachen packen, die Tür unseren alten Hauses abschließen und umziehen. Was haltet ihr von der Idee?« Wir beide nickten - ich konnte mir gut vorstellen, dass Janosch das Haus nicht noch öfter als nötig betreten wollte.

»Hast du schon etwas bestimmtes im Auge?«, fragte ich dann. »Die Entscheidung sollten wir zusammen treffen. Janosch, du solltest dir zum Beispiel überlegen, ob du auf deiner alten Schule bleiben willst oder auch hier einen Schnitt machen möchtest. Luke, für dich wäre natürlich die Nähe zur Uni günstiger.« »Und was ist mit dir?«, fragte ich. »Ich werde wenn möglich einen Ganztags-Job bei der Zeitung übernehmen, mein Chef hat mich vor einigen Wochen schon mal darauf angesprochen und mir angeboten, ich könnte auch einen Telearbeitsplatz bekommen. Dann wäre ich trotzdem zuhause. Und nicht mehr auf Deinen PC angewiesen«, fügte sie lächelnd hinzu.

Das war Mum, wie ich sie kannte und liebte - immer wieder schaffte sie es, mit kleinen Witzen und lockeren Bemerkungen einer Situation die Spannung zu nehmen. Ich kannte nur wenige Leute, die das konnten, außer Mum fiel mir eigentlich nur Rip ein. »Ich würde schon gern auf meiner alten Schule bleiben«, lenkte Janosch das Gespräch wieder in die eigentliche Richtung. Mum nickte. »Okay. Wenn ihr wollt, können wir uns heute Nachmittag noch eine Wohnung ansehen, eine schöne Maisonette-Wohnung nicht weit von hier. Fünf Zimmer, 140 Quadratmeter, also fast so viel Platz wie im alten Haus auch. Und noch etwas dichter an der S-Bahn.«

Ich grinste. »Bevor du hier jetzt die Maklerin spielst, würde ich vorschlagen, wir sehen uns die Wohnung einfach mal an.« Statt einer Antwort reichte Rip Mum kommentarlos, aber mit einem wissenden Lächeln, das Telefon von seinem Schreibtisch. Mum sprach mit dem Makler und vereinbarte einen Termin für zwei Uhr nachmittags. »Auf einen Sonntag?«, fragte ich ungläubig. Sie nickte. »Ja, der Makler ist mit Roland befreundet, der hat ihn mir auch empfohlen.«

Mum überraschte mich ehrlich gesagt ein wenig ... und ich bewunderte sie. Sie organisierte das alles so locker, als wenn sie seit Jahren nichts anderes machen würde. Als hätte sie meine Gedanken gelesen sagte sie: »Bedankt euch bei Rip - wenn wir ihn nicht hätten, dann hätten wir wohl noch einige weitere Probleme.« Ich nickte langsam. »Ich denke, dem habe ich nichts mehr hinzuzufügen. Rip, wenn du irgendwann mal Hilfe brauchst, egal wobei, dann sag' mir bitte Bescheid, okay?« Rip nickte. »Okay.«

»Übrigens, Janosch, Jason erwähnte vorhin irgendwas davon, dass ihr heute noch ein bisschen üben wolltet?«, meinte Rip dann. »Okay, ich schau' mal nach.« Offensichtlich war Janosch ganz froh, dass er nicht länger dabei sein musste - ich hatte schon die ganze Zeit das Gefühl gehabt, als ob es ihm nicht gut ging, spätestens seit Rip den Psychologen erwähnt hatte. Dabei hatte er offensichtlich nach langer Zeit mal wieder eine Nacht ruhig geschlafen, jedenfalls hatte er selig in Davids Armen gelegen, als ich heute Nacht nach Hause gekommen war. Ich war daraufhin ins Gästezimmer ausgewichen.

Das war auch das Erste, was ich jetzt ansprach, als wir drei allein waren. »David und Janosch scheinen sich gut zu verstehen, oder?«, fragte ich Rip. Er nickte. »Ja, die beiden haben gestern den ganzen Abend zusammen verbracht. Es freut mich für beide, dass sie sich so schnell angefreundet haben.« »Nur mal so am Rande, was war eigentlich bei David los? Der Junge sieht ja schlimm aus.«, fragte Mum. Rip nickte und erzählte uns dann in Kurzfassung, was er wusste.

»Und wie ist der dann zu dir gekommen?«, fragte Mum weiter. »Sorry, Lynn, aber das jetzt auch noch zu erzählen, würde ein bisschen zu lange dauern. Davon abgesehen, wir sollten erst mal zusehen, wie es mit euch weitergeht.« Mum nickte. »Stimmt.« »Erst mal, wie sieht es bei euch finanziell aus? Vergiss' nicht, dass Jochens Einkommen wegfällt.« Sie nickte. »Ja, ich weiß. Das Haus gehört uns, das würde ich also verkaufen. Ich weiß, dass Jochen einige Aktienspekulationen laufen hatte, ich denke, da werden seine Kollegen mir aber noch mehr zu sagen können. Außerdem habe ich uns im Laufe der Jahre auch ein paar Mark zurückgelegt. Und Jochen hatte eine Lebensversicherung abgeschlossen, eine recht hohe, soweit ich weiß.« Der letzte Satz klang ziemlich spöttisch.

»Okay, dann ist das geklärt. Falls ihr trotzdem mal nicht flüssig sein solltet, sagt mir Bescheid, okay?« Mum nickte. »Ich denke aber nicht, dass wir auf das Angebot zurückkommen müssen - davon abgesehen hast du uns schon viel zu viel geholfen, Rip.« Rip winkte ab. »Zu viel gibt es nicht. Luke, was hältst du wirklich von der Idee mit dem Umzug?« »Wie gesagt, ich find's gut - vor allem für Janosch.« Mum nickte zustimmend. »Ja, ich denke, für ihn ist das auch das beste. Wenn wir die Wohnung wirklich nehmen sollten, können wir praktisch morgen schon mit der Renovierung anfangen.«

»Gut, dann aber ohne Janosch - der hat sich ein paar Tage Erholung verdient. Rip, könnte er solange noch bei dir bleiben?« »Nein.« Ich zog die Augenbrauen hoch - mit der Antwort hatte ich nun wirklich nicht gerechnet. »Ich hoffe, dass ihr drei noch so lange hierbleiben werdet, bis Eure Wohnung bezugsfertig ist. Wenn ihr wollt, könnt ihr auch eure Sachen hier unterbringen, dann könnt ihr das Haus praktisch schon nächste Woche zum Verkauf freigeben. Lynn, auf wen ist das Haus eingetragen, im Grundbuch, meine ich?« »Ich glaube, auf Jochen - ich müsste nachsehen, ich weiß es nicht aus dem Kopf.«

»Ähm ... bevor wir uns jetzt über solche Details den Mund fusselig reden, was ist noch zu erledigen?« Rip grinste. »Was heißt hier solche Details? Luke, erstens ist das wichtig, und zweitens werde ich morgen Vormittag keine Zeit haben, da muss ich mich nämlich um David kümmern und das wird eine längere Geschichte.« »Okay, okay, ich sag' ja schon nichts mehr.« Mum schüttelte den Kopf. »Oh, Rip, wie schaffst du das nur immer die Jungs ruhig zu stellen?« Rip zuckte mit den Schultern. »Glückssache, würde ich mal sagen - davon abgesehen, vergiss' nicht, dass ich selbst drei oder besser gesagt vier von der Sorte habe - Jason gehört ja auch schon mit zum Inventar.«

Wir unterhielten uns noch über Unmengen von Details - Rip hatte recht gehabt, es waren wirklich noch viele wichtige Dinge zu klären - und nach dem Mittagessen fuhren wir los, um uns die Wohnung anzusehen, von der Mum gesprochen hatte. Mum hatte den richtigen Riecher gehabt, die Adresse war wirklich nicht weit von Rip entfernt in einer Parallelstraße, und auch was die Wohnung anging, hatte sie nicht übertrieben - Janosch und ich waren vom ersten Moment an hell begeistert und fingen gleich an, die Zimmer zu belegen.

Es gab zwei Badezimmer im Haus, und so beschlossen wir, dass auf der oberen Etage die Schlafzimmer liegen sollten, und unten sollten das Wohnzimmer und Mums Arbeitszimmer eingerichtet werden. Die Wohnung lag in einem Drei-Familienhaus mit einem recht großen Garten, der von allen Bewohnern genutzt werden konnte. Wie uns der Makler erzählte, wurde im Sommer öfter mal gemeinschaftlich gegrillt.

Kurz gesagt, die Wohnung war genau das, was wir für einen Neuanfang brauchten, und Mum unterschrieb noch am selben Abend den Mietvertrag. Wir fuhren direkt weiter in unser altes Haus, wo wir damit anfingen, unsere Sachen einzupacken. Der Himmel weiß, wie Mum es geschafft hatte, auf einen Sonntagnachmittag Umzugskartons aufzutreiben, aber auch das hatte sie irgendwie hinbekommen - oder Rip oder Roland hatten da ihre Finger mit im Spiel.

Während wir unsere Sachen zusammenpackten, kreisten meine Gedanken um Janosch und David. Die beiden hatten so friedlich zusammen geschlafen ... als ob sie sich seit Jahren kennen würden. Dabei war David erst gestern Nachmittag angekommen. Entweder hatten sie einfach schnell zueinander vertrauen gefasst, oder da war noch irgend etwas anderes ... aber was sollte das sein?

Mum kam herein. »Jetzt erzähl' mir doch endlich mal, wer diese mysteriöse Jessica ist.« »Muß das sein?« Sie nickte. »Ja. Komm, wir gehen in die Küche, ich hab' uns Kaffee gemacht.« Also gingen wir nach unten, und ich erzählte ihr, was los gewesen war. »Und du bist sicher, dass das bei Janosch nicht wieder vorkommt?« Ich schüttelte den Kopf. »Im Gegenteil, ich denke, wir werden noch öfter mit so etwas rechnen müssen. Aber David scheint einen guten Einfluss auf ihn zu haben.« »Ich kenne ihn nicht, aber so wie er aussieht ... das hat mich ehrlich gesagt erst mal ein bisschen abgeschreckt.« Ich nickte. »Kann ich verstehen, ich war auf den ersten Blick auch entsetzt. Aber das ist nicht seine Schuld, und Rip ist schon dabei, das Geradezubügeln.«

Mum schüttelte lächelnd den Kopf. »Rip ... der Mann hat vier eigene Kinder, der Freund seines Sohnes wohnt mit im Haus, er hat seine Praxis, er hat verschiedene andere Firmen, und dann hat er noch die Zeit, sich um Jungs wie Janosch oder David zu kümmern. Das kann man nur bewundern.« Nanu ... was hörte ich denn da für einen Unterton heraus? Ich kam jedoch nicht dazu, weiter darüber nachzudenken. »So, und wer ist nun Jessica und was sollten diese ganzen Anspielungen heute morgen?«, hakte Mum noch einmal nach.

»Jessica ist das Mädchen, mit dem Janosch sich am Bahnhof unterhalten und die ihn zur Vernunft gebracht hat. Wir haben sie kennengelernt, als wir Janosch abgeholt haben, und gestern Abend waren wir zusammen unterwegs.« Mum lächelte. »Wie darf ich das denn verstehen? Oder anders gefragt, wann lerne ich sie kennen?« Jetzt machte sich ein Phänomen bemerkbar, dass ich bisher nur bei David gesehen hatte - ich bekam knallrote Ohren. Sie winkte lächelnd ab. »Okay, ich frage gar nicht weiter. Komm, der Kaffee wird kalt und auf uns wartet noch viel Arbeit. Außerdem wird es Zeit, dass es nach all dem Chaos endlich mal wieder etwas Schönes zu berichten gibt.«

Janosch kam irgendwann noch mit dazu, und wir arbeiteten bis abends um halb elf weiter. Mum hatte zwischendurch Pizza bestellt - das war das erste Mal, dass wir zuhause aßen und sie nicht selbst gekocht hatte - und als wir für diesen Tag aufhörten mit dem Packen, hatten wir schon einen großen Teil der Arbeit hinter uns. Wir alle hatten uns sehr darauf konzentriert, und um ehrlich zu sein: Ich war froh, dass ich mich mal für eine Weile einfach nur diesen Dingen widmen konnte. Ich glaube, Mum und Janosch ging es nicht anders.

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