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Jason

Teil 7

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Inhaltsverzeichnis

Kapitel 21

„Wow ... das ist ... Wahnsinn”, sagte Jeremy, während er Nick immer noch anstarrte. „Was ist Wahnsinn?”, fragte Nick verwirrt. „Na, die Ähnlichkeit, die du mit Richie hast. Ich musste gerade echt überlegen, wer jetzt wer ist.” Corinna strahlte Nick an. „Nick, ich liebe dich jetzt schon. Es gibt nicht viele Leute, die es schaffen, dass mein Sohn sprachlos wird.” Nick sah immer noch verwirrt aus, und ich hatte das Gefühl, dass er am liebsten im Boden versunken wäre. Offensichtlich bemerkte Jason das auch, denn er nahm Nick beiseite und ging mit ihm nach unten, um ihm den Garten zu zeigen.

Wir anderen setzten uns an den großen Tisch, und natürlich musste ich erst mal erzählen, was es denn nun mit Nick auf sich hatte. Für Corinna war es sicher seltsam, auf diese Art von einer anderen Frau zu hören, denn sie war selbst mal mit Rip zusammen gewesen. „Na, hoffen wir mal, dass Nick sich gut bei euch einlebt. Aber ich denke, das klappt schon, oder?” „Hm ... Julian hat momentan wohl noch ein paar Probleme damit, aber der fängt sich schon wieder, um es mal mit Anne zu sagen.” Corinna lachte. „Julian und Veränderungen, das war noch nie leicht. Aber er wird sich auch schon an Nick gewöhnen. Und ich denke, Jeremy wird mit ihm auch kein Problem haben, oder?” Jeremy schüttelte den Kopf. „Nein, sicher nicht.”

Wir plauderten über andere Dinge und Jason und Nick setzten sich irgendwann wieder zu uns. Ich lächelte Jason zu – es freute mich, dass er sich diesen Moment Zeit für Nick genommen hatte. Überhaupt fand ich es toll, dass Nick so gut zu uns passte und auch mit Jason und mir kein Problem hatte. Sicher war es für ihn nicht leicht, ein frisch verliebtes Paar zu sehen, nachdem er gerade seinen Freund verloren hatte. Jason und ich gaben uns ohnehin Mühe, in Nicks Gegenwart nicht allzu sehr herumzuturteln.

„Was habt ihr denn heute vor?”, erkundigte sich Corinna. „Also ich wollte eigentlich surfen gehen”, sagte Jeremy, „aber ich weiß nicht, ob ihr Lust dazu habt.” Ich sah ihn zweifelnd an. „Ich hab' mein letztes Mal noch gut in Erinnerung.” Jeremy grinste. „Oh ja, ich auch. Ich glaube, ich hab' dich noch nie so nass erlebt.” Jason musterte mich amüsiert und sagte dann zu Jeremy: „Ich hoffe, du hast Fotos gemacht?” „Nein, hat er nicht”, mischte ich mich ein, „und selbst wenn er das getan hätte, wären sie jetzt mindestens so gut unter Verschluss wie ...”

Jason hob lachend die Hände. „Okay, okay, schon verstanden. Aber dann, mein Lieber, gibt es nur eine Möglichkeit – wir müssen das unbedingt wiederholen. Es kann ja wohl nicht angehen, dass ein echter California-Boy wie du nicht surfen kann.” Eigentlich wurde mir schon bei dem Gedanken daran flau im Magen, aber ich wollte kein Spielverderber sein, und so erklärte ich mich widerwillig einverstanden. „Nick, was ist mit dir? Schon mal auf 'nem Board gestanden?” Nick grinste. „Klar, wir sind jedes Wochenende zu den Klippen von Dover 'runtergefahren, da macht's richtig Spaß. Im Ernst: Ich hab' keine Ahnung davon. Aber Surfer sind doch diese ewig sonnengebräunten, arroganten Typen, die an Land keine drei Schritte geradeaus machen können, oder?” „Klar doch, guck' dir Jeremy an”, stimmte ich ihm zu.

„Ich schließe daraus, dass ihr die Herausforderung annehmt. Jason, was ist mit dir?” Der nickte. „Gern. Hast du 'nen guten Wavespot?” „Ich hab' sogar was noch besseres. Es gibt einen schönen Strandabschnitt ein paar Meilen westlich von hier. Die Ecke ist ruhig und mit etwas Glück gibt es ein paar gute Wellen. Was meint ihr?” Wir nickten zustimmend - Jeremys Vorschlag klang gut. „Dann sollten wir aber noch was einkaufen. Zumindest was zu futtern und ein paar Dosen Bier wären nicht verkehrt”, meinte ich. „Ganz schlechte Idee, Richie. Nichts gegen ein schönes kaltes Bier. Aber Alkohol am Strand gibt richtig Ärger. Und außerdem sind wir nicht in Deutschland, nicht mal Julian könnte hier Alkohol kaufen.” Ich seufzte. „Ach ja, hatte ich vergessen. Dann muss ich den Abend mit euch wohl nüchtern überstehen.”

Jason musterte mich mit gerunzelter Stirn. „Seit wann bist du so ein Fan von Alkohol?” Ich zuckte mit den Schultern. „Bin ich eigentlich nicht. Aber beim Grillen gehört's für mich irgendwie dazu.” „Ihr könnt auch hier grillen, wenn ihr wollt, dann könnt ihr auch was trinken”, bot Corinna uns an. „Aber wehe, ich finde einen von euch am Ende als Schnapsleiche im Garten. Und Autofahren ist auch nicht mehr, wenn ihr was getrunken habt.” Ich grinste. „Corinna, sei mir nicht böse, aber wenn wir mal 'nen Abend ohne Eltern verbringen können, verzichte ich liebend gern auf das Bier. Selbst wenn wir über Eltern wie dich und Rip reden.” Corinna schüttelte den Kopf. „Die Tour mit dem Honig um den Bart schmieren klappt bei mir nicht, Richie, das scheitert schon am mangelnden Bart. Und jetzt 'raus mit euch, wenn ihr noch was vom Tag haben wollt, solltet ihr langsam los.”

Jeremy war schon vorausgefahren, um einzukaufen. Er hatte auch die Surfboards dabei, denn sein Wagen war der einzige, der genügend Platz bot - er hatte sich zu seinem Führerschein einen gebrauchten Pick-Up geleistet. Jason, Nick und ich wollten in der Zwischenzeit noch etwas anderes erledigen, nämlich einen Termin, der Jason schon beim bloßen Gedanken daran ein unangenehmes Gefühl bescherte: Er wollte zu seinen Eltern, einige Klamotten und ein paar Unterlagen abholen. Ich hatte ihm selbstverständlich angeboten, ihn zu begleiten, und auch Nick hatte sofort zugesagt: „Ihr beide wart für mich da, als es um Daveys Beerdigung ging, und jetzt mitzufahren ist wohl das Mindeste.” Außerdem erschien es mir angemessen, dass Jason ein wenig Geleitschutz hatte.

Je näher wir dem Haus seiner Eltern kamen, desto nervöser wurde er. „Ich hoffe, dass mein Vater wenigstens nicht zuhause ist, dann wird es nicht ganz so hässlich”, murmelte er, als er in die Einfahrt einbog. Die Garage war geschlossen, davor stand ein dunkelblauer Chevrolet. Jason parkte den Wagen rückwärts ein. „So können wir schnell wieder weg”, erklärte er mit einem unsicheren Lächeln. Ich legte meine Hand auf seine Schulter und lächelte ihm aufmunternd zu. „Na komm, es wird schon schiefgehen. Mit etwas Glück ist dein Vater gar nicht da.” Jason deutete auf den Chevrolet. „Soviel Glück haben wir nicht – das ist sein Wagen. Richie, Nick, überlegt euch bitte, ob ihr mit 'reinkommen wollt. Ich bin sicher nicht sauer, wenn ihr's nicht wollt, okay?” Statt einer Antwort stiegen Nick und ich wortlos aus dem Auto.

Kaum hatte Jason seine Tür geschlossen, flog die Verandatür auf und eine Frau stürmte heraus. So, wie sie Jason um den Hals fiel, vermutete ich, dass es seine Mutter war. Jason versuchte, den Begrüßungssturm abzuwehren, und das gelang ihm nur mit sanfter Gewalt. „Ach, mein Schatz ... schön, dass du wieder da bist ... du hast mir doch so gefehlt ...” „Mom, mach' mal halblang. Ich will nur meine Klamotten holen.” Das wirkte – sofort ließ seine Mutter von ihm ab. „Deine Sachen? Aber was willst du denn damit?”, fragte sie irritiert. Jason zuckte mit den Schultern. „Ausziehen. Ich kann erst mal bei Freunden wohnen.” Sie trat zwei Schritte zurück und musterte ihn. „Ausziehen? Einfach so? Bist du verrückt geworden? Hast du zu viel deutsches Bier getrunken, als du drüben warst?”

Jason versuchte ein Lächeln, aber es gelang ihm nicht so richtig. „Ich bin wohl nicht derjenige, der zu viel trinkt.” „Hör zu, dein Vater hat sich geändert. Ihm ist selbst klar, dass das nicht in Ordnung war, was er gemacht hat. Und er hat schon eine Weile nichts mehr getrunken.” Jason schnaubte. „Eine Weile? Was für eine Weile? Eine halbe Stunde? Selbst das wäre für ihn ja ein Rekord.” Seine Mutter hob die Hand. „Jason, er ist immerhin dein Vater.”

Jason seufzte. „Vergiss es, Mom. Und jetzt lass mich bitte durch, ich bin gleich wieder weg. Das sind übrigens Richie und Nick, zwei Freunde von mir.” Offensichtlich hatte Jasons Mutter uns erst jetzt registriert, sie drehte sich zu uns um und starrte uns verblüfft an. „Ich hab' euch ja noch nie hier gesehen?” Nick zuckte mit den Schultern. „Wir sind die mit dem Bier.” Jason und ich warfen Nick einen anerkennenden Blick zu – das war wohl britischer Humor. Und Jasons Mutter wusste offenbar überhaupt nicht, was sie sagen sollte, darum wechselte sie das Thema. „Willst du nicht wenigstens warten, bis dein Dad wieder da ist?”

„Wieso, besorgt er sich Nachschub? Außerdem steht doch sein Wagen hier.” Sie schüttelte den Kopf. „Nein, Schatz, das ist jetzt mein Wagen. Mir hat letzte Woche jemand die Vorfahrt genommen, der Wagen war ein Totalschaden und ich hab' den von Dad genommen. Der hat sich jetzt einen neuen gekauft.” Jason hob die Augenbrauen. „Na wer wohl das Geld dafür verdient hat ...”, brummte er. „Jason, das ist unfair. Dad und ich wollten immer nur dein Bestes”, versuchte sie ihm zu erklären, doch Jason winkte ab. „Mom, lass' es bitte, okay? Nick und Richie müssen nicht mitbekommen, wie kaputt unsere Familie wirklich ist. Lass mich einfach meine Sachen holen, wir sind gleich wieder verschwunden.” Wortlos trat sie zur Seite, was Jason mit einem vergleichsweise freundlichen „Danke” quittierte.

Wir folgten ihm ins Haus, wo er Nick in die Seite knuffte. „Die mit dem Bier ... soso. Du hast dich ja schnell eingelebt in Deutschland.” Nick grinste. „Was hätte ich sagen sollen? Was besseres fiel mir gerade nicht ein.” Jason lachte. „Und dabei hast du das Bier noch nicht mal probiert, nehme ich an?” „Nein, bisher nicht”, musste Nick zugeben. „Wenn wir wieder in Hamburg sind, lad' ich dich persönlich auf ein Bier ein”, versprach Jason. „Okay, abgemacht.”

Wir gingen nach hinten in Jasons Zimmer. Er holte einige Taschen und Koffer aus dem Schrank. „Das muss reichen. Ich will ja nicht das ganze Haus mitnehmen. Aber wenigstens die wichtigsten Sachen.” Schnell hatte er drei Taschen gefüllt, überwiegend mit Klamotten. „Hey, die Jacke kenn' ich doch – hattest du die nicht in deinem letzten Film an? Der mit dem Autorennen?”, wollte Nick wissen. Jason nickte. „Ja, genau. Jeder von uns durfte sich ein paar Teile aus der Garderobe aussuchen, und die Jacke fand ich ziemlich cool.” Jason hatte den Sohn eines Rennmechanikers gespielt, der seinen Vater öfter zu den Rennen begleitete. Sowohl ihm als auch uns war klar, dass seine Rolle primär darauf abzielte, das Publikum in unserem Alter in die Kinos zu locken, denn seinen Filmvater hatte ein früherer Hollywood-Star gespielt, der zwar seine besten Tage schon hinter sich hatte und mittlerweile überwiegend von Fernsehserien und früherem Ruhm lebte, aber bei der Generation unserer Mütter immer noch recht hoch im Kurs stand.

Die Tür ging auf, und Jasons richtige Mutter kam herein. „Deine Zeugnisse. Falls du sie brauchst. Und deine Highschool-Jahrbücher.” Liebevoll strich sie über den Deckel des obersten Buches in dem Schuhkarton. „Danke.” Jason zögerte einen Moment, als würde ihm erst durch diese Dinge klar, dass sein Auszug wohl endgültig war. Dann nahm den Karton und legte ihn auf eine der noch nicht ganz gefüllten Taschen. „Was ist mit meinen Bankunterlagen?” Seine Mutter seufzte. „Jason, du weißt doch, dass dein Vater sich immer darum gekümmert hat. Ich weiß nicht ...” Er zog die Augenbrauen hoch. „Im Sekretär im Wohnzimmer?” Sie nickte stumm und Jason verschwand nach draußen.

Zwischen uns breitete sich ein unangenehmes Schweigen aus. Schließlich erkundigte seine Mutter sich: „Wollt ihr vielleicht etwas trinken? Ich könnte eine Limonade holen oder so etwas.” Wir winkten beide ab. „Danke, aber wir waren gerade schon bei ... äh ... einem anderen Kumpel.” Eigentlich hatte ich sagen wollen „... bei Freunden”, aber im letzten Moment fiel mir ein, dass sie das vielleicht falsch verstanden hätte. „In Ordnung. Seid ihr Brüder?” Wir nickten. „Naja, so halb”, fügte Nick hinzu. Wieder musste ich schmunzeln – Nick schien in Hochform zu sein. „Wir haben denselben Vater, aber verschiedene Mütter”, erklärte ich. „Ach so. Ich frage nur, weil ihr so viel Ähnlichkeit miteinander habt.”

Bevor einer von uns antworten konnte, kam Jason zurück. „Mom, da fehlen ein paar Unterlagen. Kommst du bitte mal mit?” Sie nickte und sagte dann zu uns. „Entschuldigt uns bitte, wir sind gleich wieder da.” Beide verschwanden wieder in Richtung Wohnzimmer. Nick sah mich an. „Hm ... seine Mutter macht doch einen ganz netten Eindruck?” „Kann sein. Aber nach dem, was Jason mir so erzählt hat, ist das Problem auch nicht, was sie getan hat, sondern was sie nicht getan hat.” „Ach so.” Ich hatte vergessen, dass Nick noch gar nicht bei uns gewesen war, als Jason mir die Vorgeschichte erzählt hatte – so sehr hatte ich mich mittlerweile an ihn gewöhnt. Ich wertete das für mich selbst als gutes Zeichen.

Jason kam wieder herein und knallte die Tür so heftig hinter sich zu, dass die Bilderrahmen an der Wand ein wenig wackelten. Wütend feuerte er einen Stapel Papier in die Tasche und ballte dann die Hand zur Faust. Einen Moment lang sah er sich suchend um, fand aber offensichtlich nicht, was er suchte. Ich sah ihn prüfend an und beschloss dann, ihn in den Arm zu nehmen. Er entspannte sich und erwiderte die Umarmung. „Hey, was ist los?“, flüsterte ich ihm ins Ohr. „Das wüsste ich auch gern. Offensichtlich hat mein Vater bei der Buchführung etwas, ähm, geschlampt.” Ich gab ihm einen Kuss auf die Wange. „Dann klär' das direkt über die Bank. Du bist volljährig, und die sollten dir zumindest genaueres ...”

In diesem Moment flog die Tür auf und ein Mann stand darin. Man musste kein Mathe-Genie sein, um sich ausrechnen zu können, dass das Jasons Vater war. „Du kleiner Dreckskerl ... erst abhauen und jetzt auch noch Männer ficken? Kaum bist du ein paar Tage bei den Nazis und schon drehst du völlig durch.” Jason zog die Augenbrauen hoch, und in Anbetracht der Tatsache, dass er gerade eben noch ziemlich in Rage gewesen war, rechnete ich damit, dass er auf seinen Vater losgehen würde. Stattdessen antwortete er nur mit einer Coolness, die Marlon Brando vor Neid hätte erblassen lassen: „Bist du neidisch, weil du es niemandem mehr so richtig besorgen kannst?”

„DU ...!” Mit diesen Worten stürzte sein Vater sich auf ihn. Ich sah für einen kurzen Moment Jasons Mutter im Hintergrund stehen, die das Geschehen stumm verfolgte. Doch bevor es wirklich zu einer Schlägerei kam, stellten Nick und ich uns dazwischen. Wir bekamen beide einen ziemlich heftigen Rempler ab, Nick wurde unsanft gegen den Schrank geschubst, während Jason mich noch abfing. „Tut mir leid, dass ihr das mit ansehen müsst”, flüsterte er mir ins Ohr und wandte sich dann an seinen Vater: „Dad, pass auf ... ich werde jetzt meine Sachen fertig packen, anschließend durch diese Tür gehen und ab diesem Moment bist du für mich gestorben. Vielleicht nimmt Mom ja irgendwann noch Vernunft an und schafft es, dich zu verlassen, aber du hast es nicht verdient, dass jemand auch nur deine Anwesenheit ertragen muss. Und mit wem ich ins Bett steige oder nicht, geht dich einen Dreck an.”

Sein Vater schüttelte den Kopf. „Sich mit 'nem Nazi-Drecksack einlassen ...” Ich räusperte mich. „Mr. Reynolds, bei allem Respekt, aber ich darf vielleicht ein paar Dinge klarstellen. Erstens, ich habe einen amerikanischen Pass. Zweitens, der Krieg ist schon seit einigen Jahren vorbei, selbst per Flaschenpost sollte diese Nachricht mittlerweile bis nach Kalifornien durchgedrungen sein. Und die paar Nazis, die es in Deutschland noch gibt, sind glücklicherweise eher die Ausnahme als die Regel.”

Bevor sein Vater etwas erwidern konnte, klingelte es an der Tür, und kurze Zeit später tauchten zwei Männer in blauen Uniformen in der Tür auf – Polizisten. „Guten Abend. Einer Ihrer Nachbarn hat uns angerufen, es soll hier wohl eine kleine familiäre Auseinandersetzung geben?” Jasons Vater drehte sich um. „Familiäre Auseinandersetzung? Mein Sohn ist wochenlang verschwunden, will auf einmal ausziehen und hat dann auch noch beschlossen, sich von Männern ficken zu lassen ...” – Jason verdrehte bei diesem Satz nur die Augen – „da werde ich ihm doch wohl noch die Meinung sagen dürfen?”

Einer der Polizisten runzelte die Stirn. „Und Ihre Hockeyschläger stehen immer so im Flur herum? Vielleicht kommen Sie mal kurz mit mir in ein anderes Zimmer, ich glaube, für den Moment ist es besser, wenn Sie und Ihr Sohn sich nicht gegenüberstehen.” Widerwillig ging Jasons Vater mit, nicht ohne vorher nochmal in Jasons Richtung verlauten zu lassen: „Wir sind noch nicht fertig miteinander!” Jason winkte ab. „Doch, Dad, sind wir.” Der erste Polizist schob Jasons Vater energisch in die andere Richtung, während der zweite endgültig ins Zimmer kam.

„Ich bin Officer Mullins vom LAPD. Was ist denn hier überhaupt los?”, erkundigte er sich freundlich. Jasons Mutter kam hinter uns durch die Tür. „Ich habe Sie angerufen, Officer.” Jason fiel die Kinnlade herunter. „Du, Mom? Wann das denn?” „Vor ein paar Minuten, als ich deinen Vater habe zurückkommen sehen. Mir war klar, dass ihr euch sonst an die Gurgel springt. Officer, bitte sagen Sie meinem Mann nichts davon.” Er nickte. „In Ordnung, aber trotzdem wüsste ich gern, was hier eigentlich passiert ist.”

„Also gut”, antwortete Jason, „in Kurzfassung: Mein Vater hat ein Alkoholproblem. Wir haben uns vor einiger Zeit gestritten, er hat mich verprügelt und dabei verletzt. Daraufhin bin ich erst mal bei Freunden untergekommen. Und in der Zeit habe ich etwas nachgedacht und beschlossen, dass ich mir vielleicht etwas eigenes suchen sollte.” Officer Mullins nickte. „Aha. Und einer von den beiden Herren hier ist dann vermutlich dein, äh, Lebensgefährte?” „Ja. Oder ist das ein Problem?” Der Polizist zuckte mit den Schultern. „Wir sind hier nicht in Texas, also sehe ich da keine Probleme.” Wir mussten schmunzeln. „Im Übrigen ist das deine persönliche Sache”, fügte er jedoch, nun wieder ganz sachlich, hinzu. „Volljährig bist du sicherlich?” Jason zog seinen Führerschein aus dem Portemonnaie und gab ihn dem Officer mit den Worten: „Schon seit Januar.”

Die Mundwinkel des Officers zuckten. „Schon ... soso. Willst du Anzeige gegen deinen Vater erstatten? Du hast vorhin erwähnt, dass du verletzt wurdest.” Jason winkte ab. „Erstens ist das schon zu lange her und man sieht nichts mehr davon, zweitens will ich hier einfach nur noch raus.” Bevor der Officer etwas erwidern konnte, kam Mrs. Reynolds mit einem tiefen Seufzer auf Jason zu und nahm ihn in den Arm. „Jason, du bist alt genug und ich werde dich sicher nicht zwingen, hierzubleiben. Aber überleg' es dir nochmal, in Ordnung? Wenn du jetzt erst mal den Kopf freibekommen willst, ist das ja in Ordnung. Vielleicht tut es euch beiden ganz gut, wenn ihr euch eine Weile nicht seht. Und wenn sich in ein paar Monaten die Wogen geglättet haben und Dad vielleicht wieder trocken ist, kannst du ja immer noch wieder hier einziehen.”

Was mich – und vermutlich auch Jason – entsetzte, war nicht der Sinneswandel, sondern die Tatsache, dass sie offensichtlich wirklich hoffte, dass alles wieder besser werden könnte. Jason drückte seine Mutter an sich und antwortete: „Ja, Mom, vielleicht wird alles gut, vielleicht auch nicht. Ganz ehrlich, ich habe die Hoffnung aufgegeben, dass Dad sich nochmal ändert.” Er drehte sich weg und zog den Reißverschluss einer der Reisetaschen zu. „Richie, würdet ihr ...?” Wortlos nahm jeder von uns eine der Taschen, und Officer Mullins beschloss: „Ich werd' euch noch nach draußen begleiten. Scheint mir besser zu sein.”

Auch Jasons Mutter kam mit, jedoch nur kurz. Jason umarmte sie noch einmal und verabschiedete sich dann mit: „Mach's gut ... ich ruf' vielleicht demnächst mal an.” Sie nickte, drehte sich um und verschwand dann im Haus. Ich sah, dass Jasons Schultern ein wenig zitterten, und auch seine Augen glänzten. Da ich ihn in Gegenwart des Polizisten doch nicht unbedingt umarmen wollte, legte ich ihm nur meine Hand auf die Schulter. Wortlos gab er mir den Autoschlüssel – dass er in diesem Moment nicht fahren konnte, war mir aber ohnehin klar. Der Wagen war natürlich nicht abgeschlossen, also stellten er und Nick die Taschen in den Kofferraum.

Officer Mullins nahm mich beiseite. „Hör' zu ... wenn es nochmal ein Problem geben sollte, seid ein bisschen vorsichtig, mit wem ihr sprecht, ja? Manche Kollegen haben ein Problem mit Paaren wie euch.” Er zog eine Visitenkarte aus der Tasche und drückte sie mir in die Hand. „Wenn etwas ist, unter dieser Nummer könnt ihr mich erreichen.” Ich nickte. „Danke, Officer. Aber ich hoffe, dass wir Sie nicht nochmal brauchen werden.” „Das hoffe ich auch”, antwortete er. „Und jetzt solltest du dich ein wenig um deinen Freund kümmern.”

Ich stutzte. „War das denn so offensichtlich?” Er zuckte mit den Schultern. „Nun, Mr. Reynolds war nicht gerade zurückhaltend mit seiner Wortwahl.” Jetzt fiel mir auch wieder ein, dass unser Verhältnis vorher schon deutlich geworden war. „Aber”, fügte er hinzu, „falls das deine Sorge sein sollte, ihr seid nicht das typisch-klischeehafte Schwulenpärchen.” Ich lächelte. „Das meinte ich eigentlich nicht. Wenigstens scheinen Sie damit kein Problem zu haben.” Er deutete mit einem Kopfnicken auf den Streifenwagen. „Du weißt doch, schützen und dienen. Was ich persönlich von Schwulen halte, ist eine andere Sache. Aber falls es dich interessiert: Sie stören mich nicht, solange sie mich nicht angraben. Und jetzt solltet ihr wirklich zusehen, dass ihr hier wegkommt. Falls der Vater von deinem Freund nochmal 'rauskommt, könnte es ungemütlich werden.”

Ich bedankte mich bei Officer Mullins für die Hilfe und setzte mich dann zu Jason und Nick ins Auto. Da der Streifenwagen vor unserem stand, mussten wir noch warten, bis die Polizisten wieder weggefahren waren. Jason sah traurig zum Haus seiner Eltern hinüber. „Das war's dann wohl.” Ich wusste nicht so richtig, was ich sagen sollte. Natürlich war Jason mit der Situation nicht glücklich gewesen, aber so einen Schlussstrich zu ziehen war doch noch einmal etwas anderes, als nur darüber nachzudenken. Ich umarmte ihn, so gut es im Auto ging, und einen Moment hielt er mich schweigend fest. Wir würden später darüber reden, aber für diesen Moment war es besser, einfach gar nichts zu sagen.

Nach ein paar Minuten kam der zweite Polizist aus dem Haus. Die beiden stiegen ins Auto, Officer Mullins nickte uns kurz zu, und einen Moment später war der Streifenwagen um die Ecke verschwunden. Ich startete unseren Wagen, und endlich machten wir uns auf den Weg zu Jeremy an den Strand.

Kapitel 22

Auf der Fahrt zum Strand stoppten wir an einer Tankstelle – ich hatte schon wieder verdrängt, dass die großen amerikanischen Kisten einen Spritverbrauch hatten, der jedem Tankwart in Deutschland ein seliges Lächeln ins Gesicht gezaubert hätte. Doch noch bevor ich den Motor abgestellt hatte, war Nick schon ausgestiegen. „Ich mach' das, bleibt ihr im Auto.” Ich lächelte. „Danke … und bringst du mir bitte noch ein Päckchen Zigaretten mit? Du kennst ja meine Marke.” Er nickte. „Klar, mach' ich.”

Jason lächelte, zum ersten Mal, seit wir bei seinen Eltern losgefahren waren. „Für solche kleinen Dinge könnte ich Nick echt lieben.” „Ja, geht mir auch so”, entgegnete ich, während ich seine Hand nahm. „Kann ich irgendwas für dich tun?” Er schüttelte den Kopf. „Danke, Richie, das ist lieb gemeint, aber ich werd' schon drüber wegkommen. Mich ärgert es, dass ihr das alles mit ansehen musstet.” Ich zuckte mit den Schultern. „Versuch' es mal positiv zu sehen – wenn dein Vater uns jetzt noch mal blöde kommt, kann er wenigstens nicht behaupten, du hättest dir das alles aus den Fingern gesogen.” „Das hat ihn noch nie abgeschreckt. Ihm muss doch damals auch klar gewesen sein, dass ich wegen des Zahns zum Arzt gehen würde und es hat ihn auch nicht interessiert.” „Vielleicht hat er gehofft, dass du dich nicht traust, die Wahrheit zu erzählen? Solche kleinen Unfälle passieren schnell mal, Rip hat sowas in der Praxis ständig. Bestimmt alle zwei Wochen.”

„Ich glaub' eher, dass er sich da gar keine Gedanken drüber gemacht hat. Aber hey, lass' uns das Thema vergessen … wir können wir vielleicht heute Abend im Bett nochmal drüber reden, das ist sicher gemütlicher als hier im Auto. Und jetzt freu' ich mich drauf, dich endlich mal auf 'nem Surfbrett zu sehen.” Ich grinste. „Werden wir ja sehen, ob das wirklich so 'ne Freude wird.” Passenderweise kam Nick in diesem Moment zurück. „Sorry, aber deine Marke gab's nicht – ich hab' die erstbesten genommen, für mich schmecken die eh' alle gleich”, sagte er leicht verlegen. Ich zog die Augenbrauen hoch. „Slims? Naja, wird schon gehen. Danke trotzdem.”

Nach wenigen Meilen waren wir an dem Teil des Strands angekommen, den Jeremy uns beschrieben hatte. Und er hatte nicht übertrieben, die Ecke war wirklich schön und wirkte auf den ersten Blick menschenleer. Jeremy hatte bereits alles vorbereitet – die Boards lagen startklar, eine Kühlbox mit Getränken stand daneben und Jeremy hatte bereits seinen Surfanzug an. Auch Julian und Natalie waren mittlerweile dazugestoßen. „Huch, was wollt ihr denn hier?”, fragte ich Julian verblüfft. Der grinste breit. „Erstens – aufpassen, dass ihr nicht zu viel Blödsinn macht, Auftrag von Dad. Zweitens – wenn ihr schon Blödsinn macht, was ihr zweifelsohne tun werdet, wenigstens was zu lachen haben.”

Plötzlich wurde er von einem undefinierbaren schwarzen Gegenstand an der Brust getroffen. „Hier, dein Surfdress. Wer so große Töne spuckt, hat natürlich die Ehre, den ersten Ritt auf der Welle zu machen”, forderte Jeremy ihn auf. „Find' ich gut, die Idee”, stimmte ich zu. „Von uns gibt's dann ein kompetentes und vernichtendes Urteil.” Natalie verzog sich für ein paar Minuten, damit wir uns in Ruhe umziehen konnten. Es war ein schönes Gefühl, mal wieder den Neoprenanzug auf der Haut und den warmen Sand unter den nackten Füßen zu spüren. Die Sonne versank langsam im Pazifik, die Kulisse hätte sich auf jeder Postkarte perfekt gemacht und die Wellen waren brauchbar – nicht zu lahm, aber für einen Gelegenheitssurfer wie mich auch nicht zu hoch.

Mit kurzen Unterbrechungen verbrachten wir über eine Stunde im Wasser, doch schließlich war es zum Surfen zu dunkel. Jeremy hatte natürlich die meiste Erfahrung und schaffte den längsten Ritt auf einer Welle. Jason war ebenfalls in seinem Element, und zu unser aller Überraschung kam auch Nick sofort gut mit dem Board zurecht. Von Julian und mir wollten wir besser nicht reden …

Da wir Natalie partout nicht dazu überreden konnten, sich auf ein Surfbrett zu stellen, hatten wir sie kurzerhand dazu verdonnert, sich um die Versorgung ihrer „Leistungssportler” zu kümmern. Sie protestierte zwar ein wenig, irgendwas von wegen Klischee und Frauen und so, aber spätestens als Julian sie mit einem liebevollen Dackelblick ansah, gab sie nach. Außerdem war ohnehin nicht so viel zu tun. Da wir aufs Grillen verzichten mussten, blieb die Küche kalt.

„Ich brauch' was zu trinken”, meldete Jeremy an, als er aus dem Wasser kam und sich in den Sand fallen ließ. Natalie warf ihm eine Dose Limonade zu. „Hier, bevor du noch mehr Staub aufwirbelst.” Jeremy grinste. „Da dürfte wohl keine Gefahr drohen.” Julian und Nick waren in der Zwischenzeit ebenfalls aus dem Wasser gekommen. Während Julian sich rücklings ausstreckte und seinen Kopf in den Schoß seiner Freundin legte, setzte Nick sich zu Jeremy, der ihm bereitwillig seine Dose hinhielt, in den Sand. Nick nahm einen Schluck und gab die Dose dann zurück. „Gute Idee. Ich bin immer wieder überrascht, wie durstig man im Wasser wird.” „Das kommt vom Salzwasser. Im Schwimmbad ist das nicht so heftig.”

Nick lächelte ein wenig. „Ja, stimmt, mit Davey hab ich sowas nie erlebt.” „Seid ihr oft zusammen schwimmen gegangen?”, wollte Jeremy wissen. Jason und ich sahen uns überrascht an. Normalerweise wusste Jeremy, wann man bei einem Thema nachhaken konnte und wann nicht, und wir hätten an dieser Stelle beide vermutlich nicht nachgefragt. Aber Nick schien die Frage nicht zu stören, im Gegenteil. Mit verträumtem Blick sah er aufs Wasser hinaus und sagte schließlich: „Ja, das war praktisch unser erstes richtiges Date.” „Wenn du magst, laufen wir ein Stück, dann kannst du mir das in Ruhe erzählen.” Wortlos stand Nick auf und die beiden gingen langsam den Strand entlang.

Julian hob die Augenbrauen. „Na, die freunden sich ja schnell an.” Natalie knuffte ihn in die Rippen. „Eifersüchtig, Schatz?” „Nö, nicht die Spur. Fiel mir nur auf”, brummte er zur Antwort. „Du weißt doch, dass Jeremy sich schnell mit anderen anfreundet. Und vielleicht braucht Nick einfach jemanden, mit dem er reden kann. Außerhalb der Familie.” Den letzten Satz schob ich schnell hinterher, weil Julian schon wieder zu einer Antwort ansetzte und mir klar war, dass mir die Antwort sicher nicht gefallen hätte. Wortlos klappte Julian den Mund wieder zu und nahm sich noch eine Dose Limonade aus der Kühlbox.

Natalie küsste Julian auf die Stirn. „Sag' mal, Schatz, wann hörst du eigentlich endlich mit den Sticheleien auf?” Julian legte den Kopf in den Nacken und sah Natalie an. „Das war gar nicht als Stichelei gedacht, nur als Feststellung. Ich hatte eigentlich gedacht, dass mittlerweile klar ist, dass ich mit Nick kein Problem mehr habe.” Ich musste lächeln. „Vielleicht liegt es dann einfach an deiner zurückhaltenden, diplomatischen Art, dass wir uns da noch nicht ganz sicher sind.” Julian lachte. „Ich geb' dir gleich mal eine Kostprobe meiner diplomatischen Art, kleiner Bruder.”

In diesem Ton ging es weiter – es waren die üblichen Sticheleien zwischen Julian und mir. Natalie kannte das schon, Jason gewöhnte sich auch langsam daran. Doch schließlich wurde uns langweilig, und nachdem wir zumindest den Surfanzug wieder gegen Hemd und Jeans getauscht hatten, beschlossen Jason und ich, ebenfalls einen kleinen Spaziergang zu machen. Auf die Schuhe konnten wir verzichten – der Sand war immer noch warm und außerdem würden wir sowieso immer mal wieder im Wasser laufen, da war es eher hinderlich, sie jedes Mal ausziehen zu müssen.

Eine Weile gingen wir schweigend nebeneinander her. Jason hatte mir seinen Arm um die Hüfte gelegt. Links von uns sahen wir die Lichter von Los Angeles, rechts nur das Wasser und in einiger Entfernung Catalina Island. Auf dem Wasser waren ein paar vereinzelte Schiffe zu sehen. Außer uns waren nicht viele Leute unterwegs – einige Paare, die einen romantischen Abend verbringen wollten, oder Jugendliche, die feiern wollten. Wir beide waren wohl irgendetwas zwischen diesen beiden Kategorien.

Als wir auf dem Rückweg waren, sahen wir Nick und Jeremy, die etwas abseits vom Strand auf einer kleinen Begrenzungsmauer saßen. Sie unterhielten sich angeregt, darum beschlossen wir, sie nicht zu stören. Jeremy hatte Nick seinen Arm um die Schultern gelegt und sprach leise, ich konnte ihn nicht verstehen. Hin und wieder streichelte er ihm sanft über den Rücken. Als wir gerade weitergehen wollten, sahen wir jedoch ein paar Leute, die aus der anderen Richtung auf die beiden zugingen.

Die vier waren etwas älter als wir und offensichtlich auf Krawall gebürstet. „Hey, wer seid ihr denn? Schwuchteln?”, rief einer quer über die Straße. Jeremy sah überrascht auf, und Nick schaute die Fremden zunächst völlig verwirrt an – offensichtlich war er tief in Gedanken versunken gewesen. „Ich wüsste nicht, was dich das angeht”, gab Jeremy kühl zurück. Der andere drehte sich zu seinen Freunden um. „Habt ihr das gehört? Er weiß nicht, was mich das angeht”, wiederholte er höhnisch. Wieder zu Jeremy gewandt meinte er: „Das hier ist unser Revier, ihr habt hier nichts zu suchen.”

Jason und ich gingen auf Nick und Jeremy zu, beide sahen uns erleichtert an. Der Rädelsführer drehte sich um. „Noch zwei von der Sorte”, stellte er ein wenig überrascht fest. Jetzt stand es vier gegen vier, und offensichtlich überlegte er, ob er und seine Leute sich darauf einlassen sollten. Doch noch bevor er etwas sagen konnte, blinkte hinter ihm ein Paar Scheinwerfer auf. Er drehte sich um und wurde vom Fernlicht eines Fahrzeugs geblendet, das langsam auf uns zurollte. Ein paar Meter entfernt wurde der Motor abgestellt, und zu meiner Erleichterung stieg Julian aus.

„Ich dachte mir, ich sammle euch langsam mal wieder ein”, begrüßte er uns. „Und keine Minute zu früh”, antwortete Jeremy. Der Typ mit der Lederjacke verdrehte die Augen. „Du Arschloch bist dann wohl der Retter in den rosa Strumpfhosen, oder wie?” Julian baute sich vor dem Typen auf. „Die hab' ich heute zuhause gelassen. Aber wenn du drauf bestehst, kann ich sie beim nächsten Mal gern mitbringen.” Der Typ glotzte ihn verständnislos an. „Ey, soll ich Angst vor dir haben oder was? Glaubst du, ich lass mir von 'nem Arschficker was sagen?”

Julian zog einen Mundwinkel nach oben – es war eine eher schlechte Clint-Eastwood-Imitation, aber immerhin passte sein Tonfall dazu. „Vielleicht solltest du das. Aber wenn ihr euch nicht bald mal wieder mit euch selbst beschäftigt, solltest du dir beim Weggehen 'ne Wand suchen, an der du mit dem Arsch langläufst. Und zwar 'ne dicke Wand.” Der andere wurde blass, und wider Willen musste ich grinsen. Die anderen kamen offensichtlich zu dem Schluss, dass sich der Ärger nicht lohnte. „Komm schon, wir ziehen ab”, schlug einer der Typen vor – und zu meiner Überraschung taten sie das auch, nicht ohne im Vorbeigehen noch gegen die Felgen von unserem Wagen zu treten.

„Eine dicke Wand – na den hast du in die Flucht geschlagen”, lobte Jeremy lachend. Julian grinste. „Tja, ich dachte mir, wenn der Kerl das Thema eh schon angeschnitten hat, bestätige ich seine tiefsitzende Furcht noch ein bisschen … es heißt doch immer 'angeWANDte Psychologie', oder?” Ich stöhnte innerlich wegen des Wortspiels, verkniff mir aber jeden Kommentar. „Seid ihr okay?”, wollte Julian wissen. Wir nickten alle. „Du warst genau rechtzeitig da. Hattest du gehört, was los war?” Julian nickte. „Ja … die Typen sind vorhin schon bei uns vorbeigekommen, und als wir ihn rufen gehört haben, dachten wir uns, dass die euch vielleicht Ärger machen wollen. Vielleicht sollten wir auch langsam zusehen, dass wir nach Hause kommen, es geht auf halb zehn zu.” „Mom hatte angeboten, dass wir auch bei uns im Garten was machen können, was haltet ihr davon?” „Gute Idee, machen wir”, stimmte Julian zu.

Also packten wir unsere Sachen zusammen und waren etwas später wieder bei Jeremy zuhause. Corinna saß mit einem Buch auf der großen Terrasse, als wir hereinkamen. „Nanu, so früh schon zurück?” „Ja, wir haben beschlossen, dass wir dir noch ein wenig auf den Geist gehen wollen”, antwortete Jeremy. Sie schob ihren Sohn beiseite und begrüßte Natalie und Julian, die sie schon länger nicht mehr gesehen hatte. „Dann fehlt eigentlich nur noch euer Vater. Ruft ihn doch einfach an, vielleicht kommt er ja auch noch dazu.”

Den Anruf überließen wir Corinna, während Julian und Nick sich darum kümmerten, den Grill anzuwerfen. Rip und die Jungs kamen eine halbe Stunde später tatsächlich vorbei, und es wurde ein richtig schöner Abend. Jason tat die Ablenkung gut – zumindest wirkte er so, als würde er nicht mehr ständig über seine Eltern nachdenken – und Nick war endlich in der Familie angekommen. Außerdem verstand er sich gut mit Jeremy. Die beiden hatten ja schon am Nachmittag viel Zeit miteinander verbracht, und Jason und ich hatten beide den Eindruck, dass Nick in Jeremys Gegenwart fröhlicher war.

Kapitel 23

Wir verbrachten noch einige Tage in Los Angeles. Nick war sich zunächst unsicher, wieviel Zeit er mit Jeremy verbringen „durfte”, ohne dass wir „eifersüchtig” wurden. Er merkte jedoch recht schnell, dass wir ihm deswegen keine Vorschriften machten. Wir unternahmen einige Ausflüge – manchmal zu zweit, manchmal mit Nick und Jeremy, manchmal waren auch noch Julian und Natalie mit dabei. Auch Rip tat die Erholung gut. Natürlich hätte er nie etwas gesagt, aber ihm war anzumerken, dass ihn die Wochen davor ziemlich mitgenommen hatten. Und dass er sich im Hinblick auf die Familienplanung noch einmal neu orientieren musste, dürfte auch nicht spurlos an ihm vorbeigegangen sein – auch wenn er stets das Gegenteil betonte.

Im Laufe der folgenden Tage trudelten auch Elvis und seine Eltern ein, so dass die Prescotts ebenfalls wieder vollzählig waren. Natürlich gab es eine Menge zu erzählen, John und Helen – die Eltern der Jungs, Tante Helen war Rips Schwester – kannten auch Nick noch nicht. Auch wenn ich bei Helen das Gefühl hatte, dass sie zumindest nicht völlig unvorbereitet war. Vielleicht hatte Rip ihr irgendwann mal von der Affäre mit Sarah erzählt. Jedenfalls war die Familie Prescott wieder zusammen, und Rip war der Meinung, dass wir die Ferien in Hamburg ausklingen lassen sollten. Es gab noch einige Dinge bezüglich Nicks Aufenthalt zu regeln und Nick, Anne und ich waren auch nicht gerade scharf darauf, die Zeitverschiebung unmittelbar vor dem Schulanfang zu erleben.

Nick hatte sich entschlossen, noch ein Jahr zur Schule zu gehen. Zwar hatte er in England sein „A Level degree”, das britische Gegenstück zum Abitur und zur Matura, gemacht, aber er stellte sich darauf ein, dass er noch einige Jahre in Deutschland leben würde und wollte die Gelegenheit nutzen, seine Sprachkenntnisse noch etwas zu verbessern. Rip unterstützte die Idee, auch weil er hoffte, dass Nick so schneller wieder Anschluss finden würde. Zwischenzeitlich hatte Rip seine Zweifel daran gehabt, ob es richtig gewesen war, Nick aus seinem vertrauten Umfeld in Scarborough herauszureißen. Einen Tag vor unserem Rückflug von Los Angeles nach Hamburg hatte er sich Nick geschnappt, sich mit ihm ins Auto gesetzt und ihm einen Schnelldurchlauf durch die Masters-Familiengeschichte gegeben: Er hatte Nick sein Elternhaus gezeigt, das Grab unserer Großeltern und ein paar andere Dinge. Außerdem sprachen Rip und Nick bei dieser Gelegenheit über Nicks Pläne für die Zukunft.

Schließlich fanden auch noch Chris, Rips Zwillingsbruder, und seine Frau Carol die Zeit, sich in L. A. mit uns zu treffen, denn natürlich hatten auch sie Nick kennenlernen wollen. Der war etwas überwältigt von der großen Familie, aber als wir auf dem Rückflug nochmal darüber sprachen, sagte er mir, dass er auf jeden Fall in Hamburg bleiben wolle. Zum einen fühlte er sich bei uns wohl, und zum anderen hatte er Angst davor, dass er in Scarborough doch immer wieder mit schmerzhaften Erinnerungen konfrontiert werden würde.

Ich bewunderte Nick für seine Offenheit. Vermutlich hätte ich genauso viel Angst davor gehabt wie er, aber ich hätte vermutlich nicht mit anderen darüber gesprochen. Unter uns Geschwistern und auch mit Rip wäre so etwas zwar kein Problem gewesen, mit Jason sowieso nicht, aber trotzdem ... wahrscheinlich wäre es mir zu peinlich gewesen oder was auch immer. Das war bei Nick jedoch nicht so. Sicher, er hatte seine traurigen Momente. Seine Durchhänger. Zeiten, in denen er an Davey oder seine Mutter dachte, oder an beide. Ein paar Mal hatte er sich in seinem Zimmer eingeschlossen, und ich wusste, dass er vermutlich weinend auf dem Bett lag oder in der Ecke saß. Ich hätte ihm gern geholfen, und das galt für alle anderen von uns genauso, aber wenn Nick seine Ruhe haben wollte, mussten wir das respektieren.

Am vorletzten Ferientag, zurück in Hamburg, lagen Jason, Nick und ich faul im Garten herum. Julian hatte sich mit einigen Freunden zum Lernen getroffen, und Anne war mit Elijah in irgendeiner Ausstellung. Aus mir völlig unverständlichen Gründen konnten sich die beiden stundenlang in irgendwelchen Museen aufhalten, Bilder betrachten und darüber nachdenken, was der Künstler nun mit einem bestimmten Pinselstrich hatte aussagen wollen. Ich war da einfacher gestrickt: Ich schaute mir ein Bild an und es gefiel mir oder eben nicht. Gut, wenn es mir gefiel, konnte ich es mir auch länger ansehen und auf Details achten, aber auf Details achtete ich eigentlich nur bei Musikstücken. Jason ging es da genauso, und wir übersetzten Songtexte, um seinen Deutschkenntnissen etwas auf die Sprünge zu helfen.

Nicht jedoch an diesem Nachmittag. Da lagen wir, wie schon erwähnt, einfach nur auf der faulen Haut in der Sonne, als dieselbe plötzlich verdunkelt wurde. Ich blinzelte und sah Rip, der sich genau in die Sonne gestellt hatte. „Wenn die Herren die Güte hätten, sich aus ihren Liegestühlen zu bewegen ... ich würde euch auf ein Eis einladen.” Jason sah erst Rip an, dann an seinem Bauch herab und schließlich zu mir. „Wenn das so weitergeht, kannst du mich hier nächstes Jahr rausrollen.” Ich grinste. „Och, das trainieren wir schon wieder ab. Aber da es selten genug vorkommt, dass der große Mann da in der Sonne eine wirklich gute Idee hat, sollten wir das gnadenlos ausnutzen.” Rip grinste. „Hatte ich euch eigentlich schon gesagt, wie sehr ich mich darauf freue, dass die Schule wieder anfängt? Und wie traurig ich darüber bin, dass es dein letztes Schuljahr ist, Richie?” „Höchstens fünf- oder sechsmal”, gab ich zurück.

Wir zogen uns schnell um und fuhren dann mit dem Rad die paar Blocks zu unserer Lieblings-Eisdiele. Während wir unsere verschiedenen Eisbecher weglöffelten, kam Jason plötzlich auf ein ganz anderes Thema: „Sagt mal, warum seid ihr Europäer eigentlich so verrückt nach der Formel 1?” Nick grinste. „Warum seid ihr Amis so verrückt nach der Indy-Car-Serie? Die ist ja noch bescheuerter, auf vielen Strecken geht's da wirklich immer nur im Kreis rum.” Rip hob eine Hand. „Moment, das sind keine Kreise, sondern Ovalkurse.” Nick seufzte. „Du nun wieder. Trotzdem sind die Formel-1-Rennen viel interessanter. Da gibt's mehr Kurven, Schikanen und so weiter und es kommt insgesamt viel mehr auf das Können des Fahrers an. Auf den Ovalkursen” – er betonte das Wort augenzwinkernd – „spielt die Technik eine viel größere Rolle.”

Der Kellner kam vorbei und wir bestellten schnell einige Tassen Espresso und Cappuccino. Kaum war er wieder verschwunden, griff Nick das Thema wieder auf. „Guck' dir die Formel 1 doch an: Selbst wenn du ein mittelmäßiges Auto hast, da kannst du einen Damon Hill hinters Steuer setzen und der holt trotzdem noch was raus aus der Kiste. Oder David Coulthard.” Jason grinste. „Ja, aber primär sind das beides Materialschlachten, die Fahrer sind nur schmückendes Beiwerk.” Rip zog die Augenbrauen hoch. „Hast du Erfahrung auf solchen Strecken?” „Nein. Jeremy und ich haben uns mal den Spaß gemacht, in Utah über die Salzseen zu brettern, aber dass man das nicht vergleichen kann, ist mir auch klar. Bist du sowas schon mal gefahren?”

Rip nahm einen Schluck von seinem Espresso. „Nicht ernsthaft. Onkel Chris und ich haben uns früher aber sehr dafür interessiert und haben uns die Rennen in Kalifornien meist auch nicht entgehen lassen. Aber natürlich durften wir nie selbst ans Steuer, wir haben uns dann auf 'ner Kartbahn ausgetobt.” Nick sah plötzlich aus, als hätte er eine Idee. „Kartbahn - Rip, die Idee ist klasse. Habt ihr sowas nicht in der Nähe? Dann könnte Jason gleich mal ausprobieren, wie das so ist. Und ehrlich gesagt, ich hätte auch Lust drauf.” Jason und ich nickten, die Idee gefiel uns ebenfalls, und Rip hatte auch nichts dagegen einzuwenden. Also zahlten wir unsere Rechnung und fuhren wieder nach Hause. Es gab zwar einige Kartbahnen in Hamburg, aber die waren alle doch ein ganzes Stück weg, und außerdem hatten wir keine passenden Klamotten an. Also hieß es: Umziehen. Julian und Natalie waren mittlerweile auch wieder zuhause und schlossen sich uns gern an, darum mussten wir den Van nehmen.

Nachdem Rip sich zweimal verfahren hatte, landeten wir schließlich dort, wo wir hinwollten. Die Kartbahn lag mitten im Industriegebiet. Wir hatten uns einen guten Zeitpunkt ausgesucht: Es war Essenszeit und darum war nicht soviel los, wie es vermutlich früher am Tag der Fall war. Einige Familien waren über das weitläufige Gelände verteilt, ein paar Karts waren auf der Strecke und wir holten uns erst mal die Einweisung ab. Rip hatte zuhause noch schnell die Kamera eingepackt und verzichtete darauf, mit uns zu fahren. „Ich dokumentier' lieber das Chaos, das ihr zweifelsohne anrichten werdet”, meinte er mit diabolischem Grinsen.

Bevor wir auf die Strecke konnten, gab es erst mal eine Sicherheitseinweisung. Julian und ich übersetzten für Nick und Jason, die zwar einiges verstanden hatten, aber trotzdem bestand der Mitarbeiter der Kartbahn darauf. Er war ohnehin etwas skeptisch, ob er die zwei überhaupt auf die Strecke lassen sollte. „Wenn's mal knallt, können wir nicht großartig diskutieren, dann erwarte ich, dass alle rechts 'ranfahren.” Julian grinste. „Dafür gibt's ja diese netten kleinen gelben Lichter, die sind glücklicherweise unabhängig von der Sprache.” An der Bahn waren in gleichmäßigen Abständen gelbe Rundumleuchten montiert, wie es sie auch auf Baufahrzeugen gab. „Also schön. Aber wer sich nicht an die Regeln hält, fliegt von der Strecke, nur damit das klar ist.” In der nächsten Startaufstellung waren nur noch zwei Plätze frei. Jason und Nick ließen Julian und mir den Vortritt. Ich drehte meine Runden und gewöhnte mich recht schnell wieder ans Fahren, mein letztes Mal in einem Kart lag schon eine Weile zurück. Im Großen und Ganzen gelang mir die Fahrt recht gut und ich hatte einen Riesenspaß bei der ganzen Sache.

Nach uns waren Jason und Nick dran. Am Anfang fuhren beide ziemlich gut, aber kurz vor Ende ihrer Fahrzeit verlor Jason die Kontrolle über sein Kart, drehte sich zweimal und blieb mitten auf der Strecke stehen. Der Fahrer, der hinter ihm angefahren kam, versuchte noch zu bremsen, aber so ganz ließ sich eine Berührung nicht vermeiden. Sofort gingen die gelben Warnleuchten an und die beiden Fahrer wurden von der Strecke geschoben. Julian und ich bahnten uns den Weg durch die Menschenmenge, während von der anderen Seite ein Junge in unserem Alter angelaufen kam, der sich um den anderen Fahrer kümmern wollte.

Jason zitterte ein wenig, als er sich aus dem Kart hievte. „Mann, das war knapp. Gut, dass der andere noch gebremst hat, der wäre mir so 'reingeknallt.” Wir sahen zu dem anderen Kart 'rüber, aus dem der Fahrer gerade ausstieg. Als er den Helm abnahm, sahen wir, dass es ein Junge von höchstens elf oder zwölf Jahren war. Der andere stand bei ihm und versuchte ihn zu beruhigen. Jason ging zu den beiden, wir folgten ihm. „Hey, du hast eine verdammt gute Reaktion.“, meinte Jason anerkennend zu dem Kleinen. Der sah ihn etwas verärgert an. „Naja, du hast deine Kiste wohl nicht so gut unter Kontrolle gehabt.”

Jason zuckte mit den Schultern. „Sorry, aber das war keine Absicht. Und was mich betrifft, war es der erste Versuch mit 'nem Kart.” Der jüngere der beiden nickte. „Ja, das hat man gemerkt.” Jason flüsterte mir auf englisch zu: „Für sein Alter hat der Kleine 'ne ziemlich große Klappe.” Bevor ich zu einer Antwort ansetzen konnte, erwiderte der Kleine in perfektem Englisch: „Aber im Gegensatz zu dir kann ich mit Karts umgehen.” Wir drei – mittlerweile war auch Nick zu uns gestoßen – sahen die beiden anderen verblüfft an, während der Ältere nur mit den Schultern zuckte. „Irische Wurzeln.”

Jason hielt dem Kleinen die Hand hin. „Nachdem ich dir die Runde versaut hab, würd' ich sagen, ich zahl' die nächste – einverstanden?” Der Kleine grinste, schlug ein und meinte: „Deal. Aber nur unter der Bedingung, dass du dann erst wieder nach mir fährst.” Sein Bruder musste lachen. „Hey, jetzt werd' nicht unhöflich. Und bedank' dich wenigstens.” Der Kleine zuckte mit den Schultern. „Wieso? Ich war's nicht, der die Runde versaut hat, sondern der da.” „Ich bin übrigens Jason”, erwiderte 'der da', „und ich würde sagen, dein Bruder hat recht, seine Schuld war's nicht.” Der Ältere schüttelte lachend den Kopf. „Na, wenn du meinst. Wartet mal kurz, ich bring' unseren Hobby-Rennfahrer nur mal eben zur Startlinie.”

Wir setzten uns in der Zwischenzeit an einen der freien Tische. Auch Rip war dazugekommen und erkundigte sich, was passiert war – natürlich hatte er mitbekommen, dass es in der letzten Runde ein Problem auf der Strecke gegeben hatte, aber er beruhigte sich, als er hörte, dass nichts passiert war. „Na, jetzt weißt du jedenfalls, warum Amis nur Ovalkurse fahren und die Europäer lieber Straßenkurse”, kommentierte Nick schließlich trocken. Bevor Jason etwas erwidern konnte, war der Bruder von unserem Unfallgegner an den Tisch zurückgekehrt. Als wir ihm Dad vorstellen wollten, fiel uns auf, dass wir noch gar nicht wussten, wie die beiden Jungs hießen. „Ach so, sorry ... das ist vorhin irgendwie untergegangen. Ich bin Luke Reilly, und der kleine Mika-Häkkinen-Verschnitt, der da gerade seine Runden dreht, ist mein Bruder Janosch.”

Nachwort

Nachwort

Wie sich das Leben doch verändert hat ... die ersten Teile von „Jason” entstanden mit der Standardanwendung „Write” unter Windows 3.1. Und bei diesem Teil habe ich die letzten Schritte der Überarbeitung auf einem iPad vorgenommen. Naja, vierzehn Jahre liegen zwischen der Urfassung von Teil 1 und dem Ende der überarbeiteten Version.

Der letzte Teil hat sehr lange auf sich warten lassen; hierfür möchte ich all die geduldigen Leser, die sich zwischendurch gemeldet oder stillschweigend gewartet haben, um Entschuldigung bitten und eine kurze Erklärung nachreichen: Wer das alte Ende kennt (Flugzeugabsturz und so) weiß, dass ich – selbst für meine Verhältnisse – in Sachen Dramatik ein wenig über die Stränge geschlagen bin. Schon damals ist mir das Ende ein wenig sauer aufgestoßen, und die Suche nach dem „richtigen” Ende hat mich lange beschäftigt. Es ist nicht so, dass ich in den vergangenen Jahren gar nichts an der Story gemacht hätte, aber ich hatte bei "Lonely is the Night" (die Story entstand ja parallel zu "Little Lies") mit einem Problem zu kämpfen: Das Ende stand bereits fest und eigentlich wollte ich da gar nicht hin, weil mir auch Davey mittlerweile durchaus sympathisch geworden war. Der einzige Vorteil war, dass sich eine interessante Gelegenheit ergab, die Figur Nick weiter auszubauen.

So ganz ließ sich dieses Dilemma nicht lösen, da ja „Jason” in „Little Lies” übergeht. Es gab eine Story, die als Übergang dienen sollte - da wurde unter anderem Nicks Unfall nochmal aufgegriffen, es gab eine längere Szene mit Rip als Zeuge in einem Gerichtsverfahren und der Teil, in dem die Familien Reilly und Masters zum ersten Mal aufeinandertreffen, wäre schön ausgebaut worden. Es gab sogar für die Rahmenhandlung einen fiktiven U-Bahn-Plan, der vom HVV genehmigt war und unterstützt wurde - an dieser Stelle nochmal herzlichen Dank, aber die Idee ist irgendwann gestorben (und die echte U4 ist doch noch früher fertig geworden). Warum? Es wäre zu viel geworden. Und mit „Jason” war ich immer noch nicht weiter. Also habe ich mich schließlich entschlossen, „Jason” etwas ruhiger ausklingen zu lassen und mit der Vorstellung von Luke und Janosch abzuschließen.

Wie auch immer, die Story hat ein Ende gefunden. Ich habe übrigens schon mit einer Überarbeitung von „Little Lies” begonnen, aber bevor Ihr jetzt befürchtet, dass es wieder Jahre dauert, bis diese vollständig vorliegt: Keine Sorge, hier werden nach und nach die einzelnen Teile ausgetauscht. Außerdem ist hier der Rahmen noch viel enger gesteckt, aber ein paar stilistische Mängel möchte ich doch noch ausbügeln, ein paar Dinge klarstellen und was einem im Laufe der Zeit so alles auffällt.

Und vielleicht geht es mit den Masters-Storys tatsächlich noch weiter - dann aber eher in der Gegenwart. Ein paar Ideen habe ich schon im Kopf und hoffe, diese über kurz oder lang noch umsetzen zu können. Einige dieser Ideen beziehen sich direkt auf die Familie Masters, bei anderen spielen nur einige Figuren eine Nebenrolle, aber wie gesagt: Ideen sind vorhanden. Die Herausforderung für mich ist jetzt nur, aus all diesen Ideen noch brauchbare und vor allem lesenswerte Geschichten zu machen.

Es gibt noch viele Dinge, die ich ins Nachwort reinschreiben könnte/wollte/möchte, aber ließe ich meiner Tastatur freien Lauf, wäre das Ergebnis wohl länger als ein einzelner Teil der Story – und das ist nicht der Sinn der Sache. Bei jedem Durchlesen fallen mir wieder und wieder Kleinigkeiten auf, die man nochmal verbessern könnte. Die Eröffnungsszene ist ein Teil davon. Auch fallen mir immer noch einige stilistische Patzer auf, die jedoch für meinen persönlichen Stil in der Zeit typisch sind (heute schreibe ich auch anders und hoffe, dass zumindest in dieser Geschichte der Unterschied nicht allzu groß ist).

Schließlich ein Dank an meine treuen Testleser, die teils sehr unterschiedliche Varianten bekommen und beurteilt haben. Ob man es glaubt oder nicht, aber ich habe mir manche Kritik tatsächlich zu Herzen genommen :-) Und ein Dankeschön an die Leute, die tatsächlich in all den Jahren immer noch mal nachgefragt haben, ob da nun noch ein Ende zu „Jason” kommt oder nicht. Nun, hier ist das Ende dieser Geschichte. Aber bestimmt nicht das Ende der Masters-Storys.

Rick, im Januar 2014

1. PS: Zum Weiterlesen

Wer es nicht zwischenzeitlich schon getan hat, kann sich gern noch einmal Lonely is the Night vornehmen, dort wird die Vorgeschichte von Nick ausführlich erzählt. Und weiter geht es hier natürlich mit Little Lies.

2. PS: Songliste

Musik spielt nicht nur im Leben der Jungs eine große Rolle, sondern auch für mich … auch wenn ich bei dem Abstand zum Handlungszeitraum mittlerweile aufpassen musste, dass ich keine Songs einbaue, die zu der Zeit noch gar nicht erschienen waren. Zwei Songs und ein Gedicht spielen eine etwas größere Rolle, diese möchte hier noch einmal erwähnen:

Camouflage (von Stan Ridgway, auf dem Album „The Big Heat” von 1985 – in Teil 3)

The Funeral Blues (das Gedicht, das Nick auf der Beerdigung rezitiert) – ist zwar streng genommen kein Song, aber es gibt eine wunderbare Fassung von John Hannah auf dem Soundtrack zum Film „Vier Hochzeiten und ein Todesfall” (und natürlich auf der DVD), aber dann bitte im Original hören, nicht die synchronisierte Fassung.

Eine Anmerkung hierzu sei mir gestattet: Als ich die fragliche Szene, um Ende 1999 herum, geschrieben habe, hatte ich den Film erst einmal gesehen und nur noch in sehr groben Zügen im Kopf. Mittlerweile habe ich mir auch die DVD gekauft und natürlich noch einmal angesehen, dabei ist mir aufgefallen, dass sich die Beerdigungsszenen in Film und Story doch sehr ähneln. Das war in der Form keine Absicht. Ich habe beim Schreiben immer ein komplett eigenes Bild im Kopf gehabt, als Vorbild für die Kirche diente mir eine verkleinerte Ausgabe des York Minster (Scarborough liegt in Yorkshire). Auch ist der Kontext ein völlig anderer, gibt es doch in dieser Szene noch Daveys Familie, die um ihn trauert; und das Alter spielt sicherlich auch eine Rolle. Letztlich ist die Ähnlichkeit oberflächlich. Ich wollte es aber dennoch erwähnt haben :-)

The Light will stay on (The Walkabouts, „Devil's Road”, 1996 – bei der Beerdigung

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