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Mark

Teil 2 - Zwei

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Informationen

 

Es war ungefähr vier Wochen nach dem Vorfall mit Stephan.

Ich kam von der Schule nach Hause – wie immer den Heimweg so wählend, dass ich Mark nicht über den Weg lief – und sah zu meiner Überraschung und Beunruhigung einen Rettungs- und einen Notarztwagen vor dem Haus stehen. Beim Näherkommen lokalisierte ich die beiden Wagen vor unserer Haushälfte.

Verdammt! Was war da los? Zu sehen war nichts weiter, kein Mensch war dort, den ich hätte fragen können, und so ging ich beunruhigt durch die offenstehende Ein-gangstür in unsere Wohnung.

Da sah ich es: Meine Mutter wurde gerade auf eine Trage geschnallt. Der Notarzt packte seine Sachen zusammen und wollte das Haus verlassen. Ich trat ihm in den Weg und bat um Aufklärung. Er berichtete nach meiner Beteuerung, wirklich der Sohn des Hauses zu sein, dass meine Mutter wohl zusammengebrochen war und zum Glück gerade das Telefon in der Hand gehabt hatte. So konnte sie noch die 112 wählen. Was ihr nun fehle, könne er so nicht feststellen – das werde nun in der Klinik untersucht werden. Er tippe auf einen Herz- oder Hirninfarkt – Eile sei geboten.

„Bist du versorgt? Hast du jemanden, an den du dich wenden kannst?“

Bevor ich überlegen und antworten konnte, sagte plötzlich Mark hinter mir in der noch immer offenstehenden Wohnungstür laut: „Sicher, um Frank kümmere ich mich.“

Ich drehte mich überrascht zu ihm um.

Der Doktor meinte von oben herab: „Du? Du brauchst doch selber noch Betreuung!“

Was jetzt kam, hatte ich nicht erwartet. – Der Notarzt auch nicht.

Frank meinte kühl: „Der wegen der Diskrepanz von Begriffsbestimmungen im Ju-gendschutzgesetz und im BGB neu eingeführte Begriff ‚betreuungsbeauftragte Per-son’ ist durch ein grundsätzliches Übereinkommen der beiden Personensorgeberechtigten, nämlich meiner und Franks Mutter, hier eindeutig anzuwenden. Insofern bin ich in der vorübergehenden Abwesenheit meiner Mutter derjenige, der sich um Frank kümmert. Sollten sich Rückfragen ergeben, wenden Sie sich bitte an diese Nummer. Ich danke Ihnen für Ihren Einsatz und werde dafür Sorge tragen, dass der Patientin die notwendigen Dinge in die Klinik gebracht werden.“

Damit überreichte er dem nun völlig konsternierten Arzt eine Visitenkarte und wandte sich mir zu.

„Kommst du? Vergiss nicht abzuschließen, wenn diese Leute“, er machte eine vage Handbewegung, die alle umfasste, die ihn mit offenem Mund anstarrten, „fertig sind.“

Auch ich starrte ihn an. Er tat, als sei das alles die natürlichste Sache der Welt, was ihm in diesem Moment die nötige Autorität verlieh, sodass tatsächlich alle Menschen – Sanitäter, der Arzt, irgendwelche Nachbarn, die durch die Tür gafften – sich wieder in Bewegung setzten und das Feld räumten – bis auf den Arzt.

„Ähm … ja, dann … ist ja alles … soweit …“

Nun ging auch der Arzt, und wir waren allein.

„Ähm, Mark, das … danke!“

Mark sah mich kalt an.

Dann meinte er: „Ich habe den Bericht des Notarztes mitgehört. Es tut mir Leid, was mit deiner Mutter passiert ist. IHR zuliebe habe ich eingegriffen und damit deine Aufforderung, dich in Ruhe zu lassen, ignoriert. Entschuldige, aber das musst du jetzt aushalten. Du kannst mit rüber kommen. Wie es weitergeht, vor allem mit Konny, entscheidet meine Mutter. Wo ist Konny überhaupt?“

„Der ist nachmittags immer bei einer Hausaufgabenhilfe und kommt erst am Abend.“

Mark meinte nach kurzem Nachdenken: „Okay, dann müssen wir ihn nachher abfangen. Jedenfalls lasse ich euch hier nicht allein sitzen. Wohlgemerkt: deiner Mutter zuliebe!“

Damit drehte er sich um und ging hinaus, wohl voraussetzend, dass ich ihm folgen würde.

Mein erster Impuls war Trotz. Was bildete sich dieser Schnösel eigentlich ein? Ich DACHTE gar nicht daran, mit zu ihm zu gehen. Doch dann wurde mir bewusst, dass ich mit dieser Situation allein nicht fertig werden würde. Außerdem war das ein imposanter Auftritt gewesen, wie ich ihm – nun schwach grinsend – zugestehen musste. Aber die Sorge um meine Mutter und die Verantwortung für Konny ließen mich schnell wieder ernst werden. So gab ich mir einen Ruck und ging Mark hinterher.

Als ich bei seiner Tür ankam, war sie geschlossen. Es dauerte eine Weile, bis er nach dem Klingeln öffnete. Er sah mich wieder ohne Regung an.

„Ich wusste, dass du nachkommst. Geh in die Küche, da ist was zu Essen. Ich bin oben. Ruf mich, wenn meine Mutter da ist. Ich achte darauf, wann Konny kommt“.

Er ließ mich einfach stehen, ohne eine Antwort abzuwarten. Meine Gefühlslage schien ihn nicht zu interessieren. Ich sah ihm nach, bis er verschwunden war.

Mein Denken war wie gelähmt, das Verstehen setzte mit Verzögerung erst jetzt ein. Jäh begriff ich, wie es um meine Mutter stand: Dass sie an einem Infarkt sterben könnte oder Funktionen beeinträchtigt sein und sogar bleiben konnten. Ich setzte mich wie in Trance auf einen der Küchenstühle und sah gedankenverloren aus dem Fenster. Und dann brach es aus mir heraus: Ich begann zu heulen. Es wollte gar nicht aufhören. Vor meinem inneren Auge lief ein Film ab: Meine Mutter als Pflegefall, alles mitbekommend, sich nicht äußern könnend, sich in alles fügen müssend, was man mit ihr anstellte. Ich verlor völlig die Fassung und bekam einen ausgewachsenen Weinkrampf.

Da fühlte ich auf einmal die Hand von Marks Mutter auf meinem Kopf, die mich tröstend streichelte; mir mit einem Tuch sachte die Tränen abtupfte, soweit sie sie an meinem auf die Arme gelegten Kopf erreichen konnte.

Sie flüsterte: „Ruhig, Frank, ganz ruhig. Es wird alles gut. Komm, mein Kleiner, alles wird gut.“

Langsam beruhigte ich mich, wagte aber nicht, den Kopf zu heben. Das war doch eine peinliche Situation! Ein Junge in meinem Alter – und dann heulen!

Die Eingangstür wurde aufgeschlossen, und Marks Mutter kam von draußen herein. Wie angewurzelt blieb sie stehen, als sie mich dort hocken sah.

„Was ist denn mir Dir los?“ fragte sie.

Ich schrak auf. Wer … verdammt, das war doch nicht etwa Mark gewesen? Ich sah mich um: kein Mark zu sehen. Einbildung?

Ich berichtete ihr kurz, was geschehen war, was seine Mutter zu energischer Aktivität veranlasste.

„Wo ist dein Schlüssel? Gut. Wir gehen jetzt zu dir rüber und packen ein paar Sa-chen für deine Mutter ein. Wo ist Konny? Wo ist Mark?“

Ich sagte es ihr, und sie ging kurz hinauf zu Mark. Dann holten wir die Reisetasche und füllten sie bei uns mit Dingen, an die ich im Traum nicht gedacht hätte.

„Weißt du, wo die Krankenkassenkarte deiner Mutter ist?“

„Irgendwo da in der Schreibtischschublade muss so eine Mappe sein, da sind alle möglichen Sachen drin, Ausweis, Pass und so.“

Sie packte auch die Karte ein, und wir fuhren in die Klinik, ohne dass ich Mark noch einmal gesehen hätte.

Vor der Intensivstation wurden wir aufgehalten. Die Sachen nahm uns eine etwas genervte Schwester ab.

Nein, es stehe noch nichts fest; die Untersuchungen seien noch nicht abgeschlos-sen. – Ja, wir würden angerufen, sobald die Ergebnisse vorlägen und eine Diagnose gestellt sei. – Nein, heute könnte ich meine Mutter auf gar keinen Fall sehen, frühestens Morgen. – Ja, es würde bei der Nachbarin angerufen. – Nein, ich könne sie jetzt nicht sehen. – Ja, sie würden ganz bestimmt anrufen. – Nein, ich könne weiter nichts tun. – Nein, zu diesem Zeitpunkt helfe meiner Mutter ein Besuch nicht, ganz im Gegenteil.

„Aber wenn ich sie nur ein Mal ganz kurz …“

„NEIN! Bitte gehen Sie jetzt!“

Wir fanden es besser zu gehen.

Wieder zu Hause angekommen, ließ sie mich kurz auf meinen Wunsch in unserem Haus allein. Wir, Konny und ich, standen vor dem Problem, wo wir denn jetzt schla-fen sollten. Zusammen in meinem Zimmer? Nein, allein wollte ich jetzt nicht mit ihm sein. Ich hätte ihm keinen Trost spenden können – Trost brauchte ich selber. Aber mit zu Mark, wie seine Mutter anbot – nein: wie sie für uns entschied? Eigentlich wäre das sicher nicht ganz schlecht, sozusagen das kleinere Übel, zumal Konny wohl inzwischen schon dort war. Also ergab ich mich und folgte ihr in die Wohnung. Sie versicherte mir, dass Mark einverstanden sei, wenn ich mit in seinem Zimmer übernachtete – das Bett sei ja groß genug. Konny sei ziemlich geschockt gewesen – Mark habe ihn etwas beruhigen können. Er schlafe nun. Er, Mark, habe ihm einen Platz in ihrem Bett eingerichtet, mein Einverständnis voraussetzend. Ich warf einen Blick ins Schlafzimmer. Konnys Gesicht war nicht zu sehen – er lag zusammengekrümmt da, nur sein Wuschelkopf sah unter der Decke hervor. Als ich ihm die Decke ordentlich hinlegte, bemerkte ich die dunklen Flecken auf seinem Kopfkissen: Er hatte sich in den Schlaf geweint. Ich strich ihm sanft über das schweißnasse Haar. Der arme Kerl! Er atmete ruhig und schlief augenscheinlich tief.

Leise ging ich zur Tür, als er plötzlich unruhig wurde. Ein leises Wimmern war zu hören, ich war mit zwei Schritten wieder an seiner Seite und sprach ihm leise zu. Er wachte gar nicht richtig auf, schlang aber seine Arme um meinen Hals und drückte sich an mich, als wolle er mich gar nicht wieder loslassen. Eine Weile saß ich so neben Konny. Er beruhigte sich langsam, und seine Arme lockerten sich wie in Zeitlupe, um schließlich wieder aufs Bett zu sinken. Er schlief nun fest, und ich verließ leise das Zimmer.

Marks Mutter erwartete mich in der Küche.

„Du musst was essen und trinken. – – Nein, keine Widerrede!“

Nun gut, ich hatte zwar keinen Hunger, und hinterher wusste ich nicht einmal, was ich gegessen hatte, aber sie war zufrieden. Dann ging ich zögernd nach oben. Mark saß noch an seinem Schreibtisch. Wieder würdigte er mich keines Blickes, ge-schweige denn, dass er mit mir sprach. Todmüde, wie ich war, fiel ich ins Bett.

„Danke, dass ich hier schlafen darf, Mark“, sagte ich noch, dann war ich weg.

Als Mark viel später ebenfalls ins Bett ging, wachte ich durch die Bewegung der nur wenig bedämpften Wassermatratze auf.

Obwohl ich mir nichts anmerken ließ, sagte er leise: „Du hast mich ohne Grund be-leidigt, und du hast mir wehgetan. Es muss einfach scheiße für dich sein, jetzt, hier mit mir in einem Bett zu liegen. Hab ich Recht?“

Was wollte er? Sich noch an meinem Zustand weiden? Das konnte ich mir nicht vorstellen, nicht nach seinem Eintreten für mich, als er sagte, das täte er für jeden, sogar für Stephan. Ich war mir über meine Gefühle für Mark überhaupt nicht sicher, und so zog ich es vor, lieber gar nichts zu sagen und mich schlafend zu stellen. Er gab schließlich auf und drehte sich auf die andere Seite.

Am nächsten Tag. Die Schule war aus, und ich schlug automatisch den Umweg ein, den ich in letzter Zeit zu gehen pflegte, um Mark aus dem Weg zu gehen. Ahnungslos bog ich um eine Mauer in einen schmalen Weg zwischen der Rückseite einer Lagerhalle und der Hecke eines Schrebergartens ein. Ich schrak zurück. Stephan stellte sich mir in den Weg. Zwei seiner drei Trabanten waren mit ihm – sie grinsten höhnisch, als ich den Versuch aufgab, an ihnen vorbeizusprinten: Der Weg war zu eng, und sie standen rechts und links hinter ihm. Stephan kam langsam auf mich zu, sein Gesicht nahm einen niederträchtigen Zug an.

Wie in Zeitlupe zog er ein Messer hervor. Gehetzt sah ich mich um. War jemand in der Nähe? Nein, niemand kam. Ort und Zeitpunkt des Hinterhaltes waren perfekt gewählt.

„Na, du Hosenscheißer? Kein Retter zu sehen? Tja, Pech für dich! Jetzt geht’s dir an den Kragen! Du Memme, heul endlich! Du sollst vor mir winseln, aber das wird dir nichts nützen!“

Er hob die Hand mit dem nach oben herausstehenden Messer, auf dessen Klinge ein Lichtreflex tanzte.

„Endlich hab ich dich, du kleiner Pisser“, flüsterte er heiser.

Ich bekam eine wahnsinnige Angst. Der war imstande, mich hier auf offener Straße abzustechen. Verdammt! Das kann es doch nicht gewesen sein. Plötzlich überkam mich eine unbändige Wut.

Ich funkelte Stephan an und sagte: „Ja, jetzt bist du stark, mit deiner Leibgarde hinter dir, was? Zu dritt gegen einen Unbewaffneten, DAS ist ne Heldentat! Da werden deine Kinder noch von sprechen, sofern man im Knast überhaupt welche zustande kriegt! Denn in den Knast wirst du gehen, das verspreche ich dir! Na, komm schon, du Held! Stich mich ab! Oder traust du dich plötzlich nicht mehr? NA LOS!“

Und damit stürzte ich nach vorne und rammte ihm meine Faust in den Magen. Das heißt, ich WOLLTE das, doch er konnte mit dem Messer umgehen und wehrte mei-nen Angriff ab, indem er es mir in den Arm stieß. Der Schmerz überfiel mich, sodass ich tränenblind nur noch in die Luft schlug. Seine Gorillas waren wohl inzwischen um mich herum gelangt, denn unvermittelt spürte ich, wie meine Hände festgehalten und meine Arme schmerzhaft nach hinten gezogen wurden. Durch den Tränenschleier sah ich, wie Stephan sich mir drohend näherte.

„Noch irgendwelche letzten Worte? Soll ich jemanden grüßen? Mark vielleicht, den kleinen Schwuli? Den nehm ich mir als Nächsten vor!“

Dreierlei Dinge passierten nun zeitgleich. Erstens: Das Messer zuckte auf mich zu, im letzten Moment drehte ich mich zur Seite, und der Stahl fuhr nicht, wie beabsich-tigt, in meine Brust, sondern in den Arm desjenigen, der mich an er linken Seite festhielt. Zweitens: Der an meiner Stelle Getroffene jaulte laut auf und lockerte notgedrungen seinen Griff, sodass ich mich ihm entwinden konnte und mich, ohne weiter auf Stephan zu achten, auf den Typ, der zu meiner Rechten stand, stürzte.

„Jetzt bist DU dran“, schrie ich ihn an.

Er war so verblüfft, dass er, zumal ihm Input von seinem Vordenker fehlte, ebenfalls losließ und das Weite suchte.

Drittens: Stephan jaulte auf, ließ das Messer fallen und starrte verblüfft auf Mark, der plötzlich hinter ihm aufgetaucht war und – wie er mir später erzählte – zuerst mit einem kräftigen Tritt auf das negative Ende von Stephans Speiseröhre seine Aufmerksamkeit auf sich lenkte, um dann mit einem knochentrockenen Handkantenschlag auf dessen Arm dafür zu sorgen, dass die Schwerkraft ungestört auf das Messer einwirken konnte.

Stephan hielt sich den getroffenen und nun anscheinend paralysierten Arm mit der anderen Hand und geiferte (manche Menschen erkennen einfach nicht, wann sie verloren haben) Mark an: „Du Schwanzlutscher, dir werd ich’s zeigen“.

Er ließ seinen getroffenen Arm los, holte zu einem fulminanten Schwinger aus der, wie konnte es anders sein, sein Ziel verfehlte. Stattdessen machte sein Kinn Be-kanntschaft mit Marks Rechter, und das reichte aus, um seinen Besitzer um sein allzu selbstbewusstes Bewusstsein zu bringen: Stephan ging zu Boden.

Mark wandte sich mir zu: „Alles okay soweit? Zeig mal die Wunde“.

Nach einer kurzen Untersuchung – was konnte dieser Mensch eigentlich nicht? – meinte er: „Das muss genäht werden. Und wir werden Anzeige erstatten. Damit darf er nicht durchkommen!“

Ohne meine Antwort abzuwarten hob er sein bei der Rettungsaktion heruntergefallenes Handy auf, nickte befriedigt, als er die Funktionsfähigkeit feststellen konnte, betätigte den Notruf und machte die abgefragten Angaben.

„Ja, zwei Verletzte mit – so weit ich das feststellen kann – Fleischwunden und ein durch Knock-out besiegter Angreifer, auf dem ich gerade sitze, damit er nicht abhaut, wenn er wieder zu sich gekommen ist. – Nein, keine Angst, ich sitze nicht auf seinem Brustkorb – ich will ihn noch anzeigen, da muss er ja weiterleben. Wer der Angegriffene ist? Das ist mein Freund Frank, Frank Brenner. Okay, bis dann!“

Hoppla, hatte ich gerade richtig gehört? ER will ihn anzeigen?

„Moment, die Anzeige ist meine Sache, du bist höchstens Zeuge, okay?“

„Oder so! Und jetzt: Kannst du es so lange aushalten, bis jemand kommt?“

Warum machte er sich denn auf einmal Gedanken um mein Wohlergehen?

„Mark? Warum tust du das? Ich meine, ich hab dich behandelt wie Dreck, warum tust du das für mich?“

Er schwieg eine Weile.

Dann grinste er auf einmal und meinte: „Ich bin eben so. Das hat weiter keine Bedeutung“.

Aus der Ferne ertönten mehrere Martinshörner, die immer lauter wurden, bis Ret-tungswagen und Notarztwagen um die Ecke hielten, gefolgt von einem Polizeiwagen. Bremsen quietschten; wohltuende Stille war die Folge, als die Sirenen verstummten.

In genau diesem Moment wachte Stephan auf. Als er seine Lage erkannte, aber nicht, wer inzwischen noch alles den Schauplatz bevölkerte, verzerrte sich sein Ge-sicht zu einer hasserfüllten Fratze.

„Du schwule Sau, dich steche ich auch noch ab!“

Mark reagierte ganz gelassen und meinte nur: „Haben Sie das mitbekommen, Herr Wachtmeister?“

Stephan höhnte: „Netter Versuch, Drecksack! Aber da wirst du dir einen Dümmeren suchen müssen! Mach dich drauf gefasst: Du bist der Nächste, der mein Messer spüren wird. Es hat wieder Hunger auf Blut, Schwulenblut! Und jetzt LASS MICH LOS!“

Mark sagte übertrieben demütig „Ja, Massa! Sofort, Massa! Tu mir nichts, Massa!“ und erhob sich.

Stephan merkte immer noch nichts: Die Polizisten standen außerhalb seines Ge-sichtsfeldes. Er hob das Messer auf, holte aus und wurde ohne viel Federlesen in den Polizeigriff genommen.

„Sie sind vorläufig festgenommen!“

Nachdem alle verarztet waren – die Verletzten von den Sanitätern, Stephan nach einer kurzen Untersuchung durch den Notarzt von den Polizisten – standen wir allein da: Mark und ich. Die Polizei hatte uns für den Nachmittag zu einer Aussage ins Präsidium bestellt.

Ich sah Mark an – er sah mich an.

Nach kurzem Schweigen sagte ich: „Mark, du hast mir das Leben gerettet und dabei deines aufs Spiel gesetzt. Dafür kann ich dir nicht genug danken. Wie kann ich das bloß wieder gutmachen?“

Er sah mich weiter nur an. Seine Miene war nicht mehr kalt, aber doch neutral. Er wartete augenscheinlich, ich sollte weiterreden.

„Ich habe mich benommen, wie ich es niemals von jemandem akzeptiert hätte. Bitte, nimm meine Entschuldigung an.“

Sein Gesicht wurde eine Spur freundlicher aber immer noch schwieg er. Nach lan-gem Zögern streckte ich ihm meine Hand hin.

„Freunde?“

Er grinste sein etwas amüsiertes Grinsen, schlug in meine Hand ein.

„Weißt du“, sagte er – sofort wieder ernst –, „das alles hätten wir uns ersparen kön-nen. Allerdings muss ich dir noch was sagen, bevor ich sicher bin, dass wir Freunde sein können. Was Stephan da vorhin gesagt hat …“

„Lass gut sein, Mark, darauf gebe ich keinen Cent!“

Er sagte leise: „Vielleicht solltest du das aber. Frank, ich BIN schwul.“

Wieder wartete er. Was würde ich nun tun?

„Mark, das hat keinen Einfluss auf meine Entschuldigung und mein Freundschafts-angebot. Ich habe mich die ganze Zeit gefragt, warum du mir immer wieder geholfen hast. Du sagtest, das würdest du für jeden tun, sogar für Stephan. Aber, mal ehrlich, das stimmt nicht, oder?“

Er ließ meine Hand los und sagte traurig: „Das denkst du von mir? Schade …“

Er dreht sich um und ging langsam, mit gesenktem Kopf davon. Täuschte ich mich oder zuckten seine Schultern, als ob er weinte? Ich Trottel! Warum hatte ich ihn dass gefragt? Ich spürte den Impuls, hinterherzulaufen und ihm meinen Arm um die Schulter zu legen – ihn zu trösten … Aber ich stand weiter da und schaute ihm so lange hinterher, bis er am Ende des Weges abbog und verschwand.

Der nächste Tag brachte insofern wieder etwas Ruhe in mein und das Leben meines Bruders Konny, als wir aus dem Krankenhaus die Nachricht bekamen, dass meine Mutter zwar einen leichten Schlaganfall erlitten, aber glücklicherweise keinerlei Einschränkungen zurückbehalten hatte. Spätfolgen seien nicht zu erwarten – sie müsse sich nur vorsehen und zunächst einmal noch mindestens zwei Wochen im Krankenhaus bleiben. Marks Mutter entschied, dass wir so lange bei ihnen wohnen würden, besonders nach dem Überfall auf mich. („Man kann dich ja nicht alleine lassen!“)

Wie sich das auf das Verhältnis zwischen Mark und mir auswirken würde, konnte ich nur durch Abwarten herausfinden. Immer wenn ich an ihn und das Gespräch nach der Rettungsaktion dachte, ging es mir mies und mieser. Und irgendwie änderte sich meine Einstellung ihm gegenüber. „Kotzbrocken“ und ähnliche Umschreibungen kamen mir nicht mehr in den Sinn, eher wurde mein Gedachtes positiver. Dazu kam, dass er sich ja vor mir geoutet hatte. Meine Position gegenüber Schwulen war immer gewesen: „leben und leben lassen“. So lange sie mich in Ruhe ließen, hatte ich nichts gegen sie. Aber einen Bonus hatten sie auch nicht – warum auch? Für mich waren schwule Menschen wie alle anderen. Nicht, dass ich viele Homosexuelle kannte, aber der eine oder andere meiner Mitschüler gehörte durchaus in diese Kategorie.

Über meine eigene Einstellung zum männlichen Geschlecht hatte ich nicht nachgedacht, vielmehr ging es mir genauso wie wahrscheinlich jedem Jungen: Ich hatte nie einen Gedanken daran verschwendet. Für mich war selbstverständlich der weibliche Teil der Schülerschaft Beuteschema, obwohl ich noch keinerlei Erfahrung hatte.

Und nun kam Mark damit, dass er schwul sei. Je länger ich mich damit beschäftigte, desto mehr beunruhigte mich, dass ich Mark zu mögen begann. Vordergründig, weil er mir beigestanden hatte, aber da war noch etwas anderes: Da meine Vorbehalte immer mehr in den Hintergrund getreten und bald nicht mehr vorhanden waren, öffnete sich mein Blick für das Wesentliche – kurz: Er wurde mir sympathisch. Und mehr noch, ich wartete morgens förmlich darauf, dass ich ihn sah. Ich ertappte mich dabei, dass ich ein Zusammentreffen mit ihm zu arrangieren begann. Und immer, wenn mir das gelungen war; immer, wenn ich neben ihm den Weg zur Schule ging, nahm er keinerlei Notiz von mir, sah nur traurig zu Boden. Seine ganze Selbstsicherheit, seine offene Art, sein Lächeln waren verschwunden. Und daran trug ganz allein ich die Schuld.

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