zur Desktop-Ansicht wechseln. zur mobilen Ansicht wechseln.

Der Abend, an dem der Weihnachtsmann verschwand

Weihnachtschallenge 2015

Lesemodus deaktivieren (?)

Informationen

 

Heiliger Abend. Der Winter hat das Land in seinem frostigen Griff.

Daniel Baader und Sabrina Klose haben heute Dienst. Sie sitzen in ihrem Büro in der Polizeidienstelle einer kleinen Kreisstadt irgendwo in der Mitte Deutschlands. Zwei Schreibtischlampen und ein Deckenfluter erhellen den grauen Schein des Sonnenuntergangs nur unzureichend. Die letzten Tage hat es viel geschneit, bis heute Vormittag. Endlich mal wieder weiße Weihnachten. Der Weihnachtsmann hat also mit seinem Geschenkeschlitten beste Straßenverhältnisse.

Sabrina schreibt auf ihrem Computer gerade einen Bericht zu Ende. Daniel blättert mürrisch in einer Akte. Er gießt sich noch etwas Kaffee in seinen Pott und brummelt vor sich hin.

Sabrina murmelt: „Dänny, hör auf zu meckern. So kann ich mich nicht konzentrieren. Du bist schließlich selbst schuld, wenn du dich von Bernd überreden lässt, den Dienst für Heiligabend zu tauschen, weil er mit seiner neuen Flamme Weihnachten in trauter Zweisamkeit feiern muss. Du bist doch spätestens zur Bescherung bei deinem Süßen zu Hause auf der Couch.“

„Ich weiß ja. Aber es ist nun schon das zweite Mal, dass ich am Heiligen Abend nicht zu Hause bin. Ich hätte ihm so gerne beim Backen der Plätzchen geholfen“, seufzt Daniel.

„Du hast doch gesagt, dass dein Jakob heute bei seinem Vater im Gasthof aushelfen wird“, versucht sie ihn zu beruhigen.

„Ja, vormittags wollte er bei den Vorbereitungen für das Weihnachtsbüffet helfen. Nachmittags wollte er dann alles schön gemütlich zu Hause machen. Er freut sich doch immer so auf Weihnachten. Er wird dann immer so süß romantisch“, wendet Daniel ein.

Die Tür geht auf und ihr Kollege Frank Nowitzki kommt herein: „So, die Essstäbchen zur Seite gelegt. Es gibt Arbeit. In der Fußgängerzone ist der Teufel los. Die Meldung ist irgendwie merkwürdig. Jedenfalls haben die Kollegen von der Streife schon mal alles abgesperrt. Die Spurensicherung ist auch schon unterwegs.“

„Komm Fränkyboy. Etwas genauer bitte. Was ist denn passiert?“, fragt Daniel ungeduldig mit den Augen rollend.

„Ein älterer Herr soll verschleppt worden sein. Mehr weiß ich auch nicht“, erklärt Frank.

„So werde ich diesen blöden Bericht nie fertig kriegen“, seufzt Sabrina, speichert die Datei und fährt ihren Computer runter. Dann stehen sie und Daniel auf, schnappen sich ihre Mäntel und folgen Frank auf den Flur.

„Na, dann mal los. Raus in die heile Weihnachtswelt“, ruft Daniel scheinbar fröhlich aus.

Sie fahren mit Daniels Dienstwagen zur Fußgängerzone. Eine dichte Schneedecke überzieht den Asphalt. Kaum eine Menschenseele ist hier unterwegs, da der Weihnachtsmarkt auf dem Platz vor der großen Kirche alle Leute anzuziehen scheint, die so kurz vor der Bescherung noch was erleben wollen. Die Stadt ist festlich geschmückt.

Mitten in der Fußgängerzone entdecken die beiden die weiträumige Tatortabsperrung, parken den Wagen und wenden ihre Schritte in diese Richtung.

An der Absperrung angekommen, fragt Sabrina den Polizisten der sie freundlich begrüßt: „Fröhliche Weihnachten Müller. Wo ist der Tatort?“

„Dort hinten neben den Sachen. Die Spurensicherung hat das Terrain freigegeben.“ Er zeigt auf einen Haufen Geschenke und einen großen Sack, die im Schnee liegen. Daneben stehen ein VW-Bus der Polizei und zwei weitere kleinere Streifenwagen.

„Gibt es irgendwelche Zeugen?“, erkundigt sich Daniel.

Der Uniformträger deutet auf eine Personengruppe: „Die da.“

Eine Polizistin unterhält sich mit fünf unruhig hin und her tänzelnden Gestalten in merkwürdig hell schimmernden Gewändern, die für die kalten Temperaturen viel zu dünn erscheinen. Die Beamtin versucht beruhigend auf die Gestalten einzureden. Doch die plappern ohne Pause durcheinander.

„Was sind das denn für Gestalten?“, will Daniel von Müller wissen.

Der zuckt nur mit den Schultern: „Sie sagen, sie wären Elfen.“

„Sie wären was?“, fragt Daniel ungläubig.

„Elfen“, wiederholt der Polizist emotionslos.

„Und warum sind die so unruhig? Ist denen kalt in ihren Nachthemden?“, fragt Daniel weiter nach.

„Nein, frieren tun sie angeblich nicht. Sie haben die angebotenen Decken abgelehnt. Auch wollen sie nicht im VW-Bus Platz nehmen. Kollegin Fröhlich versucht sie deshalb da draußen zu befragen und irgendetwas Sachdienliches aus ihnen heraus zu bekommen. Sie müht sich redlich, die Arme.“

Daniel dreht sich zu Sabrina um: „Ich glaube jetzt sind deine psychologischen Fähigkeiten gefragt. Könntest du nicht mal versuchen, diese heulenden Fabelwesen zu beruhigen?“

„Ich kümmere mich mal. Die Kollegin scheint Hilfe gebrauchen zu können“, nickt sie.

Ein Elf ruft gerade flehend aus: „Rudolph ist auch weg. Sie müssen Rudolph finden!“

Komisch, denkt sich Daniel. Sie haben nur diese dünnen Gewänder an. Sie haben keinerlei Fußspuren im Schnee hinterlassen. Sie wollen Elfen sein. Hat man so etwas schon mal erlebt? Er schüttelt lächelnd den Kopf.

Während Daniel noch so sinniert, taucht ein bärtiger Mann an der Absperrung auf. Er ist in einen grünen bodenlangen Mantel mit Kapuze und güldenen Säumen gekleidet. Neben ihm stolziert ruhig ein großes Tier mit einem stattlichen Geweih.

Sofort wird er von Müller angehalten und gebeten, die Absperrung nicht zu durchbrechen. Ein zweiter Polizist geht auf Daniel zu, der grübelnd den Sack und die von der Spurensicherung aufgebauten Geschenkepackungen anschaut.

„Herr Baader“, spricht ihn der Uniformierte an, „da ist ein Herr mit einem - nun ja, mit einem Hirsch oder so was an der Absperrung. Das sollten Sie sich mal ansehen.“

Daniel fragt mürrisch: „Was für ein Hirsch? Was für ein Herr? Ist das hier heute Heiliger Abend oder Wandertag der Klapsmühle? Ich kann so nicht arbeiten.“

Er wendet sich von den Fundstücken ab und geht auf die Ankömmlinge zu.

„Was machen Sie denn mit dem Elch hier mitten in der Stadt?“, spricht er den älteren Herrn an.

„Das ist kein Elch“, entgegnet der Alte ruhig, „das ist ein Rentier.“

„Und, was führt Sie damit zu uns?“

Er hat mich hierher zu Ihnen geführt.“ Dabei deutet er auf das große Tier hinter sich.

Daniel schaut den alten Mann ungläubig an, dann das stattliche Tier, das ganz ruhig und unbeteiligt daneben steht.

„Wer sind Sie?“, will Daniel schließlich von dem Mann wissen.

„Das tut nichts zur Sache. Wichtiger ist er hier.“ Und dabei zeigt der Alte wieder auf das Tier.

„Okay, um Sie kümmere ich mich gleich. Was ist so wichtig an ihm?“

„Das ist Rudolph“, erklärt der alte Mann.

„Rudolph“, wiederholt Daniel stirnrunzelnd. „Und was hat es mit diesem Rudolph auf sich? Was macht dieses Tier hier in der Stadt?“

„Er sucht seinen Herrn.“

„So, er sucht seinen Herrn. Wer ist denn dieser Herr?“

„Sie suchen auch nach seinem Herrn. Es ist der Weihnachtsmann.“

„Jetzt schlägt’s dreizehn! Fangen Sie jetzt auch noch mit diesem Unsinn an? Und wer sind Sie? Knecht Ruprecht vielleicht?“

Der alte Mann guckt ihn nur milde lächelnd an. Mit einem fast unmerklichen Nicken bestätigt er Daniels Vermutung.

„Wie sind sie zu diesem Tier gekommen, das Sie hierher geführt hat?“, beharrt Daniel auf eine Information.

„Ich bin von den Elfen gerufen worden und habe schließlich Rudolph in einer stillen Seitengasse gefunden. Er hatte sich mit seinem Geweih in einer Lichterkette verfangen“, berichtet der Knecht und tätschelt dabei den Hals des Tieres.

Daniel beißt sich seufzend in die Faust.

„Sabrina, kannst du dich bitte mal um diesen netten Herrn hier kümmern?“, bittet er seine Kollegin, die sich gerade von den nun schon wesentlich ruhigeren Elfen abgewendet hat und auf ihn zukommt.

Sie geht auf den Mann zu und führt ihn freundlich zu dem blau-weißen VW-Bus. Das Tier folgt ihnen.

Daniel untersucht derweil die Spuren: Neben der Stelle, an der der Sack von den Streifenkollegen vorgefunden wurde, sind zwei Abdrücke von großen Stiefeln zu sehen. Von hinten kommen Spuren von zwei Paar kleineren Schuhen auf die Stiefelabdrücke zu. Dann sind Spuren zu erkennen, die auf einen kurzen Kampf schließen lassen und Schleifspuren von den großen Stiefeln. Daneben die etwas tieferen Abdrücke der vier kleineren Schuhe. Während die vier Schuhspuren auf leichte Personen hinweisen, rühren die beiden anderen Spuren von einem großen, stattlichen Menschen her. Gut, dass es nicht mehr geschneit hat seit dem Vorfall, so sind die Spuren noch deutlich zu erkennen.

Wie ist es nun den beiden leichteren Personen gelungen, die schwere Person zu überwältigen und fortzuschleifen? fragt sich Daniel.

Während er nachdenkt und sich den möglichen Verlauf des Geschehens überlegt, kommen zwei Personen auf ihn zu: ein junger Mann mit Mikrofon, gefolgt von einem weiteren mit Fernsehkamera auf der Schulter.

„Guten Abend, Kevin Schmidt von Kabel-TV-Plus“, stellt sich der Erste vor. Die Kamera ist auf Daniel und die Spuren gerichtet. „Darf ich Ihnen ein paar Fragen stellen? Was ist dran an den Gerüchten, der Weihnachtsmann sei entführt worden? Welche Erkenntnisse haben Ihre bisherigen Ermittlungen ergeben?“

Daniel schaut dem Reporter kurz mürrisch in die Augen. Dann dreht er sich um und ruft: „Müller! Kannst du mir mal diese beiden Elfen hier von der Pelle halten und sofort vom Tatort führen?“

Zu dem jungen Reporter gewandt brummt er nur unhöflich: „Ich muss Sie bitten, den Tatort unverzüglich zu verlassen. Sie zerstören wichtige Spuren und behindern meine Ermittlungen. Der Kollege Müller wird Sie soweit informieren, wie es der Ermittlungsstand zulässt. Bitte haben Sie Verständnis, dass wir Ihnen kein Täterwissen mitteilen können.“

Müller kommt herbei und führt die beiden Journalisten höflich und bestimmt seitwärts vom Tatort weg.

Daniel hingegen widmet sich wieder den Spuren. Die vier Schuhabdrücke und die Schleifspur führen rechts weg an einen Parkplatz am Rand der Hauptstraße. Etwa 200 Meter. Im Schnee ist zu erkennen, dass dort ein PKW gestanden hat. Es sieht aus, als wurde die Person mit den großen Stiefeln irgendwie in dieses Fahrzeug gesetzt. Die zwei Paar Schuhe haben sich um das Auto auf die geräumte Fahrbahn entfernt. Leider ist nicht erkennbar, ob sie den Wagen ebenfalls betreten haben. Daniel macht schnell ein paar Fotos von den Spuren. Es fängt wieder an zu schneien. Ein kalter Wind kommt auf.

Dann stapft er durch den Schnee zum VW-Bus. Darin sitzt Sabrina und tippt ein paar Notizen in ihr Smartphone.

„Was ist mit den Weihnachtsengeln und mit diesem Knecht und seinem Riesenwauzi?“, fragt Daniel.

„Wir mussten sie nach Hause schicken. Sie haben alle einen festen Wohnsitz bei diesem Ruprecht Knecht. Dem gehört übrigens auch der Hirsch. Die Elfen haben wir befragt. Sie haben die Tat selbst nicht mitbekommen. Es ist angeblich sehr schnell gegangen. Sie hatten sich wohl um den Hirsch kümmern müssen. Als sie sich dann mal umgedreht hatten, war der alte Mann weg. Sie waren so aufgeregt, dass sie nicht bemerkt haben wollen, dass sich dann auch noch ihr Tier entfernt hatte. Alles sehr undurchsichtig und merkwürdig“, erklärt Sabrina.

„Wie heißt denn der verschleppte alte Mann?“, erkundigt er sich.

„Chris Kind, haben sie ihn genannt. Er sei der Weihnachtsmann. Mehr war aus ihnen nicht herauszubekommen“, entgegnet seine Kollegin enttäuscht.

„Chris Kind? Knecht Ruprecht? Elfen? Sag mal Sabrina, was ist das hier eigentlich für ein Film? Dickens‘ Christmas Carol? Ich will jetzt nach Hause zu meinem Schatz. Der wird sicherlich schon ziemlich beleidigt sein, weil ich jetzt schon zwei Stunden zu spät bin. Ich muss ihn noch aus der Kneipe seines Vaters abholen.“

„Nun denn. Wie gesagt, wir haben sie nach Hause geschickt. Verrücktsein ist schließlich kein Grund, sie bei uns festzuhalten. Die haben uns nicht wirklich weitergeholfen. Wir können jetzt, glaube ich, auch gehen. Alles weitere dann morgen.“ Sabrina lächelt.

„Gibt es denn sonst noch irgendwelche wichtigen Erkenntnisse? Noch andere Zeugen außer diesen Lichtgestalten?“, will Daniel noch wissen.

„Es sind wohl wenige Leute rund um die Tatzeit hier gewesen. Am Parkplatz da an der Straße wollen zwei Jugendliche unabhängig voneinander einen alten roten Ford Mustang gesehen haben. So sechziger, siebziger Jahre. Der eine hat ihn erst gehört als der Motor gestartet wurde und ihm dann hinterhergeschaut. Der andere hat sich den Wagen wohl kurz bevor er weggefahren ist, neugierig beäugt. So etwas sieht man hier ja nicht alle Tage.

So. Die Kollegen werden jetzt den Tatort wieder räumen und den Geschenkesack und das ganze Zeug ins Präsidium bringen. Ich fahre dann mit Müller mit. Mach’s gut, Dänny. Grüß mir Jakob, den Süßen.“

Daniel verabschiedet sich von seiner Kollegin und stiefelt auf sein Auto zu.

***

Ein kleines Landgasthaus irgendwo in der Mitte Deutschlands am selben Abend. Draußen fegt mittlerweile ein eiskalter Sturm mächtige Schneemassen übers Land.

Die kleine Gaststube ist gut beheizt und mit gemütlichem Licht ausgeleuchtet. Heute Abend sind kaum Gäste da. Die Menschen des Ortes und der Umgebung warten heute wohl lieber zu Hause auf die Bescherung. An der Theke sitzt eine ältere Frau und betrinkt sich. Gerade ruft sie nach Jakob, dem jungen Barmann. Der versucht, ihr das weitere Trinken auszureden. Sie verlangt beharrlich nach einem neuen Schnaps.

An der gegenüberliegenden Wand hängt ein alter Fernseher. Gerade wird ein Musikvideo gezeigt: Justin Bieber singt mit unschuldigem Lächeln live vor Publikum Jingle Bells. Jakob gießt der Frau das Glas noch einmal voll, stellt ihr die Flasche hin und blickt auf den Fernsehschirm.

Die Frau dreht sich auf ihrem Barhocker schwankend hin und her, dass der junge Barmann befürchtet, sie würde jeden Moment herunterfallen.

„Was‘n das für‘n Unsinn? Nennt man das heutzutage singen?“, lallt sie laut. „Schätzchen, mach das mal aus da. Ich kann das nicht mehr ertragen dieses Weihnachtsgesinge.“

In diesem Moment geht die Küchentür auf und Walter Kreuzfeld, der Wirt dieses Gasthauses und Jakobs Vater, kommt mit einem Teller Schweinebraten, Klößen und Rotkohl in die Gaststube gestürmt. Zielstrebig geht er auf den Tisch am Fenster zu, an dem ein älterer Herr mit dichtem weißem Bart sitzt. Er stellt den Teller geräuschvoll vor den Gast und wünscht ihm einen guten Appetit.

Der ältere Herr bedankt sich und bestellt noch ein Bier.

„Kommt sofort“, erwidert Walter freundlich und geht auf den Tresen zu, an dem sein Sohn bereits ein Glas unter den Hahn hält und Bier hineinlaufen lässt.

„Was ist das?“, fragt ihn Walter und deutet auf den Fernseher.

„Ein verkokst grinsender Teenager trällert vor Publikum ein Weihnachtslied“, klärt Jakob seinen Vater teilnahmslos auf.

Die elektrischen Kerzen am Weihnachtsbaum flackern kurz auf, als plötzlich der Gesang aus dem Fernseher abrupt verstummt und ein Fernsehstudio eingeblendet wird.

„Meine sehr geehrten Damen und Herren, aus gegebenem Anlass unterbrechen wir das aktuelle Programm.“ +++EILMELDUNG+++ flimmert in rot über den Bildschirm. Ein schockierter Reporter erscheint im Bild und berichtet panisch von den aktuellen Ereignissen, die sich gerade zugetragen haben.

„Justin, es ist schrecklich. Wir haben noch keine genauen Informationen, aber auf Grund der Bilder, die uns erreicht haben …“ Die Regie schneidet auf einen achtlos hingeworfenen Sack, aus dem einige Geschenke mit bunten Schleifen ragen. Daneben Fußabdrücke im Schnee. Im Hintergrund stehen verstört wirkende Elfen zusammen. „… müssen wir davon ausgehen, dass der Weihnachtsmann entführt wurde. Damit erstmal zurück ins Studio.“ – „Danke Kevin Schmidt für die ersten Informationen. Wir melden uns, sobald wir genaueres wissen …“

Jakob lässt das Bierglas unter dem Hahn überlaufen, blickt gebannt auf den Fernsehschirm, dann zu seinem Vater, der immer noch neben ihm steht. Beide schauen dann zu dem älteren Herrn, der gerade ungestört seinen Schweinebraten isst.

Ihre Blicke gehen weiter zum Garderobenständer, an dem ein roter Mantel mit Kapuze und weißen Säumen hängt. Der Gedanke, den sie wohl beide haben, verwerfen sie als unwahrscheinlich.

***

Daniel Baader betritt eine gute Stunde später das Gasthaus von Walter Kreuzfeld.

Jakob steht noch immer am Zapfhahn hinter dem Tresen. Die alte Frau hält sich mühsam auf dem Barhocker und lallt unverständliches Zeug. Mehr Menschen sind nicht anwesend.

„Entschuldige, Jakob, es ist viel später geworden, als geplant“, begrüßt er seinen Freund.

Jakob lächelt: „Ich weiß, Dännylein. So ist es immer. Letztes Jahr. Davor das Jahr. Ich pack nur schnell und sage Dad Bescheid, dass er hier die letzte Leiche noch betreuen muss.“ Mit dem Kopf deutet er auf die Betrunkene.

„Es tut mir leid. Es war ein ganz dämlicher Fall. Und ich komme nicht dahinter, was passiert ist. Es ist so undurchsichtig. Da stimmt etwas nicht“, versucht Daniel zu erklären.

„So? Was war denn?“, ist Jakob neugierig.

„Ach, wir sind in die Fußgängerzone gerufen worden. Dort soll ein älterer Herr entführt worden sein, der wohl gerade auf dem Weg zu einer Kinderbescherung war. Du weißt schon, einer von diesen Mietweihnachtsmännern. Das machen heute wohl nicht nur Studenten, sondern auch ältere Herren, die sich damit die Rente aufbessern.“

„Und weiter? Hast du ihn gefunden?“, will Jakob wissen.

„Nein, leider nicht. Es ist merkwürdig. Irgendwas stimmt nicht mit dem Fall. Da wird ein älterer Herr im Weihnachtsmannkostüm entführt und mit einem alten Sportwagen weggefahren.“

„Einem roten Mustang aus den sechziger oder siebziger Jahren?“

„Ja, woher weißt du das?“, fragt Daniel erstaunt.

„So ein alter Mann ist hier gewesen. Er ist mit einem alten Ford Mustang hier vorgefahren. So ein Gefährt sieht man hier nicht oft und auch der Lärm, den so eine Karre macht, ist ein anderer als der von einem alten Traktor, die hier gewöhnlicherweise durchs Dorf fahren. Er hat dort gesessen und Schweinebraten gegessen. Da an der Garderobe hat sein roter Kapuzenmantel gehangen.“

Jakob zeigt zuerst auf den Tisch am Fenster, dann auf die leeren Haken an der Wand.

„War er alleine? Wann war das?“, will Daniel aufgeregt wissen.

„Er war ganz alleine. Wir haben uns noch gewundert: Ein Mann im Weihnachtsmannkostüm kommt zur Bescherungszeit hierher und isst einen Schweinebraten. Er ist vor nicht ganz einer halben Stunde gegangen. Er hat mir ein reichliches Trinkgeld gegeben. Du hättest ihn fast noch sehen können“, berichtet Jakob.

„Hast du gesehen, in welche Richtung er gefahren ist?“

„Ich bin natürlich sofort raus, als er den Wagen gestartet hat. Er ist dann Richtung Autobahn gefahren. Mann, hat die Karre einen Lärm gemacht!“

„Mist, es hat zu viel geschneit, nun kann man keine Spuren mehr sehen. Ich gebe das mal schnell an die Zentrale weiter. Die müssen eine Großfahndung auslösen.“ Daniel fischt sein Smartphone aus der Manteltasche und tippt eine Nummer auf das Display.

„Hei Marion. Bitte schick den Suchtrupp raus nach diesem ominösen Weihnachtsmann, den sie vorhin in der Fußgängerzone verschleppt haben. Er ist hier bei meinem Freund im Gasthaus gewesen und vor einer halben Stunde in Richtung Autobahn aufgebrochen. Weit kann er noch nicht sein.“ Dann gibt er noch die Fahrzeugdaten und eine Beschreibung des Mannes durch.

„Ich gehe davon aus, dass du jetzt nicht nach Hause fahren willst?“, fragt Jakob mit nicht zu überhörender Enttäuschung.

„Was glaubst denn du? Das ist mein Fall und ich bin dabei, ihn zu lösen“, triumphiert Daniel.

„Okay, dieser Weihnachtsabend ist versaut. Du hast eine Chance, das gutzumachen.“ Jakob schaut seinen Freund mit großen Augen an.

„Nämlich?“, fragt dieser lakonisch.

„Ich komme mit und schaue zu, wie du den Weihnachtsmann einfängst“, gibt Jakob freudestrahlend bekannt.

„Kommt gar nicht in die Tüte.“ Daniel schüttelt den Kopf

„Warum nicht? Ich bin ein Zeuge, ich habe den Mann gesehen und werde ihn identifizieren. Immerhin habe ich dir den entscheidenden Hinweis gegeben“, fordert Jakob.

„Und was wird aus mir?“, krakeelt die alte Frau am Tresen.

„Du kriegst jetzt noch einen ordentlichen Scheidebecher, dann bringe ich dich über die Straße nach Hause“, erklärt Walter, der Jakobs Platz am Zapfhahn eingenommen hat.

„Jaja, bring du mich um die Ecke“, lallt sie.

„So Jungs, macht, dass ihr wegkommt. Ich kümmere mich um Annegret und schließe dann zu. Es ist spät genug. Ich muss morgen fit sein für die Weihnachtsfeier der Kegelbrüder. Danke für deine Hilfe Jakob.“ Er umarmt erst seinen Sohn, dann Daniel und schiebt die beiden zur Tür hinaus.

„Was ist denn nun? Nimmst du mich mit oder muss ich den Rest dieses Heiligen Abends mit mir selber spielen?“, nölt Jakob.

„Schon gut, du hast Recht. Ohne deinen Hinweis wäre ich jetzt kein Stück weiter“, gibt Daniel nach.

Am Auto angekommen, öffnet er die Beifahrertür: „Steig ein, mein Süßer. Wir heben gleich ab.“

Jakob steigt ein. Daniel schließt die Tür, steigt auf der Fahrerseite ein, kramt aus dem Handschuhfach ein Blaulicht, stellt es aufs Dach des Autos, wo es von dem magnetischen Fuß festgehalten wird und schaltet es ein.

Dann klingelt sein Handy. Eine laute Frauenstimme erklärt ihm über die Freisprecheinrichtung, wo der alte Mustang angehalten worden ist und dass die Kollegen den Fahrer, einen älteren Herrn mit weißem Bart und rotem Mantel, festhalten würden.

Dann fahren sie los. Der Schneesturm hat nachgelassen. Daniel steuert den Wagen mit sicherer Hand über die verschneite Landstraße.

***

Spät am Heiligen Abend auf einem Autobahnparkplatz irgendwo in der Mitte Deutschlands. Die Nacht ist frostig. Vom Firmament blinken unzählige Sterne herunter. Der Mond scheint hell und rund vom Himmel. Ein scheues Reh springt schnell in die Sicherheit des angrenzenden Mischwaldes.

Ein alter Ford Mustang steht neben einem VW-Bus der Polizei und einem Streifenwagen mit eingeschaltetem Blaulicht. Ein Beamter beugt sich gerade in den geöffneten Kofferraum des Oldtimers. Eine Polizistin sitzt auf dem Beifahrersitz und durchsucht den Innenraum. Ein dritter Beamter befragt einen älteren Herrn im VW-Bus.

Daniel bringt seinen Wagen direkt neben dem VW-Bus zum Stehen. Jakob blickt hinüber und bestätigt mit einem Nicken: „Das da drüben ist der alte Mann von vorhin. Und hier auf der anderen Seite steht derselbe Mustang, mit dem er unseren Gasthof verlassen hat.“

„Okay Jakob, bleib du am besten hier im Wagen. Es wird nicht lange dauern.“

„Jaja, ich weiß, es dauert nie lange“, schmollt Jakob.

Daniel steigt aus und geht hinüber zum VW-Bus. Der Kollege öffnet die Schiebetür und begrüßt ihn: „Frohe Weihnachten, Herr Baader. Das ist der Mann, den wir suchen. Er will uns partout seinen Namen nicht sagen. Papiere hat er keine dabei. Wir haben den ganzen Wagen untersucht. Nichts.“

„Lassen Sie mich mal“, ordnet Daniel an und setzt sich neben seinen Kollegen auf die Bank gegenüber dem alten Mann.

„Also, Herr Kind“; setzt er an und wird sofort von der sonoren Stimme das alten Mannes unterbrochen.

„Wenn schon, dann Christkind.“

„Von mir aus auch Chris Kind. Wer sind Sie wirklich? Was haben Sie uns heute Abend für eine Geschichte zu erzählen?“

„Das habe ich Ihrem Kollegen schon erzählt: Ich bin der Weihnachtsmann.“

„Das sehe ich: weißer Bart, roter Kapuzenmantel mit weißem Saum. So wie man sich den Weihnachtsmann vorstellt.“

„Sie glauben mir nicht. Niemand glaubt mir, wenn ich nicht gerade irgendwo mit dem Schlitten vorfahre und Geschenke abliefere oder auf dem Dach irgendwelches Zeug in den Kamin werfe und laut Ho, Ho, Ho rufe“, entgegnet der Mann sichtlich niedergeschlagen.

„Wenn ich ehrlich bin: Ich glaube Ihnen kein Wort.“

Der alte Mann zuckt mit den Schultern und schaut schweigend zum Fenster hinaus.

„Nehmen wir mal an, Sie sagen die Wahrheit: Würden Sie mir dann erzählen, was sich vorhin in der Fußgängerzone abgespielt hat?“

„Nein“, murmelt der Alte lakonisch.

„Dann erzähle ich Ihnen die Geschichte: Sie sind unterwegs mit einem Schlitten, ein paar Helfern und einem großen Sack voller Geschenke. Der Elch …“

„Das ist kein Elch, das ist ein …“, unterbricht ihn der alte Mann.

Doch Daniel fährt unbeirrt weiter fort: „Jaja, ich weiß. Rudolph heißt er. Also Rudolph kommt ins Straucheln. Ihre Helfer steigen ab und kümmern sich um ihn. Sie verlassen den Schlitten auch. Zwei Personen nähern sich Ihnen. Es folgt ein kurzes Handgemenge. Die beiden Personen schleifen Sie zu diesem alten Ford. Bis hierher sieht es aus wie eine Entführung.

Der alte Ford steht an einer geräumten Straße. Sie steigen auf der Fahrerseite ein. Von den beiden anderen fehlt jede weitere Spur. Sie könnten sich auch über die Straße entfernt haben.

Ihre Helfer bekommen davon angeblich nichts mit. Noch sind sie potentielle Komplizen.“

„Lassen Sie meine Elfen. Sie sind unschuldig und haben mit der Sache nichts zu tun“, schaltet sich der alte Mann ein.

„So? Dann erklären Sie mir mal bitte, wie Sie sich haben wegschleifen lassen können, ohne dass es Ihre Helfer, diese Elfen bemerkt haben können? Ihrer Statur nach zu urteilen, sind Sie nicht einfach so zu überwältigen und wegzuschaffen. Die Fußspuren der beiden Personen lassen nicht auf sonderlich kräftige Leute schließen“, fordert Daniel eine Erklärung.

„Es ging eben alles sehr schnell. Elfen können sich immer nur auf eine Sache konzentrieren. Und das war Rudolph“, antwortet der alte Mann.

„Sind sowieso merkwürdige Wesen. Sie haben keinerlei Spuren im Schnee hinterlassen. Auch scheinen sie gegen Kälte unempfindlich zu sein. In ihren Nachtgewändern haben sie angeblich nicht gefroren.

Wenn diese Elfen unschuldig sind, was hat es dann mit den beiden anderen Personen zu auf sich? Sind das Ihre Komplizen gewesen? Lassen Sie sich nicht alles aus der Nase ziehen. Ich möchte jetzt die Wahrheit hören.“

Der alte Mann schaut sinnierend vor sich auf den kleinen Tisch zwischen ihm und den beiden Polizisten.

Nach minutenlangem Schweigen fängt der Alte an zu erzählen: „Ich hasse Kinder! Ich habe sie noch nie wirklich gemocht. Diese halslosen Ungeheuer mit ihren falschen Blicken. Wenn sie so schauen, könnte man fast meinen, sie wären die artigsten Kinderlein dieser Welt. Sind sie aber nicht. In ihren kleinen Köpfen braut sich ständig irgendeine Gemeinheit zusammen. Sie mögen glauben, dass ich das nicht durchschaue. Pah! Ich bin der Weihnachtsmann. Ich durchschaue alles.

Das wird immer schlimmer. Ich erinnere mich an Zeiten, da haben die Kinder noch an mich geglaubt. Sie taten wenigsten vor Weihnachten so, als würden sie artig sein. Manche gaben sich redlich Mühe, ihr wahres Naturell zu unterdrücken. Sie haben sogar Gedichte auswendig gelernt und aufgesagt.

Diese Zeiten sind vorbei. Erst haben sie aufgehört an mich zu glauben. Dann haben sie jeglichen Respekt verloren.“ Der alte Mann atmet schwer durch.

„Ich habe einfach keine Lust mehr auf dieses blödsinnige Geschenkeverschenken. Keiner von den Kids verdient auch nur das, was ich ihnen schenken muss. Aber Wunschzettel können sie schreiben. Ohne Ende! Voller Rechtschreibfehler und mit Sauklauen.

Ich habe mich entschlossen, damit aufzuhören. Es ist eh sinnlos. Nur, wie sollte ich es anstellen? Einfach so wegbleiben? Das hätte am Ende kaum einer bemerkt.

Da ist mir ein Gedanke gekommen: Eine Entführung sollte es sein. Dann hätte sich die Welt mal wieder an mich erinnert. Dann wären die Ungläubigen endlich wieder überzeugt, dass es mich wirklich gibt und dass ich nicht nur ein alter Zausel bin, der sich die Rente mit dem wohl blödsinnigsten Job der Welt aufbessert.“ Wieder holt der Alte laut Luft und bläst sie wieder aus.

„Die Welt sollte davon erfahren. Deswegen habe ich mich bei verschiedenen Fernsehanstalten gemeldet und habe Ihnen eine Story geboten. Die meisten haben abgesagt. Nur dieser kleine Hausfrauensender war bereit mitzumachen. Sie haben mir Geld geboten, doch ich wollte nur ein Fluchtauto haben: einen alten Ami-Flitzer.“

„Dann waren die beiden Personen vom Sender?“, hakt Daniel nach.

„Sie haben mich zu dem Wagen geführt. Den Rest der Geschichte kennen Sie ja“, nickt der alte Mann.

„Warum ausgerechnet einen alten Mustang? Ein untauglicheres Fahrzeug können Sie bei Schnee wohl kaum bekommen“, wundert sich Daniel.

„Ach, das ist eine der Schwächen eines uralten Mannes. Die Kinder bekommen kleine Spielzeugautos. Ich wollte ein großes“, erklärt der Alte sentimental.

„Und was wird nun aus Weihnachten?“, will der andere Polizist wissen.

Der Alte räuspert sich: „Weihnachten? Nein, dieses Jahr fällt Weihnachten aus. Keine Bescherung. Kein Weihnachtsmann. Keine Geschenke. Und nächstes Jahr auch nicht. Nie mehr wieder. Ich schmeiße hin. Endgültig.“

***

Daniel und Jakob sitzen im Wagen und fahren nach Hause durch die verschneite Winternacht.

„Du glaubst ihm nicht, stimmt’s?“, fragt Jakob.

„Wer glaubt schon an den Weihnachtsmann?“, gibt Daniel bekannt.

„Was wird nun aus ihm?“

„Die Kollegen haben ihn erst einmal festgesetzt. Alles Weitere muss ein Richter entscheiden. Entweder dieser Mann ist nicht ganz bei Trost oder er ist ein ganz ausgebuffter Hochstapler. Weihnachtsmann. Hah, dass ich nicht lache!“

„Wenn er es nun aber doch ist? Was wird denn aus Weihnachten? Was wird aus den Geschenken?“

„Fängst du jetzt auch schon damit an?“

Jakob legt seine Hand auf Daniels Oberschenkel und erklärt freudestrahlend: „So, jetzt fahren wir schnell nach Hause. Ich habe vorhin noch ein paar Kekse gebacken. Ich koche uns noch einen leckeren Schlummertee und denn gehen wir ins Bett und nehmen uns erst einmal einen Mitternachtssnack. Schließlich ist ja trotz allem Weihnachten.“

„Auja. Und dann?“, grinst Daniel seinen Freund an.

„Dann zeigt mir der Weihnachtsmann seine Rute“, erklärt Jakob schelmisch.

„Oh, dann müssen wir noch einmal auf die Wache. Dort muss der Weihnachtsmann nämlich heute übernachten.“

Jakob kichert und kneift Daniel ins Bein. „Du Blödmann. Heute Nacht bist du mein Weihnachtsmann.“

Der Schneesturm hat nachgelassen. Die Nacht ist kalt, der Himmel wolkenlos und voller Sterne. Zwei Schnuppen huschen vorüber. Sie kündigen die Erfüllung zweier Wünsche an. Zwei verliebte Männer fahren über verschneite Straßen nach Hause.

Lesemodus deaktivieren (?)