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Nachtschatten

Teil 2 - Verschwörung

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Informationen

Inhaltsverzeichnis

Filmriss

Constantin

Ein blonder Engel der Dunkelheit - denn das bist du, Florian, mein Retter.

Da lag er. Erschöpft, schlafend, aber außer Gefahr. Wie er da so schlief, erinnerte er an ein Heiligenbild. Das sanfte, liebliche Gesicht umrankt von seinen blonden Haaren, die im Licht des Zimmers wie ein goldener Heiligenschein glühten. So friedlich...

Oh, Florian, wie soll ich dir jemals danken?

„Bist du dir sicher?“

Laurentius wäre nicht Laurentius, hätte er diese Frage nicht gestellt. Er hatte Recht, die Frage musste gestellt werden. Meine ehrlich Antwort lautete: „Nein, aber im Moment ist es die einzige Möglichkeit.“

„Vermutlich stimmt das sogar.“

Vermutlich? Ich wäre froh, wenn es nicht so wäre. Das Attentat auf mich stellte einen Bruch im Kampf der Häuser um die Macht dar, wie es ihn seit zwölfhundert Jahren nicht mehr gegeben hatte. Damals begann der zweite große Krieg unter den Vampiren und währte fast siebzig Jahre. Und wie so oft in der Geschichte, brachte er rein gar nichts. Keine Fraktion konnte einen Sieg erringen. Nein, es gab keine Gewinner, nur Verlierer. Denn am Ende blieb weniger als ein viertel von uns übrig, zu wenige, um weiter kämpfen zu können. Der Frieden wurde nicht geschlossen, weil wir uns einigten oder unsere Fehden begraben wurden, der Frieden wurde uns diktiert, weil niemand mehr da war, der kämpfen konnte. Mit Vernunft oder Einsicht hatte das nichts zu tun, sondern nur mit der blanken Angst, am Ende alles zu verlieren.

Aber immerhin. Der Frieden hielt. Er hielt sogar länger als erwartet, rund zwölfhundert Jahre. Irgendjemand fühlte sich stark genug und war fest entschlossen, den geschlossenen Pakt zu brechen. Erst der Giftanschlag auf Graf Breskoff und anschließend auf mich, den Thronfolger, sollte Breskoff sterben. Der Krieg hatte begonnen, zwar nicht offen, sondern heimlich und hinterhältig, aber genauso tödlich und erbarmungslos.

Wie jeder Krieg forderte er seine Opfer. Breskoff war nicht zu retten und mich rettete das Wunder der Liebe. Wie konnte Florian nur so wahnsinnig sein und mich von ihm trinken lassen, wo er doch wusste, dass es ihm sein Leben kosten konnte? Viel hatte nicht gefehlt. Für einen Moment sah es tatsächlich so aus, als wenn er mir entgleiten und in die ewige Dunkelheit abdriften würde.

Laurentius und Christiano hatten sehr überlegt und ruhig gehandelt, wenn man einmal davon absah, dass sie es Flo niemals hätten erlauben dürfen, sich zu opfern. Nachdem ich von meinem Schatz getrunken hatte, stand Laurentius sofort mit Blutkonserven, Kochsalzlösung und Plasma bereit, um ihm das zurück zu geben, was ich ihm genommen hatte. Allerdings steckt niemand den Biss eines Vampirs im Todeskampf weg. Denn ich war dem Tod nah, sehr nah gewesen, weswegen mein Körper instinktiv reagierte und sich mit Gewalt von meinem geliebten Flo nahm, was er brauchte. Florian erlitt einen Schock, gefolgt von Kreislaufversagen und Herzstillstand. Laurentius und Christiano gelang es zwar, Florian sofort wieder zu beleben, doch blieb sein Körper geschwächt und konnte jederzeit erneut kollabieren. Sein Leben hing am seidenen Faden. Während ich mich mit rasender Geschwindigkeit erholte, wurde Florian immer schwächer.

„Er hat mein Leben gerettet.“

Ich stand an seinem Bett und strich Flo durch seine langen, goldenen Haare. Er sah so friedlich aus, wie er da lag und doch war er dem Tod ganz nah.

„Er hätte es nicht tun müssen.“

„Er liebt dich!“, erwiderte Laurentius neben mir.

„Ja, ich weiß und...“, die aberwitzige Idee in meinem Hirn nahm immer konkretere Formen an, „Ich werde ihn retten. Sein Blut fließt durch meine Adern. Er hat mir Leben geschenkt, nun werde ich das Gleiche tun.“

„Du willst ihn in diesem Zustand also wirklich zu einem von uns machen?“

„Nicht ganz, nur ein klein wenig, gerade so sehr wie nötig, dass sich sein Körper selbst heilen kann.“

Mein Marschall wäre nicht mein Marschall, hätte er in diesem Moment nicht entsetzt mit der Augenbraue gezuckt, was für Laurentius Verhältnisse eine extrem starke Gemütsregung darstellte.

„Das verstößt gegen alle Regeln und Gesetze! Wenn raus kommt, dass du ein Halbblut erschaffen hast, wird...“

„Deswegen muss er von hier weg!“, plötzlich war mir völlig klar, was und wie es zu tun war, „Ich werde es tun. Er wird sich schnell erholen. Anschließend bringen wir ihn zurück zu seinen Leuten. Seit seinem Selbstmord sind keine sieben Tage vergangen. Man wird sich wundern, wo er war und es schließlich als unlösbares Rätsel abhaken. Niemand in meinem Haus weiß, wer er ist und was er mir bedeutet, ausgenommen von dir, Christiano und mir. Die meisten halten ihn für einen von Christianos Jungs. Sobald ich es getan habe, sollte er in zwei bis drei Stunden voll genesen sein und wir können ihn in Sicherheit bringen. Niemand kennt die Verbindung zu mir. Denk daran, wir befinden uns im Krieg. Wenn unsere Gegner entdecken, was mir Florian bedeutet, wäre er sofort ein primäres Ziel für ihre Attentate. Es ist pervers, aber der sicherste Ort für Florian ist die Hölle seines alten Lebens. Während wir in Ruhe tun können, was jetzt zu tun ist, muss ich mir um meinen Schatz keine Sorgen machen. Außerdem will ich nicht, dass er meine dunkle, grausame Seite kennen lernt, noch nicht.“

„Du weißt, dass du mit dem Feuer spielst?“, Laurentius zuckte mit den Schultern und wartete meine Antwort erst gar nicht ab, „Natürlich weißt du es.“ War da ein Anflug eines Schmunzelns auf Laurentius Lippen zu entdecken? „Nun gut, in jedem anderen Fall hätte ich dir abgeraten, dich bekniet es nicht zu tun, aber vielleicht hast du wirklich Recht und unsere Situation erfordert ungewöhnliche Maßnahmen. Dir ist schon klar, was du da erschaffst?“

„Ja, einen blonden Engel der Dunkelheit!“


Florian

Was für ein gemütliches Bett, so weich und kuschelig. Aufwachen - warum eigentlich? Wozu? Für einen weiteren Tag Demütigungen? Für eine weitere traurige Episode im Leben des Florian Waldstein?

Die Fragen waren müßig. Ich wusste, dass ich meine Augen aufschlagen und mich aus dem Bett quälen musste, wollte ich meinem Vater keinen Grund für eine weitere Vorführung einer seiner speziellen Erziehungsmethoden geben. Fünf Sekunden Selbsthass: Warum verlässt du ihn nicht? Du bist volljährig, könntest dir eine eigene Wohnung nehmen. Du bist ein freier Mensch! Tja... frei sein und von ihm weg kommen, auf den eigenen Füßen stehen, das wäre schön - Ein schöner Traum, aber eben nur ein Traum. Nun dann...

Wie jeden Morgen öffnete ich widerwillig meine Augen und... moment... dies war nicht mein Bett! Dies war nicht einmal mein Zimmer, geschweige denn unsere Wohnung. Plötzlich hellwach schaute ich mich um und stellte fest, dass ich in einem Krankenhauszimmer lag. Der Raum war nicht groß. Es war ein typisches Zweibettzimmer, wobei das zweite Bett, rechts von meinem, unbezogen und folglich leer war. Dahinter befanden sich zwei Türen, wovon die eine vermutlich zu Klo und Dusche und die andere zum Rest der Station führte. Direkt links neben meinem Bett stand so ein Rollcontainernachttisch, dann ein kleiner Tisch mit zwei Stühlen und eine große Fensterfront mit herabgelassenen Jalousien. Alles in allem erweckte die Einrichtung zwar einen gepflegten, aber doch schon etwas ältlichen Eindruck. Es war ein absolut typisches Krankenhauszimmer. Wieso lag ich in einem Krankenhauszimmer? Als wenn jemand meine Frage gehört hätte, flog die Zimmertür auf.

„Ah, Sie sind wach! Das ist ja schön! Mein Name ist Schwester Doris. Frühstück?“, jubilierte eine Krankenschwester mittleren Alters vom eher mütterlichem Typ.

„Ähm, was mache ich im Krankenhaus?“, fragte ich die Schwester Doris.

„Alles zu seiner Zeit!“, erwiderte die Schwester mit latentem Kommandoton in der Stimme, während sie mir ziemlich unsanft das Kopfkissen entzog, um es aufzuschütteln. Die gleiche Prozedur musste sich anschließend auch das Oberbett unterziehen, „Ich bring jetzt Ihr Frühstück.“

Weg war sie und ließ mich mit meinen unbeantworteten Fragen zurück. Wieso lag ich im Krankenhaus? Was hatte ich...

„Guten Morgen!“

Und wieder flog die Tür auf. Ein junger Typ, knapp zwanzig, so wie ich, Marke Zivi tauchte auf, fragte, ob ich Tee oder Kaffee, Käse oder Marmelade wollte, und war im gleichen Moment wieder verschwunden, als mich für Tee und Marmelade entschieden hatte.

„Morgen?“

Die Tür hatte eindeutig ihren Job verfehlt und es eher mit einer Karriere als Ventilator versuchen sollen. Ein schüchternes Putzmütterchen kam herein geschlichen, zog ein Multifunktionsputz- und Wischwägelchen hinter sich her und begann den Boden meines Zimmers mit nach Desinfektionmittel riechendem Wischwasser aufzumoppen. Anschließend wurden noch schnell alle Flächen eingesprüht und abgewischt. Erstaunlich, mit welcher Zielstrebigkeit und Effizienz die kleine Frau mein Zimmer in Rekordgeschwindigkeit reinigte. Fünf Minuten nachdem sie mein Zimmer betrat, war sie auch wieder verschwunden und hinterließ nichts als antiseptischen Duft. Was aber nicht hieß, dass nun Ruhe einkehrte. Ganz im Gegenteil. Drei Minuten später kam der Zivi und brachte mein Frühstück. Nach ihm tauchte eine andere Schwester, Mitte zwanzig, freundlich und auf den Namen Johanna hörend auf und maß Blutdruck, Puls und Temperatur. Aber auch sie konnte oder wollte mir nicht sagen, warum ich im Krankenhaus lag.

Die Tür kam nicht zur Ruhe. Nach Schwester Johanna tauchte wieder der Zivi auf, um meinen leergefutterten Frühstücksteller zu entsorgen, um dann beim Gehen sich die Klinke mit einem Weißkittel in die Hand zu geben.

„Ist das hier immer so hektisch?“, fragte ich den Mann, bei dem es sich offensichtlich um einen Arzt handelte. Die Hoffnung, doch noch ein paar zweckdienliche Antworten zu erhalten stiegen. Der Arzt schaute mich irritiert an, kratze sich am Kopf und begann dann freundlich zu nicken, als er begriff, was ich meinte.

„Ja, meistens.“, meinte der Arzt, zog sich einen Stuhl heran und setzte sich neben mich, „Mein Name ist Doktor Wegner, ich bin Ihr behandelnder Arzt.“

„Gut, dann können Sie mir sicher erklären, warum Sie mich behandeln und was ich in einem Krankenhaus mache.“

Diese Antwort schien den Mediziner zu überraschen. Ich nahm es zumindest an, weil er mich sehr aufmerksam musterte. Doc Wegner nahm eine kleine Stifttaschenlampe aus der Brusttasche seines Kittels und leuchtete mir abwechselnd in beide Augen.

„Können Sie mir sagen, wie Sie heißen?“

„Ähm, ja. Waldstein, Florian Waldstein. Wieso?“

„Woran können Sie sich erinnern?“

„Erinnern?“

Was für eine seltsame Frage und wieso taxierte mich der Arzt so eindringlich. Erinnern? Ich war auf der Arbeit und... und verdammt! Ich konnte mich nicht mehr erinnern! Verwirrt und leicht panisch starrte ich Doc Wegner an: „Ich kann mich nicht erinnern! Ich weiß nur, dass ich gestern noch im Betrieb war. Und dann... Nein, nichts! Was ist passiert?“

Statt sofort zu antworten, betrachtete mich mein Arzt weiter sehr nachdenklich und verzog dabei seine Miene, als wenn er abwägen würde, was er mir sagen sollte und konnte.

„Und das ist alles, wirklich alles, woran Sie sich erinnern können?“, hakte der Mediziner nach.

„Ja! Wirklich!“

„Bitte bekommen Sie jetzt keinen Schreck, aber was Sie als Gestern bezeichnen, war vor zwei Wochen.“

Vor zwei Wochen? Ich konnte unmöglich zwei Wochen lag im Krankenhaus gelegen haben? Gut, ich hatte mich selbst bisher noch nicht eingehend untersucht, aber da mir weder etwas weh tat, noch irgendwelche Gipsverbände meinen Körper zierten, hatte ich nicht den Eindruck, dass mir körperlich etwas fehlte. Genaugenommen fühlte ich mich so fit, geradezu kräftig, wie noch nie zuvor. Aber wieso fehlten mir zwei Wochen meiner Erinnerung?

„Zwei Wochen?“, fragte ich dementsprechend ungläubig nach, „Wie kann das sein?“

„Wir hatten gehofft, dass von Ihnen zu erfahren.“, gestand der Arzt und bemühte sich nicht einmal, seine eigene Ratlosigkeit zu verstecken.

Ich schloss meine Augen und versuchte, mich in die letzte Szene zurück zu versetzen, an die ich mich noch erinnern konnte: Ich war gut gelaunt, erstaunlich gut für meine Verhältnisse. Mein Vater hatte mich seit Wochen nicht mehr geschlagen. Wer weiß, vielleicht wurde ich ihm einfach zu alt oder es befriedigte ihn nicht mehr, mir für Mutters Tod die Schuld zu geben. Ich war froh, dass er sich zurück hielt, was nicht hieß, dass er nicht jede Sekunde wieder austicken konnte. Mein Erzeuger war unberechenbar, insbesondere wenn er getrunken hatte.

Ich weiß nicht, wie ich es besser beschreiben könnte, aber wenn man in der Hölle lebt, lernt man selbst kleine Temperaturänderungen ins Kühlere zu schätzen. Daran, dass mich meine Kollegen im besten Fall tolerierten, hatte ich mich gewöhnt. Es war wohl mein Schicksal, nicht wirklich gemocht zu werden. Dass sie mich als Schwanzlutscher oder Elfe beschimpften, war nicht so schlimm. Ok, es war gemein, anfangs sogar verletzend, dass ich jedes mal losheulen konnte, aber einen solchen Triumph wollte ich ihnen nicht gönnen. Ich biss die Zähne zusammen und ignorierte ihre Sprüche.

Was war vor zwei Wochen passiert? Ja, ich fühlte mich super. Ich hatte mehrere Tage für Constantin Varadin gearbeitet. Constantin. Dieser Mann war einfach fantastisch. Er oder eher seine Familie musste unverschämt reich sein. Meine Aufgabe war es, eine beschädigte Anrichte zu reparieren. Momsen, dieser inkompetente Idiot begriff gar nicht, an was er mich hat arbeiten lassen. Vermutlich war es auch besser so. Hätte er gewusst, dass das Möbel gut und gerne 350 Jahre alt war und in Anbetracht seines ansonsten perfekten Zustands locker mehrere zehntausend Euro wert war, wäre ich dem Teil nichtmal in Gedanken nahe gekommen. Dabei war die Anrichte eher eines der weniger wertvollen Einrichtungsstände. Constantin Varadin umgab sich mit Einrichtungsgegenständen für die Museumsdirektoren morden würden.

Constantin - Momsen mochte ihn nicht. Lästerte jedes Mal über ihn ab, kaum dass wir sein Haus verlassen hatten. Er sei nur ein weiteres dieser reichen, arroganten Arschlöcher. Der wäre doch bestenfalls 25 Jahre alt. Da kann er seine Kohle wohl kaum auf ehrliche Art und Weise erworben haben. Jedenfalls nicht mit seiner Hände Arbeit. Momsen geiferte vor Neid, aber am meisten wurmte ihn, dass Constantin Varadin mich mochte und ihn, Momsen, nicht.

Er mochte mich wirklich und ich muss gestehen, ich mochte ihn auch. Er mochte vielleicht zwei oder drei Jahre älter sein als ich, aber um Jahrzehnte reifer. Constantin war freundlich, ja geradezu liebevoll zu mir. Noch nie hatte jemand wirklich Interesse an meiner Arbeit gezeigt. Den meisten Kunden war es egal, was ich machte, Hauptsache ich machte es ordentlich, schnell und günstig. Nicht so Constantin. Er bot mir Tee an, verlangte von mir ausreichende Pausen einzulegen und hörte interessiert zu, was ich zu seiner Anrichte zu sagen hatte. Ja, verdammt, ich war ein Schwanzlutscher, ja, ich fühlte mich zu Männern hingezogen und Constantin wäre genau der Mann, dem ich verfallen könnte. Ist das falsch? Mir war klar, dass jemand wie Constantin Varadin in einer ganz anderen Liga spielte und für mich unerreichbar war. Wahrscheinlich wartete irgendwo eine elegante Frau auf ihn, mit der er sich in seiner Freizeit im Country Club zum Golfen traf. Wahrscheinlich war er auch nur aus purem Anstand nett zu mir. Und wenn schon. Er war nett zu mir! Und wer sagt, dass man nicht träumen darf? Ja, ich gebe es zu. Ich träumte jede Nacht von ihm, wie wir zusammen in einem Bett liegen, mein Kopf auf seiner Brust gebettet streichelt er mich sanft, während wir uns von anderen körperlichen Aktivitäten erholen. Ja, ich war gut gelaunt als ich von Constantin zurück in den Betrieb kam.

Es war wie verhext. So sehr ich mich auch anstrengte, mich zwang, mir den Tag bildlich vorzustellen, ich konnte mich einfach nicht erinnern. Ich war kaum zurück, verstaute mein Werkzeug und... Filmriss, als hätte man mir die Erinnerung aus dem Hirn geschnitten. Es fühlte sich an, wie ein leeres Tonband, oder nein, wie ein gelöschtes Tonband. Ich konnte mich zwar an keine konkreten Dinge erinnern, aber da war etwas. Seltsame Empfindungen, Schmerz und Todessehnsucht, aber auch Liebe und Freundschaft. Nichts davon war greifbar, wie Figuren aus Nebelschwaden, die zerflossen, sobald man sich ihnen näherte.

„Es tut mir Leid, aber da ist nichts.“, gestand ich Doktor Wegner.

„Sehr merkwürdig.“, entgegnete der Arzt, „Man hat Sie vermisst. Ihr Chef hat eine Vermisstenanzeige aufgegeben, nachdem Sie zwei Tage unentschuldigt nicht zur Arbeit erschienen sind und auch Ihr Vater nicht wusste, wo Sie sich befanden. Man fand Ihren Roller geparkt auf dem Rastplatz am Ende der großen Talbrücke, was den Verdacht nährte, Sie hätten sich möglicherweise etwas angetan. Ein paar Kollegen behaupteten, Sie seien depressiv gewesen.“

„Depressiv?“

„So steht es in der Akte. Aber keine Angst, nachdem ich Sie jetzt gesehen und mit ihnen gesprochen habe, kann ich mir eigentlich keinen Suizidversuch vorstellen. Zumal... es wäre ein Wunder. Hätten Sie sich, wie vermutet wurde, wirklich von der Brücke gestürzt, würden wir uns jetzt nicht unterhalten. Womit wir vor einem Rätsel stehen. Vor drei Tagen hat ein Autofahrer Sie vierzig Kilometer von hier entfernt nachts auf einer Landstraße umherirren gesehen und die Polizei gerufen. Die fanden Sie in einem tranceartigen Zustand und brachten Sie her. Seitdem sind Sie hier. Wir haben Sie untersucht und stehen, wie schon gesagt, vor einem Rätsel. Körperlich befinden Sie sich im Topzustand. Ich glaube, ich habe in meiner gesamten Berufslaufbahn noch nie einen derart gesunden Menschen wie Sie gesehen, wenn man von einer kleinen Anomalie in Ihrem Blutbild einmal absieht.“

„Anomalie?“

„Nichts, weswegen man sich Sorgen machen müsste. Wenn ich es nicht besser wüsste, hätte ich gesagt, dass Sie vor kurzem eine Blutinfusion erhalten haben, aber dagegen spricht das Fehlen jeglicher Einstiche an ihrem Körper.“

„Das heißt?“

„Dass es keine medizinischen Gründe gibt, Sie weiter hier zu behalten. Wir werden Sie noch einen Tag bei uns behalten und soweit sich nichts an Ihrem Zustand ändert, Sie morgen entlassen.“

„Aber was ist mit meiner Gedächtnislücke? Wenn ich Sie richtig verstanden habe, fehlen mir zwei geschlagene Wochen!“

Doktor Wegner seufzte: „Rein physisch gibt es keinen Grund für die Amnesie. MRT und PET-Scan waren unauffällig. Wie schon gesagt, Sie strotzen vor Gesundheit. Was nun den Gedächtnisverlust betrifft... Ich bin kein Psychologe, aber es drängt sich die Vermutung eines seelischen Traumas geradezu auf, weswegen Sie noch Dr. Martens besuchen wird. Vielleicht kann sie Ihnen helfen, sich zu erinnern.“

„Dr. Martens?“

„Unsere Fachärztin für Neurologie und klinische Psychiatrie. Keine Angst, sie beißt nicht.“

Beißen? Seltsam, warum zuckte ich bei diesem Wort zusammen und griff mir unwillkürlich ans Handgelenk?

„Ist etwas?“, fragte Dr. Wegner, dem meine Reaktion nicht entgangen war.

„Ich weiß nicht...“, gestand ich verwirrt und lauschte in mich hinein. Für einen Moment war mir, als könnte ich leise Stimmen in meinem Kopf wispern hören. Sekunden später waren sie verschwunden. „Vermutlich ist es nichts.“

„Nun ja, ich muss weiter. Sollten Sie etwas brauchen, klingeln Sie nach der Schwester. Man sieht sich.“

Doktor Wegner erhob sich, nickte mir noch einmal freundlich zu und verschwand. Verwirrt und etwas erschöpft ließ ich mich ins Kopfkissen sinken. Zwei Wochen? Wie konnten mir zwei Wochen fehlen? Ich konnte es kaum glauben, aber warum sollte mein Arzt lügen?

Florian, du musst dich erinnern! Vom eigenen Ehrgeiz angestachelt zwang ich mich zu konzentrieren, versuchte mir die letzte Erinnerung bildlich vorzustellen. Da war Constantin Varadin. Ich hatte die Arbeit an seiner Anrichte abgeschlossen und präsentierte stolz das Ergebnis. Herr Varadin, oder Constantin, dieser Typ war einfach ultranett und hatte mir das Du angeboten, zeigte sich auch beeindruckt. Constantins Lobpreisungen fielen sogar etwas zu überschwänglich aus. Wahrscheinlich wollte er mir eine Freude machen, wofür ich ihm dankbar war, denn nach dem Job bei ihm hieß es für mich zurück in die Hölle.

Wer hat eigentlich das Gerücht in die Welt gesetzt, die Hölle sei ein heißer Ort? Meine persönliche Variante zeichnete sich eher durch ausgesprochene Kälte aus. Die gute Laune, die ich von Constantin mitbrachte, wurde sofort von meinen Kollegen absorbiert, als ich noch in den Betrieb fuhr, um mein Werkzeug zurück zu bringen. Leider wimmelte es in der Umkleide noch von Kollegen. Sie merkten sofort, dass ich gut gelaunt war und es schien ihre Abneigung mir gegenüber zu schüren. Irgendjemand...

„Ah, hatten wir bei dem reichen Pinkel etwa Spaß?“

Mir lagen die Worte noch im Ohr, aber mir gelang es einfach nicht, ein Gesicht mit dem Spruch zu verbinden. Im Geist ging ich alle meine Kollegen durch. Es war erfolglos. Mit Betreten des Umkleideraums verblassten meine Erinnerungen. Wie konnte das sein? Hatte Doktor Wegner Recht, und ein Trauma blockierte mich? Es musste schon etwas sehr, sehr Schlimmes vorgefallen sein, wenn sich mein Hirn weigerte, mir zu zeigen, was anschließend geschah.

Frustriert schloss ich meine Augen und döste etwas vor mich hin, ließ mich in diesen Zustand zwischen wach und schlafend fallen. Da war etwas. Bizarre Erinnerungsfetzen blitzen wie Schlaglichter auf. Gefühle von Schmerz, Erniedrigung und Verzweiflung wechselten mit Zuneigung, Geborgenheit und Liebe. Für den Moment eines Wimpernschlags meinte ich Constantin zu sehen. Ich stürzte in einen Abgrund, aber er schien zu fliegen und mich aufzufangen. Er sah mich an und...

„Ach, was liegen wir denn immer noch im Schummerlicht?“

Schwester Doris dominante Stimme zerriss sowohl die Stille auch das Bild Constantins, das ich in meinem Geist krampfhaft versuchte fest zu halten. Mit einem ebenso resoluten wie geräuschvollen Ratsch, riss der Albtraum von einer Krankenschwester die Jalousie auf. Gleißende Sonnenstrahlen fluteten mein Zimmer und trafen mich.

„Aaahhhhhhhrrrrrrgggg!“

Niemals zuvor hatte ich solche Schmerzen empfunden. Mein Schrei muss von solch markerschütternder Urgewalt gewesen sein, dass Schwester Doris nicht nur das Jalousienband losließ, sondern auch wie von der Tarantel gestochen aufsprang, herumwirbelte und mich mit kreidebleichem Gesicht entgeistert anstarrte.

„Das Sonnenlicht!“, rief ich um Luft hechelnd, „Es brennt...“

Und das war noch untertrieben. Mir war, als hätte meine Haut in Flammen gestanden und meine Augen nur gleißendes Feuer gesehen. Jetzt, nachdem die Jalousien die garstigen Strahlen wieder ausgesperrt hatten, verschwand der Schmerz genauso schnell, wie er gekommen war. Ängstlich und fast darauf gefasst, auf meinen Armen und Händen Brandblasen zu sehen, schaute ich an mir herunter. Aber da war nichts. Nichtmal eine leichte Rötung. Seltsam...

„Was ist hier los?“

Von meinem Urschrei angelockt kam Dr. Wegner in mein Zimmer gestürmt, fand aber nur eine zitternde Schwester Doris und einen verwirrt dreinschauenden Patienten vor.

„Ich weiß nicht?“, gestand ich offenherzig, „Schwester Doris hat es wohl nur gut gemeint und die Jalousie aufgezogen, allerdings scheine ich das Sonnenlicht nicht richtig zu vertragen.“

„Hm!“, murmelte der Arzt, kam auf mich zu und versuchte sich erneut an dem Taschenlampentrick, was hieß, dass er seine Stiftlampe aus der Brusttasche seines Kittels nestelte und mir in die Augen leuchtete. Das blendete zwar, tat aber in keiner Weise weh.

„Ich werde die Jalousie nur einen Spalt breit aufziehen...“

Doktor Wegner ging zum Fenster und zog ein wenig am Gurtband. Die Horizontaljalousie wanderte langsam hoch und ließ einen schmalen Streifen Sonnenlicht herein, der quer über auf meinem Oberbett lag, aber keinen Körperteil direkt beschien. Ein aufforderndes Kopfnicken des Arztes und ich begann mich ebenso vorsichtig wie ängstlich mit meinen Finger zu nähern.

„Argh!“

Meine Fingerkuppen lagen im Sonnenlicht. Es brannte wie die Hölle, war aber einigermaßen auszuhalten. Schwester Doris hatte mich mit ihrer Großflächenlichtdusche einfach überrumpelt.

„UV-selektive Photophobie, merkwürdig.“, attestierte Doktor Wegner und ließ die Jalousie wieder herunter, „Könnte mit den seltsamen Blutwerten zusammenhängen. Ich glaube aber nicht, dass es auf Dauer ein Problem sein wird. Sie sollten sich die nächsten Tage vor Sonnenlicht schützen, Sunblocker auftragen und eine Sonnenbrille tragen. Das gibt sich.“

Ich war schon etwas verwundert, dass Doc Wegner die Sache so leichtfertig abtat, aber auf der anderen Seite, er war der Arzt und wusste wohl, was zu tun war.

„Schwester“, rief Wegner die immer noch verstört dreinschauende Doris zur Ordnung, „Sorgen Sie dafür, dass die Jalousie geschlossen bleibt. Hier ist ein Rezept für eine Sonnenschutzcreme, die Sie bitte von der Krankenhauszentralapotheke zubereiten lassen.“

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Florian

„Man kann dich wirklich keine fünf Minuten alleine lassen! Sag mal, wie alt bist du eigentlich? 18 oder 8?“

Seit einer Stunde durfte ich mir das nicht enden wollende Lamento meines werten Herrn Vaters anhören, der sich tatsächlich dazu herab gelassen hatte, mich aus dem Krankenhaus der siebzig Kilometer entfernten Kreisstadt des benachbarten Kreises abzuholen. Mit jedem Kilometer redete er sich mehr und mehr in Rage. Während er im Krankenhaus gegenüber den Ärzten und Schwestern den besorgten Vater mimte, durfte ich mir unmittelbar nach Antritt der Heimfahrt, als wir allein und außerhalb der Hörweite etwaiger Passanten waren, anhören, was ich ihm eigentlich zumuten würde.

„Warum trägst du diese alberne Sonnenbrille?“, fauchte er mich an und war auf dem besten Weg, seine rechte Hand vom Lenkrad zu nehmen und mir die Gläser von der Nase zu reißen.

„Nicht!“, entgegnete ich mit einer Schärfe, wie ich sie noch nie meinem Vater gegenüber gezeigt hatte, „Ich leide unter einer Sonnenallergie. Ohne die Brille könnte ich erblinden.“

Das entsprach zwar alles andere als der Wahrheit, erzielte aber seinen Zweck. Die Hand wanderte wieder zum Lenkrad, als meinem Erzeuger klar wurde, dass er, sollte ich tatsächlich erblinden, sich um mich kümmern müsste.

„Gut!“, knurrte mein Vater, der sich von meinem Widerspruch angepisst fühlte. Da war auf jeden Fall mit einem Nachspiel zu rechnen.

„Ich versteh es immer noch nicht. Was treibst du nachts auf der Landstraße?“, fuhr mein Erzeuger mit seinem Monolog fort. Seine Fragen waren, auch wenn sie anders klangen, rein rhetorisch. Wenn mein Herr Vater sprach, bestand nicht die geringste Notwendigkeit, sich in irgendeiner Weise am Gespräch zu beteiligen, außer vielleicht der, schuldbewusst dreinzuschauen. Denn Schuld, egal an was, hatte ich immer.

„Mein Gott, warum straft man mich mit einem Jammerlappen wie dir? Was hab ich verbrochen, dass man mir einen derartigen Witz von einem Sohn verpasst. Sohn? Eher ne halbe Tochter.“

Ah, ging die Leier wieder los. War ich dem Arschloch mal wieder nicht männlich genug? Toll, als wenn ich etwas dafür könnte, süß auszusehen. Oh ja, ich kann mich noch gut daran erinnern, als eine sehr entfernte Tante bei uns zu Besuch war und von dem süßen Mädchen, das ich doch wäre, sprach. Natürlich korrigierte meine Mutter, die damals noch lebte meine Tante sehr höflich, während mein Dad nur verächtlich schnaubte und das Wohnzimmer verließ. Seinen kalten, ablehnenden Blick werde ich niemals vergessen. Von da an wusste ich, dass mein eigener Vater mich hasste und ich niemals in der Lage sein würde, seinen Erwartungen gerecht zu werden.

„Ist dir überhaupt klar, dass ich Himmel und Hölle in Bewegung setzen musste, um dich aus diesem blöden Krankenhaus abzuholen. Ich musste meinem Chef, verdammt nochmal, in den Arsch kriechen und bei zig Kollegen einen Gefallen einfordern, um frei zu bekommen.“

Das ist doch nichts Neues! Wäre mir fast rausgerutscht. Mein Vater war der größte Heuchler aller Zeiten. Zuhause spielte er den Tyrannen, während er im Betrieb den opportunistischen Schleimer gab. Egal was ihm sein Chef auftischte, er sagte zu allem Ja und Amen, um sich dann abends über die Inkompetenz des Alten auszulassen. Oh, wenn er nicht die ganzen Fehler seines Chefs ausbügeln würde, wäre der Laden schon längst bankrott und das würde er ihm bei passender Gelegenheit noch beweisen. Sobald er sich dann ausreichend in Rage geredet hatte, wurde die Flasche mit dem billigen Scotch ausgepackt. Eine halbe bis eine dreiviertel Stunde später war er dann im Allgemeinen zur Hochform aufgelaufen und es besser, sich nicht in seiner Nähe aufzuhalten. Willkommen in meiner Hölle.

Zum Glück kamen seine Ausfälle in letzter Zeit wesentlich seltener vor. Vielleicht befürchtete er, ich könnte ihn verlassen und es wäre niemand da, dem er für alles was in seinem Leben schief lief die Schuld geben konnte. Ich war volljährig. Genau genommen war ich sogar 19 Jahre alt und nicht 18, wie mein Erzeuger meinte. Verdammt, nicht mal das interessierte ihn.

„Dir geht's doch gut, oder?“, fragte mein Vater, während er die Wohnungstür aufschloss, „Der Arzt meinte, du wärst gesund?“

„Ja...“, wenn er so fragte, gab es immer einen Pferdefuß.

„Dann mach dich nützlich und räum auf!“

Die Tür ging auf und ich betrat eine völlig versiffte Wohnung. In den zwei Wochen meiner Abwesenheit schien mein Vater bestenfalls gehaust, aber niemals gewohnt zu haben. In der Küche stapelte sich das dreckige Geschirr. Diverse halb verzehrte Fertiggerichte präsentierten auf fast schon lehrbuchhafte Weise die verschiedensten Stufen der Verwesung. Über allem schwebte ein süßlich fauliger Geruch. In den restlichen Räumen sah es nicht besser aus. Hätte man die halb leer getrunkenen Gläser auf dem Wohnzimmertisch sortiert und in richtiger Reihenfolge aufgestellt, hätte sich daraus eine wunderbare Gläserorgel ergeben. Ansonsten auch hier: Dreckige Teller mit feinem, flauschigem Flor, Pappschachteln des Pizzabringdienstes, leere Bierflaschen, dreckige Klamotten.

Ich wusste was ich brauchte und wo ich es fand: Blaue Müllsäcke in der Besenkammer. Während ich also durch die Räume wanderte, um den Müll zweier Wochen einzusammeln, stellte ich mir ernsthaft die Frage, warum ich eigentlich tat was ich tat. Warum half ich dem Arsch? Mein Vater hatte mich nie gut behandelt. Wenn es gut lief, hatte er mich ignoriert, doch wenn es mal wieder schlecht lief... Ich verwarf den Gedanken genauso wie die halb volle Pappschachtel Thunfischpizza, die unter dem Sofa hervor lugte.

Ein Zimmer nach dem anderen musste dran glauben. Meines zeigte sich sehr erstaunlich unberührt. Dafür sah ich mich im Schlafzimmer meines Erzeugers mit einem gleichmäßig über alle Flächen verteilten textilen Albtraum konfrontiert.

„Ich brauch frische Wäsche!“, knurrte der Alte mich an, der wie meistens wenn er nüchtern war hinter seinem Computer hing und Heteropornoseiten konsumierte. Warum half ich ihm? Warum ließ ich ihn nicht in seinem Siff ersticken? Ganz einfach: Weil ich kein Rückgrat besaß. So sehr ich den Typen hasste, ihn verachtete und am liebsten zum Teufel wünschte, ich packte es nicht, mich gegen ihn zu wehren. Wenn ich mich jemals fragte, ob er wirklich mein biologischer Vater war, dann war das die Antwort. Ich war genauso rückradlos wie er, fluchte innerlich und parierte.

Beladen mit einem Berg Wäsche näherte ich mich dem Badezimmer, in dem auch die Waschmaschine ihr Dasein fristete. Ich weiß nicht, wie man es anders ausdrücken könnte, aber manche Türen sollten besser geschlossen bleiben.

Was war dieser Mann? Kaum hatte ich die Tür einen Spalt geöffnet, schlug mir ein dermaßen widerlicher Gestank entgegen, bei dem selbst Ratten geflüchtet wären. In der Waschmaschine dümpelte nasse Wäsche, die der Verfärbung des Gewebes nach zu schließen kurz davor war, Grundrechte als eigenständige Lebensform einzufordern. Obwohl ich krampfhaft die Luft anhielt, während ich zum Fenster hechtete, um es zu aufzureißen, bohrte sich der unerträgliche Gestank in meine Nase. Das mit Rasierschaum, Zahnpaste und gelblichem Nasenauswurf verklebte Waschbecken links liegend lassend, erreichte ich den Fenstergriff, drehte ihn um 180 Grad und riss den Flügel auf. Dabei fiel mein Blick auf das Innere des zweiten Porzellanobjektes des Badezimmers. Deckel und Brille waren bedauerlicherweise hochgeklappt.

Hatte mein Arzt nicht von einem Trauma gesprochen? Ich kannte den Begriff, wenn ich mir darunter auch konkret nichts wirklich vorstellen konnte. Bis jetzt. Dieses Badezimmer änderte alles.

„Verdammt, was bist du eigentlich?“, einen aufkeimenden Brechreiz unterdrückend, war ich zurück ins Schlafzimmer meines Vaters gerannt und brüllte ihn nun aus voller Kehle an: „Ein Mensch oder ein Schwein? Scheiße, ich bin nicht deine Putze! Ich bin dein Sohn! Wenn du glaubst, dass ich dein zugekacktes Klo sauber mache, hast du dich geschnitten. Auch ich besitze Grenzen und die wurden soeben überschritten!“

Der Mann, der sich mein Vater schimpfte, starrte mich aus großen ungläubigen Augen an. Ich hatte fast den Eindruck, als wenn er mich das erste Mal wirklich wahr nahm. Scheiß drauf! Ich wartete auf eine Antwort, doch die kam nicht. Der Typ glotzte mich nur ungläubig an.

„Vergiss es, ich bin in meinem Zimmer!“, sprach's und zog mich zurück.


Was war das eben? Ich lag mit dem Rücken auf meinem Bett und starrte die Decke an. Was hatte ich da eben getan? Woher dieser plötzliche Anfall von Widerstand. Vor zwei Wochen, vor meiner seltsamen Auszeit, hätte ich anders reagiert. Ich hätte mir aus der Küche Chlorreiniger und Gummihandschuhe geholt und die Schweinerei weggemacht. Was war mit mir nur passiert? Ich hatte noch nie gegen irgendjemand aufbegehrt, vor allem nicht gegen meinen Vater. Ich war Florian Waldstein, das zuckersüße, blonde Engelchen, die weich- und weinerliche Schwuchtel ohne Rückgrat!

„Du!“

Die Tür zu meinem Zimmer flog auf. Im Türrahmen stand zur vollen Größe aufgerichtet mein Vater. Der Mann, das musste man ihm lassen, kräftig, groß und brutal, ein Brecher vor dem Herrn. Mit seinen 1,90m und einem Kreuz wie einem Schrank war er mir körperlich haushoch überlegen, was er mich schon mehrfach hatte spüren lassen. Und wenn ich den Ledergürtel in seiner Hand richtig interpretierte, plante er wieder einmal einen eher körperlichen Dialog mit mir.

„Wie kannst du es wagen, so mit mir zu sprechen?“, fauchte er mich an und holte zum ersten Schlag mit dem zu einer Schlaufe zusammengelegten Gürtel aus, „Ich werde dir zeigen, wer hier der Herr im Haus ist.“

Das Stück Leder sauste durch die Luft und zielte auf meinen ungeschützten Körper. Im Normalfall hätte es ihn auch getroffen, ein Ereignis, das ich schon recht oft genießen durfte, doch diesmal kam es anders. Noch bevor mein Verstand realisierte, was ich tat, handelte mein Körper, genau genommen, meine Hand. Die schnellte vor und fing den Gürtel im Flug auf, packte ihn und riss ihm meinem Vater brutal aus den Händen, wobei ihn die scharfkantige Schnalle verletzte. Aus einer Schnittwunde quoll Blut hervor.

Beide anwesenden Personen erstarrten, wenn auch aus unterschiedlichen Gründen. Mein Erzeuger legte sogar eine ganze Folge unterschiedlicher Erstarrungsgründe vor. Zuerst erstarrte er aus reiner Verblüffung, dann, um das, was gerade passiert war mental zu verarbeiten, was direkt zur Starre aus Verwunderung führte, die nahtlos in blankes Entsetzen überging. Mich hingegen paralysierte das Blut. Die Blutstropfen auf der Hand meines Vaters glänzten mich feucht an. Der dunkle, rote Saft löste eine unheimliche Faszination in mir aus. Ein seltsames Verlangen erwachte in mir. Gebannt betrachtete ich das Blut und griff wie in Trance nach der Hand.

„Du hast dich verletzt!“ bemerkte ich inhaltlich nicht ganz korrekt, „Lass mich deine Hand verbinden.“

Ich packte meinen Vater und zog ihn mit mir mit. Zum Glück hatte es im Badezimmer inzwischen einen Luftaustausch gegeben. Wahrscheinlich war die Frischluft vor Schreck zurückgewichen und hatte durch das dadurch entstehende Vakuum den Gestank aus dem Badezimmer gleich mitgerissen. In gewissen Grenzen konnte man atmen, ohne ohnmächtig zu werden. Solange die Atemzüge nicht zu tief waren, hielt sich der Brechreiz in Grenzen. Mein Augenmerk galt eh nur dem Spiegelschrank, der in seinem Inneren die Hausapotheke beherbergte.

„Berühr nichts!“, wies ich meinen Alten an, „Es sei denn, dir verlangt nach einer Blutvergiftung.“

Wie paralysiert schaute mein Erzeuger von mir zum Bad und wieder zurück zu mir. Panik stand ihm ins Gesicht geschrieben.

„Ja, schau dich nur um!“, knurrte ich meinen Vater an, „Dies ist dein Saustall und den wirst du selbst wieder in Ordnung bekommen.“

Ohne Vorwarnung, dafür aber mit einem gerüttelten Maß an genüsslicher Diabolik, beträufelte ich die blutende Hand mit einer großzügigen Ladung Jod. Das scharf zischende Geräusch von Luft, die durch zusammengebissene Zähne gesaugt wird, zeigte mir, dass meine Desinfizierungsbestrebungen wirkten.

„Wag es ja nicht noch einmal, deine Hand gegen mich zu erheben. Du würdest es bereuen. Und wenn wir schon dabei sind, versuch wenigstens wie ein Mensch zu leben und mach diesen Saustall sauber!“

Ein Wunder geschah. Mein Vater begann ängstlich zu nicken und flüsterte leise: „Ja!“


Ich lag mit dem Rücken auf meinem Bett und starrte nachdenklich die Decke an, das zweite mal in den letzten Stunden. Zwischen vorhin und jetzt lag der Versuch meines Vaters, mich mal wieder zu züchtigen. Es blieb beim Versuch und endete mit dem für meinen Vater überraschenden Ergebnis, sich in der Rolle desjenigen wiederzufinden, der die Wohnung aufräumte, wie man am gelegentlichen Poltern hören konnte. Ich wiederum war damit beschäftigt, zu verstehen, was eigentlich genau passiert war. Konkret interessierte mich die Frage, wo ich plötzlich den Mut her nahm, den Übergriffen meines Vaters ein Ende zu setzen.

Meine permanente Angst war verschwunden und hatte Schuldgefühle und Minderwertigkeitskomplexe gleich mitgenommen. Drei Dinge, die ich nicht sonderlich vermissen würde. Blieb die Frage, wieso eigentlich? Zeit für eine Standortbestimmung. Was war mit mir los? Wer war ich?

Steckbrief: Florian Waldstein, 19 Jahre, 176cm, schulterlange, blonde Haare, hellgrüne Augen, zarte, engelhafte Figur, Weichei, Softie, ein Typ, dem man „Du Mädchen!“ hinterher rief, schüchtern, voller Komplexe, jemand, der zu stammeln begann, wurde er direkt angesprochen. Jemandem direkt in die Augen schauen? Träum weiter! Niemals! Ok, Schluss mit dem Selbstmitleid. Mag sein, dass ich eher engelhaft wirkte, aber ich war nicht feminin, ich fühlte mich und war ganz Mann. Schwul, ok, ja, natürlich, war ich schwul, aber deswegen noch lange keine lispelnde Schwuchtel. Verdammt, ich war mit Leib und Seele ein Tischler. Ich liebte den Beruf, liebte es, mit Holz umzugehen. Ich war sogar einer der Besten meines Jahrgangs gewesen. Niemand musste mir erklären, wie man mit Hobel, Bohrer, Schraubzwinge oder Kreissäge umzugehen hatte. Also, wo war ich ein Mädchen?

Trotzdem erntete ich stets nur Ablehnung, erst im Kindergarten, dann in der Schule und nun im Betrieb. Ich galt immer als der Typ, der irgendwie anders, merkwürdig oder seltsam war. Dabei fühlte ich mich weder anders, noch merkwürdig oder seltsam. Es schien ein Naturgesetz zu sein, dass man mich mobbte. Und was tat ich? Begehrte ich auf? Wehrte ich mich? Natürlich nicht. Ich senkte ängstlich meinen Blick, schwieg und schluckte alles, was man mir an den Kopf warf, obwohl ich wusste, dass damit die Sache nur noch schlimmer wurde. Wer zurückweicht, fordert seinen Gegner geradezu auf, auszuprobieren, wie weit er noch gehen konnte. In meinem Fall hieß das, dass aus kleinen Sticheleien über die Zeit verletzende und herabwürdigende Beleidigungen wurden, um diesen später Rempler, Schubser und sogar den einen oder anderen Schlag hinzuzufügen.

Wie ich da so auf meinem Bett lag und mit kalter Sachlichkeit meine Lage analysierte, wurde mir plötzlich klar, dass sich mein Leben aus mir völlig unbekannten Gründen radikal geändert hatte. Ich wusste, dass meine übliche Opferrolle, der Vergangenheit angehörte. Was auch immer mit mir passiert war, die Veränderung gefiel mir.

Zufrieden mit mir und dem Rest der Welt erhob ich mich und half meinem Paps bei der Grundreinigung der versifften Wohnung. Was? Innere Stärke zu finden heißt noch lange nicht, dass man sich zu einem nachtragenden, arroganten Arschloch entwickeln muss. Ich war immer noch Florian. Jedenfalls hoffte ich das.

Erinnerungen

Constantin

„Und?“

Christianos zufriedenem Ausdruck zufolge, schien sich mein Plan in die richtige Richtung zu entwickeln.

„Die Mikrokameras in Florians Wohnung liefern perfekte Bilder und Ton.“, verkündete mein junger Freund stolz. Vermutlich war es moralisch eher zweifelhaft, Flos Lebensraum flächendeckend zu überwachen, aber was ist schon moralisch einwandfrei? Ich musste einfach wissen, wie es meinem Liebling und Lebensretter erging und dies nicht einmal aus ausschließlich selbstsüchtigen Motiven.

Um Flo zu retten benötigte er die Selbstheilungskraft eines Vampirs. Ich hatte ihn gebissen. Nicht um sein Blut zu trinken, sondern um ihm etwas von meiner Essenz zu geben. Nicht so viel, um die Verwandlung einzuleiten, aber genug, um seinem Körper die Kraft zu geben, sich selbst zu heilen. Man könnte meinen Biss mit einem Medikament vergleichen, das aber wie die meisten Medikamente Risiken und Nebenwirkungen besaß. Ein Vampir zu werden hieß nicht nur kräftiger, stärker oder sexuell potenter zu werden. Ein Vampir wurde man mit allem was man war, Körper und Geist. Das halbe Prozent, wenn überhaupt, das Flo jetzt bereits ein Vampir war reichte aus, um gewisse Veränderungen an seiner Psyche und Physis hervorzurufen. Sowohl Christiano als auch Laurentius stimmten mit mir überein, dass es wohl besser wäre, Florian an einer genauso unsichtbaren wie kurzen Leine zu halten.

„Ich weiß ja nicht, wie stark du zugebissen hast, aber unser Freund hat bereits seinen Vater in dessen Schranken verwiesen.“, berichtete Christiano, „Wenn du mich fragst, dürfte sein erster Arbeitstag nächste Woche interessant werden.“

Was für eine schamlose Untertreibung. Flos erster Arbeitstag dürfte nicht interessant, sondern spektakulär werden. Man musste sich nur klar machen, wohin er zurückkehrte. Seine Kollegen hatten, alle wie sie da waren, schwere und schwerste Schuld auf sich geladen. Wenn sie Flo nicht persönlich gemobbt, gequält oder gar vergewaltigt hatten, dann hatten sie zumindest weggesehen, wohl wissend, was man mit meinem Schatz anstellte. Ich wusste es, ich war dabei und auf eine gewisse unverzeihliche Art genauso schuldig, nicht eingegriffen zu haben.

„Ich möchte, dass du dich ab nächstem Montag, also in knapp einer Woche, in seiner Nähe aufhältst.“

Wie nicht anders zu erwarten, reagierte Christiano alles andere als begeistert. In großer „Warum ich?“-Geste, ließ er die Schultern herabsinken und schaute frustriert drein: „Och Mann, ich hasse es, wenn du den Fürsten des Hauses raushängen lässt. Du weißt ganz genau, wie sehr ich es hasse, bei Tageslicht zu arbeiten. Ich bin da nie richtig wach und außerdem bekomme ich vom Sunblocker immer Pickel.“

„Christiano, bitte...“, flehte ich ihn an, wohl wissend, dass die Entscheidung längst gefällt war. Wenn ich mich auf jemanden verlassen konnte, dann auf Christiano.

„Hey, mach dir keine Sorgen um deinen kleinen Engel.“, Christiano zeigte ein hinterhältiges Grinsen, „Wenn sich Florian mit gleicher Geschwindigkeit entwickelt wie bisher, wird man sich eher um seine Kollegen Sorgen machen müssen, als um ihn. Gib zu, dir gefällt der Gedanke.“

„Vielleicht...“, grinste ich sybillinisch zurück, „Trotzdem, pass gut auf ihn auf. Die Typen haben ihn brutal vergewaltigt. Sie wissen ganz genau, dass sie dafür in den Knast wandern könnten, sollte Florian sie anzeigen. Alles was ihn schützt ist seine Amnesie. Sollte jemand allerdings die Nerven verlieren, könnte es sehr schnell sehr ungemütlich werden.“

„Keine Angst. Ich kümmere mich darum. Vergiss nicht, Florian ist auch mein Freund.“

„Natürlich ist er das.“, erwiderte ich und klopfte Christiano dankbar und anerkennend auf die Schulter.

„Ähm“, hüstelte Laurentius, um dezent auf sich aufmerksam zu machen, „Es tut mir Leid, derjenige zu sein, der die gute Stimmung verdirbt. Constantin, wann gedenkst du, mich hinrichten zu lassen?“

„Was bitte?“, Laurentius war immer für eine Überraschung gut und pflegte einen Humor, der sich einem erst erschloss, wenn man ihn etwas besser kannte, aber die Frage, wann er hingerichtet werde, war auch für ihn etwas extrem, „Warum sollte ich das tun?“

Ein Blick auf Laurentius und ich wusste, dass er es ernst meinte. Mit fester Miene sah er mich an: „Weil ich versagt habe. Ich bin dein Marschall. Meine Aufgabe ist es, um jeden Preis dein Leben zu schützen. Du bist Fürst Varadin, Stammvater dieses ehrenwerten Hauses. Ohne dich gibt es kein Haus Varadin. Der Überfall auf deinen Wagen war mein Versagen. Ich habe deinem Vater bei meinem Leben geschworen, dich zu schützen und ich habe dir gegenüber den gleichen Schwur abgelegt. Diesen Schwur habe ich mit meiner Inkompetenz gebrochen. Ich hätte wissen müssen, dass man ein Attentat auf dich plante. Du weißt sehr gut, welche Strafe unser Gesetz für den Bruch eines Schwur vorsieht.“

Leider wusste ich es nur zu gut. Das Problem mit Laurentius war, dass es sich bei ihm, um einen Vampir der alten Schule handelte. Sein Ehrgefühl war unerschütterlich. Das dumme daran war, dass er meistens im Recht war. In der Tat konnte man das Attentat als sein Versagen ansehen. Genaugenommen war davon auszugehen, dass alle gegnerischen Häuser den Vorfall genau so werten würden. Laurentius nicht zu bestrafen wäre ein Beweis meiner Schwäche als Fürst des Hauses. Oh, dieses Attentat war ein strategisches Meisterwerk. Egal wie es ausging, es schwächte die Position meines Hauses. Wären sie erfolgreich gewesen, wäre ich jetzt tot und das Haus Varadin Geschichte. Ich hatte aber knapp überlebt, was hieß, dass mein Marschall unfähig war. Kein Vampirfürst kann ein derartiges Versagen ungestraft lassen, ohne selbst als schwach und unfähig zu gelten.

„Ich bin bereit, die Konsequenzen meiner Unfähigkeit zu tragen.“, setzte Laurentius nach.

„Laurentius, halt die Klappe. Ich muss nachdenken!“

Das stoppte meinen Marschall. Nein, das kommt gar nicht in Frage, dass ich den Chef meines Geheimdienstes opfere. Der Mann war eben nicht nur mein Schwert und rechter Arm, sondern auch mein Mentor, Lehrer und väterlicher Freund. Es war klar, dass meine Gegner ihn lieber früher als später tot sahen, aber diesen Gefallen würde ich ihnen nicht tun. Laurentius zu opfern war keine Option.

„Laurentius, interpretiere meine nächste Frage nicht als Beleidigung. Ich kenne die Antwort, trotzdem muss ich sie stellen: Wie stark ist deine Treue zu mir?“

„Wie du es selbst sagst: Du kennst die Antwort. Meine Treue ist unbegrenzt!“, antwortet Laurentius, sah mich an und begriff, welches Opfer ich von ihm erwartete. Er holte tief Luft, senkte seinen Blick und nickte matt: „Ja, ich verstehe. Ich werde dich nicht enttäuschen. Wenn du mich bitte entschuldigen würdest, damit ich alles vorbereiten kann. Wäre übermorgen Mittag als Termin ausreichend?“

Statt zu antworten nickte ich ebenfalls nur matt und ließ Laurentius gehen, was Christiano völlig verwirrte: „Ähm, kannst du mir bitte mal erklären, was das jetzt für eine schräge Nummer war?“

„Ja, kann ich.“, meinte ich knapp, holte zwei Gläser und goss mir und meinem portugiesischen Freund einen Whisky ein, um ihm anschließend zu erklären, warum Laurentius Recht hatte, wenn er meinte, dass er ein todeswürdiges Verbrechen verübt hätte.

„Aber das ist doch Wahnsinn!“, schrie Christiano, „Wie kannst du zulassen, dass uns die anderen Häuser diktieren was ein Fehler ist und was nicht? Auch Laurentius kann nicht alles wissen. Die Attentäter könnten allein und nur auf direkten Befehl eines Fürsten gehandelt haben. Dann hätte er keine Chance, vorher etwas davon zu erfahren. Wir dürfen ihn nicht opfern. Er ist unser, er ist dein Freund!“

Christiano flehte mich regelrecht, Laurentius nicht über die Klinge springen zu lassen.

„Er wird leben. Ich werde ihn nicht hinrichten. Allerdings...“

„Was?“, fragte Christiano ängstlich.

„Ich werde ihn öffentlich bestrafen müssen. Die anderen Häuser wissen, was vorgefallen ist und werden sehr genau darauf achten, wie ich als zukünftiger König entscheiden werde. Man erwartet von mir, dass ich ein Zeichen setze und Entschlossenheit sowie Stärke demonstriere. Es gibt nur eine Strafe, die geeignet ist, Laurentius Ehre wieder herzustellen und mir den Respekt der anderen Häuser einbringt. Laurentius wird ein Sonnenbad nehmen.“

„Iihhh!“, quiekte mein Freund entsetzt und sah mich aus großen Augen an, „Garstig, wirklich garstig.“

„Hast du eine bessere Idee?“, gab ich den Ball zurück.

„Ähm, nein... Aber ihn zu Asche verbrennen zu lassen, um ihn danach... Junge, das ist hart.“

„Glaubst du, ich weiß das nicht?“

„Nein, mit Verlaub, du hast keine Ahnung wovon wir hier sprechen!“, Christiano war aufgesprungen. Ich hatte ihn noch nie so aufgebracht erlebt. In seinen Augen flammte unbändige Wut auf. Ich konnte spüren, wie sein ganzer Körper mehr und mehr in Wallung geriet. Christiano fing an, wild mit seinen Händen und Armen zu gestikulieren, brachte aber kein Wort heraus. Erst als er sich konzentrierte und alle Kraft zusammen nahm, gelang es ihm, sich halbwegs vernünftig zu artikulieren. Trotzdem zitterte seine Stimme.

„Constantin, bitte, ich will nicht respektlos erscheinen. Ich weiß, dass mich andere Fürsten für das was ich jetzt sage sofort erschlagen würden. Ich sage es trotzdem. Du hast wirklich keine Ahnung, was du Laurentius mit dieser Bestrafung antust, nicht die Geringste. Du erinnerst dich, dass mich die Sonne auch schon einmal verbrannt hat? Du hast mich damals zurück geholt, wofür ich dir ewig dankbar sein werde, aber du weißt nicht, wie es ist, lebendig zu verbrennen. Ich habe das bisher niemandem erzählt, auch dir nicht und du hast mich auch niemals gefragt. Auch dafür schulde ich dir ewigen Dank. Der Vampirjäger, der hinter mir her war, war ein Sadist. Er jagte und tötete uns nicht einfach, er liebte es, uns vorher zu quälen und zu foltern. Fünf Stunden, hörst du?“, Christiano schrie, als er sprach, Tränen flossen ihm die Wangen herunter, „Fünf Stunden hat er mich gefoltert! Er nannte es das Jalousienspiel. Jalousie auf, eine Sekunde warten, und wieder zu. Ich musste zusehen, wie sich meine Extremitäten in Asche verwandelten. Du weißt selbst, was unsere Körper aushalten können. Abgesehen von einem Pflock direkt ins Herz bringt uns faktisch nichts um. Aber die Schmerzen, die unerträglichen Schmerzen verspüren wir trotzdem! Weißt du was nach meiner Wiedererweckung das Schlimmste war? Nicht die Geburt aus der Asche, die war auf ihre Art zwar schmerzhaft, aber auf eine gute, befreiende Weise. Es waren die Albträume der Flammen, die mich verzehrten, die mich verschlangen, die mich nicht losließen. Also, Constantin, erzähl mir nicht, du wüstest, wovon du sprichst. Du weißt es nicht, du weißt es wirklich nicht!“

Christiano irrte sich. Er konnte es nicht wissen, aber er irrte sich. Bestimmte Dinge behielt man als Vampirgeborener einfach für sich.

„Doch ich weiß es, ich weiß es sehr genau.“, aber manchmal muss man sein Wissen teilen, „Ich habe dich erschaffen. Du bist ein Geschöpf meines Blutes. Ich habe dich nie nach deinem Erlebnis gefragt, weil ich es nicht musste. Stirbt ein Vampir meines Geschlechts, dann stirbt auch ein Teil von mir. Verbrennt ein Vampir im Schein der Sonne, verbrenne auch ich. Christiano, mein Weggefährte, mein Freund, ich habe jede Sekunde deines Martyriums miterlebt, dein Schmerz war mein Schmerz.“

„Aber...“, weiter kam Christiano nicht. Meine Enthüllung gepaart mir den wieder aufgewühlten Erinnerungen waren zu viel für ihn. Er brach emotional zusammen und wäre fast gestürzt, hätte ich ihn nicht aufgefangen und in meine Arme genommen, „Aber warum hast du nie etwas gesagt?“

„Weil diese Erfahrung etwas war, mit dem du alleine klar kommen musstest. Du musstest lernen, mit dem Schmerz zu leben, so hart und unerträglich er auch war.“

„Es tut mir Leid!“, weinte mein Freund, „Bitte, ich wusste es nicht. Es tut mir Leid, dich so anzugreifen. Ich hatte kein Recht dazu...“

„Hey, es ist gut!“, tröstete ich Christiano, streichelte ihm sanft über den Rücken und hielt ihn eng an mich gepresst, „Ich bin dir nicht böse. Ich kann dir gar nicht böse sein, denn du hast Recht. Zu Verbrennen ist barbarisch und grausam. Aber Laurentius wird es überstehen und, davon bin ich überzeugt, es wird ihn besser und stärker machen. Er wird keine Sekunde ruhen, bevor er nicht denjenigen ausfindig gemacht hat, der mich dazu zwang, eine derartige Strafe auszusprechen. Die Qualen, die Laurentius ertragen wird, werden sein inneres Feuer anfachen und zu einem noch gefährlicheren Mann machen, als er jetzt schon ist. Trotzdem schäme ich mich, ihm dies alles anzutun.“

„Warum?“

„Laurentius ist keine meiner Schöpfungen so wie du, sondern die meines Vaters. Ich werde seine Schmerzen nicht mit ihm teilen können. Siehst du, du hattest Recht, mir Vorwürfe zu machen. Es ist leicht, etwas derartiges zu verlangen, wenn man selbst keine Konsequenzen zu tragen hat. Aber Christiano, das musst du mir einfach glauben, ich hätte bei jedem anderen genauso gehandelt, egal ob er mein Geschöpf, oder das meines Vaters ist.“

Ein Lächeln der Erkenntnis schlich sich auf Christianos Lippen. „Ha, jetzt wird mir auch klar, warum du mir damals freie Hand bei der Verfolgung dieses sadistischen Schweins von einem Vampirjäger gelassen hast.“

„Oh, nach dem was er dir angetan hat, war es einfach nur fair, dir die Möglichkeit zu geben, sich bei ihm angemessen zu bedanken. Ich war nicht dabei und du hast nie ein Wort darüber verloren, aber ich hoffe doch, dass du deinen Spaß mit ihm hattest.“

„Nein!“, entgegnete Christiano mit fester Stimme, „Ich habe ihn getötet, aber nicht gefoltert. Was er mir angetan hat, hat mich gelehrt, Grausamkeit und diejenige, die sie kultivieren zu verachten. Einen Vampirjäger zu töten ist Selbstverteidigung, ihn vorher zu quälen unmoralisch.“

Ich nickte zufrieden, es war genau die Antwort, die ich von Christiano erwartet hatte: „Du glaubst gar nicht, wie stolz ich auf dich bin. Dich zu erwählen und zu einem von uns zu machen, war eindeutig eine meiner intelligenteren Entscheidungen. Doch wo wir gerade so nett beieinander sitzen und frei und ehrlich zueinander sind, möchte ich dich etwas fragen. Du musst nicht antworten. Wenn du nicht willst, lassen wir das Thema.“

„Schieß los!“

„Hast du jemals bereut, ein Vampir zu sein?“

„Keine Sekunde! Ich bin stolz auf das, was ich bin.“, verkündete Christiano feierlich, um dann weicher und nachdenklicher hinzuzufügen, „Du hast mich zu einem Geschöpf der Nacht gemacht, wofür ich dir danke.“

„Bedauerst du, dass ich Florian zu meinem Gemahl machen will?“

„Nein, ich freue mich für dich. Ich fühle, dass er der Richtige ist. Er liebt dich, und das, obwohl er noch keiner von uns ist. Das ist ein sehr kostbares Geschenk, das du festhalten solltest.“, Christiano zögerte einen Moment, dann sprach er leise weiter, „Ich mag Flo. Er ist wirklich süß und ein toller Junge, der unser Haus mit Sicherheit bereichern wird. Ich hoffe, ich hänge mich jetzt nicht zu weit aus dem Fenster, aber kann es sein, dass du Florian gerade testest?“

Was für ein schlaues Kerlchen Christiano doch war. Die meisten, die ihn nur oberflächlich kannten, hielten ihn für einen seichten, wenig intelligenten Machotypen, der sämtlich Klischees des südländischen Gockels erfüllte. Er wirkte immer ein wenig zu laut, seine Kleidung immer etwas zu krass und zuweilen sogar vulgär bis obszön. Es kam mehr als einmal vor, dass er im SM-Outfit auf einem offiziellen Empfang aufkreuzte und ganz schamlos mit allem flirtete, was drei Beine hatte. Er trieb sich regelmäßig in dubiosen Clubs rum und schleppte massenweise Jungs ab, die er im wahrsten Sinne des Wortes vernaschte.

Nur kaum jemand ahnte, dass alles nur Show war. Er spielte eine Rolle. Christiano war einer meiner wichtigsten Agenten und gehörte mit Laurentius zu meinen engsten Vertrauten. Dabei erfüllte er zwei wichtige Aufgaben. Zum einen sorgte sein schrilles Auftreten für Ablenkung. Während alle Aufmerksamkeit auf ihn und seine Eskapaden gerichtet war, konnte Laurentius unauffällig im Hintergrund agieren. Zum anderen aber war Christiano selbst ein aufmerksamer Beobachter und Zuhörer, sowie ein begnadeter Spion. Die Party- und Clubszene, in der er sich tummelte, zeichnete sich vor allem durch eine fast schon krankhafte Geschwätzigkeit aus. Christiano brauchte nicht mehr, als aufmerksam zuzuhören. Aus dem ganzen Geschwafel ließen sich dann Informationen destillieren, an die Laurentius mit seinen Agenten so nie herangekommen wäre.

Niemand außer Laurentius, mir und inzwischen auch Florian, kannte den wahren Christiano. Selbst gegenüber den anderen Vampiren meines Hauses pflegte er das Image des bad guy, wenn auch in stark abgemilderter Form. Man mochte ihn, nahm ihn aber nicht wirklich ernst. Die meisten Mitglieder meines Hauses gingen davon aus, dass Christiano mein Liebhaber sei und ich ihm deswegen so einiges durchgehen ließ. Ich beließ sie in ihrem Glauben.

„Junge, du bist unheimlich.“, begann ich, Christianos Frage zu beantworten, „Deine Vermutung ist nicht ganz verkehrt. Sieh es aber weniger als einen Test an, als viel mehr die Möglichkeit für Flo, mit den Schrecken seiner Vergangenheit ins Reine zu kommen. Er wird bald erkennen, dass seine Peiniger, diejenigen, die ihm das Leben zur Hölle machten, ihre Macht über ihn verloren haben. Die Frage, die sich Florian dann stellen muss ist, wie er damit umgeht. Wird er sich rächen? Wird er das Geschehene verleugnen und so tun, als wäre nie etwas geschehen? Oder mutiert er zu einem Heiligen, der alles verzeiht? Oh, mein kleiner Schatz wird eine spannende Zeit erleben.“

„Was, wenn er später die Wahrheit erfährt? Du hast seine Erinnerungen blockiert, doch das wird nicht von Dauer sein. Was, wenn er dir nicht verzeiht, ihn zurück geschickt zu haben?“

„Wie gesagt, ich liebe ihn, was einschließt, dass ich ihn nicht festhalten werde, sollte er sich am Ende gegen mich entscheiden. Ich verdanke ihm mein Leben. Seine Verpflichtungen gegenüber dem Hause Varadin, mir gegenüber, sind mehr als ausgeglichen. Er ist frei zu gehen, wohin er will. Ich will, dass er glücklich wird. Mit mir, aber auch, wenn es sein Wunsch ist, ohne mich.“

Dieser verrückte Portugiese war immer wieder für eine Überraschung gut. Nach meinen etwas zu salbungsvollen Worten wurde ich von Christiano lange und sehr intensiv betrachtet. Dabei sprach er kein Wort, selbst seine Miene blieb ausdruckslos. Es war unmöglich, Christianos Gedanken zu erraten. Bis er plötzlich sehr dramatisch und sehr theatralisch vor mir auf die Knie ging und salbungsvoll verkündete: „Constantin, ich glaube, ich habe es dir viel zu selten gesagt. Wie jeder hier bin ich stolz und dankbar, ein Mitglied deines Hauses zu sein. Als Fürst unseres Hauses verehren wir dich. Du hast uns zu dem gemacht, was wir sind. Aber das ist alles unwichtig gegenüber dem, was ich tief im meinem Inneren für dich empfinde. Ich liebe dich! Bitte versteh mich nicht falsch. Ich begehre keinen Platz an deiner Seite, als dein Liebhaber oder gar Lebenspartner. Ich liebe dich als Constantin, nicht als den Fürsten Varadin oder zukünftigen König der Vampire. Verzeih, wenn meine Reden anmaßend sind, aber es ist das, was mich bewegt.“

Das mag ziemlich schwülstig geklungen haben, rührte aber einer unrühmlichen Tatsache. Die meisten Vampire sind arrogante Arschlöcher. Ein hartes Urteil, aber leider die reine Wahrheit. Ich kannte die Fürsten der anderen Häuser nur zu gut. Emotionen, Gefühle, Liebesbekenntnisse, wie Christiano sie gerade geäußert hatte, waren ihnen zutiefst zuwider. Wenn es eine Fünfkampfweltmeisterschaft in den Disziplinen Herablassung, Zynismus, Sarkasmus, Arroganz und Hochnäsigkeit gegeben hätte, hätten meine Brüder, abgesehen von den Nosferatu sämtliche vorhandenen Plätze belegt. Für einen Stammvater eines Hauses stellte emotionale Distanz eine der höchsten Tugenden dar. Bei jedem anderen Fürsten hätte Christiano für seine Liebeserklärung damit rechnen müssen, in den Kerker geworfen und ordentlich ausgepeitscht zu werden. Entsprechend ängstlich harrte er nun meiner Reaktion.

„Komm her, du verrückter Portugiese!“, rief ich Christiano zu, packte ihn am Arm und zog ihn zu mir hoch. Völlig verdattert fand er sich in meinen Armen wieder, stockte einen Moment den er brauchte, um zu begreifen was geschah, und begann sich dann an mich zu klammern.

„Beiß mich!“

Zurück ins Leben

Florian

Montag, 5:59 Uhr - ich lag wach in meinem Bett und starrte auf die roten Leuchtziffern meines Radioweckers. Seit Stunden gelingt es mir nicht einzuschlafen, bestenfalls für ein paar Minuten zu dösen. Zu viele Gedanken schwirren mir durch den Kopf, dass es mir nicht gelingt, auch nur einen davon zu fassen zu bekommen.

„Es ist 6:00 Uhr - Die Nachrichten“, plärrte das Radio los. Ich hörte nicht zu und begab mich lieber ins Bad, um zu duschen. Erstaunlich, was man mit etwas Kraft, Schrubber, Lappen und Putzmittel erreichen kann. Das Badezimmer blitze nicht nur vor Sauberkeit, es roch sogar frisch. Ich konnte einfach nicht über meinen Schatten springen und meinem Vater die gesamte Putzarbeit aufhalsen. Er wäre hoffnungslos überfordert. Der Mann wusste weder, wie man die Waschmaschine bediente, noch wie man mit dem Staubsauger umging. Seit Mutters Tod war ich es gewesen, der sich um den Haushalt gekümmert hatte. Ich hatte eingekauft, gekocht, geputzt und gewaschen. Schuldgefühle sind schon etwas tolles.

Um nicht in meine alten Verhaltensmuster zurück zu fallen, erteilte ich meinem Dad einen Crashkurs in Haushaltung und erstellte Putz-, Wasch- und Einkaufspläne, die die Aufgaben zwischen uns gerecht aufteilten. Der Mann murrte zwar, sah aber ein, dass es so wie bisher nicht weitergehen konnte. Erstaunlich, wo plötzlich so viel Einsichtsfähigkeit her kam.

„Ich hab' uns Frühstück gemacht.“

Mir wär fast das Handtuch aus der Hand gefallen, mit dem ich mir die nassen Haare abrubbelte, während ich in die Küche schlenderte, um mir einen Tasse Kaffee aufzubrühen. Da saß mein Vater an einem liebevoll gedeckten Frühstückstisch. Alles war da, frische Milch, Orangensaft, verlockend duftender Kaffee, Cornflakes, Brötchen, Marmelade und Wurst. Paps hatte sogar zwei Frühstückseier gekocht. Jetzt saß er auf seinem Platz und schaute mich halb ängstlich, halb erwartungsvoll an.

Ich war Baff und ließ meine Hände sinken. Da stand ich, nackt, nur mit einem weißen Badehandtuch um die Hüfte, einem zweiten Handtuch in der Hand und starrte auf meinen Vater und sein Frühstück. Der verzog sein Gesicht zu etwas, das entfernt an ein Lächeln erinnerte, aber eigentlich schien er mit seinen Gedanken ganz weit weg zu sein.

„Mein Gott, Junge!“, in den Augen meines Paps blitze emotionale Feuchtigkeit auf, „Du hast keine Ahnung, wie sehr du deiner Mutter ähnelst.“

„Ähm...“

„Auf eine männliche Art.“

Er lächelte! Mein Paps lächelte! Ich glaube, ich habe meinen Vater seit Jahren nicht mehr lachen gesehen. Er blinzelte, musterte mich von oben bis unten und meinte dann: „Florian, es tut mir Leid. Ich habe dich die letzten Jahre wirklich nicht gut behandelt.“ Mein alter Herr rang mit seiner Fassung. Mit verlegener, entschuldigender Miene fuhr er fort: „Ich seh dich an und mir wird plötzlich klar, dass du zu einem attraktiven jungen Mann herangewachsen bist. Mein Gott, als dein Vater müsste ich vor Stolz platzen, was aus dir geworden ist, aber ich schäme mich, weil ich mir rein gar nichts darauf anrechnen könnte.“ An dieser Stelle konnte Paps seine Tränen nicht mehr zurückhalten: „Bitte verzeih mir! Verzeih mir für alles, was ich dir angetan habe.“

Es kostete Überwindung. Wie mein Vater bereits selbst zugab, er hatte mir sehr viel angetan. Ein Frühstück reichte bei weitem nicht aus, um diese Dinge vergessen zu machen. Immerhin, es war ein Anfang. Wir brauchten Zeit, wollten miteinander ins Reine kommen, wozu auch gehörte, dass ich mir darüber klar wurde, was diese plötzlich Änderung bei meinem Vater und auch bei mir bewirkt hatte.

Wir machten uns über das Frühstück her. In entspannt lockerer Stimmung verzehrten wir unser Frühstücksei, ein Brötchen und ein paar Frühstückflocken. Der Griff zum Glas Orangensaft geriet zur Überraschung.

„Hmm, lecker! Hast du den etwa frisch gepresst?“

Paps zuckte nur schüchtern mit den Schultern und grinste verlegen. Ich strahlte glücklich. Der Saft schmeckte schon so wirklich gut, aber dass mir mein Vater eine kleine Freude bereiten wollte, ließ ihn gleich nochmal ein paar Stufen besser schmecken. So wie es aussah, wollte mein Paps mir wirklich beweisen, dass er sich geändert hatte.

So seltsam und gleichzeitig vielversprechend schön das Frühstück auch war, es musste zwangsläufig an dem Zeitpunkt enden, zu dem ich mich auf meinen Roller schwingen musste, um nicht zu spät zur Arbeit zu kommen. Nach ein paar Tagen, in denen ich noch krank geschrieben war, musste ich heute wieder meiner Brötchenerwerbstätigkeit nachkommen.

Obwohl ich die letzte Nacht fast kein Auge zugemacht hatte, fühlte ich mich erstaunlich frisch und munter. Bevor ich mich in meine persönliche Hölle namens Arbeitsplatz begab, suchte ich nochmals unser Badezimmer auf, um der Empfehlung Doktor Wegners folgend, meine unbekleideten Hautbereiche, wie Hände und Gesicht, mit einer speziell für mich angefertigten Lichtschutzsalbe einzucremen. Wenn ich den letzten Tests im Krankenhaus glauben konnte, hatte sich meine Lichtallergie nicht wesentlich verbessert, zum Glück aber auch nicht verschlechtert. Schnell noch die Zähne geputzt und es konnte endgültig losgehen.

„Hallo? Sind deine Eckzähne gewachsen?“

Irgendwo hatte ich mal gelesen, dass ein erstes Anzeichen für Demenz darin besteht, mit seinem Spiegelbild zu sprechen. Offenbar kultivierte ich eine vornehme Form der Demenz. Ich sprach mein Spiegelbild in der 2. Person Singular an.

„Hm, das ist doch...“

Einbildung! Beim zweiten Blick sah alles wieder normal aus. Obwohl... Ich hätte schwören können, dass meine Zähne eben noch länger und sogar spitzer waren. Vermutlich doch zu wenig Schlaf.

„Hast du alles? Hast du deine Sonnenbrille dabei?“, fragte mich mein Vater, der ebenfalls auf dem Sprung war.

„Ja! Und... danke für das Frühstück. Es war wirklich schön!“

Dass ich das nochmal erleben durfte. Mein alter Herr lief rot an, fuchtelte mit seinen Armen und meinte nur: „Schwirr ab!“ Ich war fast zur Tür raus, als er mir hinterher rief: „Warte! Hast du dich eingecremt? Gut! Aber deine Kopfhaut ist ungeschützt. Bei deinen blonden Haaren könnte die Sonne durchdringen. Hier...“

Paps reichte mir eine dunkle, dünne Strickmütze, die ich mit einem Danke sofort aufsetzte. An meinen Schädel hätte ich nie gedacht.

„Wow!“, meinte Paps, als er mich mit der Mütze sah. Ein Blick in den Spiegel und ich schloss mich ihm an: „Wow!“ Mit der Mütze auf dem Kopf und meinen blonden Strähnen, die links, hinten und rechts wild heraus quollen, sah ich ziemlich geil aus. Die gestrickte Kopfbedeckung milderte den Niedlichkeitsfaktor steigerte aber dafür die Coolness. Ich wirkte sogar etwas verwegen.

Zwanzig Minuten später stellte ich meinen Roller auf dem Werkshof meines Brötchengebers ab, zog den Helm vom Kopf und pflanzte mir sofort die Mütze und Sonnenbrille wieder auf. Selbst nach den paar Sekunden ohne Kopfbedeckung verspürte ich ein unangenehmes Brennen auf meiner Kopfhaut. Ein Punkt, den ich unbedingt mit meinem Arzt besprechen musste. Nicht, dass man mich nachher noch für einen Vampir hielt.


Ich hatte einen Plan. Aber wie es mit Plänen, besonders den gut durchdachten so ist, scheitern sie gerne mal. Mein Plan bestand darin, besonders unauffällig an meinen Arbeitsplatz zurückzukehren, am besten so, dass mich niemand groß bemerkte. Wie gesagt, der Plan scheiterte. Kaum hatte ich meinen Fuß in den Aufenthaltsraum gesetzt, der auch unsere Spinde beherbergte, wusste ich, dass mein Tag nicht so verlaufen würde, wie gedacht.

Ich hätte daran denken sollen, dass zu dieser Tageszeit Aufenthaltsraum, Umkleide, Werkstatt, Büro und Lager dicht bevölkert waren. Die mobilen Teams holten sich ihre Arbeitsaufträge und deckten sich bevor sie zum ersten Einsatzort fuhren noch mit Material und Werkzeug ein. Wie jeden Morgen herrschte geschäftige Hektik, die einen adäquat hohen Lärmpegel nach sich zog.

Bis ich durch die Tür trat.

Schlagartig wurde es totenstill. Sämtliche Gespräche verstummten. Alle Augen richteten sich auf mich. Ohne es zu wollen, war ich Mittelpunkt des Interesses. Ich fühlte, wie sie mich anstarrten. Wie sie sich vor Neugier verzehrten. Ich konnte ihre Fragen fast schon hören. Wo hat der Typ zwei Wochen gesteckt? Hat er versucht sich umzubringen?

„Moin!“, rief ich gut gelaunt in die Runde und löste damit die Starre, in die meine Kollegen verfallen waren. Statt sich aber mit mir zu unterhalten, wovon ich auch nicht ausging, nahm man seine bisherige Tätigkeit wieder auf, wenn auch wesentlich leiser und unruhiger. Statt lärmendem Chaos herrschte nun eher murmelnde Geschäftigkeit. Von Zeit zu Zeit wurde ich mit Blicken taxiert, die für mich verwirrende Emotionen in sich trugen.

Mit den neugierigen Blicken konnte ich gut leben. Wer konnte schon von sich behaupten, völlig frei von Neugier zu sein? Wenn ein Typ, der für zwei Wochen spurlos verschwindet und dann später ohne Erinnerungen wieder auftaucht keine Neugier wecken würde, was denn dann? Ich wäre verdammt neugierig. Ich war verdammt neugierig und hätte brennend gerne gewusst, was mir in den Wochen meines Verschwindens widerfahren war.

Schon etwas unangenehmer empfand ich hingegen die unverhohlen ablehnenden Blicke, jene Blicke, die ganz deutlich zeigten, dass man mich nicht mochte. Ihre Bandbreite reichte von simplen bösen Blicken bis zu unverhohlenem Hass, bei denen sich mir die Nackenhaare sträubten. Ich reagierte wie immer und schaute einfach weg. Was blieb mir auch anderes übrig?

Was die Sache dann aber seltsam machte, waren zwei andere Emotionen, die ich in den Blicken zu entdecken meinte, Furcht und ein schlechtes Gewissen. Weder passte sie in die aktuelle Situation, noch hatte jemals zuvor ein Kollege mir gegenüber Furcht gezeigt. Beide Gründe ließen mich anfangs auch zweifeln, ob ich tatsächlich sah, was ich meinte gesehen zu haben. Wäre es beim Einzelfall geblieben, ich hätte meinen Eindruck als Täuschung abgetan, doch es blieb nicht beim Einzelfall. Ganz im Gegenteil.

Ich hockte auf der Bank in der Umkleide und war gerade damit beschäftigt, meine Straßenschuhe gegen Sicherheitsschuhe zu wechseln, als mich Rüdiger, einer der Gesellen vorsätzlich und sehr schmerzhaft anrempelte, dass ich fast von der Bank geflogen wäre.

„Kannst du nicht aufpassen, du Arschficker?“, wurde ich angefaucht. Es ging also wieder los. Warum hätte sich in den drei Wochen meiner Abwesenheit etwas ändern sollen? Und was tat ich? Ich reagierte wie gehabt.

„Entschuldige...“, nuschelte ich reflexartig vor mich hin und bedachte Rüdiger mit einem eingeschüchtert, ängstlichen Blick. Dabei war mir alles andere als eingeschüchtert. Ich kochte vor Wut.

„Entschuldige? Glaubst du dass...“, blanker Hass funkelte in Rüdigers Augen, gleichzeitig, und das war seltsam, schien er mich aber auch zu fürchten. Die Angst war deutlich sichtbar. Eine gefährliche Kombination, die sich ganz leicht in Gewalt entladen konnte. Man konnte richtig sehen, wie sich Rüdiger in Rage brachte. Die Situation drohte zu eskalieren.

„Florian, könnten Sie bitte kurz in mein Büro kommen?“

Auftritt Chef mit der Wirkung eines Eimers kalten Wassers. Rüdiger zuckte zusammen, sah unseren Chef, riss sich zusammen und trollte sich.

„Ja, Chef, ich komme gleich.“, rief ich meinem Brötchengeber nach und beeilte mich, meine Schuhe anzuziehen.

Ein paar Minuten später stand ich vor meinem Chef in seinem Büro. Maximilian Niederreuter jr., der Engel des Firmengründers und aktuelle Chef des gleichnamigen Familienbetriebs war einer der wenigen Menschen, der mich immer freundlich, ja sogar liebevoll behandelte.

„Ah, Florian, nett, dass du gleich kommen konntest. Geht es dir wieder gut? Ich habe mir wirklich Sorgen gemacht, als du plötzlich verschwunden warst.“

„Doch, mir geht es gut.“, versicherte ich Herrn Niederreuter, „Ich könnte Bäume ausreißen.“

Mein Chef nickte anerkennend: „Du wirkst auch so, richtig kräftig und frisch.“ Niederreuter wurde ernst: „Und du kannst dich an nichts erinnern?“

Die Frage klang aufrichtig besorgt. So war mein Chef. Ihm lag das Wohlergehen seiner Leute sehr am Herzen, obwohl man dies nicht immer so recht zu schätzen wusste. Allerdings schwang etwas Niederreuters Stimme ein Unterton mit, der mich alarmierte. Er klang beunruhigt. So als ob er eine Idee entwickelt hatte, was vorgefallen war und nun nach Argumenten für deren Bestätigung oder Widerlegung suchte.

„Nein, gar nichts.“, versuchte ich zu erklären. Sollte ich meinem Chef ernsthaft von den seltsamen Träumen erzählen, die mich seit Tagen heimsuchten? „Es ist wie verhext. Irgendetwas muss passiert sein, aber alles, woran ich mich erinnern kann ist, dass ich den Auftrag bei Herrn Varadin abgeschlossen hatte und hierher zurückgekehrt bin, um mein Werkzeug zurückzubringen. Danach Filmriss. Das Nächste, woran ich mich wieder erinnern kann, ist das Krankenhaus, in dem ich aufwachte.“

„Ach ja, der Auftrag Varadin...“, Niederreuter schaute einen Moment versonnen vor sich hin, als wenn er sich an etwas Angenehmes erinnern würde, „Ich wurde von Herrn Varadin angerufen. Er wollte sich für die ebenso professionelle und perfekte Arbeit bedanken, die du bei ihm abgeliefert hast. Du hast mächtig Eindruck hinterlassen. Übrigens fühlte sich Herr Varadin genötigt, sich über Momsen zu beschweren. Er hätte dich sehr schlecht behandelt, dich sogar geohrfeigt. Stimmt das?“

Statt zu antworten, betrachtete ich lieber den Fußboden, ein wirklich schönes Echtholzparkett in klassischem Fischgrätmuster. Momsen mochte ein gemeines, brutales Arschloch sein, doch ich war noch lange keine Petze.

„Dein Schweigen ehrt dich. Du bist kein Denunziant. Herrje, ich weiß, was Momsen für ein Typ ist. Aber wenn er dich wirklich geschlagen hat, musst du mir das sagen. Ich kann nicht zulassen, dass einer meiner besten Gesellen gemobbt wird.“

Hatte ich richtig gehört? Ich war einer seiner besten Gesellen? Völlig erstaunt glubschaugte ich meinen Chef an.

„Jetzt glotz nicht so überrascht.“, lachte Niederreuter, „Glaubst du mir wäre nicht aufgefallen, wie du arbeitest, wie du mit Holz umgehst? Du bist ganz bei der Sache. Schusterst nicht einfach planlos etwas zusammen, sondern überlegst dir vorher genau, was zu tun ist und setzt es dann in die Tat um. Florian, du hast Respekt vor deinem Handwerk. Das ist heute selten zu finden.“

Da ich nicht so recht wusste, wie ich auf dieses Kompliment reagieren sollte, reagierte ich gar nicht und hielt verlegen meinen Mund. Niederreuter lachte.

„Und wieder deine schüchterne Bescheidenheit. Oh Florian, du bist einfach zu gut für diese Welt.“, mein Chef zupfte vorsichtig ein Blatt Papier unter einem Stapel anderer Papiere hervor, „Ich habe hier eine interessante Aufgabe für dich, die du probeweise als Obermonteur ausführen wirst. Sanierung und Rekonstruktion einer Kassettendecke in einem Landhaus. Ihr macht das zu viert. Als Obermonteur bist du der Boss und sagst wo es langgeht. Ich gebe dir zwei Gesellen und einen Azubi mit. Madaus und Keller kennst du. Der Azubi ist neu und schon ein wenig älter, Mitte zwanzig, und ein echter Problemfall, hat wohl schon ein paar Jobs geschmissen. Mich hat die Handwerkskammer gefragt, ob wir es im Rahmen einer Verbundausbildung mal mit ihm versuchen wollen. Da er Bildungsträger zwei Drittel des Gehalts trägt, sah ich keinen Grund, die Bitte abzuschlagen. Na ja, jetzt gehört er zu deinem Team. Ist ein freches Früchtchen, aber ich glaube, er wird dir gefallen. Und denk daran, du bist bei dem Job der Chef. Du sagst, wo es langgeht. Lass dich nicht unterbuttern.“

Niederreuter drückte mir noch eine Mappe mit den Plänen in die Hand und ich war entlassen. Etwas unentschlossen trotte ich von dannen. Mein Chef war wirklich ein hinterhältiger Hund. Erst schmierte er mir das Maul mit Honig voll, um mir anschließend eine reinzuwürgen. Und sei es auch nur, mich zum Boss von drei Idioten zu machen, die sich Kollegen schimpften. Ich kannte den dritten zwar noch nicht, aber bei meinem Glück war er genauso ein Arschloch, wie die anderen. Verdammt, je mehr ich über den Auftrag nachdachte, desto klarer wurde mir, dass ich scheitern würde. Nichts auf der Welt würde meine lieben Kollegen dazu bringen, auch nur einen Handschlag für mich tun. Zum Glück zählten Madaus und Keller nicht zu meinen primären Peinigern. Die beiden entsprachen eher den typischen Mitläufertypen, die nur dann eine große Klappe hatten, wenn sie sich auf die Unterstützung ihrer Gruppen verlassen konnten.

Obermonteur auf Probe? Nervös und unsicher, was mich erwartete, stiefelte ich in Richtung des Aufenthaltsraums, dem vermutlichen Aufenthaltsort meines Teams. Und genau dort fand ich sie auch, Jan Keller und Marco Madaus. Die beiden waren an sich keine schlechten Tischler, sondern standen unter dem schlechten Einfluss mancher Kollegen, welche zum Glück an diesem Morgen nicht anwesend waren. Am Tisch saßen sieben Kollegen, tranken Kaffee oder gönnten sich ein zweites Frühstück. Wie üblich wurde ich erst mal ignoriert. Erst, als ich nur noch einen halben Meter vom Tisch entfernt war, ließ man sich herab, mit mir zu kommunizieren.

„Ach, wen haben wir denn da?“, ließ sich Mario, einer der Gesellen herab, mich anzusprechen, „Und wir hatten uns schon Hoffnungen gemacht, dich endlich los zu sein.“

„Nicht doch!“, fiel Andreas, ein weiterer Geselle mit ein, „Unser Flo liebt uns doch. Nicht wahr, Flo?“

Ich ignorierte die obszöne Geste meines Kollegen und wandte mich direkt an Jan und Marco: „Ihr wisst, was die nächsten Tage ansteht?“

„Ja, natürlich!“, entgegnete Marco hör- und sichtbar gepestet, „Der Alte hat uns schon alles haarklein vorgekaut. Aber wenn du jetzt glaubst, du könntest den großen Chef spielen, dann hast du dich geschnitten! Von einem Schwanzlutscher lassen wir uns gar nichts sagen.“

Ich ignorierte auch diese Beleidigung und ging direkt zum nächsten Thema über: „Habt ihr den neuen Azubi gesehen?“

Auf diese Frage folgte immerhin keine Beleidigung. Jan beugte sich sogar ein wenig zurück, um sich besser im Raum umsehen zu können: „Öhm, eben war der noch da. Ah, da kommt er. War wohl grad für Königstiger.“

Ich drehte mich ebenfalls um, um Jans Blickrichtung zu folgen und wurde fündig. Shit!

Der Typ war der Hammer. Anders konnte man ihn einfach nicht beschreiben. Er war einfach Sex pur. Ich hätte niemals für möglich gehalten, dass eine Zimmermannscordhose ein hocherotisches Kleidungsstück sein kann. Dieser Typ belehrte mich eines besseren. Sie hing lässig niedrig auf seinen Hüftknochen, der Bund gefährlich niedrig, dass man fast meinte, die Schwanzwurzel erahnen zu können, steckte nicht ein einfaches, weißes T-Shirt ebenso lässig in seiner Hose. Doch das allerschlimmste war, der Typ wusste um seine Wirkung. Ich blickte ihm direkt in die Augen und wäre fast geschmolzen. Meine Knie fühlten sich plötzlich weich wie Butter an. Es wurde sogar noch schlimmer, ich glaubte, mein Herz würde aussetzen, als der Typ das frechste Lächeln aufsetzte, das ich je gesehen hatte.

„Jungs, das Klopapier ist alle!“, verkündete der Typ, schnappte sich einen Pott Kaffee und hockte sich mit an den Tisch. Völlig gebannt starrte ich ihm hinterher und zweifelte an meinem Weltbild. Unser neuer Azubi verströmte eine dermaßen intensive homoerotische Aura, dass ich keine Sekunde daran gezweifelt hätte, meine stockheterosexuellen Kollegen panisch das Weite suchen zu sehen. Nichts dergleichen geschah. Die blieben einfach sitzen, plauderten munter weiter und klopften dem Neuen sogar kumpelhaft auf die Schulter.

„Hey!“, riss er mich aus meiner Erstarrung, „Willst du dich nicht zu uns setzten?“

„Ähm...“, stammelte ich los, wurde aber von Andreas unterbrochen, der sich direkt an unseren Neuen richtete, „Ach nee, lass mal! Der brauch hier nicht sitzen.“

„Wieso das denn nicht? Der Typ ist doch nett?“, hakte der neue Azubi mit einem Ausdruck völligen Unverständnisses nach.

„Der Typ ist schwul!“, machte es Jan kurz und unterstrich seinen Punkt mit einer eindeutigen und recht obszönen Geste, die recht anschaulich einen Blowjob symbolisierte. Prompt ertappte ich mich bei dem verlockenden Gedanken, genau dies bei unserem Neuen einmal praktisch auszuprobieren.

„Schwul?“, rief der Typ und klang hocherfreut, „Bruder, komm in meine Arme. Ich hatte schon befürchtet, ich wäre die einzige Schwester in diesem Laden. Wie heißt du eigentlich? Ich bin Christiano.“

Ehre und Politik

Constantin

Knapp eine Woche zuvor lag Christiano in meinen Armen, klammerte sich sogar an mich und vernahm von mir die unerwartete Aufforderung, mich zu beißen.

„Was?“

„Du sollst von mir trinken. Natürlich nur, wenn du möchtest.“, wiederholte ich mein Angebot. Christiano lockerte seine Umklammerung und musterte mich mit einer Mischung aus Nachdenklichkeit, Überraschung und allgemeiner Verwirrung. Seine Reaktion war weder untypisch noch überraschend. Von demjenigen Vampir zu trinken, der einen selbst zum Vampir gemacht hat, stellt einen hochgradig emotionalen und intimen Akt dar. Intim ist dabei nicht mit Sex zu übersetzen, obwohl wie bei allen Vampirbissen ein erotischer Unterton immer mit hinein spielt. Viel mehr entspricht es der Erneuerung und Bestätigung der familiären Verbindung zwischen dem Stammvater und seinen Kindern. Christiano von mir trinken zu lassen, war ein Ausdruck purer Liebe, Vertrauen und Verbundenheit. Kein Wunder, dass der verrückte Portugiese ganz glasige Augen bekam und vor Glück strahlte.

„Halsschlagader?“, schlug ich ihm lasziv vor.

Christiano ließ sich kein weiteres Mal bitten. Hungrig leckte er sich über die Zähne, fuhr sie aus und biss zu. Oh, dieser Junge war wild, leidenschaftlich und voller Verlangen. Ich gab mich ihm hin, ließ mich fallen und genoss den Moment unserer Vereinigung.

Als Vampir von einem Vampir gebissen zu werden ist anders, als als Mensch gebissen zu werden. Es geht nicht darum sich zu nähren. Viel mehr geht es darum, die Essenz, das was einen zum Vampir macht zu teilen.

„Ahhhh!“, stöhnte Christiano, als er wieder von mir abließ, lächelte mir zu und fragte, ob ich mich bei ihm auch bedienen wollte. Natürlich wollte ich. Keine Sekunde später hing ich an seinem Hals und kostete von seiner Essenz, was bedeutete, dass sich Christiano mir völlig ergab. Im Gegensatz zu einem Stammvater wie mir, lag sein ganzes Wesen offen vor mir.

Wie jedes mal, wenn Vampire aneinander rumknabberten, blieb dies nicht ohne Wirkung. Ich bekam eine massive Erektion und konnte deutlich fühlen, dass es Christiano genauso ging. Ich beendete meinen Biss, zuzelte die letzten Blutstropfen von meinen Zähnen und grinste meinen Freund provozierend an.

„Was hältst du davon, wenn wir beide mal wieder ordentlich miteinander ficken?“

Ich weiß, diese Frage war bei Christiano eigentlich völlig überflüssig. Er wollte eh immer, von daher war sein lüsternes Grinsen nicht wirklich überraschend.

„Sehr viel!“, lautete dann auch die erwartete Antwort.


Manch einer könnte sich jetzt fragen, wozu Vampire überhaupt Sex miteinander haben. Schließlich pflanzen sich Vampire nicht im üblichen Sinne fort. Dies ist ein weit verbreiteter Irrtum, wenn auch ein verständlicher. Ich wurde von meiner Mutter geboren. Alle Stammväter des Hauses Varadin besaßen Eltern. Ich war schon immer ein Vampir. Allerdings muss man zugeben, dass wir uns sehr, sehr selten fortpflanzen, da nur wir vampirgeborenen fortpflanzungsfähig sind. Stellt sich weiterhin die Frage: Wozu Sex?

Die Frage ist einfach zu beantworten: Weil er Spaß macht und der Arterhaltung dient. Wir setzten Sex ein, um unsere Opfer zu bezirzen. Der Vergleich mit einer Venusfliegenfalle, den Florian gegenüber Christiano zog, war zwar nicht sonderlich schmeichelhaft, traf es aber eigentlich ziemlich gut. Natürlich brachten wir niemanden um, ganz im Gegensatz zur Fliegenfalle, die ihr Opfer verflüssigt.

Wir sind ziemlich gut, wenn es darum geht, jemanden zu umgarnen. Mit jemandem in die Kiste zu steigen, stellt immer noch einen der effektivsten Wege dar, sich entspannt seiner Halsschlagader zu nähern. Der mentale Lockruf, über den wir verfügen, verleiht uns faktisch unwiderstehliche Anziehungskraft. Und es ist ja auch nicht so, dass unsere Opfer nicht auf ihre Kosten kämen. Unser Körper ist zu erstaunlichen Leistungen fähig. Das Erregungsniveau eines Vampirs ist ungleich höher als bei einem Menschen, weswegen es meist ziemlich wild und heftig zugeht, wenn zwei Vampire sich aneinander austoben.

Christiano lag erschöpft in meinen Armen, den Kopf auf meine vollkommen zerkratzte Brust gebettet, deren Wunden aber bereits wieder am abheilen waren. Genauso wie Christianos Rücken, den ich ihm beim unserem letzten Ritt mit meinen Fingernägeln komplett zerfetzt hatte. Ich sagte ja schon, unser Lustempfinden ist extremer und faktisch unzerstörbare Körper lassen einige Spielarten zu, die kein Mensch unbeschadet überstehen würde. Aber selbst wir werden irgendwann müde. Nach vier Stunden zärtlichem bis brutalem Liebesspiel kuschelten wir uns aneinander und genossen einfach die Wärme und körperliche Nähe des anderen.

„Spuck's aus!“

Christianos plötzliche Wortmeldung kam überraschend. Dabei war nicht der Umstand, dass er etwas sagte überraschend, sondern dass er mich viel zu gut kannte. Trotzdem stellte ich mich erst einmal dumm. Das gehörte mit zum Spiel.

„Was?“

Statt sofort zu antworten, drehte sich mein alter Freund auf den Bauch, stützte sich mit einem Arm auf meinem Bauch ab und zwirbelte mit der anderen freien Hand versonnen an meinen Brustwarzen.

„Lass es!“, meinte er und kniff ordentlich zu, dass ich scharf aufjapste, „Du lässt mich von dir trinken, schläfst mit mir. Constantin, ich kenne dich viel zu gut. Du hast ein schlechtes Gewissen, was bedeutet, dass du einen Job für mich hast, der entweder gefährlich oder unangenehm ist. Vermutlich ist er sogar beides.“

Wo er Recht hatte, hatte er Recht.

„Mir geht das Attentat nicht aus dem Kopf.“, begann ich, Christiano meine Gedankengänge zu erläutern, „Wie konnten die Attentäter so genau wissen, dass ich in dem Auto saß? Das war keine zufällige Aktion. Die war geplant und vorbereitet. Laurentius Agenten haben den Tatort und den Hergang genau untersucht. Ihre Ergebnisse lassen nur einen Schluss zu. Die Täter wussten Bescheid. Sie wussten, wann ich das Haus verließ und sie wussten, in welchem Wagen ich sitzen würde. Beides stand aber erst wenige Minuten vor meinem Aufbruch fest.“

Christiano hörte aufmerksam zu. Man konnte sehen, wie sein Verstand arbeitete.

„Moment! Willst du etwa andeuten...“, mein Freund riss erstaunt und entsetzt seine Augen auf, „Wir haben einen Maulwurf in unseren Reihen.“

„Ich befürchte, ja.“, bestätigte ich niedergeschlagen, „Und ich beabsichtige, ihn ans Licht zu locken, wofür ich aber deine Hilfe benötige.“

„Was soll ich tun?“, rief Christiano eifrig begeistert, mir zu helfen.

„Warte und hör dir erst an, was ich zu sagen habe.“, versuchte ich, seine Begeisterung zu bremsen, „Im Moment steht das Haus Varadin nicht nur unter Schock, es herrscht auch Angst und Paranoia. In solch einer aufgebrachten Atmosphäre wird sich der Spion ruhig verhalten, bis sich die Lage wieder beruhigt. Nun, ich möchte ihm etwas bieten, damit er glaubt, er befände sich in absoluter Sicherheit. Einen Teil wird morgen Mittag Laurentius öffentliche Bestrafung dazu beitragen. Indem ich die Erwartungshaltung der anderen Häuser erfülle und eine ebenso grausame wie unreflektierte Züchtigung an meinem Marschall exekutieren lasse, wird man mich für einen autokratischen Herrscher halten, der mehr an Symbolen als an der Wahrheit interessiert ist. Allerdings wird das unseren Spion nicht wirklich beruhigen, dafür dürfte er zu intelligent sein. Deswegen werden wir der Öffentlichkeit einen weiteren Sündenbock präsentieren, nämlich dich.“

„Willst du mich auch... von der Sonne verbrennen lassen?“, fragte Christiano mit zitternder Stimme, „Ich werde es ertragen, wenn es dein Wille ist, aber...“

„Nein, mein wilder, treuer Christiano. Soetwas werde ich dir niemals zumuten.“, versicherte ich und zog meinen Freund und Weggefährten dichter an mich heran, „Ich plante, dich verbannen und aus unserem Haus ausstoßen zu lassen. Offiziell wird es heißen, dass wir miteinander in Streit geraten sind, wobei du dann auf mich losgegangen bist und angegriffen hast. Auf eine solche Tat steht eigentlich der Tod. Da ich aber wie allgemein behauptet ein schwacher Fürst mit weichem Herz bin, werde ich dein Todesurteil in lebenslange Verbannung umwandeln. Man wird dich auspeitschen und aus dem Haus schmeißen. Ohne den Schutz eines Hauses bist du vogelfrei und stehst allein. Außer mir und Laurentius wird niemand wissen, dass deine Verbannung nur vorgetäuscht ist. Du musst dich also selbst vor unseren Leuten in Acht nehmen, denn ich kann nicht garantieren, dass es der eine oder andere mit seiner Treue zu unserem Geschlecht nicht etwas zu gut meint. Die Sache wird sogar noch etwas schlimmer. Um den Maulwurf aus seinem Versteck zu locken, wird man unter der Hand das Gerücht verbreiten, du wärst der Verräter, man hätte dir nur nichts nachweisen können. Jeder deiner Freunde wird dich für den vermeintlichen Verrat hassen. Ich werde zwar den Befehl erlassen, dass man dich nicht anrühren soll, aber man weiß ja nie.“

Bevor ich weiter sprach, holte ich nochmals tief Luft und sah Christiano direkt in die Augen: „Diese Aufgabe ist kein Befehl. Nicht mal eine Bitte. Es ist nur ein Vorschlag, eine Idee, mit der wir vielleicht den Spion ausfindig machen können. Bitte, Christiano, fühle dich zu nichts verpflichtet. Wenn dir die Sache zu heiß ist, sag es. Dann suchen wir nach einer anderen Lösung.“

„Du kennst meine Antwort, sonst hättest du nicht gefragt.“, entgegnete Christiano, „Also gut, ich bin dabei.“ Christiano grinste frech: „Wann gedachtest du denn, mich zu verbannen. Sofort oder hätten wir noch etwas Zeit?“

„Du kennst mein Motto? Nichts überstürzen.“, erwiderte ich und schlang mich fester um diesen nimmer satten Vampir.


Ich wusste es. Die Stammväter der anderen Häuser und ihre Abgesandten wurden von Laurentius öffentlicher Bestrafung genau so angezogen, wie Motten vom Licht. Die Vollstreckung war für zwölf Uhr mittags angesetzt, einer Zeit, zu der sich meine werten Kollegen üblicherweise in ihren Särgen oder dunklen Schlafkammern lümmelten. Aber solch ein Ereignis konnte man sich einfach nicht entgehen lassen - Schönheitsschlaf hin oder her - insbesondere, wenn sich nebenbei noch die Gelegenheit bot, in zuckersüße Worte verpackte Gehässigkeiten zu verteilen.

Wie es sich für ein anständiges Haus mit einem der ältesten Stammbäume unter allen Vampirgeschlechtern gehörte, ließ ich alle Gäste herzlich willkommen heißen. Die meisten Vertreter trafen noch während der Nacht ein, sodass sich noch vor Sonnenanbruch eine erklägliche Festgesellschaft im kleinen Bankettsaal angesammelt hatte. Unwissende Zeugen der Veranstaltung hätten den Auflauf eher für einen Cocktailempfang, als die rituell formale Bestrafung eines hohen Angehörigen eines Hauses gehalten. Vielleicht hatte ich die Wirkung schlicht unterschätzt. Laurentius Bestrafung war ein gesellschaftliches Ereignis, wie mich mein Protokollchef wissen ließ, der ebenso spontan wie professionell alles organisierte. Der Bankettsaal war festlich herausgeputzt, kleine Appetithappen, Rotwein, Wasser und frische Blutkonserven standen bereit und wurden genüsslich konsumiert. Er wusste einfach, wie man derartige Veranstaltungen organisierte. Die Leute sollten sich nicht zu wohl fühlen, um nicht den Anlass des Zusammentreffens zu vergessen und das ganze für eine launige Party zu halten. Andererseits musste man dem Stand der Gäste Rechnung tragen. Eine Präsenz der Synode der Nosferatu war eben nicht Lieschen Müller. Man mag es verachten und verfluchen, aber wir Vampire bilden eine feudale Gesellschaft, in der Stand und gesellschaftliche Position alles ist.

Wobei die Nosferatu einzigartig sind. Sie stellen wohl die friedlichsten, spirituellsten Wesen dar, die mir bekannt sind. Die Sache hat nur einen Haken. So friedlich die Nosferatu sind, so hässlich sind sie auch. Sie haben so gar nichts menschliches an sich. Sie sind dürr, ihre Haut ist pergamentartig und von blassgrauer Farbe. Finger und Schädel sind sehr langgliedrig. Die gelblichen Augen liegen tief in den Höhlen und verleihen dem Gesicht die Aura eines Totenschädels, wobei aber die spitz zulaufenden Ohren diesem Eindruck entgegenwirken. Die Nosferatu sind nicht in der Lage, ihre Eckzähne einzuziehen, weswegen viele fürchterlich komisch lispeln. Sollte man als normal sterblicher Mensch in die Verlegenheit kommen, einem Nosferatu gegenüber zu stehen, sollte man es unbedingt vermeiden, über ihr Lispeln zu lachen. Die Typen sind sehr lieb und friedlich, aber beim Lispeln verstehen sie keinerlei Spaß.

Die Nosferatu leben zurückgezogen in verborgenen Klostergemeinschaften und nehmen wenig Einfluss auf die Politik. In gewisser Weise stehen sie neben den Häusern, was sich auch in ihrem Auftreten wiederspiegelt. Die Nosferatu sind zurückhaltend, fast schüchtern. Ihre Kleidung besteht aus schmucklosen, kaftanähnlichen Gewändern aus schlichtem, grauen Stoff. Nur am Revers findet man kleine Spangen, anhand denen man den Rang eines Nosferatu in seiner Klostergemeinschaft ablesen kann.

Wenn es innerhalb unserer Welt einen Kontrapunkt zu den Nosferatu gibt, dann sind es die Dracul. Auf sie passt noch am ehesten der Begriff des Operettenvampirs. Sie rennen zwar nicht mit roten Capes und schwarz gelackten Haaren herum, aber viel fehlte nicht. Da sich die Dracul als die besseren Vampire betrachten, fällt ihr Auftreten meist auch entsprechend herablassend aus. Es sind snobistische Arschlöcher, arrogant, sarkastisch und brandgefährlich. Wer schlau ist, kehrt ihnen niemals den Rücken zu.

Es existierte eine jahrhundertealte Blutfeindschaft zwischen dem Stamm der Kodiac- und der Draculvampire. Als letztes Haus der Kodiac waren die Varadins, also mein Haus der Intimfeind der Dracul, die gut fünf Häuser zählten. Entsprechend erfreut war ich immer, auf einen dieser Arschlöcher zu treffen.

Wenn ich schon von Arschlöchern spreche, sollte ich die Savoyer nicht vergessen. Sie leiten ihren Namen vom ehemaligen italienischen Königsgeschlecht ab, obwohl diese Verbindung nie belegt wurde. Die Savoyer sind... wankelmütig.

„Ah, Fürst Varadin!“, wurde ich als erstes von Fürst Kasimir zu Bronkovic einem Savoyer abgefangen, einem der schamlosesten Opportunisten, die ich kannte. Kasimir versprach jedem seine uneingeschränkte Gefolgschaft, Hauptsache er profitierte dabei. „Eine ärgerliche Angelegenheit. Jedermann kennt die Qualitäten Ihres Marschalls und fürchtet sie.“

Es begann. Fürst Bronkovic stichelte genau an der erwarteten Stelle. Natürlich sprach er es nicht direkt aus. Es reichte, dass er Laurentius Qualitäten erwähnte, um mir unter die Nase zu reiben, worauf ich die nächste Zeit verzichten musste. Einen zu Asche verbrannten Vampir wieder zu erwecken, war nicht wirklich schwer. Etwas Blut genügte. Allerdings macht es nicht einfach Poff, rauchte unheilschwanger und schwupps - Laurentius weilt wieder unter uns. Der Prozess erfordert Zeit. Die nächsten zwei bis drei Wochen musste ich ohne Marschall und vor allen ohne seinen Schutz auskommen.

„Ich wusste schon immer, dass Sie zu weich sind.“

Wer dies sagte, war niemand geringeres als Baron van Sanden, Stammvater des reinrassigsten Hauses der Dracul und intellektueller Vordenker derjenigen, die uns Vampire als überlegene Lebensform betrachteten und jeden anderen am liebsten versklavt hätten. Van Sanden hätte einen verdammt guten Nazi abgegeben. Sein dummes Gefasel von Blut und Rasse löste bei mir jedes mal wieder Übelkeitsanfälle aus.

„Für das Verbrechen Ihres Marschalls kann es nur eine Strafe geben, den Tod.“, verkündete van Sanden erhobenen Hauptes. Der Mann stand dabei so aufrecht, stramm und gerade, dass es jeden Kleiderständer vor Neid erblassen ließe und in eine Identitätskrise gestürzt hätte. Mit einem Maximum an Blasiertheit fuhr mein spezieller Freund fort: „Aber es wundert mich, derartige Nachsicht in einem Haus anzutreffen, dessen Stammvater... Ein Sonnenbad? Lächerlich!“

Ach ja, der alte Trick mit den abgebrochenen Sätzen. Jeder sollte glauben, dass für van Sanden meine Verfehlung so abgrundtief scheußlich war, dass er sie einfach nicht aussprechen konnte. Sie war unaussprechlich scheußlich. Was für billige Jahrmarktsrhetorik.

„Aber Baron, seien Sie gegenüber unserem jungen Freund nachsichtig.“, mischte sich Graf Breskoff ein, „Seit wann ist Vergebung und Verzeihen eine Schwäche?“

„Natürlich haben Sie Recht, eure Majestät!“, presste sich van Sanden ab, der nicht meinte was er sagte, unserem König aber nicht widersprechen wollte.

Breskoff sah wirklich schlecht aus. Das Gift hatte fast seine volle Wirkung entfaltet. Ihm blieb nicht mehr viel Zeit, seine Angelegenheiten zu regeln. Dies war wohl auch der Grund, warum er die Mühe auf sich genommen hatte, um auf Laurentius Bestrafung zu erscheinen.

„Verehrter Baron van Sanden, Sie gestatten sicherlich, wenn ich Ihnen unseren lieben Constantin kurz entführe?“

Breskoffs Frage war nur höflich gemeint, es war alles andere als eine Bitte. Van Sanden musste dies und parierte, wenn auch widerwillig.

„Selbstverständlich, eure Majestät.“

Normalerweise galt es als Affront, als Gastgeber die Gesellschaft zu verlassen. In Begleitung des Königs hingegen, zeigte jeder Verständnis dafür, worauf sich Breskoff und ich kurze Zeit später in meinem Büro gegenüber saßen.

„Mein Junge, das war ein schlauer Schachzug.“, lobte mich Graf Vladimir Breskoff, „Du hörst es vermutlich ständig, aber dein Vater wäre stolz auf dich. Ich muss gestehen, ich hätte nicht gedacht, dass du wirklich die Härte aufbringst, ein derartiges Urteil zu verhängen. Du weißt, was du Laurentius zumutest?“

„Oh ja, Onkel Vladimir, das weiß ich ganz genau.“

Der alte, sterbenskranke Mann lächelte dankbar, denn er war nicht wirklich mein Onkel. Ihn und meinen Vater verband eine tiefe und enge Freundschaft. Unsere Häuser waren seit Jahrhunderten alliiert. Man sorgte und unterstützte sich gegenseitig. So war es niemand geringeres als Graf Breskoff, der mich aufnahm, nachdem man meinen Vater ermordet hatte. In seinem Haus lernte ich alles über Politik, unsere Herkunft, die Häuser, die Allianzen und Feindschaften. Natürlich wurde mir auch praktisches Wissen, wie Kampfeskunst und die Führung eines eigenen Hauses vermittelt. Für Breskoff war ich stets der Sohn, den er aus verschiedenen Gründen nicht haben konnte. Es war eine gute Zeit, vielleicht sogar die Beste, die ich sorgenfrei und unbeschwert in seinem Haus verbrachte. Später, als ich alt genug war, half mir Breskoff dann, mein eigenes Haus zu führen, und so wurde das Haus Varadin gleichzeitig zum ältesten als auch jüngsten Haus aller Vampire.

„Onkel Vladimir... ach Constantin, wie lange habe ich diesen lieben Namen nicht mehr gehört.“, seine Stirn zog sich in Falten, „Aber vorher weißt du... ach ja, natürlich, dein kleiner, wilder Christiano. Stimmt, du weißt genau, was du tust. Entschuldige, dass ich eine Sekunde an dir gezweifelt habe.“

„Es gibt nichts zu entschuldigen. Du weißt, dass ich mit derartigen Dingen nicht prahle oder hausieren gehe. Es ist meine Schande, Christiano nicht vor dem Vampirjäger beschützt zu haben, genauso wie es meine Schande ist, Laurentius eine derartige Qual zuzumuten. Ich hoffe, er wird mir verzeihen.“

„Verzeihen?“, Vladimir lachte hell auf, „Er ist stolz auf dich! Das garantiere ich dir. Ich kenne den alten Haudegen. Mit deiner Entscheidung hast du dich in seinen Augen als wahrer Fürst bewiesen, womit wir zu der Sache kommen, weswegen ich dich privat sprechen wollte. Hier nimm!“

Mit diesen Worten drückte mir Graf Breskoff einen schweren, goldenen Siegelring in die Hand.

„Ich sterbe. Daran lässt sich nichts ändern. Außerdem ist es nicht wirklich schlimm. Meine Zeit war eh vorüber. Ich habe mein Leben gelebt. Ehrlich, ich war schon vor dem Giftanschlag müde und des Lebens überdrüssig. Siebzehnhundert Jahre sind eine lange Zeit. Wenn es also einzig nach mir ginge, wäre alles in bester Ordnung. Aber es geht nicht nur um mich. Ich trage auch Verantwortung für die Zukunft meines Hauses. Du weißt, ich habe keine Nachkommen und deswegen auch keinen Stammhalter, deswegen wollte ich dich bitten, nach meinem Tod Stammvater des Hauses Breskopol zu werden. Eine Vereinigung der Häuser hat es selten gegeben, steht aber nicht im Widerspruch zu unseren Gesetzen. Ich habe jeden meines Hauses gefragt, was sie von dieser Idee halten. Alle sind einverstanden, schließlich kennen dich die meisten noch als Jungspund, der bei uns durchs Schloss tobte. Was du da in deiner Hand hältst ist mein Siegelring, das Symbol des Hauses Breskoff.“

„Das ist eine große Ehre, Onkel Vladimir.“, stammelte ich überrumpelt. Wie reagiert man, wenn einem mir nix dir nix, die Verantwortung über ein ehrwürdiges Haus aufs Auge gedrückt wird? „Aber ich...“

„Papperlapapp!“, unterbrach mich der Alte, „Mir ist schon klar, dass ich dir einen beschissenen Haufen Verantwortung aufhalse, den du überhaupt nicht gebrauchen kannst. Leider ist es die einzige Möglichkeit, mein Haus zu retten. Vielleicht kann ich es dir dadurch schmackhaft machen, wenn ich dir unseren Kontostand sage.“

„Vergiss es. Geld ist ein Werkzeug, kein Selbstzweck. Natürlich erfülle ich dir deinen Wunsch. Außerdem hättest du mich nicht gefragt, wenn du meine Antwort nicht vorher gekannt hättest. Unsere Häuser haben sich immer gegenseitig gestützt. Wenn es also dein Wille ist, gehe ich die Verbindung ein. Das Haus Breskoff-Varadin? Klingt gar nicht mal schlecht.“

„Recht so!“, krächzte Graff Breskoff zufrieden, „So, und jetzt kannst du mir ein Glas Blut einschenken. Danach will ich Laurentius sprechen, bevor wir ihn einäschern. Allein! Als zukünftiger Stammvater unserer beiden Häuser ist es besser, von bestimmten Dingen nichts zu wissen.“

Sonnenschein

Laurentius befand sich in seiner Wohnung. Andere Fürsten hätten ihn wahrscheinlich in Ketten gelegt und bis zu seiner Bestrafung in einem Verlies weggeschlossen. Als wenn dies einen Unterschied machen würde. Mir ging die ganze Sache sowieso gegen den Strich. Nach meiner Überzeugung hatte sich Laurentius keines Verbrechens schuldig gemacht. Ihn zu bestrafen, war das Verbrechen. Mich dazu zu bringen, es zu tun, war das Verbrechen. Doch mir blieb nichts übrig. Wir waren Opfer eines Systems, das Konventionen und Rituale über Recht und Wahrheit stellte.

Vladimirs Unterredung mit Laurentius zog sich mehr als eine Stunde hin. Am Ende war es halb elf, noch anderthalb Stunden bis zum Höhepunkt der Veranstaltung.

„So!“, verkündete Vladimir, „Ich werde mich dann mal wieder unter das sensationslüsterne Volk mischen und den Grüßaugust mimen. Constantin, dir ist schon klar, dass dies heute deine Feuerprobe sein wird. In ein paar Tagen wirst du König aller Vampire sein. Man wird peinlich genau darauf achten, wie genau du das Protokoll einhältst.“

„Was, soll ich Laurentius noch mehr demütigen und ihn in Ketten vorführen?“

„Nein!“, meinte Onkel Vladimir entschlossen, „Beweise deine Stärke, indem du dich nicht irgendwelchen dummen Konventionen beugst. Keines unserer Gesetze schreibt vor, dass du Laurentius fesseln oder gar in Ketten legen musst. Es verlangt nicht einmal, ihn als Gefangenen zu betrachten. Betrachte es mal aus folgender Perspektive: Stimmt es, dass du Laurentius gebeten hast, seine eigene Bestrafung vorzubereiten?“

„Ähm, nun ja...“, war das ein Fehler? „Er kennt sich am besten mit unseren Gesetzen aus. Ich wusste, dass wenn er alles organisiert, es keine Fehler geben würde. War das falsch?“

„Oh nein!“, der alte, ausgebuffte Vampir grinste hinterhältig, „Ganz im Gegenteil. Du zeigst Rückgrat. Das wird zwar nicht reichen, aber das werden wir später noch ändern. Als König erwartet man, dass du dich unabhängig verhältst. Einzig unsere Gesetze sind für dich bindend und heilig, worüber die Synode der Nosferatu wacht. Weißt du, dass dir van Sanden deine Härte neidet?“

„Härte? Wovon redest du?“

Und wieder blitzte Breskoffs süffisantes Grinsen auf: „Ich habe mir schon gedacht, dass du es nicht verstehst. Wie die meisten Dracul glaubt van Sanden, dass man ein Haus nur mit Härte führen kann. Ganz in Lenins Sinne, dass Vertrauen zwar ganz nett ist, sich aber niemals durch strenge Kontrolle ersetzen kann, sind sie Meister des Mikromanagement. Eigeninitiative wird weder erwartet noch erwünscht.“

„Das ist mir bekannt.“, erwiderte ich, „Ich kenne van Sandens Attaché. Der geht nicht mal allein aufs Klo, ohne es sich vorher genehmigen zu lassen. Was ich völlig pervers fand war, dass der Mann seine Unselbständigkeit für völlig normal hielt.“

„Das ist sie auch - für einen Dracul. Du musst ihm und seinen Leuten nachsehen, dass sie nicht anders können. Es ist ein fester Bestandteil ihrer Tradition. Genau das ist der Grund, warum er dich bewundert. Obwohl er weiß, dass du charakterlich völlig anders gestrickt bist, hält er es für größte Führungsstärke, einen Untergebenen dazu zu bringen, willig und einsichtig seine eigene Sonnenverbrennung vorzubereiten.“

Von einer Sekunde zur anderen fühlte ich mich fürchterlich schwach, klein und alles andere als geeignet, zwei Häuser zu führen, geschweige denn die Königswürde zu tragen. Natürlich blieben Vladimir meine Selbstzweifel nicht verborgen. Er lächelte wieder einmal, dieses mal jedoch in freundschaftlicher, väterlicher Nachsicht: „Du schaffst das. Du solltest eins niemals vergessen: Von allen Fürsten, Baronen oder Grafen unserer Art, halte ich dich für den einzigen, der qualifiziert und weise genug wäre, die Bürde zu tragen. Bleib einfach so wie du bist. Lass dich nicht verbiegen. Du bist der König. Du bist niemandem Rechenschaft schuldig.“

Die Worte Graf Breskoffs mochten nach Plattitüden, Allgemeinplätzen und Standardphrasen klingen, waren es aber nicht. Ganz im Gegenteil, weswegen ich auch nichts entgegnete. Vladimir nickte, erhob sich mühsam von seinem Sessel, legte mir seine Hand auf die Schulter und ging, während ich tief in Gedanken versunken sitzen blieb.


11:00 Uhr - eine Stunde hatte ich in meinem Sessel vor mich hin gegrübelt. Jetzt war es Zeit, sich wieder zu den Gästen zu begeben, doch vorher wollte ich Laurentius einen letzten Besuch abstatten. Ich fand ihn in seiner Wohnung hinter seinem Schreibtisch an seinem Computer arbeitend. Als er mich hörte, schaute er auf und sah mich direkt an.

„Ist es soweit?“

Ich schüttelte den Kopf, bekam aber kein Wort raus. Laurentius hielt amüsiert seinen Kopf schief.

„Du siehst fürchterlich aus!“, meinte mein Marschall, „Gewissensbisse?“

Vladimir mochte mich für einen guten Fürsten halten. In diesem Moment war ich ein lausiger, der keine Silbe über seine Lippen brachte, was Laurentius amüsierte. Er lehnte sich in seinem Bürostuhl zurück, verschränkte die Arme vor seiner Brust und grinste mich herausfordernd an, was bei ihm einer Revolution gleichkam. Laurentius lächelte eigentlich nie. Er verstand auch so, was mich bewegte.

„Danke, Constantin.“, Laurentius wurde sehr leise, „Ich weiß, dass dir die ganze Strafgeschichte zuwider ist und du es verabscheust, mir etwas derartiges zumuten zu müssen. Ich bin ehrlich zu dir. Ich könnte mir ebenfalls einen angenehmeren Zeitvertreib vorstellen, als von der Mittagssonne zu Asche verbrannt zu werden. Es ist eine wirklich unangenehme Erfahrung, aber es wird unsere Position, deine Position innerhalb der Häuser stärken. Diejenigen, die uns angegriffen haben, werden sich eine Weile zurückhalten und zweimal überlegen, bevor sie wieder zuschlagen. Das verschafft uns etwas Zeit.“

„Der ewige Stratege...“, seufzte ich anerkennend. Das Problem mit Laurentius war, dass man ihm einfach nicht danken durfte. Er empfand so etwas als pathetische Gefühlsduselei und beleidigend. Er war ein Marschall, ein Kämpfer, ein Meister der Kriegskunst, der sich ohne zu zögern in sein Schwert stürzen würde, ergebe sich dadurch ein strategischer Vorteil. „Kann ich noch irgendetwas für dich tun, bevor...?“

Wieder lächelte Laurentius. Offenbar ging ihm die Sache doch ein wenig an die Nerven.

„Wie wär's mit einer Tube Sunblocker?“, scherzte der Mann, „Nein danke. Ich habe alles, was ich brauche. Ich habe nur eine Bitte. Schau hin, wenn es passiert! Sieh dir an, was sie uns antun! Wende deinen Blick nicht ab. „


Es war viertel vor Zwölf. Die Unruhe unter den Gästen stieg. Man konnte es daran erkennen, dass die Gespräche verstummten und gebannter Erwartung wichen. Bedeutungsschwangere Blicke wurden gewechselt. Vampirfürsten musterten Breskoff. Jede Regung unseres Königs wurde analysiert. War er mit meiner Entscheidung einverstanden? Entsprach der Rahmen dem Anlass? Wen schaute Breskoff an und warum? Die Spannung in der Luft war fast greifbar. Van Sanden schaute ständig auf seine Taschenuhr. Während er Baron Bronkovic sich zum hundertsten mal die Stirn mit einer Serviette abtupfte. Welch affiges Getue. Vampire schwitzen nicht.

Und dann betrat Laurentius den Bankettsaal. Ein Raunen ging durch die Reihen der Gäste, angesichts seiner fast schon impertinenten Selbstsicherheit. Ich hatte Mühe, ernst zu bleiben. Dieser Mann wusste einfach, wie man Typen des Kalibers von van Sanden stilvoll provozierte. Ein Blick aus dem Augenwinkel bestätigte mir, dass Vladimir die Szene ebenfalls genoss.

„Marschall Laurentius des Hauses Varadin meldet sich zum Empfang seiner Bestrafung und bittet um Vergebung seiner Verfehlungen.“, verkündete eben jener Laurentius sehr förmlich. Ich kannte den weiteren Ablauf. Mein Marschall hatte es sich nicht nehmen lassen, mir ein Memo mit dem exakten Prozedere zukommen zu lassen.

„Das Haus Varadin akzeptiert die Bitte.“, intonierte ich die rituelle Formel. Ich hasste es, von mir in der dritten Person zu sprechen. Es war albern und wirkte aufgeblasen.

„Eure Majestät“, adressierte ich Vladimir Breskoff, „Seid mein Zeuge. Mit Vollstreckung der Strafe sei jede Schuld des Marschall Laurentius des Hauses Varadin getilgt. Laurentius des Hauses Varadin ist ein ehrenwerter Mann. So sage ich, Fürst Constantin, Stammvater des Hauses Varadin.“

Wer denkt sich solche Dialoge aus? Ich war kurz davor, mit Laurentius die Plätze zu tauschen. Noch mehr von diesem Operettengelaber, und ich wäre geplatzt. Die ganze Szene wäre vollkommen absurd und lächerlich gewesen, wäre das ganze nicht bitterster Ernst.

„Ich höre dich, Constantin, Stammvater des Hauses Varadin.“, erwiderte Vladimir im gleichen bombastischen Operettenduktus, bis ich plötzlich ein diabolisches Blitzen in seinen Augen entdeckte. Der alte Mann hatte etwas vor.

„Ziehen wir die Schwachsinnsaktion also durch, ja?“, fragte der König aller Vampire zuckersüß und schaute sich mit einem spitzbübischen Grinsen um, „Oh bitte, gebt euch keine Mühe, zu antworten. Die Antworten von Heuchlern sind selten die Mühe wert.“

„Wie kannst du es wagen...“, zischte van Sanden und übte sich wieder einmal in der Kunst der unvollendeten Sätze, „Breskoff, du stehst nicht über dem Gesetz und hast kein Recht, die Bestrafung dieses... Subjekts zur Farce verkommen zu lassen!“

Wie macht er das? Die Art und Weise, wie er dem Wort „Subjekt“ einen Hauch von Ekel verlieh, war höchste Theaterkunst.

„Farce?“, quietschte Vladimir schrill auf, „In der Tat. Genau das ist es! Eine Farce. Wenn mich meine alten, müden Augen nicht täuschen, haben sich sämtliche Häuser hier versammelt, um Laurentius Bestrafung beizuwohnen, was zwangsläufig heißt, dass mindestens ein Haus in diesen Raum, für den hinterhältigen und feigen Anschlag auf Constantin verantwortlich ist. Statt Laurentius müsste einer von euch ein Sonnenbad nehmen.“

Auf den Punkt getroffen. Erstaunlich, wie es den meisten Leuten, Menschen wie Vampiren gelingt, Offensichtlichkeiten aus ihrer Wahrnehmung auszublenden. Es war so bequem, den unbeteiligten Beobachter zu spielen und die ganze Veranstaltung als morbides Schauspiel zu betrachten. Eine zünftige Vampirverbrennung gab es selten, und noch seltener mit so hochgestellten Persönlichkeiten wie dem Marschall eines angesehenen Hauses. Man konnte sehen, wie dieses dekadente Pack die Inszenierung genießen wollte, von einigen Ausnahmen abgesehen. Als guter Grüßaugust Graf Breskoff dem Ganzen den feierlich, aristokratischen Zuckerguss aufsetzte. Nur spielte Breskoff nicht mit. Ganz im Gegenteil nahm er sie in die Verantwortung für das was geschehen war und was noch geschehen würde.

„Ich bin noch nicht tot, noch nicht. Wenn ihr wollt, könnt ihr meine Worte als den Fieberwahn eines alten, vergifteten Vampirs abtun, trotzdem werde ich sagen, was gesagt werden muss. Einige von euch wollen den Krieg, wollen den 1200 Jahre alten Frieden aufkündigen, der unserem Volk bisher das Überleben gesichert hat. Nun, ihr müsst tun, was ihr für richtig haltet, aber sagt nicht, ich hätte euch nicht gewarnt. Ihr beschreitet den Weg eurer eigenen Vernichtung. Wenn ihr also gleich zuseht, wie Laurentius in Flammen aufgeht und zu Asche verbrennt, schaut genau hin. Es könnte euer eigenes Schicksal sein, das ihr seht. Nur dass niemand da sein wird, euch wieder zu erwecken.“

Der alte Knabe hatte es wirklich in sich. Eine fallen gelassene Stecknadel hätte beim Aufschlagen auf den Boden ohrenbetäubend gescheppert, so still war es geworden.

„Laurentius?“, wandte sich König Vladimir, Stammvater des Hauses Breskoff an seinen Marschall und Freund, „Es ist Zeit.“

Laurentius nickte stumm. Äußerlich wirkte er vollkommen unberührt. Wer konnte schon wirklich wissen, was in Laurentius Kopf vorging. Allerdings hatte ich für einen ganz kurzen Moment den Eindruck, als wenn Breskoff und Laurentius irgendwelche Blicke miteinander wechseln würden.

Die Regeln der Bestrafung verlangten, dass sich der Delinquent vollständig entkleidete, was mein alter Freund langsam, konzentriert und würdevoll tat. Es war typisch Laurentius, keine unnötigen oder gar ausladenden Gesten. Er legte seine Weste ab, köpfte sein Hemd auf und legte es säuberlich zusammen, es folgten Schuhe, Hose, Strümpfe und schließlich der Slip. Ich hatte meinen Marschall noch nie nackt gesehen. Erstens war er nicht schwul, das vermutete ich jedenfalls, und zweitens war er der engste Freund und Vertraute meines Vaters gewesen, sodass sich mein Interesse an ihm auf eine rein platonisch freundschaftliche Liebe beschränkte. Trotzdem musste ich schlucken. Ich hatte selten einen über achthundert Jahre alten Vampir gesehen, wie ihn. Der Mann strotzte vor Kraft. Jeder Renaissaincebildhauer hätte sich die Finger nach ihm geleckt. Ein Körper wie eine Skulptur.

Ich musste kurz meine Fassung verloren haben, denn Laurentius ließ ganz kurz den Hauch eines süffisanten Grinsens aufblitzen, als sich unsere Blicke kreuzten.

„Ich bin bereit!“, erklärte Laurentius. Mir wurde mulmig. Ich hatte das Gefühl, meinen besten Freund aufs Schafott zu schicken, denn obwohl ich ihn wenig später wieder erwecken würde, war das „Sonnenbad“ eine Form der Hinrichtung, wenn auch nicht endgültig. Mir kamen Zweifel, ob ich wirklich das richtige tat.

„Das kannst du nicht tun!“, schrie plötzlich eine Stimme, die ich nur zu gut kannte. Obwohl nicht eingeladen, kam Christiano in den Festsaal gestürmt und schrie mich vor der gesamten Gesellschaft an, „Laurentius ist ein Freund. Wie kannst du zulassen, dass eines dieser intriganten Schweine dich dazu zwingt, ihm etwas derart grausames anzutun?“

„Christiano schweig!“, fauchte ich ihn an, dachte ich doch, das Thema sei geklärt.

„So ist das also“, erwiderte Christiano enttäuscht, „Und ich dachte, ich würde dich lieben! Herr Varadin, ich verachte Sie!“

Sprachs und rotzte mir ins Gesicht. Ein entsetztes Raunen erfasste die Gesellschaft. Ich spürte ihre Blicke. Ich spürte ihre Erregung, wie sie sich lustvoll im offen ausgetragenen Zwist im Hause Varadin suhlten. Gierig reckten sie ihre Hälse. Wie würde ich auf eine derartige Impertinenz reagieren? Impertinenz? Das war doch viel schlimmer. Eine Herabwürdigung des Hauses. Eine Entehrung!

„Bringt ihn weg. Sperrt ihn in eine Zelle!“, befahl ich kalt. Christiano hatte mich enttäuscht. Ich wusste, dass ihm die Verbrennung nahe ging, aber mich vor den anderen Häusern derart bloßzustellen war unverzeihlich. Doch eine Sache nach der anderen. Zuerst musste die unsägliche Geschichte mit Laurentius erledigt werden.

Sobald die Wachen Christiano abgeführt hatten, wandte sich die Aufmerksamkeit wieder mir und Laurentius zu. In der Zwischenzeit hatte ich mir die Spucke meines Exfreundes aus dem Gesicht gewischt.

„Wie es aussieht“, bemerkte ich mit größtmöglicher Nonchalance, obwohl es in mir kochte, „Werden wir bald erneut das Vergnügen haben, einem Sonnenbad beizuwohnen. Scharfrichter, walte deines Amtes.“

Ein Vampir meiner Wachtruppe war von Laurentius eigens für die Aufgabe ausgewählt worden, sein Scharfrichter zu sein. Das war typisch für den Marschall des Hauses Varadin. Er überließ nichts dem Zufall. So oblag es dem Mann nicht nur, die eigentliche Exekution durchzuführen, sondern anschließend auch Laurentius Asche zusammenzufegen und in einer Urne zu deponieren. Niemand wollte, dass später etwas fehlte. Je mehr Asche zur Verfügung stand, desto einfacher war die Wiedererweckung. Man sollte es eigentlich niemanden erzählen, aber für die letzten Reste hatten wir sogar einen Staubsauger umgebaut, den wir allerdings vor den Augen der Gäste verborgen hielten. Die Sache war auch schon so morbide genug.

Der Wachmann geleitete Laurentius zur der eigens für diesen Anlass vorbereiteten Exekutionskammer und erweckte dabei einen Eindruck, als wenn nicht Laurentius, sondern er Ziel der anstehenden Bestrafung wäre. Das war wieder so ein Ding, in dem wir uns von anderen Häusern grundlegend unterschieden. Die Marschälle der anderen Häuser wurden von ihren Untergebenen zumeist gefürchtet, bestenfalls respektiert. Ich habe Berichte gelesen, nach denen es offenbar allgemein üblich war, bereits kleinste Verfehlungen mit schwersten Strafen zu ahnden. Während wir zwei Tage brauchten, um extra einen geeigneten Raum für die Einäscherung anzufertigen, soll es etwa in den Häusern der Dracul zu regelmäßigen Massensonnenbädern kommen. Laurentius meinte einmal, dass es im Haus der van Sandens üblich sei, sich durch Zeigen von gestreckten Fingern zu begrüßen, wobei deren Anzahl der der eigenen Verbrennungen entspräche. Drei Finger hießen dreimal zu Asche verbrannt worden zu sein. Angeblich steige das Ansehen mit der Zahl der erhobenen Finger.

Man könnte sagen, die Dracul kultivierten einen durch und durch autoritären Führungsstil. Ich vermute, hätte man einen der Wachmänner der Dracul mit der Aufgabe betraut, den eigenen Marschall zu Einäscherung zu führen, hätte man einen überaus zufriedenen Gesichtsausdruck beim ausführenden Henkersmeister beobachtet. Ganz anders bei Laurentius Leuten. Ich sage ausdrücklich Laurentius Leuten, denn obwohl ich ihr Fürst und Herrscher war und ihre uneingeschränkte Loyalität genoss, war es Laurentius, den sie liebten und verehrten. Er genoss Autorität, ohne dabei autoritär sein zu müssen. Laurentius strafte nie. Es war einfach nicht nötig. In keinem unserer Residenzen gab es Kerkerzellen, geschweige denn Folterkammern. Ich glaube, die drakonischste Strafe, die Laurentius jemals verhängt hat, waren drei Wochen Fernsehverbot.

„Wartet!“, rief ich dem Wachmann zu, „Ich werde es tun. Es war mein Urteil, den Marschall meines Hauses zu bestrafen. Es ist meine Verantwortung, die ich auf niemanden abwälzen kann.“

Täuschte ich mich oder blitzte in Breskoffs Augen Zufriedenheit auf? Offenbar war der alte Mann mit meiner Handlung einverstanden. Der Wachmann, ein ganz junger Vampir war es jedenfalls. Der Ausdruck von Erleichterung in seinem Gesicht war unübersehbar, allerdings auch die Angst, ich könnte ihn als Versager ansehen. Ich ging zu ihm, klopfte ihm auf die Schulter und raunte ihm „Kein Angst, Simon. Es wird alles wieder gut.“ zu. Der Jungvampir starrte mich verdattert an, weil ich seinen Namen kannte. Sagen tat er nichts, sondern nickte nur, worauf ich ihm etwas zuflüsterte: „Du musst mir gleich dabei helfen. Ich weiß nicht, wie die Sache funktioniert.“

Wieder sagte er nichts sondern nickte nur. Ich ging weiter und erreichte Laurentius, der geduldig vor dieser fürchterlichen Kammer wartete. Das Prinzip war relativ einfach. Eigentlich war es nur eine Box mit einer doppelt gesicherten Doppeltür, die mit Sonnenlicht geflutet werden konnte, indem zwei Lamellenjalousien, eine schwere außen und eine leichtere innen, aufgezogen werden konnten, welche sich vor und hinter einem normalen Fenster befanden, das in Richtung Süden schaute. Gegen 12 Uhr mittags erreichte die Ausleuchtung des Raums ihr Maximum. Es würde also immerhin sehr schnell gehen. Da das Gesetz verlangte, dass Zeugen während der Prozedur anwesend sein müssen, hatte man in die übrigen drei Wände UV-Licht blockierende Fenster eingelassen.

Nachdem ich mich versichert hatte, dass die beiden Jalousien verschlossen und gesichert waren, öffnete ich die Tür und geleitete Laurentius hinein.

„Ich muss dich jetzt an den Stuhl fesseln.“

Laurentius zuckte mit der Schulter: „Ich weiß. Ich habe diese Kammer entworfen.“

„Du bist pervers!“

„Nein, ich bin pragmatisch. So weiß ich, dass alles funktionieren wird. In zwei Minuten erreicht die Sonne ihre optimale Position. Wenn meine Berechnungen stimmen, sollte in etwa 10 Sekunden alles vorbei sein.“ Laurentius wurde plötzlich sehr ernst und schaute mir direkt in die Augen. Ein kalter Schauer lief mir über den Rücken. Mich beschlich das ungute Gefühl, dass irgendetwas nicht stimmte, überhaupt nicht stimmte.

„Constantin?“

„Ja?“

„Es tut mir Leid. Wirklich!“

Noch bevor ich mir selbst einen Reim auf Laurentius Bemerkungen machen konnte, wurde die unausgesprochene Frage von anderer Seite beantwortet. Die Tür zur Kammer knallte zu und schloss mich und Laurentius ein. Entsetzt starrte ich meinen Marschall an.

„Warum?“

Bevor er antworten konnte, rasselte es hinter mir. Die Fensterjalousien öffneten sich. Gleißendes Sonnenlicht durchflutete den Raum.

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