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Freibeuter der Meere

Teil 9

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Informationen

 

Die FAIRYTALE war mühselig auf ihrem Weg nach Tarray. Das Abschleppen der LE COMBATTANTE erwies sich als recht anstrengend, sowohl für das Schiff, als auch für die Besatzung.

Lionel Holland war mit einer kleinen Mannschaft an Bord der LE COMBATTANTE verblieben. Sie beaufsichtigten das Schleppgeschirr und den Treibanker. An jeder der beiden Positionen war ein Seemann mit einer Axt zur Stelle um die Verbindungen jederzeit trennen zu können.

Ebenso beaufsichtigte Percy Seymore die Seeleute im Zwischendeck der FAIRYTALE, wo die beiden Enden der schweren Schlepptrosse links und rechts durch die Öffnungen liefen, die eigentlich für die Ersatzketten des Ruderblatts vorgesehen waren.

Fast zwei Tage dauerte es, bis die FAIRYTALE mit ihrer schweren Last vor dem Hafen von Tarray angekommen war. Dort mussten die Boote des Freibeuters den schwerfälligen Rumpf des anderen Schiffes unter großen Anstrengungen bis zur Werft schleppen, während die FAIRYTALE an der Pier festmachte.

Master Jebediah Finch stand zusammen mit einem zweiten Mann auf dem Ausrüstungskai der Werft, als die LE COMBATTANTE dort vertäut wurde. Stumm musterten beide Männer das schwer beschädigte Schiff.

Nach einer Weile kam dann auch Lionel Holland zu ihnen, nachdem er das Festmachen beaufsichtigt hatte.

„Na, Lionel, was habt ihr denn mit dem angestellt? Was ist denn mit dem Großmast passiert?“

Lionel Holland grinste nur.

„Den hat Clyde gebraten.“

Er schilderte kurz den Verlauf der Seeschlacht, wobei der Mann neben Master Finch große Augen machte.

„Oh, Verzeihung. Ich denke, ihr kennt euch noch nicht. Das ist Meister Hendrik de Fries, unser neuer Schiffbaumeister. Lieutenant Lionel Holland ist einer der Offiziere der FAIRYTALE.“

Erfreut schüttelte Lionel dem neuen Schiffbaumeister die Hand. Neugierig musterte er den älteren Mann mit den goldblonden Haaren, die er streng nach hinten gekämmt und zu einem kurzen Zopf gebunden hatte. Dann fiel es Lionel wieder ein.

„De Fries? Ihr seid der Vater von Arje?“

„Oh? Ist er schon allseits bekannt?“

„Nun ja. Die Mitglieder der Scouts sind schon bekannt an Bord.“

„So wie das ganze Schiff schon fast eine Berühmtheit hier ist. Ich habe mitbekommen, dass viele junge Männer nur hierher nach Scythe kommen, um an Bord der FAIRYTALE zu fahren.“

Lionel seufzte.

„Die meisten haben auch gute Gründe, hierher nach Scythe zu kommen. Das Leben ist nicht einfach, wenn man…“

Lionel zögerte etwas, denn er wusste nicht genau, wie Arje und sein Vater zueinander standen.

„Ich weiß, was ihr sagen wollt. Ich habe meine Familie unter anderem hierhergebracht, weil wir Sorge um Arje hatten. Das ist soweit erst einmal geklärt, aber dafür macht mir jetzt Bente Sorgen. Er würde auch so gerne auf einem Schiff fahren, so wie auf der FAIRYTALE, doch er hat Angst, dass ihn kein Mädchen mehr nimmt, wenn er dort gefahren ist.“

Lionel lachte.

„Ehrlich gesagt, würde er sich da auch bestimmt unwohl fühlen. Aber was ist hiermit?“

Lionel deutete auf den Rumpf der LE COMBATTANTE. Master Finch sah ihn erstaunt an.

„Unser Earl will ein zweites Schiff in Fahrt nehmen?“

„Nein, nicht ich, sondern der Earl of Argyll.“

Die drei Männer drehten sich um, als die Stimme hinter ihnen ertönte. Daniel Hansom war sofort nach dem Festmachen herübergekommen.

„Oh, Euer Lordschaft. Wir haben euch gar nicht bemerkt.“

„Das ist kein Problem. Master Finch, Meister de Fries. Gut, dass ich euch gleich hier treffe.

Captain Hansom deutete auf das Schiff vor ihnen.

„Wir werden sie wahrscheinlich verchartern, wenn sie sich wieder vernünftig in Stand setzen lässt. Nun, Master Finch, was sagt ihr?“

Die beiden Schiffbauer sahen nun schweigend auf den Rumpf und machten ihre ersten Schätzungen.

„Zwei Monate?“

Master Finch nickte zustimmend.

„Ja, denke ich auch. Wir müssen sie natürlich eingehend besichtigen, aber wenn der Kiel und die Spanten in Ordnung sind, wird es sich wohl in der Zeit machen lassen. Es wird nicht billig, Mylord.“

Daniel Hansom nickte fast geistesabwesend.

„Geld wird wohl nicht das Problem. Dann schon eher die Besatzung. Ich möchte kein zweites Schiff wie die FAIRYTALE. Und der Earl of Argyll bestimmt auch nicht. Wir brauchen mehr als 200 gute Seeleute, Offiziere, Handwerker, bis hin zu den Schiffsjungen. Das wird unsere Herausforderung.“


Harold Lancaster, Heuerbaas zu Tarray, sah sich dieser Herausforderung als erster gegenüber.

Die LE COMBATTANTE war gestern hereingekommen und heute am frühen Morgen hatte Percy Seymore ihm erklärt, dass sie in wohl zwei Monaten ein komplett neues Schiff in Fahrt nehmen wollten und dafür eine Besatzung brauchten. Im Gegensatz zur FAIRYTALE sollten die Mitglieder dieser Besatzung nicht danach ausgesucht werden, ob sie sich zu Männern hingezogen fühlten. Ganz im Gegenteil. Diese Besatzung sollte die ‚normale‘ Bevölkerung repräsentieren, wobei sich Harold fragte, was hier auf Scythe denn eigentlich als ’normal‘ oder ‚nicht normal‘ angesehen wurde.

Dessen ungeachtet, musste er sich etwas einfallen lassen. Der Tag war noch jung und es war noch nicht einmal Mittagszeit, als zwei junge Männer sein Kontor betraten. Einer der beiden war recht vornehm gekleidet und Harold fragte sich, was die beiden wollten.

„Guten Morgen. Ihr seid der Heuerbaas?“

„Allerdings, Sir. Womit kann ich euch dienen?“

„Mein Name ist Lord Andrew Argyll und dies ist mein Neffe Michael. Der Earl of Scythe hat uns zu euch geschickt. Uns wurde gesagt, dass hier die Besatzung für das neue Kaperschiff des Earls zusammengestellt wird. Wir möchten uns schon einmal in die Listen eintragen lassen, vorbehaltlich der Zustimmung durch Lord Hansom.“

Harold sah die beiden erstaunt an. Lord Andrew Argyll. Offensichtlich einer der Söhne des Earls of Argyll. Und dann sein Neffe? Die beiden hatten doch höchstens zehn Jahre Unterschied. Eine neue Liste. Harold wurde sich plötzlich bewusst, dass er noch gar keine Liste für das neue Schiff hatte. Er wusste nicht einmal, wie es heißen sollte.

„Verzeihung, euer Lordschaft, aber so weit war ich noch gar nicht. Ich bin immer noch dabei, die aktuelle Warteliste für die FAIRYTALE zu überarbeiten.“

„Oh, das ist kein Problem. Wir hatten mit etwas Ähnlichem gerechnet. Wenn es euch nichts ausmacht, kann Michael euch dabei helfen. Er war bis vor kurzem der Gehilfe des Hafenmeisters in Linderney.“

Harold hatte davon gehört, dass es in Linderney einen überraschenden Wechsel in der Verwaltung des Hafens gegeben hatte.

„Ich bin etwas überrascht, aber ich danke euch für die Hilfe. Soll das neue Schiff die gleiche Besatzungsstruktur bekommen, wie die FAIRYTALE?“

„Ja. Sie sind ja etwa gleich groß und da wäre das wohl am einfachsten. Und wenn ihr die Liste gleich anfangen wollt, könnt ihr mich schon einmal eintragen. Andrew Argyll, vorgesehen als Kapitän.“

Harold hob die Augenbrauen, nahm ein Blatt und einen Bleistift. Ohne Kommentar notierte er Namen und Dienststellung. Dann sah er fragend zu Michael, doch der lächelte kopfschüttelnd.

„Ich nicht. Ich würde eher auf die FAIRYTALE gehen.“

„Oh, verstehe. Aber wie werden die Bewerber für dieses neue Schiff…wie soll es eigentlich heißen?“

Andrew sah den Heuerbaas verblüfft an.

„Hatte ich das nicht erwähnt? Das Schiff heißt ja noch LE COMBATTANTE, also der Kämpfer oder der Krieger. Wir haben überlegt, ob es diese Bezeichnung nicht behalten soll, nur in einer anderen Sprache. Sie wird wohl LAOCH heißen.“

„Bitte?“

Andrew und Michael lachten.

„Ihr kommt nicht aus dem Norden. Jeder, der die alte Sprache spricht, wird euch sagen können, dass ein LAOCH ein Krieger, ein Held ist. So wie die Helden aus den alten Sagen.“

„Oh. Wie ihr wünscht, euer Lordschaft.“

„Fangen wir doch gleich mit etwas Einfachem an. Ich möchte ihn nicht kopieren, aber Lord Hansom ist für mich schon immer ein großes Vorbild gewesen. Der alte und auch der neue. Ich bin ab sofort nur noch Captain Argyll. Und Michael wird der Heuerbaas für die LAOCH sein. Unter eurer Anleitung, wenn ihr einverstanden seid, natürlich.“

„Selbstverständlich, euer… Captain Argyll.“

Der Aushang vor dem Kontor des Heuerbaases hing noch keine halbe Stunde, als sich der Laden füllte. Michael sah sich einem wahren Ansturm gegenüber und musste mehr als eine Erklärung abgeben.

Nach einer weiteren halben Stunde schickte Harold einen Boten zum Lord-Lieutenant. Er brauchte dringend zwei Wachen, die die Ordnung vor dem Kontor aufrechterhielten.


Schicken sie einen Boten. Commander McBride möchte sich bitte umgehend bei mir melden.“

Jawohl, Sir Jared.“

Der Lieutenant verschwand und der Admiral wandte sich wieder seinen Besuchern zu.

„Die BATLLEAXE ist eine unserer Korvetten, die den Patrouillendienst hier an der Westküste versieht. Sie wechselt sich alle vierzehn Tage mit der BROADSWORD ab. Sollte jetzt eigentlich eine Pause haben und neu ausgerüstet werden, aber wir müssen ihrem Commander wohl ein paar Tage seiner Ruhezeit abzwacken.“

Es dauerte eine Weile, bis der Kommandant der BATTLEAXE eintraf, aber wenn man zum Admiral gerufen wurde, konnte man nicht so erscheinen, wie man vom Achterdeck gekommen war.

Die Tür zum Arbeitszimmer wurde geöffnet und zunächst erschien der Lieutenant.

„Commander McBride ist da, Admiral.“

„Schicken sie ihn herein, Colin.“

Der Commander war ein Mann mittleren Alters mit breiten Schultern und einem wettergegerbten Gesicht.

„Sie haben mich rufen lassen, Admiral?“

„Allerdings, Commander. So leid es mir tut, aber auf sie und ihr Schiff wartet ein ganz spezieller Auftrag. Doch zunächst lassen sie mich kurz diese beiden Herren vorstellen. Sir Sean McAllister ist vom Sekretariat des Lordkanzlers und Leutnant von Winterstein von der Gesandtschaft Arlemandes in Caerdon.“

Leopold von Winterstein merkte auf, als er so vorgestellt wurde. Zum einen mit einem Dienstgrad, der in Britannica eigentlich nichts galt, zum anderen als Angehöriger der arlemandischen Gesandtschaft. In weitestem Sinne war er das ja auch, doch es musste einen Grund geben, warum der Admiral das so explizit erwähnt hatte.

„Kommen wir kurz zu ihrem Auftrag, Commander. Die BATTLEAXE wird nach Caerdon verlegen und dort ein arlemandisches Handelsschiff mit Namen…“

„WAPPEN VON ARLE.“

„Richtig. Mit Namen WAPPEN VON ARLE aufbringen. Das Schiff wird durchsucht und alle Waren werden beschlagnahmt. Alle Besatzungsangehörigen und Passagiere sind festzunehmen.“

„Bei einem britannischen Handelsschiff dürfte das keine Schwierigkeit sein. Aber wir haben keine Handhabe, ein arlemandisches Schiff einfach so aufzubringen.“

„Doch, haben wir. Die WAPPEN VON ARLE steht im Verdacht, eine größere Menge Diebesgut von Britannica ins Ausland zu verbringen. Das würde im Normalfall für eine Durchsuchung ausreichen, doch leider haben wir noch ein kleines Problem. Das Schiff ist für den arlemandischen Gesandten vorgesehen und unterliegt der diplomatischen Immunität.“

Commander McBride schwieg. Wenn er jetzt das antwortete, was er auf der Zunge hatte, würde ihn das seine Karriere kosten. Aber er wusste auch, dass er nicht hier wäre, gäbe es nicht eine Lösung für das Problem.

„Ich bin mir nicht sicher, ob ich das alles richtig verstanden habe, Admiral.“

Der Admiral lachte leise und deutete auf Leopold.

„Leutnant von Winterstein wird sie begleiten. Er darf die WAPPEN VON ARLE betreten und dort im persönlichen Auftrag des Gesandten die erforderlichen Untersuchungen durchführen. Wenn er dazu Hilfe bedarf, kann er die natürlich anfordern. Sogar von der Royal Navy.“

Leopold sah verblüfft zu dem Admiral und dann zu Sir Sean. Dieser lächelte ihn lediglich an und nickte, während Leopold nachdachte. Wenn man es richtig nahm, hatte er gar keinen Auftrag und die Konstruktion war ziemlich weit hergeholt. Aber wenn sie Erfolg hatten, würde keiner die Rechtmäßigkeit anzweifeln. Sollten sie allerdings nicht fündig werden, konnte das ungeahnte diplomatische Konsequenzen haben.

Der Blick des Commanders wanderte zum Fenster, wo langsam die Abenddämmerung hereinbrach.

„Wann sollen wir auslaufen, Admiral?“

„Sobald sie wieder seeklar sind. Wenn sie eine Möglichkeit sehen, den Tyne in der Nacht zu befahren, möchte ich, dass sie morgen früh beim ersten Licht in Caerdon sind.“

Den Tyne bei Nacht befahren. Nun wusste Commander McBride, dass es nicht nur eine spezielle Aufgabe war, sondern dass die Navy bereit war, ein Schiff und dessen Besatzung dafür zu riskieren. Was gab es an Bord dieses arlemandischen Schiffes, das so wichtig war?


Leopold von Winterstein schaffte es gerade noch, den Lieutenant im Vorzimmer des Admirals davon in Kenntnis zu setzen, dass sein Pferd und sein Gepäck noch in der Stadt waren, als ihn der Commander auch schon bat, ihm auf sein Schiff zu folgen.

Vor der BATTLEAXE blieb Leopold erst einmal kurz stehen. Einen solchen Schiffstyp hatte er noch nie gesehen. Deutlich kleiner als die FAIRYTALE trug sie dennoch drei Masten die alle eine – wie er inzwischen wusste – Rahtakelung hatten. Auf der ihnen zugewandten Seite zählte Leopold acht Geschützpforten.

Commander McBride bemerkte Leopolds Interesse.

„Sechzehn Zwölfpfünder. Und zwei lange Neunpfünder auf der Back. Wir können zwar nicht gegen eine Fregatte oder etwas Größeres antreten, aber ein Handelsschiff dürfte für uns kein Problem sein.“

Leopold nickte nachdenklich.

„Wir wollen hoffen, dass sie keinen Ärger machen. Soviel ich erfahren habe, soll die WAPPEN VON ARLE in einem der Handelshäfen liegen und sich bereit machen für die Einschiffung des Gesandten.“

„Hm, das ist ein ziemlich großes Gebiet. Aber lassen sie uns erst einmal an Bord gehen. Wir können uns weiter unterhalten, wenn wir dann ausgelaufen sind.“

Der Kommandant wurde mit dem für die Navy üblichen Zeremoniell begrüßt und Leopold sah neugierig dabei zu, bis Commander McBride ihn herbeiwinkte.

„Dies ist Lieutenant Alvord, mein Erster Offizier. Er wird ihnen gleich eine Kammer zuweisen und sie in den Bordbetrieb einweisen, zumindest soweit es sie betrifft.“

„Lieutenant, das ist Leutnant von Winterstein von der arlemandischen Gesandtschaft. Er wird unser Gast an Bord sein, während wir nach Caerdon verlegen und dort weiteren Aufgaben nachgehen. Ich würde es begrüßen, wenn Herr von Winterstein für diesen Zeitraum in der Offiziersmesse aufgenommen wird.“

„Selbstverständlich, Commander. Das dürfte kein Problem sein. Lediglich die Unterbringung…“

Während der Lieutenant noch nachdachte, verabschiedete sich der Kommandant und ging hinüber zu seiner Unterkunft.

In der Offiziersmesse waren alle Offiziere und ihnen gleichgestellte Personen an Bord Mitglieder. Lediglich der Kommandant war wegen seiner herausragenden Stellung dort nicht Mitglied. Er speiste für gewöhnlich alleine und wollte er einmal in der Messe essen, würde er offiziell den Messevorstand fragen müssen. Nun aber dürfte kaum ein Offizier seinem Kommandanten einen Wunsch abschlagen, wenn es um solch profane Dinge wie die Messe ging.

„Ich war schon öfter etwas beengt untergebracht. Ich brauche nicht viel Platz.“

Lieutenant Alvord wurde aus seinen Gedanken gerissen und musterte Leopold etwas erstaunt, doch dann nickte er. Langsam drehte er sich im Kreis, bis er denjenigen gefunden hatte, den er suchte.

„Lieutenant Bedford! Hätten sie einen Moment Zeit?“

„Sir?“

Ein junger Lieutenant kam auf Leopold und den Ersten Offizier zu. Leopold schien es, als sei er der jüngste Offizier an Bord. Wahrscheinlich erst Lieutenant geworden.

„Mister Bedford. Wir haben kurzzeitig einen Gast an Bord. Leutnant von Winterstein benötigt eine Unterkunft. Er wäre bereit, eine Kammer zu teilen, oder sie müssten wieder für ein paar Tage zu den Midshipmen.“

Leopold bemerkte mit einem inneren Grinsen, wie der junge Lieutenant ihn kurz musterte und dann leicht rot anlief.

„Kein Problem, Sir. Da ist noch Platz für eine zweite Hängematte. Allerdings nicht gerade viel.“

Leopold bemerkte, dass Lieutenant Bedford ihn immer noch neugierig ansah und überlegt, wieviel Platz sie beide wirklich benötigen würden.


Noch vor Sonnenuntergang macht sich die BATTLEAXE auf den Weg nach Caerdon. Leopold hat er es sich in der ihm zugewiesenen Kabine gemütlich gemacht. Kurz vor dem Auslaufen hatte ein Bote sein fehlendes Gepäck gebracht. Für sein Pferd war ausreichend gesorgt worden.

Etwa eine Stunde später überbrachte ihm einer der Pantrys der Offiziersmesse eine Einladung und Leopold konnte sich sogar entsprechend gekleidet dort sehen lassen.

Das Essen selbst war unspektakulär, lediglich der anschließende kleine Umtrunk brachte etwas Auflockerung. Als Leopold in seine Kammer zurückkehrte, war auch Lieutenant Bedford gerade von seiner Wache zurückgekommen. Etwas erschreckt fuhr der junge Mann zusammen, als Leopold eintrat.

„Entschuldigung. Ich wollte sie nicht erschrecken. Lassen sie sich nicht von mir stören. Ich begebe mich gleich in meine Hängematte, da können sie sich freier bewegen.“

Ungerührt legte Leopold seine gesamte Bekleidung ab und hantierte dann noch etwas mit dem Rucksack, in dem jetzt seine restlichen Sachen waren. Lieutenant Bedford sah erst neugierig zu ihm herüber, dann wurden seine Bewegungen immer langsamer. Bald starrte er Leopold nur noch an wie das Kaninchen die Schlange. Leopold wollte schon etwas Lustiges sagen, doch dann spürte er, dass er etwas einfühlsamer sein musste.

Langsam ging er auf den jungen Mann zu und sah ihm in die Augen.

„Du brauchst keine Angst zu haben. Tu einfach das, was du tun möchtest.“

Etwas verwirrt sah Lieutenant Bedford Leopold an, dann seufzte er. Zögernd fasste er nach dessen Kopf und zog ihn etwas zu sich heran. Langsam fanden sich die beiden zu einem sehr ausdauernden Kuss.

„Du hättest nach Scythe gehen sollen.“

Der junge Mann sah zu Boden und schüttelte den Kopf.

„Mein Vater hätte mich enterbt. Die Navy war der einzige Ausweg, wie ich seiner Aufsicht entkommen konnte.“

Vorsichtig zog Leopold ihn an sich und hielt ihn fest. Er spürte wie der junge Mann etwas zitterte und ihn ebenfalls fest umklammerte.

„Wie schon gesagt. Tu, was du tun möchtest. Lass deinen Gefühlen freien Lauf.“

Leopold sah in dem Gesicht gegenüber zunächst Erstaunen, dann Verstehen und dann erschien ein leichtes Lächeln. Leopold spürte, dass der Junge begriffen hatte, welches Angebot er ihm gemacht hatte, als er eine Zunge sich neugierig einer seiner Brustwarzen näherte. Die Nacht würde wohl ziemlich kurz werden.


Der Captain hatte Leopold wecken lassen, als sie etwa eine Stunde vor Caerdon standen. Die Fahrt in der Nacht war schwierig und risikoreich gewesen, denn außer den wenigen vorhandenen Leuchttürmen gab es kaum einen Anhalt für eine vernünftige Positionsbestimmung.

Die anbrechende Dämmerung ließ nun rings um sie herum langsam die Konturen des Landes erkennen.

„Eine halbe Stunde und wir erreichen das Hafengebiet, Herr von Winterstein. Haben sie eine Ahnung, wo die WAPPEN VON ARLE sich befindet?“

„Bedaure, Commander. Ich habe die letzten Tage in der Gesandtschaft in Caerdon verbracht und davor…“

Leopolds Stimme erstarb und er dachte rasch nach. Wenn es dieselbe Person war, die versuchte, die Königin zu stürzen und den Staatsschatz zu rauben, war es wahrscheinlich auch derselbe, der ihn hatte entführen lassen. Hatte er mehrere Verstecke, oder würde er immer noch auf seine alten Kumpane zurückgreifen?

„Verzeihung, Commander, aber kennen sie den Hafen, an dem sich eine Kneipe namens ‚Jolly Roger‘ befindet?“

Commander McBride verzog keine Miene, als er sich umdrehte und suchend über die Besatzung blickte.

„Mister Gore!“

Ein Mann mittleren Alters in der Jacke eines Maaten kam sofort herbei.

„Sir!“

„Sie kommen doch von hier, Mister Gore. Kennen sie eine Kneipe namens ‚Jolly Roger‘?“

„Oh, ja Sir. Liegt am zweiten Hafenbecken vor den Dockyards. Eigentlich ganz anständig, aber da hat sich wohl eine der einheimischen Gangs eingenistet. Nicht zu empfehlen, wenn sie mich so fragen, Sir.“

„Schon gut, Mister Gore. Beschreiben sie dem Steuermann das Hafenbecken.“

Der Mann grüßte und begab sich zum Master, mit dem er nun leise tuschelte.

„Eine einheimische Gang. Nicht gerade eine Empfehlung. Was veranlasst sie zu der Vermutung, dass unser Ziel sich dort befindet?“

Mit kurzen Worten erzählte Leopold nun von seiner Entführung und der Befreiung durch die Besatzung der ESTRAY.

„Ihr habt Recht. Es könnte sehr gut möglich sein, dass die WAPPEN dort liegt. Aber wenn wir uns direkt annähern, werden sie Verteidigungsmaßnahmen ergreifen. Im schlimmsten Fall müssten wir von unseren Geschützen Gebrauch machen, was ich hier im Hafen eigentlich sehr gerne vermeiden möchte.“

Leopold überlegte einen Moment.

„Könnten sie mich mit einem oder zwei Männern vorher absetzen? Ich würde mich dann erst einmal dort umsehen und versuchen herauszubekommen, was los ist.“

Commander McBride hob seine Augenbrauen und dachte nach.

„Vielleicht gar nicht so schlecht, die Idee. Ein paar andere Kleidungsstücke und ein Begleiter dürften reichen. Haben sie jemanden bestimmten im Auge, der sie begleiten soll?“

„Ich dachte an Lieutenant Bedford.“

Ein zweites Mal wanderten die Augenbrauen des Commanders nach oben, doch er nickte.

„Das dürfte kein Problem sein. Machen sie sich zurecht und wir setzen sie mit dem Boot ab.“

Eine Viertelstunde später wanderten zwei junge Männer in den abgetragenen Sachen eines einfachen Seemannes hinüber zum ‚Jolly Roger‘. Leopold musterte die Kneipe etwas misstrauisch und Kevin Bedford schien sich ebenfalls nicht so richtig wohlzufühlen in der Gegend.

„Gehen wir rein?“

„Einen Moment noch. Vielleicht tut sich hier ja noch…“

Leopold hatte tatsächlich Glück, denn in diesem Moment kam einer der Schankburschen aus der Kneipe, auf dem Weg zu einem Auftrag. Leopold trat auf ihn zu.

„He, du.“

Der Schankbursche schrak zusammen und sah Leopold fragend an, bis ein Erkennen über sein Gesicht lief.

„Oh. Ihr seid das. Aber seid ihr nicht…“

„Offensichtlich nicht. Was ist drinnen los? Ist die Bande weg? Oder hat sich inzwischen etwas Neues dort getan?“

Der Schankbursche drehte sich kurz um und nickte dann.

„Der größte Teil der Bande ist weg. Und der Kopf des Anführers ziert nun eine Stange über dem Kerker. Ich dachte, ihr seid von den Leuten…“

Der Junge unterbrach sich kurz und musterte Leopold erneut.

„Ihr gehört zu den Leuten der FAIRYTALE, richtig?“

„Und was wäre, wenn?“

Der Junge sah einen Moment zu Boden und dann Leopold direkt in die Augen.

„Ich werde euch sagen, was ich weiß, wenn ihr mich nach Scythe mitnehmt.“

Nun war es an Leopold, den Jungen erstaunt zu mustern. Er war etwa zwei Zoll kleiner als Leopold, schlank und mit dunklen, braunen Haaren. Braune Augen sahen Leopold erwartungsvoll an.

„Wie kommst du darauf? Warum willst du unbedingt nach Scythe?“

Jetzt lief der Junge leicht rot an, doch er senkte nicht seinen Blick.

„Ich habe jemanden von da kennengelernt. Er heißt Arje und fährt auf der FAIRYTALE. Ich möchte ihn ganz gerne wiedersehen. Außerdem weiß ich, dass ich dort sehr gut aufgehoben bin.“

„Und wer bist du?“

„Ich heiße Thomas Weidner. Ich bin erst seit einem halben Jahr hier. Meine Eltern sind von Arlemande herübergekommen und wollten eigentlich weitere in die Neue Welt. Aber das war teurer als gedacht. Also arbeiten meine Geschwister und ich, um zu helfen die Überfahrt zu bezahlen. Aber jetzt möchte ich nicht mehr in die Neue Welt. Ich würde viel lieber nach Scythe gehen.“

Leopold vermutete ganz stark, dass ein gewisser Arje der eigentliche Grund war, warum Thomas unbedingt nach Scythe wollte. Aber wer war er, dass er solche Wünsche in Frage stellte.

„Also gut. Ich kann nicht entscheiden, ob du wirklich auf Scythe bleiben darfst. Das können nur der Earl oder der Lord-Lieutenant. Aber wenn du uns hilfst, dürfte das die Entscheidung bestimmt beeinflussen.“

Thomas lächelte jetzt und Leopold beobachtete Kevin Bedford, der der ganzen Unterhaltung ungläubig gefolgt war. Hatte der Junge soeben etwa zugegeben, dass er gerne nach Scythe ging? Und wenn, dann vielleicht sogar um dort einen anderen Jungen zu suchen?

„Also gut, Thomas. Was findet denn im Moment in dieser Kneipe so Geheimnisvolles statt?“

„Gestern Morgen kam dieses Handelsschiff rein und hat an der Pier neben der Kneipe festgemacht. Fast den ganzen Tag über ist es beladen worden. Mal mit Proviant, dann mit einer ganzen Reihe von großen Kisten. Die Kisten sind von bewaffneten Männern bewacht worden. Und dann kam der Baron.“

Leopold überlief es eiskalt. Thomas hatte das arlemandische Wort ‚Baron‘ gebraucht, nicht die britannische Version. Fast automatisch verfiel er in Arlemandi.

Welcher Baron? Hat er seinen Namen gesagt?“

Thomas zuckte merklich zusammen, als er in Arlemandi angesprochen wurde, antwortete aber sofort.

Nein, hat er nicht. Aber er kommandiert alle herum und macht sich ganz schön wichtig.“

Leopold wollte eine weitere Frage stellen, doch Kevin räusperte sich deutlich. Leopold wusste sofort worum es ihm ging und wechselte wieder ins britannische.

„Also ein arlemandischer Baron. Wie sieht er denn aus?“

„Hm, er ist ziemlich klein und dick. Kriegt immer ein rotes Gesicht, wenn er sich aufregt. Und dann hat er …“

„Eine Narbe auf der linken Wange.“

„Ihr kennt ihn?“

Thomas und Kevin sahen Leopold gleichzeitig fragend an.

„Ja, es ist der Baron von Lychter, Sekretär des Gesandten und Mitarbeiter des arlemandischen Geheimdienstes in der Gesandtschaft.


Um nicht weiter aufzufallen hatte Leopold Thomas zurück in die Kneipe geschickt. Kevin und er waren auf Umwegen zurück an Bord der BATTLEAXE gelangt. Diese hatte inzwischen an einer im Handelshafen ausgebrachten Tonne festgemacht, eben in Sichtweite der WAPPEN VON ARLE. Commander McBride sah nach ihrem Bericht nachdenklich hinüber zum Hafenbecken, wo die WAPPEN VON ARLE lag.

„Wenn bewaffnete Wachen an Bord sind, wird es nicht so einfach. Handelsschiffe dieser Größe haben etwa 30 bis 40 Mann Besatzung. Ich habe gerade mal 130 hier und muss das Schiff im Zweifelsfall in ein Gefecht führen können.“

„Nun, Sir. Ich hätte da einen Vorschlag.“

Der Commander wandte sich erstaunt zu seinem jüngsten Lieutenant um.

„Dann erzählen sie mal, Mister Bedford.“

„Wir brauchen etwas, womit wir die Leute auf der WAPPEN ablenken. Ich dachte da vielleicht an eine Schlägerei auf der Pier. Sie werden so reagieren wie unsere Seeleute auch und sich das Schauspiel nicht entgehen lassen. Wir könnten dann mit einem oder zwei unserer Boote das Schiff von der Seeseite her geräuschlos entern und die Besatzung überwältigen.“

Der Commander und auch Leopold sahen Kevin Bedford erstaunt an.

„Hm, das könnte möglicherweise funktionieren. Aber wir haben da zwei Probleme. Wie kommen wir geräuschlos an Bord und wie soll die Ablenkung von statten gehen?“

„Oh, wir nehmen die Wurfanker, genau wie sonst auch zum Entern. Wir müssen nur höher ansetzen und sie in die Wanten werfen und nicht an die Reling.“

Commander McBride stutzte, dann nickte er langsam. Leopold hatte inzwischen auch eine ungefähre Vorstellung für die Ablenkung.

„Für die Ablenkung werde ich sorgen. Ich habe da bereits eine Idee. Wenn sie bitte die Boote bereitstellen würden, Commander. Ich denke, in etwa einer halben Stunde sind wir dann auf der Pier soweit.“

Der Commander nickte und sah sich erneut um.

„Mister Alvord! Lassen sie die Beiboote klarmachen!“

Leopold und Kevin machten sich inzwischen wieder auf den Weg zum ‚Jolly Roger‘. Dort angekommen ging Kevin hinein. Er blieb nur so lange, bis er einen kurzen Augenkontakt mit Thomas hergestellt hatte und verließ die Kneipe wieder. Thomas hatte ihn bemerkt und verstanden, was er wollte. Einige Zeit später erschien auch er vor der Tür.

„Nicht hier. Wenn ihr reden wollt, lasst uns nach hinten.“

Thomas führte die beiden in eine schmale Gasse, die die Taverne von einem Lagerhaus trennte. Leopold erklärte, wie er sich in etwa die Ablenkung vorgestellt hatte. Thomas lächelte leicht und dachte einen Moment nach.

„Ich wüsste jemanden, aber das wird nicht billig.“

Leopold hob fragend die Augenbrauen.

„Zwei Jungs, die hier morgens öfter zum Essen kommen. Für den richtigen Preis würden sie bestimmt eine riesige Schau machen.“

„Wieviel?“

Thomas zögerte sichtlich.

„Also… sagen wir zwei Shilling. Pro Person.“

Leopold musste sich ein Lächeln verkneifen. Sicherlich, für Thomas waren zwei Shilling schon eine Menge Geld.

„Abgemacht. Kannst du sie gleich herbringen?“

Thomas nickte lediglich und zog los. Schon wenige Minuten später erschien er wieder mit zwei jungen Männern im Schlepptau. Leopold betrachtete sie neugierig. Sie waren wohl beide so um die sechzehn oder siebzehn Jahre. Beide waren dunkelblond und fast gleich groß. Trotz ihrer abgetragenen Sachen sahen sie einigermaßen ansehnlich aus. Die Sachen waren sauber und auch die jungen Herren schienen etwas mehr Körperpflege zu machen als viele ihrer Altersgenossen.

„Das sind Paul und Mason. Tagsüber arbeiten sie hier im Hafen und nachts…“

Thomas beendete seinen Satz nicht und die beiden Jungen sahen ihn erwartungsvoll an. Nach einer etwas peinlichen Pause ergriff einer von ihnen das Wort.

„Nachts gehen wir anschaffen. Da gibt’s nichts zu verschweigen. Werden es wohl nicht mehr lange machen. Sind inzwischen zu alt.“

Leopold schüttelte unwillig den Kopf. Die beiden sahen gut aus. Etwas unscheinbar, aber deutlich besser als manch anderer, den Leopold getroffen hatte und der es nicht wahrhaben wollte, dass die Jugend mit der Zeit verschwand und die Grundlage für seine Arbeit mitnahm.

„In Ordnung. Ich nehme an, die meisten Leute hier kennen euch und wissen, was ihr nachts so macht?“

Beide nickten simultan. Leopold erklärte ihnen, was ihm vorschwebte. Ihre Antwort zeigte ihm, dass sie nicht nur gut aussahen, sondern auch noch intelligent waren.

„Eine Ablenkung. Für die Leute auf dem Schiff und auch für die auf der Pier. Wir mischen uns nicht in Sachen ein, die hier vor sich gehen, aber hat das etwas damit zu tun, was die Zwillinge hier letztens abgezogen haben?“

Leopold wusste nicht, worum es ging, aber Thomas lief leicht rot an.

„Vielleicht. Es ist wohl besser, ihr wisst von nichts. Wenn alles vorbei ist, werde ich euch was erzählen.“

„Wo wir bei dem Thema wären. Wenn ihr nichts dagegen habt, Sir, würden wir gerne einen Teil der Bezahlung im Voraus haben.“

Thomas hob erstaunt die Augenbrauen, doch Leopold nickte nur. Er griff in den Geldbeutel den er um den Hals hängen hatte und gab jedem der beiden Jungen eine Münze. Mit großen Augen starrten sie auf das Geld und auch Thomas war verblüfft. Das waren keine silbernen Shillinge. Das waren goldene Sovereigns!

„Das… das…“

„Ich weiß, was das ist. Wenn die Sache so abläuft wie geplant, bekommt jeder von euch noch einen. Thomas, du auch.“

Hoch erfreut steckten die beiden das Geld ein und machten sich auf den Weg zur Pier vor der WAPPEN VON ARLE.


Ein lauter Schrei hallte über die Pier und ließ einige der Seeleute in ihrer Arbeit innehalten.

„Du kleine Schlampe! Dir werd` ich helfen!“

Neugierig traten die Seeleute näher an die Reling und sahen auf die Pier. Zwei junge Männer, Jungen eher noch, standen sich gegenüber mit zornesroten Gesichtern.

„Was kann ich dafür, dass ich hübscher bin?“

Ein weiterer Schrei.

„Hübscher?! Du abgetakeltes Wrack! Du wagst es, mir die Freier auszuspannen?“

„Abgetakeltes Wrack? Sieh dich mal selber. Kriegst keinen mehr hoch und wunderst dich, warum keiner mehr kommt.“

Immer mehr der Seeleute auf dem Handelsschiff kamen zur Reling um sich das Schauspiel auf der Pier anzusehen.

Die beiden Kontrahenten hatten sich nun angenähert und einer griff dem anderen in die Haare und zerrte ihn herum.

„Aua! Du feige kleine Ratte! Ist das alles was du kannst?“

Sein Gegner versuchte nun, ihn mit Tritten vor das Schienbein zum Loslassen zu bewegen.

„Nicht mal Treten kannst du. Zielen war noch nie deine Stärke. Von alleine findest du ja kein Loch.“

„Was!? Ich hab` wenigstens noch was zum reinstecken. Du kannst ja nur noch deinen Arsch hinhalten.“

Das Gelächter auf dem Schiff und auf der Pier hatte zugenommen und die beiden Kämpfer wurden nun lautstark angefeuert.

Inzwischen hatten sich zwei Boote von der BATTLEAXE genähert und die ersten Draggen flogen hoch und verhakten sich in den Wanten. Leise und behände kletterten die Seeleute der BATTLEAXE an Bord des Handelsschiffes und schlichen hinter die neugierigen Zuschauer des Spektakels auf der Pier. Ein Teil des Enterkommandos machte sich auf den Weg zu den Unterkünften des Kapitäns und der Offiziere.

Nach nur wenigen Sekunden war das arlemandische Handelsschiff besetzt und eingenommen. Nicht ein Schuss war gefallen.

Leopold und Kevin eilten über die Gangway an Bord, während die beiden begnadeten Schauspieler fast ungesehen von der Bildfläche verschwanden. Als sich die beiden Offiziere dem Schiff näherten, fiel Leopolds Blick auf das Heck der WAPPEN VON ARLE. Er blieb unwillkürlich stehen und sah verblüfft nach oben, dann flüsterte er mit Kevin.

An Bord gab es nun weiteres Geschrei. Vor Lieutenant Alvord, der das Enterkommando anführte, stand ein kleiner, rundlicher Mann in einem eleganten dunkelbraunen Anzug und beschwerte sich lauthals.

„… ist ungeheuerlich. Dies ist ein Schiff seiner Majestät, des Kaisers von Arlemande! Und dazu noch in diplomatischer Mission! Ich muss darauf bestehen, dass sie SOFORT dieses Schiff verlassen. Ihre Königin wird hiervon erfahren!“

Lieutenant Alvord war ausreichend auf diese oder eine ähnliche Situation vorbereitet worden.

„Ihre Majestät, die Königin, weiß bereits von unserer Maßnahme. Sie ist schließlich in ihrem Namen erfolgt. Was mich dazu bringt, dass ich gerne euren Namen erfahren würde.“

Der dickliche Mann plusterte sich noch mehr auf.

„Ich bin Baron Erwin von Lychter. Legationsrat und Persönlicher Sekretär seiner Exzellenz des Gesandten von Arlemande.“

„Aha. Und wo befindet sich seine Exzellenz?“

„In der Gesandtschaft selbstverständlich. Ich bin hier um in seinem Auftrag die Abreise vorzubereiten.“

„Dann nehme ich auch an, dass seine Exzellenz über den Umfang und die Art der Fracht informiert ist, die sich hier an Bord befindet.“

Der Baron erbleichte sichtlich, wich aber keinen Schritt zurück.

„Das steht hier überhaupt nicht zur Debatte. Dieses Schiff ist exterritoriales Gebiet. Was sich hier an Bord befindet oder vor sich geht, hat euch überhaupt nicht zu interessieren.“

Nun trat Leopold zwischen den ganzen Seeleuten hervor und näherte sich Lieutenant Alvord und dem Baron.

„Mich interessiert es aber schon. Seine Exzellenz gedenkt nämlich nicht, so bald abzureisen. Sollte er euch nicht darüber informiert haben?“

Baron von Lychter sah zunächst nur einen Matrosen sich nähern, doch dann erkannte er plötzlich Leopold.

„Ihr?! Solltet ihr nicht…?“

„Ich sollte, was? Eingesperrt im Keller sein? Oder auf hoher See auf dem Weg nach Herblonde? Genau wie auch dieses Schiff auf den Weg nach Herblonde gebracht worden wäre. Denn es ist keinesfalls die WAPPEN VON ARLE.“

Der Baron sah Leopold mit herausquellenden Augen an, während sich Kevin aus der Kajüte des Kapitäns näherte. In seinen Händen hielt er ein paar Papiere und ein ihn begleitender Maat hielt eine Flagge in Händen. Kevin wandte sich an Lieutenant Alvord.

„Sir. Diese Unterlagen waren in der Kajüte des Kapitäns versteckt. Es handelt sich bei diesem Schiff um die AMIENS aus Herblonde. Herr von Winterstein hat festgestellt, dass man zwar den Namen am Heck erneuert, jedoch das Wappen darüber nicht ersetzt hat. Anscheinend war man der Ansicht, hier in Britannica würde sich niemand mit arlemandischer Heraldik auskennen.“

Lieutenant Alvord wandte sich an den Baron, der nun sichtlich erbleicht war.

„Ein Schiff aus Herblonde, also. Das Schiff ist hiermit als Prise ihrer Majestät beschlagnahmt. Alle an Bord befindlichen Waren und Gegenstände sind ab sofort unter der Hoheit des zuständigen Prisengerichts.“

Der Baron begann zu schwitzen und sah hektisch von einer Ecke zur anderen. Dennoch schien er nicht gänzlich aufgeben zu wollen.

„Davon habe ich nichts gewusst. Ich bin immer noch Legationsrat der arlemandischen Gesandtschaft und verlange, sofort freigelassen zu werden.“

In diesem Moment schoben sich Paul und Mason dicht an Leopold heran. Er wusste weder, wie die beiden an Bord gekommen waren, noch wusste er, was sie plötzlich von ihm wollten.

Einer der beiden Jungen trat dicht an Leopold heran und flüsterte.

„Der Dicke ist nicht ganz sauber. Hat sich die letzten zwei Nächte im Hafen herumgetrieben. Ist mehrere Male in das Lagerhaus unten neben Browns Kneipe gegangen und hat versucht, dabei ziemlich unauffällig zu bleiben.“

Leopold lächelte leicht, als er die Informationen bekam. Zur Bestätigung ließ er seine Hand blitzschnell ganz leicht über das Hinterteil des direkt neben ihm stehenden Jungen streichen. Der warf ihm einen verblüfften Blick zu, grinste dann aber.

Kevin hatte die Handbewegung bemerkt und wusste nicht, wie er reagieren sollte. War das jetzt Spielerei oder Ernst? Dann merkte er, wie der andere der Jungen neben ihn getreten war und mit ihm flüsterte.

„Keine Angst. Habt ihr nicht bemerkt, wie er euch ansieht? Selbst wenn wir ein paar nette Stunden miteinander verbringen sollten, den werdet ihr so schnell nicht los.“

Kevin sah hinüber zu Leopold und bemerkte, dass dieser ihn ansah. Beide lächelten unwillkürlich und sowohl Paul als auch Mason verdrehten nur die Augen.


Das Lagerhaus unten an der Pier erwies sich tatsächlich als Treffer. Zwischen etlichen alten Fässern befanden sich zwei Kisten, die mit einer Persenning abgedeckt worden waren.

Leopold ließ die Kisten öffnen und war erstaunt. In jeder dieser doch relativ großen Kisten befand sich lediglich ein einzelner Gegenstand. Ansonsten waren die Kisten nur noch mit Schafwolle aufgefüllt.

Commander McBride war nach einer Benachrichtigung über die Vorgänge persönlich mit einer Abteilung Seesoldaten zu dem Lagerhaus gekommen. Schweigend starrte auf den Inhalt der Kisten und seufzte dann schwer.

„Ich wusste, dass es eilig und wichtig war, jedoch nicht, dass es so wichtig war.“

Auf den fragenden Blick von Leopold deutete er auf die beiden Gegenstände.

„Sie gehören zum Reichsschatz und den Kronjuwelen. Beide sind magisch. Das Schwert ist das sogenannte Schwert der Frau vom See. Als Reichsschwert symbolisiert es die Einheit des Landes.“

Leopold sah neugierig auf das unscheinbare, grau glänzende Schwert ohne jegliche Verzierungen herab.

„Und das hier ist der Kelch der beiden Reiche. In seiner Magie ist der Pakt zwischen den Menschen und den Sidhe verewigt. Er soll garantieren, dass beide Reiche für alle Zeiten friedlich nebeneinander in beiden Welten existieren können.“

Leopold sah nichts weiter als einen, wenn auch sehr kunstvoll gearbeiteten, silbernen Kelch. Commander McBride hingegen schüttelte tief erschüttert den Kopf.

„Es ist unglaublich. Man kann zur Magie stehen, wie man will, doch die Sage erzählt, dass, sollte einer dieser Gegenstände das Land verlassen, seine Magie erlöschen würde und damit auch alles, was diese Magie zusammenhält.“

„Ihr meint, das Reich würde zerfallen und die… die Zusammenarbeit oder das Zusammenleben mit den Elfen würde enden?“

„In gewisser Weise schon. Selbst wenn es nur symbolisch wäre, würden viele Menschen daran glauben. Alleine das würde schon zu einem heillosen Chaos führen.“

Leopold nickte zustimmend.

„Was machen wir jetzt damit?“

„Der Palast muss informiert werden. Wenn möglich sogar ihre Majestät persönlich. Wir können uns jetzt nur noch darauf einrichten, die Sachen so gut wie möglich zu bewachen.“


Sofort machte Clyde dem Erzdruiden Platz und der sprach ein paar kurze Worte, die den Schutzzauber der Tür verblassen ließen. Entschlossen trat der Erzdruide durch die Tür. Clyde winkte den Scouts und folgte ihm.

In der Empfangshalle befanden sich zwei Druiden und Sir David. Noch bevor einer von ihnen etwas sagen konnte, wurde die Tür hinter ihnen aufgerissen und Clyde hob erstaunt die Augenbrauen. So hatte er die Königin noch nie gesehen.

Sie hatte sich völlig undamenhaft und erst recht völlig unköniglich in ein Reitgewand geworfen, dass ihr fast das Aussehen eines jungen Mannes verpasste, wäre da nicht der fast bodenlange Rock gewesen, unter dem die Spitzen von Reitstiefeln zu erkennen waren.

Euer Majestät, ich…“

Wo ist er? Ich will seinen Kopf!“

Nun trat der Erzdruide gemessenen Schrittes vor seine Königin und verbeugte sich knapp.

„Er ist nicht hier, euer Majestät. Aber wir werden ihn finden. Ihr seid nun auch wieder sicher im Palast. Es war ein kurzer Aufstand, der niedergeschlagen werden konnte. Wenn ihr bereit seid, werden wir euch ausführlich berichten.“

„Aber es war dieser Talbot, nicht wahr? Ich habe ihm noch nie so ganz getraut.“

Clyde stutzte, dann erinnerte er sich. Charles Talbot war der Herzog von Elmet.

„Ganz recht, Euer Majestät. Doch wenn Ihr mir bitte folgen möchtet. Wir können Euch bei einem Glas Portwein über alles ins Bild setzen.“

Aufseufzend ließ Königin Maeve ihre gestikulierenden Hände sinken und nickte dem Erzdruiden huldvoll zu.

Der machte sich auf den Weg durch den Hain zu seinem Besprechungsraum, in dem Clyde vorher schon gewesen war. Mit einigen kurzen Handzeichen schickte der Erzdruide Andrew Fraser weg, bedeutete gleichzeitig Sir David Owen, ihm ebenfalls zu folgen und winkte Clyde heran. Er beugte sich etwas zu ihm herunter und flüsterte ihm ins Ohr.

„Du bleibst bei mir. Wir müssen sie ablenken, bis Andrew etwas herausgefunden hat. Am besten, du erzählst die ganze Geschichte ausführlich von Anfang an.“

Was sollte Andrew denn herausfinden? Oh, richtig. Da war ja der Sekretär des Herzogs, der immer noch bewusstlos im Gang lag. Clyde erschauerte etwas bei dem Gedanken, von jemandem verhört zu werden, der die Fähigkeit hatte, die Wahrheit zu erkennen. Sehr angenehm stellte er sich das jedenfalls nicht vor.

An den großen Lagetisch, auf dem immer noch Karten ausgebreitet lagen, wurde der Königin ein gepolsterter Stuhl gebracht. Clyde vermutete, dass man auf einen Besuch ihrer Majestät eigentlich nicht eingerichtet war.

„Ich möchte gerne unseren jungen Freund hier eine Zusammenfassung der letzten Ereignisse geben lassen. Dann werden wohl auch einige Zusammenhänge klar und eure Majestät können dann entscheiden, was weiter passieren soll.“

Der Erzdruide nickte Clyde aufmunternd zu, während dieser etwas nervös zu seiner Königin sah. Die jedoch lächelte erwartungsvoll und Clyde begann mit den Vorgängen während der letzten Generalaudienz.

Die Königin wirkte etwas gelangweilt, doch dann wurde sie aufmerksam, als die Sprache auf die Entführung des jungen Leopold von Winterstein kam. Clyde beschrieb dann dessen Befreiung, ohne allerdings auf Einzelheiten einzugehen. Im Zuge der Geschichte kam er dann auf die mehr zufällige Entdeckung des Verräters in den Reihen des Geheimdienstes.

Nun war die Königin ganz Ohr. Clydes Ausführungen wurden des Öfteren mit einem ‚Aha!‘ oder einem ‚Oh!‘ untermalt, ohne ihn jedoch in seinem Redefluss zu stören.

Bei der Schilderung der Seeschlacht mit der LE COMBATTANTE wäre Königin Maeve beinahe aufgesprungen, konnte sich dann aber doch beherrschen.

Den kurzen Besuch im Palast und die Verkleidung als Novizen kommentierte sie mit ‚unglaublich‘.

Bei der Schilderung der Begegnung mit der Navy lehnte sie sich lächelnd zurück und unterbrach Clyde das erste Mal.

„Der Marineminister hat also meinen Wünschen entsprochen. Wir sind äußerst zufrieden mit der Entwicklung. Es wurde höchste Zeit, das Konkurrenzdenken zurückzustellen und die Verteidigung Britannicas in den Vordergrund. Der Earl of Kirkwall war vor seiner Ernennung Admiral des nördlichen Geschwaders. Schon seine Vorfahren waren Seefahrer und er teilt Unsere Einstellung zu den Freibeutern.“

Clyde nickte und berichtete dann von der Rückeroberung des Palastes.

„Ihr seht, Euer Majestät, es war nur die Kompanie aus Elmet, die dem Ruf ihres Herzogs gefolgt ist. Rheged und Glovia haben euch tapfer verteidigt.“

„Ja, während Lundein und Cerniw sich in ihre Kasernen zurückgezogen haben. Und das alles, wegen ein paar Münzen.“ gab die Königin schnippisch zurück.

Sir David schüttelte nun den Kopf.

„Verzeihung, Euer Majestät, doch eine Summe von zehn Sovereigns ist für einen einfachen Soldaten die Summe, die er in fast einem halben Jahr verdient.“

Die Königin stutzte und dachte einen Moment nach.

„Umso schlimmer. Dieser Mensch hat also die Situation genutzt, um unsere Soldaten mit unserem Geld zu bestechen? Wie dreist!“

Dann sprang sie unvermittelt auf und deutete auf Sir David.

„Wo ist Colonel Montrose? Und dieser Hauptmann von Glovia? Ich will sie sehen.“

Sir David salutierte kurz und schritt zum Ausgang, während die Königin ihm hinterher sah. Ebenso nachdenklich betrachtete sie nun Clyde.

Nach einiger Zeit erschien auch Sir David wieder und verbeugte sich kurz.

„Colonel Montrose und Hauptmann Montalban sind im Hain, wie befohlen.“

Die Königin raffte ihren langen Rock und schritt so würdevoll wie möglich zur Tür während der Rest ihr in gebührendem Abstand folgte.

Draußen im Hain bemerkte Clyde, dass nicht nur der Colonel und der Hauptmann anwesend waren. Sir David hatte auch die Landungsabteilung und die Seesoldaten wie zu einer Parade antreten lassen. Zwischen ihnen stand die kleine Gruppe der Scythe-Scouts.

Clyde wunderte sich ein wenig über die Reihenfolge, bis ihm aufging, dass die Landungsabteilung von einem Offizier geführt wurde, die Seesoldaten nicht. Die Befehle zum Präsentieren wurden gegeben und Clyde bemerkte einen kleinen Schubs, den Sir David ihm gab. Einen Moment später wusste er, was dieser wollte. Clyde drehte sich zur Königin, zog seinen Degen und salutierte.

„Euer Majestät, ich melde die Einsatzgruppe von Royal Navy, den Scythe Scouts und den Freibeutern eurer Majestät, die zu Eurer Rettung eingetroffen sind.“

Erfreut wandte sich die Königin den angetretenen Soldaten und Seeleuten zu und ging langsam an der Reihe vorbei, während ihr Clyde mit gezogenem Degen folgte.

Mehr als einmal blieb die Königin stehen und wechselte ein paar Worte mit einem der angetretenen Leute. Bei den Scouts lächelte sie kurz, als sie Finn wahrnahm, doch ihr Blick blieb auf Dian hängen.

„Nun, mein Sohn, wie alt bist du?“

„Sechzehn, Euer Majestät.“

Die Königin hob ihre Augenbrauen und sah sich zu Clyde um.

„Dian McRuadh von der Isle of Scythe. Heiler und Luftmagier.“

Nun musterte die Königin Dian noch einmal und schüttelte fast ungläubig ihren Kopf.

„Und du hast vorhin diese Dunkelmagier besiegt?“

Dian lief leicht rot an und warf einen verzweifelten Blick zu Clyde, der jedoch nur mit den Schultern zuckte.

„Zusammen mit den anderen Magiern. Das ist richtig, euer Majestät.“

Immer noch kopfschüttelnd ging die Königin weiter und wandte sich nun den Seesoldaten zu. Am Ende der angetretenen Formation meldete Clyde sie offiziell ab und die Königin wandte sich nun den beiden Offizieren zu, die sie herbestellt hatte.

„Colonel Montrose, mit euch möchte ich mich gleich noch gesondert unterhalten. Aber dieser junge Mann ist mir noch nicht offiziell vorgestellt worden.“

Colonel Montrose machte ein säuerliches Gesicht bei der Aussicht auf ein Gespräch mit der Königin, doch er reagiert sofort.

„Euer Majestät, dies ist Hauptmann Felix Montalban. Kompaniechef der dritten Kompanie der Palastwache zu Caerdon.“

Der Hauptmann hatte sich kaum reinigen können vor der Aufforderung, vor seiner Königin zu erscheinen. Nun stand er dort, wie er aus dem Gefecht gekommen war. Selbst im Gesicht war noch ein kleiner dunkler Streifen zu sehen.

„Hauptmann Montalban also. Ihr seid aus Herblonde?“

Der Hauptmann erbleichte etwas. Er wusste nicht genau, was die Königin von ihm wollte, doch das war wohl kein guter Anfang.

„Meine Eltern sind aus Herblonde, Euer Majestät. Ich kam her, als ich fünf war und lebe nun schon seit fast zwanzig Jahre in Britannica.“

„Man hat mir berichtet, euren Truppen sei Geld geboten worden und euch sogar Land und Titel, solltet ihr den Aufständischen folgen.“

„Das ist richtig, Euer Majestät. Einige der Leute haben wohl mit dem Gedanken gespielt, aber ihre Kameraden haben sie schnell eines Besseren belehrt. Wer weiß denn, ob das Angebot wirklich ernst gemeint war und ob es wirklich Geld geben würde. Zum anderen stammen wir alle aus Glovia und warum sollten wir einem Fremden folgen, wo doch unsere Herzogin auch zugleich unsere Königin ist.“

„Eine interessante Formulierung, Hauptmann. Ihr seid in Herblonde geboren und doch habt ihr gerade gesagt ‚wir stammen alle aus Glovia‘. Eure Treue ist bemerkenswert und eure Königin wird sie nicht unbelohnt lassen. Der Usurpator hat euch Land und Titel versprochen, wenn ihr die Seiten wechselt. Wir haben euch nichts versprochen und doch seid ihr geblieben. Kniet nieder, Hauptmann Felix Montalban.“

Der junge Hauptmann sah sich verblüfft um, doch als ihn alle erwartungsvoll anblickten, ließ er sich auf sein rechtes Knie nieder. Sir David hatte bei den letzten Worten der Königin seinen Degen gezogen und reichte ihn ihr.

Mit geübtem Griff senkte die Königin den Degen symbolisch auf beide Schultern des Hauptmanns und gab ihn dann Sir David wieder zurück.

„Erhebt euch, Sir Felix Montalban.“

Der so plötzlich Geadelte wusste gar nicht was er sagen sollte und die Königin zog sich wieder in den Besprechungsraum zurück, wo der Erzdruide bereits auf sie wartete.

„Euer Majestät, wir haben den Sekretär des Schatzkanzlers lebend fangen können und haben ihn einer Befragung unterzogen. Der Herzog von Elmet befindet sich auf der Flucht und ist auf dem Weg zur Festung Stockport. Dort gedenkt er wohl auszuharren, bis ihn Hilfe erreicht.“

„Stockport? Wo ist denn das?“

„Südlich von Mameceaster, der Hauptstadt von Elmet. Die Anlage ist stark befestigt und schon öfter erfolglos belagert worden.“

Clyde wurde nervös und unterbrach den Erzdruiden.

„Wie weit ist dieses Stockport denn weg und wann ist der Herzog los?“

„Der Herzog ist verschwunden, kurz nachdem sich ihre Majestät in den Steinernen Hain gerettet hat. Er hat wohl erkannt, dass sein Plan gescheitert ist. Stockport ist von hier aus etwa 130 Meilen entfernt, wenn man auf der königlichen Fernstraße reist.“

Clyde stürmte kurz entschlossen nach draußen in den Hain und suchte Hauptmann Montalban, nun Sir Felix.

„Sir Felix, könnt ihr mir verraten, wie lange man von hier bis nach Stockport benötigt mit dem Pferd. Sagen wir, ein mittelmäßiger Reiter mit einem ausgeruhten Pferd.“

Der Hauptmann sah Clyde erstaunt an, aber er begann zu rechnen.

„Nach Stockport? Wo ist das denn?“

„In der Nähe von Mameceaster. Das sind etwa 130 Meilen.“

„Oh, dann kommt es darauf an, ob der Reiter sein Pferd wechseln kann. Und wie geübt er ist, sich lange im Sattel zu halten. Etwa acht Stunden sind die Grenze, mit Pausen. Das heißt also, in acht Stunden etwa 60 Meilen. Aber das wird selten erreicht. Es wird wohl mehr als zwei Tage dauern, bis euer Reiter Stockport erreicht.“

„Vielen Dank, Sir Felix.“

Der Hauptmann lächelte noch etwas schüchtern, als sein neuer Titel gebraucht wurde, verbeugte sich aber knapp.

„Ragnar!“

Eine violett uniformierte Gestalt löste sich aus einem Pulk von Matrosen und kam zu Clyde.

„Was gibt es, euer Lordschaft?“

Clyde bedachte Ragnar mit einem vernichtenden Blick.

„Vergiss es. Stell dir einfach vor, wie all die Lords ohne Klamotten aussehen und dann zeig mir, wo da der Adel ist.“

Etwas anzüglich sah Ragnar nun an Clyde herab und sein Blick blieb provozierend auf Clydes Hose hängen. Clyde verdrehte die Augen.

„Jetzt nicht. Welches ist der nächste Hafen in der Nähe von Mameceaster?“

„Was? Wo ist das denn?“

„Oh, Mann. Wie lange lebt ihr eigentlich alle schon in Britannica?“

Ragnar hob seine Augenbrauen und machte ein beleidigtes Gesicht. Dann drehte er sich plötzlich zu den Matrosen des Landekommandos um.

„Mister Fossit!“

Aus der Gruppe löste sich die Gestalt von Steuermannsmaat Fossit, der die Abteilung der OAKLEAF befehligte.

„Sie wollten mich sprechen, Sir?“

„Ja. Kennen sie eine Stadt namens…“

„Mameceaster“ half Clyde aus.

„Oh, ja. Die Hauptstadt von Elmet. Etwa zwanzig Meilen von der Küste im Binnenland.“

„Sehr gut. Welches wäre dann der nächstgelegene Hafen?“

Nun machte der Steuermannsmaat ein nachdenkliches Gesicht.

„Direkt in der Nähe gibt es keine größeren Häfen. Aber der am nächsten gelegene ist Liuerpul am River Mersey. Ziemlich klein und nicht sehr tief. Wir waren einmal mit der OAKLEAF dort zu einer Notreparatur.“

„Wie weit ist es von hier aus und wie lange brauchen wir dafür?“

Jetzt brach ein kurzes Gespräch zwischen Ragnar und Steuermannsmaat Fossit aus, bis Ragnar sich dann an Clyde wandte.

„Es sind etwa 300 Seemeilen von hier aus. Wenn der Wind günstig ist können wir es in etwas mehr als einem Tag schaffen.“

Das war die entscheidende Aussage für Clyde.

„Klarmachen zum Verlegen! Alle Einheiten sofort zurück auf die Schiffe!“

„Was machst du denn hier?“

Die Frage ließ Clyde sich wieder herumdrehen und er sah nun Leif Fossit, der erstaunt den Steuermannsmaaten der OAKLEAF musterte.

„Was wohl? Arbeiten. Kann ja nicht jeder nur ein bisschen mit den Händen wedeln und behaupten, es wäre Arbeit.“

„Hast du sie nicht alle? Was ist denn mit Mutter? Sie kann doch nicht alleine…“

„Auf einmal interessierst du dich für deine Familie? Du hast dich vier Jahre nicht blicken lassen. Vier Jahre! Der große Magier zieht ja hinaus in die Welt. Was kümmern ihn die Mutter oder seine Geschwister?“

„Eric, es ist nicht so…“

„Doch, ist es. Du bist bei Nacht und Nebel abgehauen und hast uns zurückgelassen. Hilda ist inzwischen verheiratet und hat zwei Kinder. Wusstest du das? Mutter lebt jetzt übrigens bei ihr. Und ich habe auch etwas gefunden, das meinen Wünschen entspricht.“

„Eric, ich bin nicht gegangen, weil ich magisch begabt bin. Das hätte ich auch am Hof des Jarls ausbilden lassen können. Es ist wegen… wegen… also…“

„Weil du lieber mit einem Kerl ins Bett steigst? Leif, du bist so blöd. Meinst du wir hätten das nicht gemerkt? Mutter wusste es schon, als du fünfzehn warst.“

Clyde wurde sich nun plötzlich bewusst, dass er die ganze Zeit einer sehr persönlichen Unterhaltung gelauscht hatte und nun zog er sich leise zurück um die beiden Brüder sich selbst zu überlassen.

Ragnar hatte inzwischen die Einheiten des Landekommandos sortiert. Nun standen sie abmarschbereit und warteten nur noch auf Eric Fossit, der immer noch leise mit seinem Bruder stritt. Ragnar machte kurzen Prozess.

„Mister Fossit! Einheiten klar zum Abmarsch!“

Hektisch verabschiedete sich Eric und rannte hinüber zu seiner Landungsabteilung. Clyde ging wieder in den Besprechungsraum zum Erzdruiden.

„Wir werden mit den Schiffen aufbrechen nach Liuerpul und von dort aus versuchen, den flüchtigen Herzog abzufangen.“

„Er könnte noch von einigen Dunkelmagiern begleitet werden oder aber unterwegs Hilfe bekommen. Ich werde euren Bruder anweisen, euch zu begleiten.“

Clyde verbeugte sich erfreut.

„Ihr seid sehr freundlich, Exzellenz.“

„Ich denke, es ist auch ein wenig Eigennutz. Wenn der Herzog tatsächlich der Kopf der Dunkelmagier sein sollte, haben wir einen großen Erfolg zu verzeichnen auf der Jagd nach ihnen.“


Die Sache mit dem Fund der magischen Artefakte im Hafen schien vom Palast als wirklich wichtig eingestuft worden zu sein. Nicht einmal eine halbe Stunde später traf eine komplette Kompanie der Palastwache ein.

Commander McBride und Leopold von Winterstein sahen sich einem jungen Hauptmann gegenüber, der deutlich abgekämpft wirkte.

„Ich bin Haupt… Sir Felix Montalban, Hauptmann der dritten Kompanie der Palastwache. Wir haben eine Benachrichtigung bekommen, ein Teil des Staatsschatzes wäre gefunden worden.“

„Völlig richtig Sir Felix. Und wir vermuten, dass weitere Teile sich an Bord eines Schiffes befinden, dass dort drüben an der Pier liegt. Es wird eine Weile dauern, bis wir die Fracht entladen und gesichtet haben. Was soll mit diesen beiden Kisten geschehen?“

Sir Felix sah nachdenklich hinüber zu dem Schiff und dann wieder auf die Kisten.

„Wir brauchen einen Wagen und dann werde ich die Kisten wohl mit der ganzen Kompanie als Bedeckung zurück in den Plast bringen. Die Fracht in dem Schiff muss noch einen Moment warten.“

Laute Ausrufe ließen die beiden Offiziere neugierig durch das geöffnete Tor auf die Straße sehen. Commander McBride traute seinen Augen nicht und auch Sir Felix hatte einen solchen Anblick noch nie gesehen.

Mitten auf der Straße kam der Erzdruide gemessenen Schrittes auf das Lagerhaus zu. Die weiße Robe strahlte förmlich, ebenso wie der fast sechs Fuß lange Stab, den der Erzdruide als Wanderstab benutzte. Ihm folgte eine geordnete Gruppe von sechs Männern und Frauen in fast militärischer Formation.

Zwei nebeneinander, drei hintereinander schritten sie schweigsam hinter dem Erzdruiden her, weder nach links noch nach rechts schauend. Gekleidet waren sie alle in enganliegendes dunkles Leder mit einem altmodischen silbernen Brustharnisch. Jeder von ihnen trug ein langes Schwert und einen Bogen.

Die Gesichter waren ausdruckslos, doch sie strahlten eine anmutige Schönheit aus, die fast unirdisch wirkte. Die umstehenden neugierigen Gaffer waren geradezu fasziniert von ihnen.

Als sie näherkamen, erkannte Sir Felix auch den Grund für die Erscheinung. Bei jedem der Begleiter des Erzdruiden konnte er nun deutlich die spitzen Ohren eines Sidhe ausmachen. Nie zuvor waren die Elfen in einer solchen Anzahl oder gar mit einer Bewaffnung gesehen worden.

Der Erzdruide trat näher, während seine Begleiter vor dem Lagerhaus stehen blieben.

„Willkommen, Exzellenz. Ich bin Commander McBride von der BATLLEAXE. Dies ist Leutnant von Winterstein und dies hier Sir Felix von…“

„Verzeiht, Commander, aber wir haben nur wenig Zeit. Sir Felix ist mir bereits bekannt. Es haben sich einige Dinge ergeben, die keinen Aufschub dulden. Würdet ihr bitte diese beiden Botschaften überbringen? Die eine ist für den Admiral in Caerdydd, die andere für den Earl of Scythe.“

Der Erzdruide zückte zwei Umschläge und Commander McBride nahm sie entgegen. Als er die Siegel sah, zuckte er leicht zusammen. Es waren die persönlichen Siegel der Königin.

„Sofort Exzellenz. Wir werden so schnell wie möglich wieder in See gehen.“

„Hervorragend. Zusätzlich zur Palastwache werden meine Begleiter hier den Transport und den Schutz der beiden Kisten hinüber in den Palast übernehmen. Eine Hohe Sidhe war der Ansicht, dass der Schutz des Bündnisses Vorrang hat vor dem Bedürfnis der Sidhe, so wenig wie möglich öffentlich aufzutreten. Ich nehme an, in ganz Caerdon werden nach dem heutigen Tag die wildesten Geschichten umlaufen.“

Leopold lachte leise.

„Und wahrscheinlich nicht nur hier. Oh, Commander, eine Bitte. Könntet ihr mich noch bis Scythe mitnehmen? Natürlich nur, wenn es keine Umstände macht.“

Commander McBride drehte sich unwillkürlich zu Lieutenant Bedford um und nickte dann.


Die Abfahrt der drei Kutter aus dem königlichen Yachthafen verzögerte sich dann doch ein wenig, Die einzelnen Landungstruppen mussten wieder an Bord gebracht werden und Ragnar informierte die drei Kommandanten über ihr Ziel und die Reiseroute dorthin.

Als sie endlich aus Caerdon auslaufen konnten, begann bereits wieder die Morgendämmerung. Clyde war zu Thorben gegangen, der nachdenklich den Fluss hinuntersah.

„Wie lange werden wir brauchen?“

„Wenn alles gut geht und wir die Gezeitenströmungen ausnutzen können, etwa 25 Stunden. Wir werden mit dem auflaufenden Wasser in Liuerpul einlaufen. Hast du dir schon Gedanken darüber gemacht, was passieren soll, wenn wir dort sind?“

Clyde schüttelte den Kopf.

„Nicht so richtig. Wir werden uns kurz beraten, aber entscheiden können wir erst, wenn wir dort sind.“

Thorben nickte zustimmend und sah weiter hinaus auf den Fluss. Plötzlich griff er nach seinem Fernrohr.

„Eine Korvette der Navy. Was will die denn jetzt hier?“

Auch Clyde beobachtete nun die Korvette, die mit vollem Zeug an ihnen vorbei in Richtung Caerdon zog. Da ertönte eine Stimme neben ihm. Es war Lieutenant Richardson, der ebenfalls angestrengt zu der Korvette hinübersah.

„Die BATTLEAXE. Das ist Commander McBride. Ich wundere mich, was er hier will. Er hat doch Patrouillendienst von Caerdydd aus nach Westen.“

Clyde zuckte mit den Schultern.

„Kommst du mit runter? Ich möchte eine kleine Besprechung abhalten. Wir müssen schon mal überlegen, was uns vielleicht alles begegnen könnte.“

Neugierig folgte Peter Clyde hinunter in die provisorische Unterkunft. Hier war es inzwischen reichlich eng geworden. Frank Beutler zählte sechzehn Personen und drehte sich zu Clyde.

„Scouts mit acht Mann vollzählig. Acht Gäste.“

Clyde nickte dankend, dann setzte er sich auf einen ballen Segeltuch.

„Wir müssen uns etwas einfallen lassen, wie wir den Duke of Elmet einfangen können, bevor er eine große Gefahr wird. Nach allem, was wir wissen, ist er derjenige, der hinter dem Komplott gegen die Königin steht. Er hat es anscheinend in seinen Jahren als Schatzkanzler fertiggebracht, große Mengen Geldes aus dem Staatsvermögen zu unterschlagen. Damit hat er sowohl seine Spione und Handlanger bezahlt, als auch seine Kontakte in Herblonde unterstützt. Der zweite Aspekt ist noch nicht endgültig geklärt. Wir müssen aber davon ausgehen, dass der Duke möglicherweise magisch begabt ist.“

Dian hob eine Hand und Clyde sah ihn an.

„Wie kann es sein, dass das bis jetzt niemand bemerkt hat? Ich dachte, die Druiden spüren die magische Begabung bei jemandem.“

Clyde runzelte die Stirn und dachte nach. Dieser Meinung war er auch gewesen. Dann hörte er ein lautes Räuspern neben sich. Clyde drehte sich und Andrew Fraser sah ihn erwartungsvoll an.

„Wenn ich darauf antworten dürfte?“

„Bitte.“

„Mit dem Erkennen der Magie ist es nicht so einfach. Wenn eine magisch begabte Person nichts macht, spürt man auch nichts. Erst wenn ein Zauber gewirkt wird, ist er erkennbar. Die meisten Begabten, die noch nicht ausgebildet sind, wirken unbewusst einen Zauber, der sie dann preisgibt. Ein ausgebildeter Magier muss sich allerdings sehr gut im Zaum halten können, wenn er nicht entdeckt werden will. Hier sind es die Zauber, die man unbewusst wirkt, weil sie einem selbstverständlich erscheinen.“

Dian nickte langsam.

„Aha. Danke, das habe ich verstanden.“

Clyde sah sich kurz um, bevor er fortfuhr.

„Die Hinwiese deuten auf eine Zusammenarbeit des Herzogs mit einer Gruppe von Dunkelmagiern. Möglicherweise ist er sogar der Anführer, oder zumindest einer von ihnen. Wir müssen uns also im Prinzip darauf einrichten, dass wir es mit den Truppen des Herzogs und etlichen Dunkelmagiern zu tun bekommen.“

„Ist das nicht ein Bisschen viel für uns paar Leutchen?“

„Vielen Dank, Mario, für die nette Aufmunterung. Natürlich ist es zu viel. Deshalb möchte ich den Herzog ja gerne abfangen, bevor er in sein Schloss fliehen kann oder alle seine Dunkelmagier vereinigt. Oder schlimmer noch, beides gleichzeitig.“

„Also müssen wir ihn vorher kriegen. Wissen wir denn, wo er sich genau befindet?“

„Nein. Er ist vor den Toren von Caerdon gesichtet worden, auf dem Weg nach Norden. Begleitet wurde er nur von zwei weiteren Reitern.“

„Aha. Und wie kommen wir vom Hafen bis zu diesem Schloss? Wir können ja nicht schon wieder eine Poststation plündern und die Pferde beschlagnahmen.“

Arje stöhnte unwillkürlich, als die Pferde erwähnt wurden.

„Tut mir leid, aber das müssen wir sehen, wenn wir dort sind. Ich habe keine Ahnung, wie es dort aussieht und wie wir weiterkommen. Wir müssen tatsächlich abwarten, bis wir den Hafen erreicht haben.“

Mit der Dämmerung des nächsten Morgens lagen die drei Kutter dann tatsächlich vor der Einfahrt nach Liuerpul.

Die Nacht war etwas beengt geworden. Ragnar hatte den drei Magiern des Erzdruiden seine Kammer zur Verfügung gestellt und war selbst zu den Scouts gegangen. In dem engen Raum hatten sich etliche Paare ein kleines Plätzchen gesucht. Ragnar bemerkte ganz erstaunt Lieutenant Richardson, der seine Sachen abgelegt hatte und mit Diethard zusammen unter einer Decke schlief. Die Zwillinge hatten sich Arje und Dian geholt und den Rest konnte er nicht genau erkennen. Lediglich einer sah ihm in dem schwachen Schein der Laterne entgegen. Ragnar lächelte, entkleidete sich und schlüpfte zu Clyde unter die Decke.

Um Mitternacht und zur Morgenwache kamen die Schiffsjungen um die Wachhabenden Offiziere zu wecken. Während des normalen Dienstes begleiteten jeweils zwei Schiffsjungen eine Wache als sogenannte Läufer. Und deren Aufgabe war es, unter anderem, die nachfolgende Wache zu wecken. Es war schon schwierig genug, bei der schwachen Beleuchtung überhaupt jemanden zu erkennen und dann wurden sie auch noch von Sachen abgelenkt, die sie eigentlich gar nicht sehen sollten oder durften.

Um vier Glasen der Morgenwache wurde Clyde von einem der Schiffsjungen geweckt.

„Eine Empfehlung vom Wachhabenden Offizier, Sir. Wir stehen vor der Ansteuerung von Liuerpul und laufen in den Mersey ein.“

„Ja, danke. Ich komme gleich hoch.“

Clyde sah sich verschlafen um. Diethard lag fest in den Armen von Peter, dafür war Ragnar weg. Also war er jetzt der Wachhabende Offizier.

Clyde schnappte sich seine Sachen und schlich aus dem Deck.

An Oberdeck wehte ein etwas stärkerer Nordwest, so dass die Kutter auf ihrem letzten Kurs fast achterlichen Wind hatten. Clyde zog sich seine Jacke über.

„Guten Morgen, Lord Clyde.“

Clyde musterte Ragnar nachdenklich.

„Guten Morgen. Was hab‘ ich dir getan, dass du so förmlich bist?“

Ragnar seufzte und sah nach vorne.

„Nichts. Es ist nur so, dass wir ja nun sehr viele Gäste haben, die nicht von Scythe stammen. Oder des Öfteren im Palast sind. Ist es da nicht besser, sich an die Förmlichkeiten und die Etikette zu halten?“

Clyde hob seine Augenbrauen.

„Ja, natürlich. Aber das sind seltene Gelegenheiten. Und hier sind wir unter uns und wir bestimmen die Formalitäten an Bord. Ich bin der Meinung, wir sollten es nicht übertreiben mit dem Protokoll und dem ganzen Kram.“

Mit zwei Schritten näherte sich Clyde Ragnar, stellte sich auf die Zehenspitzen und gab dem überraschten Lieutenant einen Kuss. Hinter sich hörte Clyde jemanden hörbar nach Luft schnappen. Als er sich umdrehte sah er in die braunen Augen des Signalgasten.

„Haben wir dich erschreckt? Tut mir leid, aber mir war danach.“

Manuel schüttelte nur den Kopf und sah betreten zu Boden. Um seine mehr als aufgeregten Gedanken zu verscheuchen starrte er hinüber zur Küste.

„Signal!“

„Was? Wo?“

„Dort drüben, Sir. Das Fort direkt an der Küstenlinie.“

Ragnar sah nach Steuerbord.

„Das muss Perch Rock sein. Was wollen die?“

Manuel starrte angestrengt durch sein Fernglas und ließ es dann irritiert sinken.

„Sie haben nur eine Flagge gesetzt. Ein ‚H‘.“

Ragnar brummt verärgert, aber dann zuckte er mit den Schultern.

„Wir sollen einen Lotsen nehmen. Setz auch ein ‚H‘, aber nur halb. Wenn der Lotse dann da ist, setzt du es vor.“

„Aye aye, Sir.“

Thorben war benachrichtigt worden und trat nur kurz vor dem Lotsen an Deck.

Der Lotse war ein älterer Mann in der schmucklosen dunkelblauen Uniform, die viele Handelsschiffskapitäne trugen.

„Guten Morgen. Ich bin Edgar Peabody. Einer der Hafenlotsen. Darf ich fragen, wohin sie wollen? Wir haben nur wenige Liegeplätze und die sind fast alle belegt. Wenn sie hier etwas Laden oder Löschen wollen, müssten sie wahrscheinlich auf Reede.“

„Thorben Dagursson. Ich bin der Schiffsführer. Wir sind ein Schiff der Kaperflotte von Scythe und bräuchten einen Platz, wo wir und die nachfolgenden Einheiten der Navy etliche Leute ausschiffen können.“

Der Lotse folgte Thorbens Blick nach oben zur blauen Flagge der Freibeuter und nickte dann nachdenklich.

„Wollen sie direkt in die Stadt, oder nach Süden in Richtung Chester?“

„Eigentlich nach Osten, Richtung Mameceaster.“

„Oh. Da habe ich einen Vorschlag. Fahren sie den Mersey weiter flussaufwärts bis Weston Point. Da haben sie gute zehn Meilen gespart. Außerdem gibt es da einen guten Liegeplatz. Die Yacht seiner Gnaden liegt auch dort.“

Clyde stand etwas abseits und verfolgte beiläufig das Gespräch. Als die Yacht erwähnt wurde, horcht er auf.

„Verzeihung, Mister Peabody. Meinten sie mit ‚seiner Gnaden‘ den Duke of Elmet?“

„Aber ja. Seine Residenz ist ja gar nicht so weit weg. Er hat eine eigene Yacht für seine Ausflüge in Weston Point liegen.“

„Er hat eine eigene Yacht? Davon wusste ich gar nichts.“

Der Lotse sah Clyde prüfend an und zuckte dann mit den Schultern.

„Ist eigentlich ganz bekannt hier an der Küste. Macht öfter Ausflüge bis nach Erin und in diese Gegenden. Immer mit einem halben Hofstaat.“

Die letzte Bemerkung klang etwas abfällig und Clyde hatte den Eindruck, dass Mister Peabody den Herzog nicht besonders mochte.

„Aha. Und die Yacht liegt in Weston Point? Wie lange brauchen wir bis dort?“

„Oh, das sind nur etwa fünfzehn Seemeilen. Bei diesen Windverhältnissen etwa anderthalb Stunden.“

Clyde sah Thorben an und dieser nickte.

„In Ordnung. Dann machen wir uns auf nach Weston Point.“

Der Lotse sah den Schiffsführer erstaunt an. Wer war der rothaarige junge Mann, dass er einfach solche Entscheidungen treffen konnte.

„Oh, Verzeihung. Ich habe sie noch gar nicht vorgestellt. Mister Peabody, dies ist Lord Clyde Cameron. Leutnant der Scythe-Scouts und der momentane Oberbefehlshaber unserer kleinen Flotte. Euer Lordschaft, dies ist Mister Peabody, Lotse von Liuerpul in den Diensten der Stadt.“

Mister Peabody war nun doch etwas überrascht, reagierte aber sofort mit einer leichten Verbeugung.

„Euer Lordschaft.“

„Danke, Mister Peabody. Dann bringen sie uns mal an unseren neuen Bestimmungsort.“

Der Weg nach Weston Point führte den River Mersey hinauf, vorbei an Liuerpul an Backbordseite und Fort Perch Rock mit dem Leuchtturm an Steuerbord. Hinter der Durchfahrt erweiterte sich der Fluss und bildete eine kleine Bucht. Das Fahrwasser war nur durch ein paar spärlich ausgebrachte Tonnen markiert. Hier war der Lotse auf jeden Fall äußerst nützlich.

Bei der Annäherung an Weston Point war schon auf einige Entfernung ein einzelnes Schiff erkennbar, das dort an der Pier lag. Sven pfiff leise durch die Zähne.

„Sieh an, sieh an. Ein wahres Schmuckstück.“

Clyde konnte gerade mal den Rumpf und zwei Masten erkennen.

„Was ist da dran denn so besonders?“

„Ein Gaffelschoner. Hat an beiden Masten solche Segel wie wir als Großsegel. Keine Rahen. Das Ding ist draußen bei gutem Wind ganz schön schnell.“

Der Lotse hatte die Bemerkung gehört und nickte.

„Ja, tatsächlich ein sehr elegantes Schiff. Soll in Herblonde gebaut worden sein. Hat auch noch den ursprünglichen Namen. Heißt ÍLE AUX MOINES. Der Kapitän behauptet, sie würde bei gutem Wind fast vierzehn Knoten machen.“

Sven und Thorben sahen nun genauer hinüber, während oberhalb von Clyde in den Wanten laut getuschelt wurde. Irritiert blickte er nach oben und sah die beiden Bootsmannsmaate der ESTRAY ebenfalls hinüberblicken. Einer von ihnen war Mickey Fraser, den anderen kannte Clyde nicht.

„Mickey, was ist los da oben?“

„Oh, hallo Clyde. Moment.“

Behände kletterten die beiden jungen Männer die Wanten herunter und stellten sich vor Clyde auf. Mickey kannte Clyde ja nun, doch der andere war ihm neu. Ein dunkelblonder junger Mann, wohl so um die zwanzig mit einem schmalen Gesicht und grauen Augen.

„Das ist Louis Batton, unser zweiter Bootsmannsmaat. Er hat gesagt, er kommt aus der Gegend, nach der das Schiff benannt ist.“

„Tatsächlich?“

Louis lächelte leicht.

„Jawohl, euer Lordschaft. Aber bei uns heißt die Insel anders. Wir sprechen auch noch die alte Sprache unserer Vorfahren, so wie in Britannica die Sprachen in Lothian oder Cymru gesprochen werden. Bei uns heißt die Insel Izenah.“

In dem Moment, als Louis den Namen der Insel ausgesprochen hatte, wurde Clyde klar, was er zu tun hatte.

„Aber Íle aux Moines heißt doch…“

„Die Insel der Mönche“ kam die Antwort von hinten.

Manuel hatte hinter ihnen gestanden und dem Gespräch gelauscht.

„Warum denn Mönche? Gibt es dort ein Kloster?“

„Nein. Es gibt dort einen uralten Steinkreis, ein Cromlech. Einer der Steine gleicht einem Mönch mit Kapuze, daher der Name. Ich weiß nicht, was früher dort passiert ist, aber die Bewohner der Insel nennen den Cromlech Cercle de l’Ankou.“

Manuel schnappte nach Luft und Louis machte ein etwas trauriges Gesicht.

„Das ist der Kreis des Todes.“

Clyde hingegen schüttelte nur den Kopf.

„Wir müssen zu dieser Insel“ murmelte er.


Zunächst jedoch näherte sich die ESTRAY der Pier in Weston Point. Die ESTRAY legte genau hinter der ÍLE AUX MOINES an und die OAKLEAF sollte bei ihr längsseits gehen. Die BIRCHLEAF würde hinter dem Päckchen festmachen.

Während des Anlegemanövers beobachtete Clyde die Besatzung der ÍLE AUX MOINES. Sie wuselten an Bord hin- und her und Clyde kam ein Verdacht.

„Was machen die da vorne?“

Diethard drehte sich um und starrte nun ebenfalls einen Moment lang nach vorne.

„Hm, sieht so aus, als ob die seeklar machen.“

Betroffen sahen die beiden jungen Männer sich an und dachten das Gleiche. Clyde wandte sich um und suchte Thorben.

„Sieht so aus, als ob wir nicht mehr weit reisen müssten. Die ÍLE AUX MOINES scheint seeklar zu machen. Ich wette meinen Hintern darauf, dass sie auf den Herzog warten, um ihn außer Landes zu bringen.“

Thorben grinste säuerlich.

„Wenn die Gerüchte stimmen, ist dein Hintern ja wohl kein großer Einsatz. Ich verzichte.“

„Darf ich dagegen wetten?“

Die beiden jungen Männer drehten sich zu der hellen Stimme um und Clyde sah in die erwartungsvollen braunen Augen von Manuel.

Clyde lachte leise, während hinter Manuel eine weitaus größere Gestalt erschien.

„Solltest du unerwarteter Weise gewinnen, hast du ja wohl noch ein Jahr hin, um den Gewinn einlösen zu dürfen.“

Manuel fuhr erschreckt herum und sah hoch zu Sven, der ihn angrinste.

„Aber mach dir keine Hoffnungen. Ich denke, dass Clyde gewinnt. Und du möchtest doch nicht deinen kleinen Hintern bei ihm verwetten?“

Manuel schüttelte heftig den Kopf. Bei dem, was er kurz unten im Deck gesehen hatte, hatte er sich schon gewundert, ob das wirklich nicht alles ohne Schmerzen abging.

Clyde sah ihm förmlich seine Gedanken an und legte ihm eine Hand auf die Schulter.

„Keine Angst. Erstens bist du noch nicht soweit und zweitens liegt es immer an dir, was du machen möchtest. Besonders, was du machen lässt. Es ist immer besser, einmal mehr nein zu sagen, als es nachher zu bereuen.“

Manuel nickte ernsthaft und Clyde schickte ihn mit einem kleinen Klaps auf den Hintern zur Arbeit.

„Was machen wir jetzt?“

Diethard und Thorben sahen immer noch nach vorne zur ÍLE AUX MOINES.

„Ich finde, wir sollten dem Schiff einen Besuch abstatten. Was glaubst du, wieviel Besatzung hat das Ding?“

„Erheblich weniger als wir. Die Gaffelsegel brauchen nicht so viele Männer zur Bedienung. Als Yacht nehme ich an, dass sie nur wenige Kanonen haben und dafür mehr Personal für Bedienung der Gäste. Also, mehr als 40 werden es kaum sein.“

Clyde nickte und gab seine Befehle.

Wie schon in Caerdon formierten sich nun zwei Einheiten auf der Pier, die eine bestehend aus Seeleuten der drei Kutter, die andere aus den eingeschifften Seesoldaten.

Die Besatzung des Schoners starrte nun neugierig herüber und wurde lautstark wieder an die Arbeit gescheucht. Die Landungsabteilung marschierte nur wenige Schritte und kam dann vor der ÍLE AUX MOINES zu stehen.

Jetzt halfen keine noch so laut gebrüllten Befehle. Die Besatzung des Schoners starrte auf die Pier, einige entsetzt, andere aber auch anscheinend erleichtert.

Clyde begab sich, gefolgt von Ragnar und Peter Richardson an Bord des Schiffes. Der Kapitän der ÍLE AUX MOINES hatte schon die Aufregung bemerkt, die sich auf seinem Schiff breit gemacht hatte. Mit zusammengekniffenen Augen sah er aus dem Heckfenster auf die Kutter und seufzte. Es hatte ja so kommen müssen. Eilig begab er sich an Deck.

Zu seiner Überraschung sah er sich drei noch sehr jungen Männern gegenüber. Der rothaarige in der grünen Uniform schien wohl noch keine zwanzig zu sein. Die Uniform konnte er nicht recht zuordnen. Dafür aber die violette Uniform des Earls of Scythe. Sie war in Seefahrerkreisen fast schon berühmt, egal wie man zu deren Trägern stand. Und dann natürlich der Lieutenant in der Uniform der Royal Navy.

„Guten Morgen, meine Herren. Was führt sie auf die Privatyacht des Herzogs von Elmet? Ich bin Captain LeRouge und muss mich, ehrlich gesagt, doch ein wenig wundern ob ihres forschen Auftritts.“

Damit wies der Captain mit einer Hand auf die Pier.

„Ich bin Lord Clyde Cameron. Leutnant der Scythe-Scouts und im Moment beauftragt durch ihre Majestät, die Königin von Britannica, den ehemaligen Herzog von Elmet festzusetzen und ihn der Gerichtsbarkeit dieses Landes zu übergeben.“

Der Captain war nun sichtlich überrascht.

„Aber… aber…“

„Tut mir leid, Captain, doch ihr Schiff ist hiermit offiziell beschlagnahmt. Ihre Majestät hat Charles Talbot sämtlicher Ämter enthoben und ihm alle Titel aberkannt. Der Erbtitel des Herzogs von Elmet geht auf seinen gesetzlichen Erben über. Alle Besitztümer werden beschlagnahmt und unterliegen bis zum Ende des Prozesses gegen den ehemaligen Herzog der Kontrolle durch den königlichen Hof.“

Nun erbleichte der Captain sichtlich und sah sich hektisch um. Mit einer schnellen Bewegung versuchte er sich in Richtung seiner Kajüte in Sicherheit zu bringen, doch Ragnar war schneller. Seine rechte Faust schnellte vor und schickte den Captain auf die Planken. Clyde und Peter zogen ihre Säbel, die sie, wie Ragnar auch, zu diesem offiziellen Auftritt extra angelegt hatten.

Dies war das Zeichen für die Truppen auf der Pier. Sergeant Jones ließ seine Seesoldaten an Bord stürmen und die wichtigsten Punkte besetzen. Ihnen folgten auch gleich die Seeleute, die ihre Kameraden vom Schoner am Bug zusammentrieben.

Sergeant Jones meldete den Schoner besetzt und alle Positionen gesichert. Steuermannsmaat Fossit meldete die Besetzung ohne Widerstand festgesetzt.

„Das ging ja schnell. Und keiner hat sich gewehrt? Ich hätte schon gedacht, sie würden den Besitz ihres Herzogs etwas mehr verteidigen.“

Eric Fossit schüttelte den Kopf.

„Das sind einfache Seeleute der Handelsmarine. Weder Freibeuter, noch Soldaten. Sie bedienen die Segel und fahren das Schiff. Im Notfall können sie auch die Kanonen abfeuern, aber das war‘s auch. Sie sind für den Kampf weder ausgebildet, noch werden sie dafür bezahlt.“

Bei der Erwähnung sah Clyde an der Reihe der Geschütze an Oberdeck entlang. Sechs Stück auf jeder Seite und selbst für sein ungeübtes Auge reichlich klein. Ragnar folgte seinem Blick.

„Vierpfünder. Für den Kampf eigentlich wertlos. Ich wette, sie wurden hier an Bord als Salutkanonen eingesetzt.“

Clyde hob fragend die Augenbrauen.

„Für Schiffe der Navy gelten Salutbestimmungen. Da werden Kanonen blind abgefeuert, das heißt, ohne Kugeln, nur mit Knall. Je nach Anzahl der Schüsse wird jemand geehrt. Der Gehrte muss natürlich auch den Salut erwidern. Kostet jede Menge Geld an Pulver und ist in meinen Augen Schwachsinn. Ich bin nur froh, dass wir als Freibeuter den Unsinn nicht mitzumachen brauchen.“

Lieutenant Richardson war da wohl deutlich anderer Ansicht. Der Blick, mit dem er Ragnar ansah, sprach Bände, doch er sagte nichts.

„Na gut, was machen wir jetzt?“

Clyde sah sich suchend um, bis er die kleine Gruppe bemerkte, die sich von der ESTRAY näherte.

„Ich denke, Andrew wird sich des Captains annehmen. Er ist für solche Befragungen deutlich qualifizierter als wir. Ich möchte gerne, dass das Schiff einmal komplett durchsucht wird. Ich will keine Überraschungen erleben mit irgendwelchen Fässern mit Artefakten oder mit einem Stapel von ausländischen Flaggen.“

Ragnar nickte, während Peter ihn erstaunt ansah.

„Ragnar kann dir das alles erklären. Wo ist Sergeant Jones?“

„Hier, Sir!“

„Ah, ja. Ich möchte gerne, dass die Niedergänge, die Kapitänskajüte und die Gangway mit einem Posten bewacht werden. Zugang zum Schiff erhalten nur die Besatzungsangehörigen unserer drei Kutter. Was die Besatzung hier angeht… Mister Fossit?“

„Ja, Sir?“

„Wieviel Besatzung hat denn die ÍLE AUX MOINES nun?“

„Ein Kapitän, drei Offiziere, sechs Maate, zweiunddreißig Seeleute, sechs Schiffsjungen, zwölf Stewards und zwei Köche.“

„Oh, tatsächlich? Also gut. Sergeant Jones, sie haben es gehört. Der Kapitän und die Offiziere werden in ihren Unterkünften bewacht. Die Seeleute gehen erst mal in ihr Deck, die Schiffsjungen auch. Die Stewards dürfen das Schiff verlassen, die brauchen wir nicht mehr. Habe ich was vergessen?“

Eric Fossit lächelte leicht.

„Die Köche, Sir. Ich würde vorschlagen, wir lassen den normalen Dienst für den Hafen wieder aufnehmen. Also die Kombüse kann mit den Vorbereitungen für das Essen weitermachen. Der Rest der Seeleute kann in ihrem Deck verbleiben.“

„Gute Idee. Sergeant Jones, sprechen sie alles mit Mister Fossit ab. Falls Fragen sein sollten, ich bin in der Kapitänskajüte.“

„Jawohl, Sir“ kam das doppelte Echo.

Der Vorraum zur Kapitänskajüte war mit einem Kartentisch und etlichen Regalen ausgestattet. Zu seiner Überraschung entdeckte Clyde an einem der Regale Manuel, der in einem Buch blätterte.

„Nanu, ich dachte, die Befehle wären eindeutig. Keine Schiffsjungen bei irgendwelchen Kampfhandlungen außer als Pulverjungen. Was machst du hier?“

Manuel straffte sich ein wenig, während er Clyde ansah.

„Jawohl, Sir. Die Befehle sind eindeutig. Der Master hat mich hergeschickt, nachdem die Übernahme des Schiffes abgeschlossen war. Ich soll die Seehandbücher durchsehen, ob sich dabei etwas für uns findet.“

Jetzt war Clyde wirklich überrascht.

„Sven hat dich wegen Seehandbüchern hergeschickt? Weißt du denn, was wir haben und wonach du suchen sollst?“

Manuel verzog sein Gesicht.

„Natürlich. Ich habe ja Zeit genug gehabt an Bord. Ich habe das Signalhandbuch gelesen und dann die Seehandbücher die wir an Bord haben. Sind ja nicht so viele. Und dann dieses Ding von Lord Runciman über die Grafschaften Britannicas. Hier ist noch so ein Werk von ihm.“

Manuel wedelte mit einem relativ dicken, großen Buch umher und legte es dann auf den Kartentisch. Clyde kam näher. Flaggen und Fahnen Britannicas – ein Standardwerk.

„Und hier sind noch fünf Bände, aber die sind nicht wirklich spannend. Clyde ging zum Regal und sah auf die Bücher, die Manuel ihm zeigte. Wappen und Helmzier Britannicas, Band I. Clyde schüttelte sich. Das hatte er schon während seines Schulunterrichtes gehasst.

„Und was willst du jetzt mit rüber nehmen?“

„Na, also auf jeden Fall die Flaggen und Fahnen. Die drei Seehandbücher hier und dann das Heft über Salute und Ehrerweisungen.“

Clyde sah die Seehandbücher an und hob die Augenbrauen. Westküste Herblonde, südlicher Teil und Westküste Herblonde, nördlicher Teil. Das könnte interessant werden. Er würde auf jeden Fall Thorben, Ragnar und Sven danach befragen.

„Na, dann los. Sven wird sicher schon auf dich warten.“

Manuel packte die Bücher in einen mitgebrachten Seesack und schleppte ihn an Deck. Gerade als er das Schiff verlassen wollte, fiel sein Blick nach oben. Hier im Hafen führte der Schoner seine Landesflagge am Heckstock. Im Mast wehte lediglich die Flagge des Herzogtums, sollte der Herzog anwesend sein. Nun aber wehte eine andere Flagge im vorderen Mast aus und Manuel wurde hektisch.

„Euer Lordschaft!“

„Was ist?“

„Da oben. Jemand hat eine Flagge gesetzt, die da eigentlich nicht hingehört.“

Nun sah Clyde nach oben und auch Ragnar, der die Bemerkung gehört hatte, folgte seinem Blick. Ragnar stieß einen Fluch aus und rannte zum Mast, um nach der Flaggleine zu suchen. Schnell wanderte die Flagge wieder herab. Clyde sah von Ragnar zu Manuel.

„Was war das denn?“

Manuel holte tief Luft.

„Das war die Flagge der Königin von Britannica. Ich nehme an, sie haben hier an Bord einen Satz sämtlicher Flaggen der Herzogtümer und sowas. Damit wird eigentlich angezeigt, wer an Bord ist, damit die entsprechende Ehrung erwiesen werden kann. Bis gerade eben wurde gezeigt, dass die Königin hier an Bord ist.“

„Was? Das macht doch gar keinen Sinn. Sie ist doch gar nicht hier.“

Ragnar kam heran, mit der Flagge in Händen, die er an Manuel weitergab.

„Nein. Aber man konnte meilenweit sehen, dass hier an Bord anscheinend etwas vor sich gegangen ist.“

Clyde unterdrückte einen Fluch.

„Alle Schiffe gefechtsklar machen. Ich möchte alle Magier hier an Bord haben. Sag ihnen, es könnte sein, dass der ehemalige Herzog in Kürze hier eintrifft.“


„An Deck! Am Ortseingang versammeln sich Leute. Es sind einige Reiter eingetroffen!“

Clyde nickte und sah zum Ausguck hoch.

„Sie sind da. Sag Bescheid, wenn sie näherkommen!“

Ragnar sah ebenfalls hinüber zum Dorf, konnte aber durch die Bebauung nicht viel erkennen.

„Wie hast du dir das jetzt vorgestellt?“

„Wir lassen sie so weit wie möglich herankommen. Ich weiß nicht, ob sie was bemerkt haben, oder ob ihnen jemand aus dem Dorf etwas verraten hat. Wenn der Herzog tatsächlich so schnell wie möglich das Land verlassen will, wird es wohl zum Kampf kommen. Obwohl…“

Clyde sah nachdenklich zu den ersten Häusern hinüber.

„Ich möchte ungerne das halbe Dorf abfackeln. Sag mal, wie weit reichen diese kleinen Kanonen eigentlich?“

„Also für ein Seegefecht… Ach so. Also bis zu den Häusern auf jeden Fall. Ich habe aber keine Ahnung, ob Kugeln oder Kartätschen vorrätig sind.“

„Dann ist es spätestens jetzt Zeit, das festzustellen.“

Ragnar sah Clyde verblüfft an, dann fuhr er hektisch herum und suchte nach Steuermannsmaat Fossit.

„An Deck! Die Reiter am Ortseingang haben sich aufgeteilt. Sie haben zwei Gruppen gebildet die in entgegengesetzten Richtungen um das Dorf herumreiten.“

„Sie wollen uns von zwei Seiten angreifen“ murmelte Clyde mehr zu sich selber.

Dann bemerkte er Frank Beutler, der die Scouts entlang des Schanzkleides verteilte. Auch er hatte die Meldung des Ausgucks mitbekommen.

„Sergeant Jones!“

„Sir?“

„Machen sie ihre Truppe klar zum Gefecht. Verteilen sie ihre Leute so gut wie möglich. Sie sollen sorgfältig zielen und möglichst alle Ziele abdecken.“

„Jawohl, Sir.“

Sergeant Jones rief bereits seine ersten Befehle, als Ragnar von den Geschützen wiederkam.

„Sie haben tatsächlich Kartätschenmunition an Bord. Eine ganze Menge sogar, dafür aber fast keine Vollkugeln. Bei dem Kaliber ja auch kein großes Wunder. Was jetzt?“

„Laden und feuerbereit machen. Aber noch nicht ausrennen. Wir lassen sie erst einmal im Unklaren über unsere Absichten. Wir warten ab, bis sie den ersten Schritt getan haben.“

Clydes Blicke wanderten immer wieder über den Vorplatz der Pier. Auf der frei zugänglichen Lagerfläche standen nur wenige Fässer und Kisten. Die nächsten Häuser waren gut 30 Meter weit entfernt. Auf der Hauptstraße waren keine Bewegungen zu erkennen, doch Clyde meinte, in zwei der kleineren engen Gässchen zwischen den Häusern etwas zu erkennen.

„Ausguck! Was ist zu erkennen?“

„An Deck! Sie haben sich aufgeteilt und sind zwischen den Häusern verschwunden.“

Zunächst tat sich gar nichts und Clyde fragte sich, was der Gegner nun vorbereitete. Das erfuhr er, als Andrew Fraser hinter ihm plötzlich an die Reling sprang und angestrengt zu den Häusern hinüberstarrte.

„Ein Beeinflussungszauber. Noch ist er schwach, wird aber immer stärker. Eigentlich sollten unsere Leute jetzt…“

Ein erster Aufschrei ließ Clyde nach rechts sehen. Einer der Seeleute an den Geschützen hatte seine Hände hochgerissen und presste sie an seine Schläfen. Jetzt spürte auch Clyde ein merkwürdiges Ziehen in seinem Kopf, das er aber problemlos ausblenden konnte.

Als weitere Seeleute und auch einige der Soldaten mit schmerhaft verzogenen Gesichtern zu Boden sanken, drehte sich Clyde zu Andrew.

„Wo ist er?“

Andrew wusste, dass Clyde den fremden Magier meinte, der ihnen gerade zu schaffen machte.

„Es sind mehrere. Sie müssen einen Ritualkreis bilden bei einem solchen Flächenzauber. Such nach mehreren Magiern dicht auf einem Haufen.“

Clyde konnte von seiner Position aus nicht viel erkennen und so rannte er zunächst in Richtung Bug. Zwischen all den sich am Boden windenden Seeleuten und auch Scouts kauerte Dian und kümmerte sich um Arje und Mario.

Clyde versuchte an Land etwas zu erkennen, doch dort zeigte sich niemand.

„Sie sind hinter dem Gartenzaun dort drüben.“

Erschreckt fuhr Clyde herum und sah sich einem der Schiffsjungen der ÍLE AUX MOINES gegenüber. Der stand dicht neben dem zweiten Geschütz und starrte ebenfalls an Land. Ansonsten schien es ihm aber gut zu gehen.

Die Schiffsjungen der ÍLE AUX MOINES hatten beim Beladen der Kanonen geholfen, so wie sie es als Pulverjungen gelernt hatten. Dieser hier war wohl dreizehn oder vierzehn Jahre alt, mit einem schmalen Körperbau, der schlanke, fast ungelenke Arme und Beine zeigte, die zu lang für den Körper schienen. Auch seine Stimme kippte noch manchmal in eine höhere Tonlage.

Clyde hatte einige dringende Fragen, doch zunächst mussten die Magier ausgeschaltet werden.

„Wo genau?“

„Dort!“

Der Junge zeigte auf einen Lattenzaun neben einem der Häuser. Der Zaun war so dicht, dass Clyde dahinter nichts erkennen konnte.

„Ich seh‘ nichts. Bist du sicher?“

Der Junge nickte heftig.

„Ich weiß es. Ich kann es spüren.“

Aha! Clyde hatte nun noch viel mehr Fragen, die aber immer noch warten mussten.

„Dann hilf mir mal.“

Clyde griff nach den Haken, mit denen die Abdeckungen der Stückpforten gelöst werden konnten. Die Stückpforten waren lediglich Aussparungen in dem massiven Schanzkleid, das die Kanonen schützten. Erst an Bug und Heck ging das Schanzkleid wieder in eine Reling aus hölzernen Stützen und einem einfachen Handlauf über.

Die Aussparungen für die Stückpforten waren im Hafen und im normalen Seebetrieb von kleinen Toren verschlossen, die mit zwei Scharnieren befestigt und mit einem einfachen Haken verriegelt waren.

Von der Bewegung aufmerksam geworden, eilten Leif Fossit und Tarek Jones heran. Gemeinschaftlich holten sie an den Tauen die kleine Kanone nach vorne. Clyde wandte sich an den Schiffsjungen.

„Wie heißt du eigentlich.“

„Ich? Oh…“

Der Junge sah nun etwas betreten zu Boden und seine Antwort erklang nur undeutlich.

„Michael Marion Milster, Sir.“

Clyde hob lediglich seine Augenbrauen, sagte aber nichts. Nach einem kurzen Moment sah der Junge auf und als Clyde weder lachte, noch sonst irgendwelche Kommentare gab, wurde er wieder etwas mutiger.

„Ich bin Schiffsjunge und Stewardhelfer hier an Bord. Aber ich möchte lieber Stückmeister werden.“

Nun musste Clyde doch lächeln. Der Junge hatte sich ein ehrgeiziges Ziel gesucht. Ob sich das mit seiner offensichtlich magischen Begabung vereinbaren ließ, würde sich noch herausstellen müssen.

„Dann zeig mal, was du gelernt hast.“

Clyde deutete auf die kleine Kanone und Michael sah zunächst ungläubig auf Clyde, dann freudig auf das Geschütz.

„Du weißt, dass sie mit Kartätschen geladen sind? Ich möchte gerne, dass der Zaun dort hinten getroffen wird.“

Michael nickte heftig und peilte über das Rohr. Leif und Tarek halfen ihm, das Geschütz mit den Handspaken zur Seite zu richten. Zur Höhenrichten peilte Michael wieder über das Rohr und drehte sich etwas unentschlossen zu Clyde um.

„Mit der Entfernung bin ich mir nicht ganz sicher.“

„Das haben wir gleich. Sieh noch einmal nach dem Ziel.“

Michael peilte noch einmal und spürte plötzlich, wie sich eine Hand auf seinem Rücken unter das lose herunterhängende Matrosenhemd schob. Er erschauerte leicht, als er an verschiedene Vorfälle dachte, bei denen sich ihm jemand in ähnlicher Weise genähert hatte. Doch hier und jetzt würde das ja wohl kaum der Fall sein.

Die Hand blieb mitten auf seinem Rücken ruhig liegen und dann geschah das Unglaubliche.

Sein Sichtfeld verengte sich und der Zaun schien viel näher zu sein. Von der Kanone zog sich ein kleiner flacher Bogen hinüber um dahinter irgendwo niederzugehen.

„Etwas tiefer.“ flüsterte er fast zu sich selber.

Er hörte kaum, wie Tarek den Keil der Höhenrichtung etwas hereintrieb, doch nun senkte sich der Bogen um genau in der Mitte des Zaunes zum Stehen zu kommen.

„Ziel aufgefasst.“

Die Hand auf seinem Rücken verschwand und Michael sah wieder völlig normal über das Geschütz zum Ziel. Was war das gerade gewesen? Magie höchst wahrscheinlich. Er wusste, dass es die unterschiedlichsten Arten gab, aber so etwas? Und dann war da noch etwas anderes gewesen. Fast verschämt dachte er an die völlig anderen Gefühle, die ihn dabei durchzuckt hatten. Ein wahres Glücksgefühl hatte ihn durchströmt, frei von Zwang und Schmerz. Nur die Konzentration auf seine Aufgabe hatte ihn davor bewahrt, dem Gefühl gänzlich nachzugeben. Das wäre dann doch mehr als peinlich geworden.

Clyde hatte das Zittern des Jungen gespürt und gehofft, dass er mit dem Zielen fertig werden würde, bevor mehr passierte. Schnell zog er seine Hand zurück, als die Meldung kam.

„Dann werden wir das gute Stück mal abfeuern.“

Etwas ratlos sah Michael sich um. Der Kanonier mit der Lunte lag bewusstlos am Boden und die Lunte war erloschen.

„Wir brauchen etwas zum Zünden.“

Clyde nickte.

„Kein Problem. Klar zum Feuern! Alle zurücktreten!“

Leif und Tarek traten zurück und Clyde zog Michael dicht an sich heran. Sie standen nun alle zwei Schritte seitlich neben der Kanone, um beim Abfeuern nicht von der zurücklaufenden Lafette erwischt zu werden. Nun sah Michael etwas ungläubig zu Clyde, der auf seiner Handfläche einen winzigen Feuerball erscheinen ließ. Mit einer fast spielerischen Handbewegung schleuderte Clyde den kleinen Feuerball direkt auf das Zündloch der Kanone.

Mit einem erstaunlich lauten Knall erfolgte der Abschuss und Clyde konnte den Flug des taumelnden Kartätschengeschosses mit bloßem Auge verfolgen. Es erreichte den Zaun und wurde durch die Wucht des Aufpralls zerlegt. Dabei setzte es die darin befindlichen kleinen Bleikugeln frei, die sich dann mit der gleichen Geschwindigkeit in alle Richtungen verteilten.

Das Ergebnis war für Clyde sofort sichtbar und auch spürbar. Der Zaun wurde in viele kleine und große Holzsplitter zerlegt, die wie weitere Geschosse durch die Gegend schwirrten. Dahinter erklangen laute Schreie, die aber kurze Zeit später erstarben.

Spürbar war das sofortige Ende der geistigen Beeinflussung. Bei Clyde hatte das Ziehen aufgehört und auch die restliche Besatzung schien sich langsam zu erholen. Einige erhoben sich etwas desorientiert, andere eilten zur Reling und übergaben sich. Nur wenige blieben bewusstlos an Deck liegen.

„An die Geschütze! Klar machen zum Feuern!“

Clyde sah grinsend hinüber zu Ragnar, der nun mit gezogenem Säbel die Leute an die Geschütze trieb. Auch Michael wollte hinunter zur Pulverlast, doch Clyde zog ihn an seinem Hemd aus dem Weg.

„So, Michael Marion Milster. Erst drei kleine Fragen an dich, dann kannst du weitermachen. Du weißt, dass du magisch begabt bist?“

Michael nickte stumm.

„Und du hast dich bis jetzt nicht bei den Druiden gemeldet?“

Diesmal schüttelte Michael stumm den Kopf. Als Clyde ihn weiterhin erwartungsvoll ansah seufzte er.

„Hier in der Gegend gibt es nur wenig Druiden. Die Männer des Herzogs sind überall. Besonders die Magier mit ihren dunklen Umhängen. Ich wollte nicht unbedingt auffallen.“

Clyde überlegte, ob er sich wirklich noch mehr Verantwortung aufbürden wollte. Doch die Entscheidung hatte er schon unbewusst getroffen, als er die Trefferlupe angewendet hatte. Selbst wenn Daniel Hansom ihm dafür in den Hintern treten würde.

„Und würdest du in Erwägung ziehen, eine Ausbildung als Magier zu machen und in die Dienste des Earls of Scythe zu treten?“

Michael sah Clyde nun mit großen braunen Augen an.

„Eine Ausbildung als Magier? Aber ich wollte doch so gerne Stückmeister werden.“

Clyde hörte leises Lachen neben sich und dann schob sich Leif Fossit etwas nach vorne.

„Sieh mal, ich bin ebenfalls Magier. Die Ausbildung ist nicht einfach, aber sehr interessant. Du lernst nicht nur etwas über Magie, sondern auch über Mathematik und Naturphilosophie. Alles Fächer, die du auch für eine Ausbildung zum Stückmeister brauchst. Denn bei dem geht es nicht nur um das Abfeuern von Kanonen. Das kann jeder Richtkanonier.“

Leif deutete auf das kleine Geschütz neben ihnen und sah dann wieder Michael an.

„Du musst wissen, wie die Kanone entstanden ist. Woraus ihr Material besteht, wie sich das Material verhält. Wie Pulver gemacht wird und was die verschiedenen Körnungen bedeuten. Wie Kugeln gegossen werden und Kartätschen zusammengesetzt sind. Und dann natürlich, wie man mit so einer Kanone richtig schießt. Wie sich die Flugbahn der Kugel verhält und wie man Ziele treffen kann, die man gar nicht sieht. Du siehst also, es kommen noch viele Jahre des Lernens und der Ausbildung auf dich zu.“

„Aber… aber wie soll das dann mit der Magie funktionieren? Werde ich auch solche Sachen machen können?“

Mit den etwas vagen Andeutungen sah er Clyde an und der wusste, worauf es sich bezog.

„Die Sache mit dem Zielen? Nein. Das ist ein persönlicher Zauber von mir. Das andere…“

Clyde griff zu und nahm Michaels rechte Hand in die seine. Dann drehte er die Handfläche nach oben. Die fast ebenso große Hand des Jungen lag nun auf seiner eigenen Handfläche.

„Halt mal still.“

Nach einem kleinen Moment erschien über der Handfläche von Michael eine winzige Flamme. Der Junge starrte völlig fasziniert darauf, während Clyde lächelte.

„Ich habe es mir gedacht. Du bist ein Feuermagier.“

Beide fuhren herum, als hinter ihnen eine Stimme grollte.

„Na toll. Wehe du steckst das Schiff in Brand.“

Ragnar war herangetreten und hatte die letzte Bemerkung von Clyde mitbekommen.

„Während ihr hier flammende Spielchen treibt, hat sich der Feind gesammelt. Die Dunkelmagier machen sich anscheinend für einen Angriff bereit.“

Clyde sah hektisch über die Reling, während er Michael noch kurz zuzwinkerte.

„Keine Angst. Der ist nur neidisch. Er ist Wassermagier.“

Ragnar verdrehte die Augen, während Michael leise kicherte.

Clyde zuckte zusammen, als eine magisch verstärkte Stimme über den Platz und das Schiff schallte.

„ERGEBT EUCH. NIEMAND KANN DER ALLGEWALTIGEN MACHT UNSERES MEISTERS WIDERSTEHEN. WERFT EUCH ZU BODEN UND ERGEBT EUCH DER GNADE DES DUNKLEN FÜRSTEN.“


„Was soll das denn? Haben die Langeweile?“

Andrew Fraser sah zu Ragnar und schüttelte den Kopf.

„Das ist wahrscheinlich ein Ablenkungsmanöver. Kann sein, dass sie versuchen werden das Schiff zu stürmen, nachdem die Sache mit dem Ritualzauber fehlgeschlagen ist.“

Ragnar drehte sich um, dann aber gleich wieder zurück. Er deutete auf Michael.

„Du. Mitkommen. Wir werden da mal ein kleines Feuerwerk vorbereiten.“

Clyde sah ihnen erstaunt hinterher, als Dian sich vom Bug näherte.

„Es haben alle den Angriff gut überstanden. Arje hat noch etwas Kopfschmerzen, aber Mario macht wieder Witze.“

„Sehr schön, Danke. Wo sind die anderen?“

Die näherten sich gerade aus Richtung des Hecks. Finn musste Frank etwas stützen, Eldar ging es deutlich besser. Floris wurde von seinen beiden Brüdern geleitet.

„Aufpassen, Leute. Wir erwarten den Angriff der Dunkelmagier. Ich weiß nicht, was sie noch alles vorbereitet haben, aber Ragnar kümmert sich gerade um die Kanonen. Wir verteilen uns so, dass wir ein möglichst breites Schussfeld haben. Sucht euch eine vernünftige Deckung. Denkt auch an magische Angriffe, möglicherweise sogar aus der Luft.“

Als wäre dies das Stichwort gewesen, zogen sich plötzlich schwere Wolken über dem Schiff zusammen und es wurde merklich dunkler. Die Wolken verdichteten sich sehr schnell und es wurde offensichtlich, dass dies nicht auf natürlichem Weg passierte.

Clyde wollte etwas kommentieren, doch da zuckte schon der erste Blitz herab und schlug in den vorderen Mast der ÍLE AUX MOINES ein. Das Schiff war zum Glück nach den neuesten Erkenntnissen der Naturphilosophie gebaut worden und trug auf beiden Masten einen der teuren kupfernen Blitzableiter.

„So ein Mist! Können die damit auch zielen?“

Dian schüttelte den Kopf.

„Nicht direkt. Man kann die Wolken auf ein bestimmtes Zielgebiet begrenzen. Ich möchte gerne etwas ausprobieren. Aber bitte nicht lachen, wenn es nicht funktioniert.“

Clyde sah Dian erstaunt an, nickte aber zustimmend. Dian sah einfach nur nach oben zu den dunklen Wolken und schloss dann die Augen. Zunächst bemerkte Clyde überhaupt nichts, doch dann spürte er auf einmal einen sanften Luftstrom über das Schiff ziehen.

Nach einem schnellen Blick auf Dian sah Clyde wieder hoch zu den Wolken. Fast widerwillig stemmten sie sich gegen den Luftstrom, der sich immer weiter verstärkte. Langsam, aber stetig sank die nun geballte tiefschwarze Wolke immer tiefer, während ein kleiner Sturm an ihr zerrte und herumschob.

„So ein Idiot.“

Clyde wandte seine Aufmerksamkeit wieder Dian zu, der nun am Boden hockte und dessen Gesicht schweißüberströmt war. Tarek Jones hatte sich neben ihm hingekniet und flüsterte leise auf ihn ein. Dians Gesicht entspannte sich etwas, während ein wahrer Orkan nun die dichte schwarze Wolke in Richtung des Dorfes schob.

Mehrere Blitze zuckten gleichzeitig herab, worauf die Wolke innerhalb kurzer Zeit nach oben stieg und dabei wieder heller wurde. An den Außenrändern begannen bereits einige Wolkenfetzen sich zu entfernen um als harmlose Schäfchenwolken davonzuziehen.

„Dian. Geht es dir gut?“

Dian nickte lediglich, während Tarek nur den Kopf schüttelte.

„So ein Sturm ist einer der schweren Eingriffe in das Wettergeschehen nicht ganz einfach zu lenken. Für einen Ungeübten hat er sich fast ein Wenig übernommen.“

Clyde schüttelte nun ebenfalls den Kopf, sah dann aber wieder über die Reling. Was würde als Nächstes kommen? Das ließ nicht lange auf sich warten und Clyde zuckte zusammen als hinter ihm ein fingerlanger Bolzen in das Holz des achteren Mastes einschlug.

„Deckung! Armbrustschützen!“

Blitzschnell verschwanden die Seeleute hinter dem Schanzkleid und Clyde schlich geduckt nach achtern. Dort traf er auf Finn, der sich leise mit Frank unterhielt. Finn bemerkte Clyde und wandte sich ihm zu.

„Es können nur zwei oder drei sein, gemessen an dem zeitlichen Abstand der Einschläge.“

Frank nickte und wollte etwas sagen, wurde aber von einem lauten Klopfgeräusch neben sich unterbrochen. Clyde sah erstaunt auf die winzige Spitze, die sich nun innen im Schanzkleid zeigte. Der Armbrustbolzen hatte zwei Zoll dickes Eichenholz fast komplett durchschlagen.

„Wenn wir nicht aufpassen, erzielen sie noch einen Zufallstreffer. Wir müssen sie so schnell wie möglich ausschalten. Ich kann aber auf Anhieb niemanden finden.“

„Ich weiß, wo sie sind.“

Alle drehten sich nun herum und sahen auf einen Punkt hinter Clyde. Finn hob seine Augenbrauen.

„Oh, du hast einen neuen Begleiter?“

Clyde warf Finn einen finsteren Blick zu.

„Das ist Michael. Er war bis jetzt Schiffsjunge hier und ist nun… ja was bist du nun eigentlich? Hast du dich entschieden?“

Michael sah zu Boden und murmelte undeutlich

„Ich werde wohl zu den Druiden gehen müssen. Mister Fossit hat mir dringend dazu geraten. Er hat gesagt, ein nicht ausgebildeter Magier ist gefährlich.“

„Da hat er ganz recht. Aber was war das gerade? Du weißt, wo die Armbrustschützen sind?“

„Ja, sicher. Das ist genauso wie mit den Magiern hinter dem Zaun. Jetzt am Tag, wo es warm ist, ist es etwas schwieriger, aber wenn es kalt ist, kann ich sie besser erkennen. Sie sind wie ein Abbild, ein Schatten zu sehen.“

Clyde wusste, dass Michael, ebenso wie er, ein Feuermagier war. Aber was hatte das mit anderen Personen auf sich? Feuermagier befassten sich mit allen Aspekten von Feuer, Flammen, Licht und Wärme. Wärme? Waren menschliche Körper warm genug, um wahrgenommen zu werden? Darüber war in seiner Ausbildung nie gesprochen worden.

„Aha. Dann kannst du Frank sicherlich erklären, wo sich einer der Schützen befindet.“

„Sicher. Am nächsten dran ist derjenige dort drüben auf dem Dachboden. Das Haus mit dem Giebel zu uns und der geöffneten Giebeltür.“

Frank kam nur einen Sekundenbruchteil aus seiner Deckung und wandte sich danach wieder an Michael.

„Da ist aber nichts zu erkennen.“

„Er steht weiter hinten, im Dunkeln. Er schießt von dort aus und ist von draußen nicht zu sehen.“

Frank pfiff leise durch seine Zähne.

„Hätte ich auch draufkommen müssen. Aber gut. Ich kann ihn im Dunkeln nicht erkennen. Da habe ich kein Ziel. Wie machen wir das?“

Clyde grinste leicht.

„Du brauchst Licht? Kriegst du.“

Clyde sah kurz über das Schanzkleid und schickte einen Feuerball los. Nur das es diesmal kein Feuerball war. Er wollte ja nicht den halben Ort abfackeln. Eine kleine Kugel hellen Lichtes raste durch die Giebeltür und Clyde gab Frank sein Stichwort.

„Jetzt!“

Als Frank seinen Karabiner anlegte, traft die Lichtkugel im Dachboden auf ein Hindernis und zerplatzte. Ein heller Lichtschein breitete sich aus und Frank feuerte sofort. Im verblassenden Lichtschein konnte er erkennen, dass der Mann auf den er gezielt hatte, nun leblos am Boden lag.

„Das war der erste. Wo sind die anderen?“

„Der zweite ist dort hinten, hinter dem hohen Ried neben dem Teich.“

Frank spähte wieder kurz hinüber und schüttelte den Kopf.

„Die Deckung ist fast genauso gut wie die erste. Nichts zu erkennen hinter den hohen Gräsern.“

Clyde sah ebenfalls hinüber und überlegte, was man tun könnte. Inzwischen hatte Floris einen geladenen Karabiner für Frank gebracht.

„Sagt mal, Ragnar ist doch eigentlich Wassermagier.“

„Ja, und?“

„Was glaubst du, wieviel Wasser ist in dem Teich?“

Clyde sah Floris erstaunt an, der ihn angrinste.

„Los, hol mal bitte Ragnar her.“

Floris schlich davon und kam kurze Zeit später mit Ragnar wieder. Der grinste ebenso breit wie Floris.

„Wo brennt’s? Wo soll ich löschen?“

„Ha, ha. Sehr witzig. Siehst du den Teich da drüben? In dem Ried liegt ein Armbrustschütze.“

Ragnar spähte kurz hinüber und wie als Antwort schlug ein weiter Bolzen in das Schanzkleid. Ragnars Gesicht bekam einen grimmigen Ausdruck.

„Na warte. Das nehm‘ ich jetzt persönlich.“

Zunächst passierte gar nichts, doch dann erklang ein leichtes Rauschen und das Wasser in dem kleinen Teich begann zu wellen, als ob es anfangen würde zu kochen. Doch dann stieg das Wasser in einer meterhohen Säule nach oben, um sich dann auf den schmalen Schilfgürtel am Rand zu ergießen.

Um nicht zu ertrinken oder von den Wassermassen davongespült zu werden, musste der unbekannte Schütze sein Versteck verlassen. Dazu erhob er sich und diesen Fehler nutzte Frank sofort aus.

„Das war Nummer zwei. Wo ist der dritte?“

„Fast ganz am anderen Ende. Oben im Kirchturm.“

Verblüfft sah Frank hinüber zu der fast am anderen Ende des Dorfes gelegenen kleinen Kirche. Ihr schmaler Turm konnte nicht mehr als eine Glocke beinhalten und hatte nach allen vier Seiten eine fensterförmige Aussparung.

„Das ist völlig unmöglich. Nicht auf diese Entfernung.“

„Nicht, wenn er eine Doppelarmbrust benutzt.“

Die anderen Mitglieder der Scouts waren ebenfalls herangekommen und Arje betrachtete neugierig Michael, während er seine eigene Armbrust auf das Deck vor ihnen legte.

„Eine Armbrust wird normalerweise mit einem Haken gespannt. Der wird hier an der Sehne eingehängt und dann die Sehne damit zurückgezogen, bis sie wieder einrastet. Die Armbrust wird dabei an diesem Steigbügel da vorne festgehalten. Ich hab‘ statt des Hakens eine kleine Kurbel, da ist das Spannen deutlich einfacher.“

Arje deutete auf die jeweiligen Gegenstände.

„Die Doppelarmbrust heißt nur so, ist in Wirklichkeit aber keine doppelte. Angeblich, weil ihre Reichweite doppelt so weit ist. Auf jeden Fall ist der Bogen erheblich breiter. Das Ding kann bis zu sieben Fuß breit sein. Und der Bogen ist aus Stahl. Er ist zwar biegsam, setzt aber einen erheblich größeren Widerstand entgegen.“

„Wirklich eine doppelte Reichweite?

Arje schüttelte den Kopf.

„Nicht wirklich. Die Reichweite ergibt sich daraus, wie stark die Sehne gespannt wurde. Zum Spannen braucht man ein spezielles Gerät, ähnlich meiner Kurbel, nur dass dieses Ding erheblich größer ist. Meist ist es in den Schaft direkt eingearbeitet.“

„Aha. Und du meinst, der Mann auf dem Kirchturm hat so ein Ding?“

„Ich weiß es nicht, aber alles andere würde keinen Sinn machen.“

Clyde sah zweifelnd hinüber zum Kirchturm. Ihm wäre es möglich einen Feuerball dorthin zu schicken, aber er wollte ebenso wenig wie bei dem Dachboden in dem kleinen Ort ein Feuer auslösen.

„Was ist mit den Karabinern?“

Frank und die Zwillinge schüttelten sofort den Kopf.

„Keine Chance. Die Reichweite ist zu gering. Da fällt die Kugel eher runter, bevor sie trifft. Wir brauchen etwas, was weiter reicht als ein normales Gewehr.“

Und wieder war es Michael, der die Aufmerksamkeit aller auf sich zog.

„Also, an Gewehren haben wir eine kleine Auswahl an Bord. Seine Gnaden hat auf See immer Wettbewerbe ausgerichtet für seine Besucher. Da mussten wir Fässer ausbringen, auf die dann in unterschiedlichen Entfernungen geschossen wurde.“

„Dann lass mal sehen, was der Herzog für gute Sachen gelagert hat.“

Michael machte dicke Backen.

„Die persönlichen Waffen befinden sich in der Suite des Herzogs. Da dürfen wir nicht rein.“

Clyde lachte überrascht.

„Doch, dürfen wir. Ich denke doch, dass es sich herumgesprochen hat, dass die Königin den Herzog seiner Titel enthoben und seinen Besitz eingezogen hat. Wir sind hier im Auftrag ihrer Majestät, um diese Maßnahmen zu überwachen.“

Michael sah Clyde mit großen Augen an.

„Ihr habt die Königin gesehen?“

Dian nickte.

„Und nicht nur gesehen. Sie hat sogar mit mir gesprochen.“

Michael wurde plötzlich still. Dann bewegte er sich geduckt auf die Decksaufbauten des Schoners zu.

„Die Suite des hm… ehemaligen Herzogs ist unten. Direkt unter den Räumen des Kapitäns.“

„Warum das denn? Ich dachte, jemand wie er wohnt immer ganz oben.“

„Das liegt an der Form des Rumpfes und dem Decksaufbau. Ein Deck tiefer ist das Schiff etwas breiter und man hat mehr Platz nach vorne hin.“

Clyde, Frank und die Zwillinge waren Michael gefolgt und begaben sich zu der Tür, die in die Räume des Herzogs führte. Davor stand ein Posten der Seesoldaten, der aber sofort beiseitetrat, als Clyde erschien.

„Die Räume sind bereits untersucht worden?“

„Jawohl, Euer Lordschaft.“

Bei der Antwort des Seesoldaten ruckte Michaels Kopf herum und er starrte Clyde fast entsetzt an. Unauffällig versuchte er etwas Abstand von Clyde zu gewinnen. Der sah ihn irritiert an, bis ihm einfiel, dass er etwas vergessen hatte.

„Es tut mir leid, Michael, aber ich habe wohl in der ganzen Aufregung etwas vergessen. Mein Name ist Clyde Cameron vom Clan Cameron in Lonlothian.“

Michael schloss einen kurzen Augenblick seine Augen, als würde er angestrengt nachdenken.

„Clan Cameron stellt den Duke of Lonlothian, richtig?“

Clyde sah Michael erstaunt an.

„Richtig. Der Herzog ist mein Vater. Aber woher weißt du das?“

„Oh, alle Stewards und Stewardhelfer an Bord mussten den gesamten Hochadel von Britannica auswendig lernen. Niemals durfte es passieren, dass irgendjemand mit einem falschen Titel angesprochen wurde, euer Lordschaft.“

Clyde seufzte ergeben, während Frank mit erhoben Augenbrauen zuhörte.

„Da reden wir nachher noch drüber. Ich will jetzt erst einmal sehen, ob wir etwas Passendes zum Schießen finden.“

Michael ging voraus und führte die anderen durch einen Empfangsraum in ein Arbeitszimmer und dort vor eine verschlossene Tür. Die Räume waren üppig ausgestattet mit wertvollen Möbeln, dicken Teppichen und etlichem Zierrat. Lediglich die sehr niedrigen Deckenbalken ließen keine Kronleuchter zu, dafür hingen überall kristallene Wandleuchter.

„Wohnt nicht schlecht, der Typ.“

Henk stieß seinen Bruder an und bedeutete ihm, ruhig zu sein. Clyde stand mit gerunzelter Stirn vor der verschlossenen Tür.

„Ich dachte, die Suite wäre durchsucht worden. Was ist mit dieser Tür?“

Alle zuckten nur die Schultern und Clyde wandte sich an die Zwillinge.

„Einer von euch holt mal bitte Mario her. Er soll sein Werkzeug mitbringen.“

Thies machte sich auf den Weg und Clyde sah sich weiter um. In der Mitte des Arbeitszimmers stand ein wuchtiger Sekretär aus dunkelrotem Holz. Die Arbeitsfläche war leer und aufgeräumt. Clyde zog aus reiner Neugier eine der Schubladen auf. Sie beinhaltete lediglich einige Bögen unbeschrifteten teuren Papiers.

Als Clyde die Schublade zurückdrückte, fiel ihm etwas auf. Sie schien nicht so lang zu sein, dass sie bis ans Ende des Sekretärs reichte. Entschlossen zog der die Lade ganz heraus und spähte in das Loch. Nichts zu erkennen. Seine Erkundungen wurden durch Mario unterbrochen, der Thies gefolgt war.

„Was gibt es?“

„Die Tür dort drüben. Dahinter ist wohl so eine Art Waffenkammer. Und wenn du damit fertig bist, schau dir mal diesen Sekretär an. Irgendwie sind mir die Schubladen zu kurz.“

Mario sah erstaunt zu Clyde, lächelte aber dann.

„Na gut. Zuerst also die Tür.“

Mario zückte sein kleines Paket an Dietrichen und hatte die Tür kurze Zeit später geöffnet. Er machte eine leichte Verbeugung.

„Wie befohlen, Euer Lordschaft.“

„Jetzt fängst du auch noch an. Ich geb‘ dir gleich was, mit Euer Lordschaft. Sieh zu, dass du dich um den Sekretär kümmerst.“

Mario ging dicht an Clyde vorbei und gab ihm dabei einen flüchtigen Kuss auf die Wange. Frank schüttelte nur seinen Kopf und die Zwillinge verdrehten die Augen. Michael hingegen hatte ungläubig zugesehen. War das wirklich ein Kuss gewesen? Einfach so? Und das in aller Öffentlichkeit?

Clyde war inzwischen in den angrenzenden Raum getreten und stand in absoluter Dunkelheit.

„Einen Moment, euer Lordschaft.“

Michael sauste an ihm vorbei und brachte eine Laterne aus dem Inneren der Waffenkammer zurück in das Arbeitszimmer. Obwohl nur eine einfache Laterne, war die Abdeckung kunstvoll aus Messing gestaltet worden. Michael sah sich suchend um und wurde etwas zappelig.

Henk flüsterte mit seinem Bruder, doch der schüttelte den Kopf.

„Wir haben auch nichts zum Anzünden.“

Clyde kam zurück und sah Michael einen Moment zu, bis er auf ihn zutrat und ihm eine Hand auf die Schulter legte.

„Das kannst du auch alleine. Sieh genau auf den Docht.“

„Was?“

„Du sollst den Docht ansehen. Und jetzt stell dir einfach vor, dort würde eine kleine Flamme leuchten. Klein und ruhig, so wie sie immer aussieht, wenn die Lampe entzündet ist. Sieh genau hin.“

Michael ahnte, was Clyde von ihm wollte, doch er traute der Sache noch nicht so ganz. Dennoch spürte er, wie sich eine Spannung aufbaute und der Docht seine ganze Aufmerksamkeit erforderte. Er erkannte die Struktur von Docht und Öl, erfasste die unsichtbar aufsteigenden Dämpfe, die sich durch seine Aufmerksamkeit langsam erwärmten. Je mehr er sich konzentrierte, desto wärmer wurde es, um plötzlich mit einer kleinen Stichflamme zu zünden und über dem Docht ruhig weiter zu brennen.

Michael war so erschrocken, dass er beinahe die Laterne fallengelassen hätte.

„Ganz ruhig. Siehst du, es ist ganz einfach. Dann geh mal voraus.“

Mit zitternden Händen trug Michael die Laterne in den angrenzenden Raum und Clyde sah sich ratlos um. An allen vier Wänden ringsum waren zahlreiche Vitrinen und Halterungen und in jeder befand sich eine Waffe. Pistolen, Gewehre, Säbel, Dolche, ja sogar eine Hellebarde konnte Clyde erkennen.

„So, was genau suchen wir?“

Thies Behrendt hatte sich wie alle anderen staunend umgesehen, doch er reagierte als erster auf Clydes Frage.

„Ein Gewehr. Eines mit einem langen Lauf. Und mit einem entsprechenden Kaliber. Es wird wahrscheinlich eine Jagdwaffe sein. Stark genug um einen Bären zu erlegen, aber auch weit genug reichend, um ihm nicht zu nahe zu kommen.“

„Ich glaube, ich weiß, was du meinst. Die Gewehre sind alle hier hinten. Da dürfte vielleicht was dabei sein.“

Bis auf Michael wanderten nun alle an den Vitrinen entlang, bis die Zwillinge auf einmal stehen blieben. Unbewusst fasste Henk nach der Hand von Thies. Mit andächtigen Blicken sahen sie in eine Vitrine und Thies flüsterte: „Ich glaube, wir haben es gefunden.“

Schnell kamen Clyde und Frank näher und sahen ebenfalls in die Vitrine. Dort stand aufrecht ein Gewehr, das fast größer war als Clyde. Der Lauf allein musste gut fünf Fuß lang sein. Der Schaft war aus einem dunklen Holz mit hellen Einlegearbeiten. Das Rohr glänzte bläulich poliert.

„Was ist das denn?“

Clyde sah eine kleine Plakette neben der Vitrine.

„Ein Geschenk des Herzogs von Grimoire. Ein Jagdgewehr, Kaliber ein dreiviertel Zoll. Geschoßgewicht etwa anderthalb Unzen.“

„Das Ding ist großartig. Das dürfte reichen. Wenn Floris das sieht, kriegt der einen Abgang.“

Henk räusperte sich und stieß seinen Bruder wieder einmal an. „Benimm dich mal ein Bisschen.“ Thies sah verlegen zu Clyde, der nun die Bemerkung aufgriff: „Was ist mit Floris?“

„Nun ja. Er ist von uns mit Abstand der beste Schütze. Wenn einer mit diesem Ding hier treffen kann, dann er.“

Clyde drehte sich um.

„Frank?“

„Ich habe da kein Problem. Wenn er wirklich so gut ist, kann er es gerne versuchen. Wir haben sicherlich ein paar Versuche.“

„Dann los.“

„Vergesst die Kugeln nicht. Pulver haben wir oben genug, aber fertige Kugeln müssen hier welche sein. Ich habe keine Lust, die erst zu gießen.“


Ein kleiner Vorrat zu dem Gewehr gehöriger Kugeln fanden sich tatsächlich und alle begaben sich wieder an Oberdeck, wo Floris tatsächlich mit großen Augen auf die Flinte starrte.

„Wo habt ihr die denn her?“

Frank drückte Floris die Waffe in die Hand und beide begannen sie zu inspizieren und dann zu laden. Die ganze Zeit flüsterte Frank mit Floris, der ab und zu hinüber zu Clyde sah und dann wieder nachdenklich auf die Waffe. Als sie fertig waren, kam Frank zu Clyde.

„Floris wird schießen. Wir haben genug Kugeln, aber ich weiß nicht, wieviel Zeit wir haben. Deshalb habe ich Floris erklärt, was es mit der Trefferlupe auf sich hat. Ich hoffe, du hast nichts dagegen.“

Clyde zögerte etwas.

„Hast du ihn auch über die Nebenwirkungen aufgeklärt?“

Frank lächelte leicht.

„Ja. Er fand es zunächst aufregend, aber er fürchtet auch, zu sehr abgelenkt zu werden. Er wird sich sehr stark auf sein Ziel konzentrieren müssen. Egal, wie er reagiert, lass ihn nicht los, bevor er nicht geschossen hat.“

Clyde nickte und ging hinüber zu Floris. Der saß, mit der riesigen Flinte quer über seinen Oberschenkeln, mit dem Rücken an das Schanzkleid gelehnt.

„Na, bist du soweit?“

Floris lächelte etwas gezwungen und nickte.

Er legte das Gewehr ab, kniete sich hin und zog seine Jacke und das Hemd aus. Clyde sah ihm verblüfft dabei zu, konnte aber nicht umhin, den schlanken, doch gut entwickelten Oberkörper zu bewundern.

Dann fiel sein Blick auf etwas, was er noch nie zuvor gesehen hatte. Zumindest nicht an dieser Stelle. Floris trug einen kleinen Ring, der durch seine linke Brustwarze gezogen war. Allein der Anblick machte Clyde erschauern. Das mussten doch unerträgliche Schmerzen gewesen sein. Und wozu war der gut?

Floris hatte den Blick bemerkt und verzog etwas sein Gesicht.

„Eine Erinnerung an einen meiner Kunden. Ich werde dir die Geschichte bei Gelegenheit erzählen, aber sie ist nicht besonders schön. Können wir?“

Clyde nickte und Floris hob die schwere Flinte über das Schanzkleid.

„Wollen nur hoffen, dass er nicht besser zielen kann als ich. Das ist hier so gut wie auf dem Präsentierteller.“

Clyde nickte und legte Floris eine Hand auf seinen Rücken. Sofort zeigte sich der Zauber bei dem Schützen und Floris erlebte zum ersten Mal die eigentümliche Vergrößerung seines Zielgebietes und sah die feine Linie, welche die Bahn seines Geschosses vorzeichnete.

Aufseufzend zog Floris sich zurück und suchte wieder Deckung hinter dem Schanzkleid.

„Es geht nicht. Ich bin zu unruhig. Auf die Entfernung schwankt die Markierung hin und her. Ich brauche etwas, um das Gewehr ganz auflegen zu können.“

Frank sah sich um.

„Wir können weiter nach achtern. Dort können wir eine Auflage zwischen den Relingstützen bauen. Du bist dann allerdings auch besser zu erkennen.“

Floris sah abschätzend nach achtern, nickte aber dann.

„Wir versuchen es.“

Die Zwillinge hatten zwei zusammengerollte Hängematten herangebracht und legten sie so aus, dass das Gewehr kurz hinter der Mündung und kurz vor dem Schaft auflag. Durch kleine Veränderungen in der Höhe der Auflagen wurde nun ein idealer Schusswinkel gesucht.

Floris legte sich hinter das Gewehr und spähte über die Zieleinrichtung.

„Ja, so ist es besser. Auf jeden Fall pendelt es nicht mehr. Jetzt muss ich nur noch das Ziel wiederfinden.“

Clyde hockte sich neben Floris und legte ihm wieder die Hand auf die Schulter. Dabei merkte er, dass sich die Muskeln zwischen den Schulterblättern bewegten, während Floris das Gewehr leicht verschob. Um ihn nicht zu stören, fuhr Clyde mit der Hand weiter herunter und ließ sie dicht über dem Hosenbund liegen. Floris brummte etwas Unverständliches, ließ sich aber nicht weiter stören.

Jetzt hatte er die nötige Ruhe, um sein Ziel genau aufzufassen. Er konnte deutlich erkennen, wie sein gegenüber an der Kurbel der Armbrust arbeitete, halb hinter der großen Glocke versteckt. Dann kam er nach vorne zur Öffnung und legte die Armbrust darauf ab.

Floris hielt seinen Atem an und versuchte, das Gewehr so ruhig wie möglich zu halten. Die feine Markierung auf dem Ziel zitterte zwar immer noch, wanderte aber nicht mehr aus. Das musste er jetzt so lange halten, bis der Schuss brach. Vorsichtig betätigte er den Abzug und hörte das laute Klacken des Hahns, der auf die Zündpfanne schlug. Jetzt! Das Gewehr zuckte unter seinen Händen, doch Floris war darauf vorbereitet. Eine freudige Erregung durchzuckte ihn nach dem Schuss und er wusste, was passieren würde, wenn die Verbindung zu Clyde nicht abbrach, doch er wollte unbedingt sehen, ob er getroffen hatte.

Die Gestalt drüben auf dem Kirchturm zuckte merklich zusammen, um dann langsam hinter der Mauer zu verschwinden.

„JA!“

Floris ließ all seinen Gefühlen freien Lauf und Clyde bemerkte etwas amüsiert und auch etwas peinlich berührt, wie Floris sich unter ihm anspannte und sein Becken etwas zuckte. Sofort ließ er ihn los, doch Floris blieb noch einen Moment liegen. Mit einem breiten Grinsen erhob er sich dann.

„Ich habe ihn getroffen.“

„Und nicht nur das.“

Thies sah demonstrativ an seinem Bruder herab und auch Clyde bemerkte nun den feuchten Fleck, der sich über einer nicht unerheblichen Beule ausbreitete. Floris grinste glücklich.

„War ja auch irgendwie…“

„Geil?“

Michael war herangekommen und winkte Floris, ihm zu folgen.

„Komm mit. Wir haben unten Klamotten, die dir passen könnten.“

Kopfschüttelnd sah Clyde den beiden hinterher, dann überprüfte er noch einmal die Gegend, doch nichts rührte sich. Das konnte doch noch nicht alles gewesen sein. Und wo war der ehemalige Herzog?


Der Herzog ließ sich nicht blicken, dafür jedoch etliche Soldaten in der Uniform der Garde von Elmet. Sie rückten, jede Deckung nutzend, durch den Ort auf das Schiff zu.

„Sergeant Jones! Jetzt sind eure Seesoldaten gefragt. Treibt sie aus den Deckungen. Lieutenant Thorsson hat die Geschütze feuerbereit. Sobald sie vorrücken, können wir sie damit bekämpfen.“

„Jawohl, Sir.“

An den Bewegungen der Gegner war nun zu erkennen, dass gar nicht die ÍLE AUX MOINES ihr Ziel war, sondern die Schiffe, die hinter ihr lagen.

Die ESTRAY lag nur kurz hinter dem Schoner, mit der OAKLEAF längsseits. Die BIRCHLEAF hatte hinter dem Päckchen festgemacht.

Clyde sah angestrengt hinüber um zu erkennen, ob Thorben etwas zur Verteidigung vorbereitet hatte.

„Mister Fossit!“

Clyde biss sich fast auf die Zunge, als er zwei Antworten bekam.

„Sorry, ich meine Steuermannsmaat Fossit. Haben wir Signalflaggen? Ich möchte den anderen Schiffen eine Anweisung erteilen.“

„Ich sehe sofort nach, Sir.“

„Warte, ich helfe dir.“

Mit schnellen Schritten folgte Leif seinem Bruder und Clyde sah ihnen nachdenklich hinterher.

„Sie haben sich hauptsächlich alle im Süden aufgestellt.“

Clyde nickte, als Ragnar zu ihm kam.

„Ich weiß. Vielleicht glauben sie, wir würden zu unseren Schiffen eilen um sie zu verteidigen.“

„Dann sind sie reichlich blöd. Die Kutter haben alle Neunpfünder an Bord. Bei einem direkten Angriff über die Pier gibt das ein Schlachtfest.“

„Also haben sie was anderes vor. Wovon wollen sie uns ablenken?“

Die Antwort kam schon ziemlich schnell. Aus den Deckungen der Häuser traten mehrere Personen in schwarzen Roben hervor. Jede einzelne von ihnen war während des Laufens damit beschäftigt, mit den Händen ein kompliziertes Muster zu weben und dabei auch noch ziemlich laut unverständliche Sprüche zu rezitieren.

„Es ist so weit. Jetzt kommen die Dunkelmagier. Alle Mann in Deckung. Die Magier zu mir!“

Clyde sah sich kurz um und erkannte Dian, Finn, Ragnar und Diethard.

„Wo warst du denn die ganze Zeit?“

„Unten im Lazarett, zusammen mit Dian. Wir hatten fünf Verletzte und zwei Tote. Die Toten beide durch Armbrustbolzen.“

„Oh.“

Clyde war sich der Verluste gar nicht bewusst gewesen. Er hatte sich mehr auf den Kampf konzentriert und der war nun auch noch nicht vorbei.

Auf der anderen Seite neben Clyde hockten Andrew, Leif und Tarek. Und neben den dreien erkannte Clyde überrascht auch Michael.

„Wir bilden wieder kleine Gruppen zu zwei Mann. Dann können wir…“

„Was, zum Henker, ist das?“

Finn hatte die Pier im Auge behalten und starrte und hinüber zu einer Erscheinung, die sich langsam näherte. Diese Erscheinung war deutlich größer als ein normaler Mensch und sie schien von innen heraus zu glühen. Ein strahlendes Leuchten umgab sie und sie marschierte mit langsamen, gemessenen Schritten auf der Hauptstraße direkt auf den Schoner zu.

Clyde schüttelte fassungslos den Kopf. So etwas hatte er noch nie gesehen und auch die anderen schienen ratlos. Andrew Fraser murmelte etwas, doch dann brach er ab.

„Nichts. Es scheint gar nicht zu existieren“

Diethard sah hinüber und vor der Erscheinung tat sich ein großes Loch auf. Doch die Gestalt wanderte einfach weiter, als sei das Loch gar nicht vorhanden. Die Schritte führten sie einfach durch die Luft, dort wo die Straße gewesen war. Diethard sah ratlos in Clydes verbissenes Gesicht. Clyde hob eine Hand und ein Feuerball raste auf die Gestalt zu, um wirkungslos von dem strahlenden Leuchten aufgesaugt zu werden.

Dann löste sich ein heller Blitz von der Gestalt und fuhr herüber zum Schoner, dicht an Clyde vorbei. Hinter ihm wurde lediglich ein Fall durchtrennt.

„Was ist das? Schnell, lasst euch was einfallen.“

Alle arbeiteten fieberhaft. Lediglich Michael sah weiterhin vollkommen ratlos zu der Gestalt. Normalerweise erkannte er Personen vor sich an der Wärme die sie ausstrahlten. Doch hier war nichts. Das Leuchten schien keine Wärme abzugeben und auch der Körper nicht. War das vielleicht gar kein Körper? Wenn nicht, wo war der Körper dann?

Michael suchte die ganze Umgebung ab und erkannte an der Hauptstraße, dort wo die Erscheinung zum ersten Mal aufgetreten war, zwei Personen. Sie standen neben etwas, das auf dem Boden lag und ebenfalls Wärme abgab. Jemand schien dort zu liegen, gut bewacht. Warum?

War das der Körper, der zu der Erscheinung gehörte? Michael blieb nur noch wenig Zeit. Er wollte und konnte es Clyde nicht so schnell erklären und deshalb entschloss er sich zum Handeln.

Er nahm alle seine Konzentration zusammen und fokussierte sie auf sein Ziel, so wie er es von Clyde gelernt hatte. Dann schickte er einen Feuerball auf die Reise. Das Auftreffen des Feuerballes sah er schon nicht mehr, denn sofort nach Auslösen des Zaubers sank er bewusstlos zu Boden.

Der Feuerball fand sein Ziel. Ungeachtet der beiden Wachen erwischte er die liegende Gestalt und seine ungebändigte Energie setzte alles in Flammen. Der Körper bäumte sich auf und auch die dicht danebenstehenden Wachen wurden von dem kleinen Inferno ergriffen.

Die Gestalt auf der Pier hielt plötzlich an und ein ungebändigter gewaltiger Schrei hallte über die Pier und das Dorf. Langsam verblasste das Leuchten und auch die Gestalt selber wurde immer durchsichtiger um dann ganz zu verschwinden.

Das halbe Dutzend Dunkelmagier, das sich ebenfalls weiter herangewagt hatte, blieb plötzlich stehen. Laute Schreie ertönten, als könnten sie das soeben Geschehene nicht begreifen. Drei der Magier wandten sich um und flohen vom Gefechtsfeld, während einer seinen Zauber zu Ende wob. Dann hüllte er sich damit ein und eine weitere Feuersäule stieg in den Himmel. Die beiden restlichen Dunkelmagier verharrten bewegungslos und schienen zu keiner Regung fähig.

„Finn, Ragnar. Ihr überprüft den einen. Diethard, Leif. Ihr den anderen. Dian, was ist mit Michael?“

„Tiefe Bewusstlosigkeit. Er hat sich böse übernommen. Hoffentlich hat er dabei keinen weiteren Schaden genommen.“

Clyde schüttelte den Kopf. Er war schuld. Er hätte den Jungen wegschicken sollen. Er würde sich ewig Vorwürfe machen, sollte ihm etwas Ernsthaftes passiert sein. Aber was wäre dann gewesen. Er schien als einziger erkannt zu haben, dass das Ganze eine Art Geist – nein, ein Abbild, eine Projektion gewesen war.

Woher hätten sie es wissen sollen? Die Ausbildung der Magier war unzureichend. Clyde musste mit dem Erzdruiden reden. Doch zunächst war etwas anderes zu tun.

„Andrew, kommst du bitte mit?“

Andrew Fraser ahnte, was Clyde vorhatte und es gefiel ihm kein Bisschen. Aber er wusste, dass es getan werden musste. Langsam näherten sich die beiden der Stelle, an der Michaels Feuerball gewütet hatte. Drei verkohlte Leichen lagen auf dem Boden, von ihrer Kleidung nur noch wenige Überreste. Die Körper waren verkrümmt und die Gestalt und die Gesichter nicht mehr erkennbar. Mit einem kurzen Ast stocherte Clyde etwas in den Überresten, während Andrew Mühe hatte, sich nicht zu übergeben.

„Hier, hier ist noch was.“

Clyde hob mit dem Ast etwas empor, das Aussah, wie das Fragment einer Kette mit einem Anhänger. Andrew sah genauer hin.

„Das ist es. Siehst du hier? Der Smaragd mit den umgebenden Rubinen ist noch gut erhalten. Zum Glück war die Kette aus Silber und nicht aus Gold. Da wäre alles auseinandergefallen. Das ist definitiv die Amtskette des Schatzkanzlers.“

„Also haben wir hier die sterblichen Überreste seiner Gnaden, des Herzogs von Elmet.“

Andrew nickte feierlich.

„So ist es. Ich werde es bezeugen.“

Clyde seufzte und sah sich nach etwas um, in dem er die Reste der Kette aufbewahren konnte.

„Wir müssen das ganze Chaos beseitigen und dann zurück nach Caerdon. Ihre Majestät wird wohl schon ungeduldig warten.“

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