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Freibeuter der Meere

Teil 6

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Außerhalb der Räume des Dritten Sekretärs des Lordkanzlers trennten sich zunächst die Wege von Captain Hansom, Ragnar und Clyde. Während Daniel und Ragnar zurück an Bord der FAIRYTALE gingen, hatte Clyde noch einen Termin beim Erzdruiden von Britannica.

Die Druiden waren schon seit langer Zeit die Priester der britannischen Götter. In ihren Kreis wurden nur magisch begabte junge Männer und Frauen aufgenommen, die dann ihr Leben und ihre Magie der jeweiligen Gottheit weihten, der sie dienten. Die Auswahl war sehr streng und die Ausbildung dauerte viele Jahre. Ungeachtet der Gottheit der sie dienten, übten die Druiden ausnahmslos nur Naturmagie aus. Ihr Wirken drehte sich um das Werden und Vergehen von Lebewesen welcher Art und Gattung auch immer, im ewigen Kreislauf der Jahre.

Nichtsdestotrotz konnten die Druiden ihre Magie auch für kämpferische Zwecke einsetzen, so wie sie es schon öfter getan hatten, wenn fremde Heere versuchten, auf dem Boden Britannicas Fuß zu fassen.

Clyde seufzte bei dem Gedanken an die Naturmagie, die er bisher kennengelernt hatte. Er war nicht geduldig genug, um Bäume zum Erblühen zu bringen oder dem Gras beim Wachsen zuzuhören. Nein, das war jetzt ungerecht. Es gab eine ganze Reihe von Zaubern…

Clyde war durch die Gänge des zentralen Palastes gegangen und strebte nun dem Areal der Druiden ganz im Süden entgegen. Dabei musste er auch durch zwei kleine Hallen, die mehrere Flügel des Palastes verbanden. Ganz in eine Ecke gedrängt standen in einer der Hallen zwei Männer und tuschelten aufgeregt miteinander. Clyde musste an ihnen vorbei, um in den nächsten Quergang zu gelangen. Noch im Vorbeigehen überlegte er hektisch, was er jetzt machen sollte. Die wenigen Worte, die er in Arlemandi aufgeschnappt hatte, hatten ihn alarmiert.

„…so erniedrigend für seine Durchlaucht. Es ist ein Skandal, dass er dieses Land verlassen muss.“

„Immer noch besser, als seinen Sohn zu verlieren.“

Clyde war abgebogen und sah sich hektisch um. Nirgendwo gab es eine Stelle, an der er ungesehen den beiden Männern hätte zuhören können. Es gab zwar eine andere Möglichkeit, aber die hatte er vorher noch nie ausprobiert und war sich nicht sicher, ob er sie hinbekommen würde. Er konzentrierte sich auf die wenige Magie, die ihm für einen Glamourzauber zur Verfügung stand und schlich zurück.

Die beiden Männer waren immer noch in ihr Gespräch vertieft.

„…das passieren konnte. Ein Botschafter darf sich nicht einfach so erpressen lassen. Was wird seine imperiale Majestät dazu sagen?“

„Der Kaiser darf nichts davon erfahren. Wir müssen alles auf die Königin von Britannica schieben. Baron von Lychter versucht gerade alles, um den Lordkanzler zu einem Aufschub der Abreise zu überreden. Wir müssen Leopold finden, bevor ihm irgendetwas Schreckliches passiert.“

Der Sprecher bekam zunächst keine Antwort und sah sich sichernd um. Dabei fiel sein irritierter Blick auf eine Marmorstatue direkt neben dem Ausgang. Hatte die schon vorher dort gestanden? Merkwürdig. Aber egal, es gab Wichtigeres.

„Wir haben aber nicht den geringsten Anhaltspunkt, wo wir suchen sollen.“

„Ich weiß, aber wir müssen trotzdem etwas tun. Das heißt, einen Anhaltspunkt haben wir schon, aber der verliert sich im Hafen, in einer dieser dreckigen Spelunken. Wir müssen dringend noch einmal mit dem Baron sprechen. Am besten sofort.“

Etwas hektisch schob der Mann seinen Gesprächspartner in Richtung des gegenüberliegenden Ausgangs. Sein letzter fragender Blick galt noch einmal der Marmorstatue.

In der Halle stand nun nicht wirklich eine Marmorstatue und Clyde hatte sich auch nicht verwandelt. Der Glamourzauber veranlasste lediglich die umstehenden Personen, das zu sehen, was Clyde ihnen vorgab, zu sehen. Der Zauber wirkte also tatsächlich auf die Zuschauer und nicht auf Clyde. Allerdings war er umso schwerer aufrecht zu erhalten, je mehr Personen anwesend waren.

Clyde war an die Grenzen seines Glamourzaubers gekommen. Der Zauber erlosch und wäre jetzt jemand im Raum gewesen, hätte er wahrgenommen, dass eine für ihn sichtbare Statue plötzlich ihre Konturen verlor und das Aussehen von Clyde annahm.

Der brach nun vollkommen verschwitzt und zitternd an der Wand zusammen und musste seinen ganzen Willen aufbringen, sich nicht zu übergeben. Er hätte es besser wissen sollen. Sein Erbe an Magie der Sidhe war nicht besonders groß und diese Art von Glamour verbrauchte eine Menge Energie. Immer noch nach Luft ringend überlegte Clyde, was er nun tun sollte. Sich in sein Schicksal ergeben, machte er sich auf den Weg zurück zu Sir Sean.

Als Clyde dort an die Tür klopfte, öffnete Gilroy Longbottom und sah ihn verblüfft an.

„Lord Clyde. Was…?“

„Keine Zeit, Gilroy. Ist Sir Sean noch da? Schnell, ich habe etwas erfahren, womit wir nicht gerechnet hatten.“

Gilroy zog Clyde herein und schloss leise die Tür. Hektisch winkend bedeutete er, ihm zu folgen. Ohne sich mit Klopfen aufzuhalten stürmte der Schreiber in das Zimmer von Sir Sean. Der sah leicht verärgert von einem Schriftstück auf, stutze aber dann, als er Clyde hinter seinem Schreiber erkannte.

„Was – nein, Moment. Mr. Longbottom, Feder und Papier. Alles mitschreiben. Ich nehme an, wir werden gleich interessante Neuigkeiten erfahren.“

Clyde lächelte schüchtern. Irgendwie bewunderte er diesen Mann, der seinen schwierigen Posten wohl zu Recht schon seit über zwanzig Jahren ausfüllte. Gilroy hatte Feder und Papier fertig und Clyde versuchte sich so genau wie möglich an die Unterhaltung der beiden Männer in der Halle zu erinnern.

Sir Sean lehnte sich nachdenklich zurück.

„Er hat es also tatsächlich nicht freiwillig getan. Ein wenig bedauere ich ihn. Aber mehr kann ich mir in diesem Geschäft auch nicht leisten. Die Frage ist, was machen wir? Haben wir irgendwelche Anhaltspunkte? Mr. Longbottom, gab es irgendwelche besonderen Aktivitäten des arlemandischen Botschaftspersonals oder seiner britannischen Angestellten im Hafen?“

Gilroy zuckte zusammen und überlegte wenige Sekunden. Dann stand er auf und wühlte auf einem Schreibtisch in einem Stapel Blätter.

„Hier, Sir Sean. Seit vier Tagen gibt es vermehrte Besuche vom Botschaftspersonal in verschiedenen Kneipen am Hafen. Und nicht mal in der besten Gegend.“

„Verzeihung, aber ist nicht genau zu der gleichen Zeit das angeblich rotanische Schiff eingetroffen?“

Sir Sean nickte Clyde zu und überlegte. Clyde sah zu Gilroy, der immer noch auf seinen Zettel starrte und vor sich hinmurmelte.

„Singing Sailor, Smiling Seal, Beheaded King, Jolly Roger… Das hab‘ ich doch schon mal irgendwo gelesen.”

Clydes Kopf ruckte herum.

“Das sind die Kneipen, in denen möglicherweise die Übergabe der Dokumente stattfinden soll.”

Sir Sean richtete sich auf.

“Verdammt. Entweder ist Leopold irgendwo reingeraten, oder sie hatten es gezielt auf ihn abgesehen.“

„Sie kennen ihn?“

„Kennen ist zu viel gesagt. Er wurde mir auf einem der diplomatischen Empfänge kurz vorgestellt. Schien eigentlich ein netter junger Mann zu sein. Anfang zwanzig. Hat in Leuchtenburg die Militärakademie besucht. Recht gutaussehend, wenn ich das aus meiner Position heraus so sagen darf.“

Bei der letzten Bemerkung lief Clyde tatsächlich etwas rot an.

„Aber was macht der denn in den übelsten Hafenspelunken? Da passt noch so einiges nicht zusammen.“

„Wir werden sehen. Zunächst werden wir versuchen, den Maulwurf beim Geheimen Kronrat zu enttarnen. Wenn das erfolgreich war, werden wir ein vorbereitetes falsches Protokoll übergeben und dann müsste die FAIRYTALE versuchen, den Boten und den Empfänger abzufangen.“

Clyde sah mit zusammengekniffenem Mund zu Boden. Als er seinen Kopf hob, funkelten seine grünen Augen.

„Und was ist, wenn jemand die Protokolle vor der Übergabe kontrolliert? Jemand, der bei der Sitzung dabei war?“

Sir Sean hob erstaunt die Augenbrauen und Gilroy holte scharf Luft.

„Dann haben wir wirklich ein Problem. Aber ich vertraue da auf das kleine Bisschen Glück, dass uns bisher bei unserer Arbeit immer geholfen hat.“

Clyde sah Sir Sean erstaunt an. Hieß das etwa, er wusste auch nicht mehr weiter?

„Nun, Sir Sean, ich habe noch meinen Termin beim Erzdruiden und ich fürchte, ich lasse ihn gerade warten.“

„Das mögen die Götter verhüten. Er ist in letzter Zeit ohnehin etwas merkwürdig. Beeilt euch lieber.“


Beinahe wäre Clyde in seiner Eile am Zugang zum Seitenflügel des Erzdruiden vorbeigegangen. Energisch klopfte er an die Tür. Es dauerte einen Moment, bis sie geöffnet wurde und ein junger Mann in der grauen Robe der Novizen herausschaute.

„Was führt euch zum Steinernen Hain?“

Clyde musste unwillkürlich lächeln. Die Druiden bezeichneten diesen Anbau an den Palast als steinernen Hain, weil ihnen hier keine echten Bäume zur Verfügung standen, sondern nur ein kleiner Garten mit den Säulen ihrer Gottheiten.

„Mein Name ist Clyde Cameron. Ich habe einen Termin beim Erzdruiden.“

„Bedaure, aber der Termin ist überschritten.“

Mit Schwung wurde die Tür vor Clydes Nase wieder zugeknallt. Clyde überlegte einen Moment, dann lächelte er und klopfte erneut.

Der gleiche junge Mann öffnete zum zweiten Mal.

„Was führt euch zum Steinernen Hain?“

„Mein Name ist Clyde Cameron. Ich habe einen Termin beim Erzdruiden.“

„Ich habe euch bereits gesagt, der Termin ist überschritten.“

„Nun, wenn wir noch länger diskutieren, wird die Zeit des Erzdruiden noch weiter eingeschränkt werden, mit mir zu sprechen.“

Der Novize sah Clyde verblüfft an. Man konnte erkennen, dass es in seinem Kopf arbeitete und er nach einer entsprechenden Antwort suchte. Da ertönte hinter ihm eine tiefe Stimme.

„Nun lass ihn doch endlich herein, Caelin.“

Der Novize zuckte regelrecht zusammen und öffnete rasch die Tür. Clyde kam herein und sah einige Schritte hinter dem Novizen einen alten Mann stehen. Er trug die weiße Robe der britannischen Druiden und sein wallendes Haar und der lange Bart waren von ebensolchem weiß. Lediglich ein dünner goldgewirkter Gürtel gab Aufschluss über die Identität des Mannes.

Clyde verbeugte sich tief und sprach die traditionellen Worte für einen Halbelfen.

„Ich grüße euch, Erzdruide, im Namen meiner beiden Erbe.“

„Dank sei euch, Kind beider Welten.“

„Caelin, bring unserem Gast etwas zur Erfrischung. Ich fürchte, wir werden ein langes Gespräch haben.“

Der Erzdruide sah dem davoneilenden Novizen lächelnd hinterher und seufzte leicht.

„Ein sehr eifriger junger Mann. Er war etwas verärgert, dass es jemand wagte, mich warten zu lassen. Ihm fehlt womöglich noch die nötige innere Ruhe.“

Clyde folgte dem Erzdruiden durch den Empfangsbereich nach draußen in den Garten. Dort wurde er eingeladen, auf einer der großen hölzernen Bänke Platz zu nehmen. Geduldig warteten beide schweigend, bis der Novize jedem von ihnen einen tönernen Becher mit Wasser gebracht hatte. Clyde nippte höflich daran und der Erzdruide nickte wohlwollend.

„Es ist wohl am besten, du erzählst die Dinge, die dir für unsere Unterhaltung wichtig erscheinen. Hm, nein. Du erzählst besser alle Dinge, denn auch die scheinbar unwichtigen können sich nachher als wichtig herausstellen.“

Clyde hatte so etwas geahnt und sich entsprechend vorbereitet. Ausführlich erzählte er seine Geschichte, vom Piratenüberfall bis zum heutigen Tag. Er dachte nicht einen Moment daran, etwas auszulassen, denn der Erzdruide würde unweigerlich danach fragen.

Erschöpft und nach mehreren Bechern Wasser sah Clyde den Erzdruiden erwartungsvoll an.

„Zunächst eine kleine Anmerkung. Ältester Firbolg hatte Recht in seiner Nachricht. Du bist ein bemerkenswerter junger Mann. Deine ganze Geschichte hat vielfache, komplex verwobene Stränge. Einer davon ist deine Begegnung mit der dunklen Magie. Wir stehen vor einer Bedrohung, von der wir gedacht haben, sie sei schon seit Jahren ausgerottet. Und damit meine ich nicht nur die Gemeinschaft der Druiden. Es müssen drastische Maßnahmen ergriffen werden, um unser Land vor dieser Bedrohung zu beschützen. Folge mir bitte.“

Der Erzdruide erhob sich und ging gemessenen Schrittes durch den Garten um hin und wieder eine der Säulen mit dem Antlitz einer Gottheit zu berühren, oder sanft über einen der Büsche zu streichen. Clyde wusste, dass er sich von solchem Verhalten nicht täuschen lassen durfte. Druiden konnten auch hart und unerbittlich sein, wenn sie ihren Standpunkt durchsetzen wollten oder tatsächlich einmal kämpften.

Der Erzdruide führte Clyde an die Westseite des Gartens, wo in der von steinernen Ranken verzierten Mauer eine kleine Tür eingelassen war. Der Erzdruide berührte die Tür und ein silberfarbenes magisches Siegel flammte auf, um kurz darauf wieder zu erlöschen.

Clyde war entsprechend beeindruckt. Er kannte solche Siegel und wusste, dass sie schwer herzustellen waren. Und noch schwerer war es, sie zu durchbrechen. Dahinter musste sich etwas äußerst Wertvolles befinden.

Wie wirksam dieses Siegel war, bemerkte Clyde, als er durch die Tür Schritt. Um ihn herum flammten kleine Blitze auf und die Magie, mit denen er seine Ohren versteckt hatte, erlosch. Der Erzdruide drehte sich nur kurz nach ihm um.

„Keine Angst. Nur eine kleine Sicherheitsmaßnahme. Alle Tarnzauber oder ähnliche magischen Artefakte werden aufgespürt und aufgehoben. Sie werden wieder aktiv, wenn du die unteren Hallen verlässt.“

Clyde folgte dem Erzdruiden ohne Fragen und ohne Kommentar. Der erste Raum war leer und ein kleiner Gang führte schräg unter die Erde. Zu seiner Überraschung war der Raum, den sie dann betraten, hell erleuchtet. An einem großen Tisch standen drei jüngere Männer und beugten sich darüber, um eine darauf ausgebreitete Karte zu studieren. Als der Erzdruide eintrat, sahen sie sich erstaunt um.

„Meinen Gruß, Meister Andrew. Ich habe einen Gast mitgebracht.“

Einer der drei Männer verbeugte sich knapp und sah dann zu Clyde. Sein Gesicht wechselte von Neugier zu vollkommenem Erstaunen.

„Clyde!“

Clyde war verwirrt. Er kannte diesen Mann nicht. Er war sich sicher, ihn vorher noch nie gesehen zu haben, dennoch kam ihm irgendetwas geläufig vor. Der Mann war etwa Anfang Zwanzig, so groß wie er selber, schlank und hatte hellrote, kurze Haare. Seine Ohren waren gut zu erkennen und sie liefen in langen Spitzen aus. Clyde stutzte noch einmal. Er konnte spüren, dass es kein Sidhe war, also konnte es sich nur um einen Halbelfen handeln.

„Verzeihung, aber kennen wir uns?“

Der Mann lachte und sah kurz zum Erzdruiden, dann aber wieder zurück zu Clyde.

„Oh, Entschuldigung. Mein Name ist Andrew Fraser. Und ich bin dein Bruder.“

Clyde erstarrte. Das war unmöglich. Er kannte alle… Ein Halbelf. Ein Sohn der gleichen Mutter. Er wusste, dass die Sidhe das Konzept von Ehe und Familie zwar kannten, aber nicht für sich beanspruchten. Jeder von ihnen war frei, sich beliebig einen anderen Partner zu wählen. Aber das hier?

„Ich sehe, es hat dir niemand gesagt. Es tut mir leid, dass ich dich damit überfallen habe.“

Clyde musterte den Mann jetzt etwas genauer. Stimmt, seine Haare waren heller, so wie das Rot ihrer Mutter, doch seine Gesichtszüge waren etwas kantiger. Seine Augen waren auch blau und nicht grün.

„Woher… woher weißt du, wer ich bin?“

Andrew lachte leise.

„Unsere Mutter hat es mir verraten. Sie hat mir ein Spiegelbild von dir gezeigt.“

Clyde nickte. Die Projektion von weit entfernten Menschen in einem Spiegel war eine Form von Glamour, die ausschließlich den Sidhe vorbehalten war.

„Sie wollte es dir auch schon längst sagen, doch sie meinte, die Gelegenheit hätte sich nie ergeben.“

So? Hätte sie nicht? Dabei hatten sie sich doch erst vor kurzem gesehen. Nun gut, da war auch der Herzog anwesend.

„Noch etwas, bevor du es von jemandem anderen erfährst. Wir haben noch einen Bruder.“

Clyde riss erstaunt die Augen auf.

„Was? Wen?“

„Er heißt Ethan. Ethan Sutherland. Er ist ein Jahr jünger als du und lebt oben in Inbhir Nis. Er absolviert dort seine magische Ausbildung.“

Clyde stieß seine angestaute Luft aus. Dann bemerkte er, dass Andrew sich ihm genähert hatte. Er stand nun nicht einmal zwei Schritte vor ihm und hob die rechte Hand. Clyde zögerte etwas, aber dann hob er seine linke Hand und ihre Handflächen berührten sich.

In diesem Moment wusste er, dass Andrew die Wahrheit gesagt hatte. Er spürte die magische Präsenz eines Luftmagiers und die Gnade von Wissen und Vergessen. Genauso wie Andrew die Präsenz eines Feuermagiers spürte und die Gnade von Leben und Tod. Und noch etwas schwang bei Clyde mit, bei dessen Erkennen Andrew leicht lächeln musste.

„Ich merke, dass die Gerüchte über dich stimmen. Du bist jetzt tatsächlich auf Scythe?“

Clydes Gesicht verdüsterte sich.

„Ja. Hast du ein Problem damit?“

Andrew hob abwehrend jetzt beide Hände.

„Nein. Das ist ausschließlich deine Angelegenheit. Aber wenn wir…“

Ein tiefes Räuspern ließ die beiden jungen Männer sich umdrehen.

„Ich möchte nicht unhöflich sein, aber unsere Mission ist dringend. Ihr könnt euch ja vielleicht etwas später noch über eure familiären Beziehungen unterhalten. Ich habe Clyde hierhergebracht, weil er etwas sehr Interessantes zu berichten hat. Ich möchte gerne, dass er noch einmal alles genau schildert, was vorgefallen ist.“

Andrew drehte sich zum Tisch und stoppte dann. Die beiden anderen Männer dort hatten dem vorherigen Wortwechsel schweigend zugehört und sich nicht vom Tisch wegbewegt.

„Oh. Entschuldigung. Ich habe mich wohl etwas hinreißen lassen. Clyde, dies sind Tarek Jones und Leif Fossit. Beide sind Magier und Mitglieder meiner kleinen Truppe. Leute, das ist Clyde Cameron, mein kleiner Bruder.“

Clyde sah erstaunt zu Andrew. Die zwei Zentimeter! Na gut, da waren auch mindestens noch zwei Jahre Unterschied.

Die beiden anderen jungen Männer lächelten leicht bei der Bemerkung und nickten nur zustimmend. Tarek war dunkelhaarig und sogar noch etwas kleiner als Clyde, aber mit breiten Schultern. Clyde vermutete, dass er aus Cymru stammte. Dem zweiten war jedenfalls deutlich seine Abstammung aus den Eastmarshes anzusehen. Groß, schlank und mit goldblonden Haaren. Bei beiden spürte Clyde eine magische Präsenz, deren Natur er aber auf die Entfernung nicht zuordnen konnte.

„Um es kurz zu machen. Wir sind eine der Gruppen, die für die Priesterschaft der Druiden die Dunkelmagier jagen.“

Clydes Kopf ruckte herum und er sah, dass der Erzdruide lächelte.

„Lasst uns bitte alle am Tisch Platz nehmen, so dass Clyde in Ruhe berichten kann. Wenn er damit fertig ist, werden wir wohl auch ihm so manche Frage zu beantworten haben.“

Ruhig hörten alle zu, als Clyde von seiner Begegnung mit der Dunkelhexe berichtete. Es gab keine Zwischenfragen, aber Clyde bemerkte, dass Leif sich während seiner Schilderung ein paar Notizen machte. Er war es auch, der am Ende als erster das Wort ergriff.

„Dann habe ich noch ein paar Fragen, Lord Clyde. Zunächst etwas zu mir. Ich bin damit beauftragt, alle Informationen zu dokumentieren, die wir über die Dunkelmagier erhalten. So versuchen wir ein möglichst genaues Bild über ihre Fähigkeiten, Verstecke und vielleicht auch Absichten zu erhalten.“

Clyde nickte und sah den blonden Magier lächelnd an.

„Ich bin der jüngste hier. Clyde reicht vollkommen.“

Andrew lehnte sich mit einem Grinsen zurück und auch der Erzdruide musste lächeln. Leif sah erstaunt zu Clyde, dann auf seine Papiere. Andrew legte Clyde eine Hand auf die Schulter.

„Du fängst doch nicht an, mit ihm zu flirten? Du hast dir zielsicher den einzigen unter uns ausgesucht, bei dem du damit Erfolg haben könntest.“

„Andrew!“

Leif hatte seinen Blick nun starr auf den Tisch gerichtet und Clyde konnte erkennen, wie er rot anlief. Hoppla, das hatte er nicht gewollt.

„So war das nicht gemeint. Das gilt für euch alle.“

Andrew nickte, sah zu Clyde und dann zu Leif.

„Clyde, ich weiß nicht, ob es dir jemand gesagt hat, aber es gibt ja nur wenige Gelegenheiten, die Magie der Sidhe zu besprechen. Dein Glamour äußert sich nämlich auf eine sehr individuelle Weise. Ich nehme an, du selbst hast gar nicht bemerkt, dass du für einen Mann sehr hübsch aussiehst?“

Clyde sah Andrew erstaunt an. Was kam denn jetzt?

„Dein Glamour verstärkt noch diesen Eindruck und jemand, der dich ohnehin schon hübsch findet, fühlt sich sogar noch mehr angezogen.“

„Was!?“

„Ja, ist so. Und das kannst du nicht ändern. Diese Form des Glamours ist permanent. Ich muss zugeben, ich hätte auch gerne etwas davon, aber anscheinend bist du derjenige, der diesen Teil geerbt hat. Doch genug davon. Leif, konzentrier dich auf deine Arbeit. Vielleicht könnt ihr euch danach ja noch etwas zusammensetzen.“

Leif glühte jetzt regelrecht, doch er fand auf Anhieb den richtigen Zettel

„Ihr… äh, du hast gesagt, als die lauten Geräusche im Gastraum begannen, ist der Schutzzauber auf einmal verloschen. Weißt du zufällig, was aus dem Amulett geworden ist?“

Clyde kramte tief in seinen Erinnerungen. Er war mit Dian ja noch einmal in den Gastraum gegangen. Der erste Eindruck war der arme Lucian, der tot auf dem Tisch gelegen hatte. Sie hatten ihm die Kehle durchgeschnitten und der Dolch dafür lag neben…

„Sie haben den Dolch entweiht. Sie haben ihn benutzt, um mit ihm den Schankburschen zu töten.“

Leif nickte nachdenklich.

„Ja. Eine der Möglichkeiten, das Amulett zu zerstören. Und gleichzeitig Magie aufzubauen. Dann die nächste Frage. Wie lange hat die Dunkelhexe etwa gebraucht, um den Feuerball zu initiieren?“

Clyde hob etwas verärgert seine Augenbrauen.

„Da habe ich nicht auf die Uhr gesehen.“

Leif sah erstaunt auf und Andrew legte Clyde beruhigend eine Hand auf die Schulter.

„Ganz ruhig. Wir wollen dich nicht ärgern. Ich weiß, dass du andere Probleme gehabt hast, aber es wäre schon wichtig, wenn wir einen kleinen Anhalt bekommen.“

Clyde nickte und überlegte. Nein, so wurde das nichts.

„Habt ihr Übungsschwerter?“

„Wozu willst du denn jetzt ein… Oh, verstehe. Ja, warte einen Moment.“

Andrew stand auf und kam kurze Zeit später mit einem Arm voll Holzschwerter wieder.

„Na los, Leute. Versuchen wir das mal nachzustellen.“

Der Erzdruide blieb ruhig am Tisch sitzen, während alle anderen aufstanden und sich mit den Übungsschwertern bewaffneten. Clyde zeigte ihnen die Positionen der Angreifer und seine Maßnahmen der Abwehr. Nach drei Durchgängen hatten sie in etwa die Zeit erfasst und kehrten zum Tisch zurück. Clyde sah Andrew fragend an.

„Warum ist das so wichtig?“

Die Antwort kam zu seinem Erstaunen vom Erzdruiden.

„Die Dunkelmagier sind Minderbegabt. Vermuten wir zumindest. Wie lange dauert es bei dir, einen Feuerball hervorzurufen?“

Clyde drehte wortlos eine Hand und über der Handfläche schwebte ein kleiner Feuerball.

„Siehst du. Ihr wart im Kampf und die Dunkelhexe hat eine ganze Zeit dafür gebraucht, obwohl sie unten bei der Entweihung des Amuletts ganz sicher eine Menge Energie hat aufbauen können. Wir glauben, dass die meisten Dunkelmagier aus Minderbegabten bestehen. Magisch Begabte, bei denen die Magie nicht ausreicht, eines der vier Elemente sicher zu beherrschen. Sie benötigen weitere Energie, um einen Zauber umsetzen zu können.“

„Und diese Energie müssen sie woanders her beziehen.“

„Richtig. Ritualmagie. Normalerweise ein Kreis aus mehreren Magiern, der sich zur Meditation zusammenschließt und so über einen gewissen Zeitraum Energie aufbauen kann. Es gibt aber auch noch andere Formen der Ritualmagie.“

„Blutmagie.“

„Ich sehe, du hast bei deinen Unterrichtungen aufgepasst. Ein sehr kurzes und sogar nur von einem einzelnen Magier ausführbares Ritual. Nur dass hierbei immer das Leben eines Wesens ausgelöscht und seine Lebensenergie der Magie des Magiers zugeführt wird.“

Clyde schüttelte sich. Er würde sich wohl nie an diesen Gedanken gewöhnen können.

„Dennoch hat diese Dunkelhexe einen außergewöhnlich langen Zeitraum gebraucht, um auch nur einen einzelnen Feuerball zu erzeugen.“

Leif sah nun wieder auf seine Unterlagen.

„Das werden wir erst mal so stehen lassen. Aber ich habe noch eine Frage. Wie lange waren die Entführer denn unterwegs, nachdem sie das Rasthaus verlassen hatten? Ich meine, bevor ihr dort eingetroffen seid.“

Clyde dachte nach. Dian und er waren noch vor Sonnenuntergang eingetroffen. Die Bande kam erst mitten in der Nacht wieder. Das war sehr schlecht zu schätzen.

„Ich habe keinen Anhaltspunkt. Als wir eintrafen waren sie schon weg. Und als sie wiederkamen, habe ich nicht auf die Uhr gesehen.“

„Clyde…“

„Nein, nein. Das habe ich ernst gemeint. Das Gewitter war schon vorüber und der Mond stand hoch am Himmel. Ich schätze, es war weit nach Mitternacht. Nein, Moment, wir sind ja am Morgen noch eine ganze Zeit im Dunkeln geritten. Weiß jemand, wann im August in Lonlothian die Sonne aufgeht?

„Etwa kurz vor sechs Uhr. Und Sonnenuntergang ist kurz vor neun Uhr.“

Clyde drehte sich verblüfft zum Erzdruiden um, aber der saß weiterhin ruhig und scheinbar unbeteiligt auf seinem Stuhl.

„Dann, ja also… ich schätze mal, sie sind gegen sieben oder acht Uhr weg und waren so gegen ein oder zwei Uhr wieder da.“

„Das wäre ein Zeitraum zwischen fünf und sieben Stunden. Rechnen wir mal eine halbe Stunde für den Aufenthalt am Ziel, waren sie also sechseinhalb Stunden unterwegs.“

„Mach sieben draus.“

„Gut, also sieben. Dreieinhalb in jede Richtung. Mit einem Pferdefuhrwerk sind das etwa Zwanzig Meilen. Was haben wir im Umkreis von Zwanzig Meilen um den Rasthof?“

Tarek erhob sich und verschwand in einem der hinteren Räume um einige Zeit später mit einer Karte wiederzukommen, die er auf dem Tisch ausbreitete.

„Hier, das ist die Gegend westlich von Loch Lomond.“


Clyde wusste kaum, wie er zurück an Bord der FAIRYTALE gekommen war, so viele Gedanken schwirrten durch seinen Kopf. Angefangen damit, dass er einen Bruder – nein, zwei sogar! - hatte, bis zu der Erkenntnis, dass die Druiden doch nicht so friedlich waren, wie es nach außen hin den Anschein hatte.

Schnell begab er sich zur Kapitänskajüte, wo der Captain, Percy und Ragnar schon ungeduldig auf ihn warteten.

„Auch wieder da. Du bist spät.“

Clyde wurde sich plötzlich bewusst, dass er mehrere Stunden weggewesen war. Und er wusste inzwischen, dass der Captain es nicht leiden konnte, wenn jemand seine Zeit vertrödelte.

„Jawohl, Sir. Mein Termin mit dem Erzdruiden hat etwas länger gedauert. Und ich habe auch noch eine Nachricht von Sir Sean zu überbringen.“

Daniel Hansom runzelte die Stirn. Sie hatten Sir Sean gemeinsam verlassen. Warum brachte er jetzt noch eine Nachricht von ihm?

„Ist ja gut. Setz dich hin und erzähl.“

Clyde nahm nun auch am großen Tisch Platz und lächelte Ragnar und Percy kurz zu. Dann gab er einen schnellen Abriss der letzten Ereignisse. Ragnar nickte langsam.

„Es sieht also so aus, als ob der gute Graf von Winterstein doch nicht so dumm ist, wie er getan hat. Er hat selbst in einer aussichtlosen Situation auf seinem Standpunkt beharrt. Warum war er so stur? Er hätte doch aufgeben können und seinem Erpresser mitteilen, dass er alles versucht hat.“

Percy schüttelte den Kopf.

„Das ist nicht so einfach. Ein Erpresser glaubt so etwas nicht einfach. Er wird versuchen, mit allen Mitteln sein Ziel zu erreichen. Er wird einfach behaupten, der Graf hätte es nicht genügend versucht.“

Clyde schoss wieder seine Bemerkung durch den Kopf, die er schon gegenüber Sir Sean gemacht hatte.

„Und was ist, wenn der Erpresser ebenfalls im Thronsaal anwesend war?“

Alle schwiegen erstaunt, bis Daniel zustimmend brummte.

„Ja. Es sieht tatsächlich so aus, als ob wir den Verschwörer in näheren Umkreis der Königin suchen müssen.“

Der Blick aller vier Männer wanderte hoch zum Porträt ihrer Herrscherin.

„Das wird ihr aber überhaupt nicht gefallen. Ein Verräter in ihrer unmittelbaren Nähe?“

Percy schüttelte den Kopf.

„Das wissen wir noch gar nicht sicher. Wir sollten vielleicht versuchen, den Sohn dieses Grafen zu finden. Welche Kneipe war eigentlich für diesen Monat für die Übergabe vorgesehen?“

„Jolly Roger“, antwortete Clyde automatisch.

„Aha. Dann werden wir doch mal jemanden befragen, der sich in diesem Milieu etwas mehr auskennt.“

Captain Hansom betätigte die Klingel.

„Sedgewick, ich lasse den Zahlmeister bitten.“

Miles erschien auch schon nach kurzer Zeit.

„Sie haben mich rufen lassen, Captain?“

„Ja. Wir brauchen weitere Informationen über das Hafenviertel und die Kneipe, die demnächst als Treffpunkt dienen soll.“


Miles Redcliff war seit zwei Jahren an Bord der FAIRYTALE. Seinen Posten verdankte er vor allem seinem großen Wissen über Waren, Händler und seinem noch größeren Geschick im Handeln und Verhandeln.

Das hatte vor allem einen Grund, denn Miles Redcliff war vor seinem Job auf dem Schiff einer der geschicktesten Hehler an der Südküste von Britannica. Er führte ein kleines Geschäft direkt in der Nähe des Hafens von Caerdon, in dem ganz legal, Zubehör und Ersatzteile für Schiffe angeboten wurden. Direkt daneben betrieb er auch noch eine kleine Kneipe in der so manches weitere Geschäft abgewickelt wurde.

Miles war mehr durch Zufall an dieses Geschäft gekommen. Limping Charly hatte ihn eines Morgens vor seiner Tür gefunden.

Der alte Mann ging hinkend zur Tür seines Ladens und sperrte beide Vorhängeschlösser auf. Dann öffnete er knarrend die erstaunlich massive Tür. Nach einem kurzen Blick hinüber zum Hafen mit seinem morgendlichen Nebel fiel sein Blick erstaunt auf das Bündel zu seinen Füßen.

Was zum…‘ Hatte sich da jemand in seinem besoffenen Kopp ausgerechnet vor seinem Laden niedergelegt? Charly bückte sich etwas mühselig und drehte das Bündel herum. Tatsächlich, das war ein… nein, das war ein Junge. Und er war ganz sicher nicht besoffen. Das Gesicht war eingefallen und gräulich gefärbt. Charly kannte diese Symptome auch aus seiner eigenen frühen Jugend. Der Junge war schlicht unterernährt.

Charlys Blick wanderte langsam von den schwarzen Haaren hinab an dem ausgemergelten Körper, den die Lumpen jetzt nicht mehr ganz verdecken konnten. Charly zögerte einen Moment bei dem Anblick, doch dann sah er sich schnell nach links und rechts um. Niemand, der ihn beobachtete. Unter einigen Mühen hob er den Körper an und trug ihn hinein in sein Haus.

Dort legte er ihn auf ein Strohlager in der Nähe des Kachelofens. Kopfschüttelnd betrachtete er noch einmal die Lumpen, in die der Junge gehüllt war. Zur Gilde der Bettler schien er nicht zu gehören, denn die ließen ihre Mitglieder nicht verhungern. Und auf den Straßenstrich schien er auch nicht zu gehen, zumindest nicht in diesem Zustand und mit diesen Klamotten.

Gegen Mittag erwachte der Junge stöhnend.

Wo… wo bin ich?“

Limping Charly lachte rau.

Du bist im Heim für Streuner und räudige Kater.“

Noch einmal lachte Charly als er das ungläubige Gesicht des Jungen sah.

Das hier ist das ‚Limpin‘ Charly’s‘ und Charly, das bin ich. Wie heißt du, Junge?“

Äh, Miles.“

Aha. Miles also. Na gut. Willst du was zu essen?“

Miles sah Charly nur mit großen Augen an.

Ich werte das als ja.“

Charly hinkte zum Herd, nahm eine Holzschale und füllte etwas aus einem großen Topf hinein. Dann stellte er die Schale auf den Tisch und legte einen Löffel dazu.

Komm her und iss.“

Miles erhob sich etwas umständlich und klammerte seine Sachen fest, die herunterzufallen drohten, als er sich bewegte.

Am Tisch sah er zweifelnd auf die Schale mit ein wenig Eintopf herab.

Nachher kriegst du mehr. Wenn du jetzt alles in dich hineinfrisst, kotzt du mir nur die Bude voll.“

Zögernd setzte sich Miles und nahm den Löffel. Der Eintopf hatte nur ein sehr kurzes Dasein.

Warum liegst du nachts vor meiner Tür? Die Nächte werden schon ganz schön kalt. Willst du dir den Tod holen?“

Miles zuckte die Schultern.

Wäre vielleicht gar nicht so schlecht.“ murmelt er. Charly hatte ihn trotzdem verstanden.

Vergiss es. Das ist eine endgültige Lösung für ein momentanes Problem. Kein gutes Geschäft.“

Miles sah Charly verblüfft an. Das Leben war ein Geschäft? Miles sah sich, wie er glaubte, unauffällig um. Charly beobachtete ihn dabei und lächelte leicht.

Wie alt bist du, Miles?“

Miles zögerte nun sichtlich. Er war ziemlich klein und nicht besonders kräftig. Er könnte auch als jünger durchgehen. Doch warum? Die ganzen Lügen hatten ihm bis jetzt auch nicht weitergeholfen.

Sechzehn, Mister.“

Nicht Mister, einfach nur Charly. So, sechzehn. Dann solltest du ja schon mal irgendeiner Arbeit nachgekommen sein. Hast du was gelernt?“

Miles starrte schweigend in die leere Holzschale. Seine ganze Vergangenheit war nur eine endlose Aneinanderreihung von Enttäuschungen, Schlägen und Hass. Daraus hatte er nur eines gelernt, nämlich die Klappe zu halten. Warum er es jetzt nicht tat, war ihm selber ein Rätsel.

Ich habe eine Schule besucht, bis ich zwölf war. Dann sind meine Eltern gestorben bei dieser Seuche, die durch die Stadt ging. Ich kam ins Waisen- und Arbeitshaus bis vierzehn. Dann hat mich Mister Dollup als angeblichen Lehrling angestellt.“

Miles spuckte aus und verzog sein Gesicht.

Das einzige, was er mir beigebracht hat, war meinen Arsch hin- und die Klappe geschlossen zu halten. Vor einem Monat dann ist der Idiot die Treppe heruntergefallen und hat sich den Hals gebrochen. Das war’s dann mit mir und meinem Aufenthalt dort.“

Charly nickte nachdenklich. Tja, er hatte von dem schrecklichen Unfall gehört, den der ehrenwerte Mister Dollup erlitten hatte. Und er wusste auch von dessen Vorliebe für jüngere ‚Lehrlinge‘. Miles war nicht der erste dort im Haus gewesen.

Seitdem bin ich auf der Straße. Keiner will mehr was mit mir zu tun haben. Alle glauben wohl, dass ich was mit dem Unfall zu tun hatte, aber ich war’s nicht.“

Das ist unwichtig. Lass mich also mal sehen. Du kannst lesen und schreiben. Wie steht es mit Rechnen?“

Miles sah fragend auf. Warum rechnen?

Ja, natürlich. Aber warum?“

Charly starrte in das offene Küchenfeuer.

Ich werde alt. Ob du es glaubst oder nicht, aber ich habe schon mehr als sechzig Sommer gesehen. Kenne noch den alten König, den Vater unserer jetzigen Königin und ich habe sogar noch eine Erinnerung an ihren Großvater.“

Miles sah Charly erstaunt an. Sechzig Jahre?

Ja, und nun ist es an der Zeit, ein wenig kürzer zu treten. Obwohl, das mache ich ja seit zwanzig Jahren schon.“

Charly lachte meckernd und hob sein linkes Bein, das auf beiden Seiten mit einer Metallschiene fixiert war.

War ein Unfall beim Löschen. Ist ein Fass ausgerauscht und auf mein Bein gefallen. Meine Missus und ich haben dann mit der kleinen Kneipe hier nebenan angefangen und dann kam der Laden dazu. Könnte wohl einen Assistenten gebrauchen.“

Einen Assistenten? Dachte er etwa an ihn? Dann sah sich Miles noch einmal um.

Du suchst meine Missus? Die ist jetzt auch schon seit fünf Jahren im ewigen Hain. Hab mich alleine durchgebracht, war nicht einfach, zu Anfang.“

Miles senkte seinen Blick auf den Tisch und dachte nach. Konnte er dem alten Mann trauen? Sagte der wirklich die Wahrheit? Und was war mit…

Wenn du dir Sorgen um deinen Arsch machst, vergiss es. Ich stehe nicht auf Kerle und schon gar nicht auf so junge. Aber wenn du Geschmack daran gefunden hast, kannst du dich ja mal umsehen, wenn die FAIRYTALE eintrifft.“

Wer oder was, zum Henker, war die FAIRYTALE?


Miles Redcliff wurde vom Captain über den Stand der Dinge unterrichtet, soweit sie den vermissten Sohn des Grafen von Winterstein betrafen.

„Wenn er alleine unterwegs war, hat der kleine Idiot wahrscheinlich selber Schuld. Man spaziert nicht in eine der Hafenkneipen, quasi mit einem Schild um den Hals: Seht her, ich bin reich, entführt mich, bringt mich um, tut mir sonst was an.“

Der Captain hob die Augenbrauen.

„Für mich stellt sich mehr die Frage, was er da gewollt hatte. So wie es aussieht, ist die Entführung ja wohl nicht geplant gewesen.“

Miles schüttelte den Kopf.

„Eine Entführung ist in den wenigsten Fällen spontan. Ich brauche einen Plan, ein Ziel, warum ich jemanden entführen will. Selbst wenn ich jemanden sehe, der ein Lösegeld verspricht, muss ich mir darüber im Klaren sein, wer er ist, wieviel er Wert sein könnte und wie ich mit jemandem Kontakt aufnehmen kann, ohne mich zu verraten.“

Diesmal schüttelte Clyde seinen Kopf.

„Er lebt schon eine Weile hier in Caerdon. Er sollte eigentlich wissen, dass er nicht ohne Begleitung ins Hafenviertel gehen sollte. Wenn seine Entführung und damit ja wohl auch die Erpressung des Gesandten geplant war, dann hat ihn jemand dorthin gelockt.“

Percy und der Captain sahen sich fragend an.

„Was sollte er dort gewollt haben. Mit was könnte man ihn locken? Im Hafenviertel gibt es nichts, was er nicht auch in der Residenz des Gesandten hätte bekommen können.“

Miles lehnte sich lächelnd zurück.

„Das stimmt so nicht ganz. Mal ganz abgesehen von Huren beiderlei Geschlechts gibt es Drogen und andere Substanzen, die im Land nicht erlaubt sind. Und es gibt verborgene Magier, die alle möglichen Dienste anbieten.“

Percy hob die Augenbrauen.

„Drogen? Ich glaube nicht, dass der Sohn eines Gesandten süchtig ist. Er soll doch eine Ausbildung an einer arlemandischen Militärakademie gemacht haben. Da sind Drogen nicht sehr wahrscheinlich.“

Clyde interessierte ein ganz anderer Aspekt.

„Verborgene Magier? So etwas gibt es?“

Miles lachte und deutete auf sich.

„Was glaubst du? Mir haben bestimmt nicht die Druiden beigebracht, meine Magie zu erlernen. Bis ich siebzehn war, wusste ich nicht einmal, dass ich begabt bin. Es gibt einige wenige Magier, die sich nicht von irgendjemand vereinnahmen lassen möchten. Die wollen lieber ihr eigenes Leben führen und hier und da üben sie dabei ihre Magie aus. Die meisten von ihnen sind völlig harmlos. Würden sie ihre Magie öffentlich gegen Bezahlung ausüben oder sogar für kriminelle Zwecke benutzen, hätten die Druiden sie schon längst aus dem Verkehr gezogen.“

Clyde sah Ragnar prüfend an, dann traf er eine schnelle Entscheidung.

„Weißt du etwas über Dunkelmagier?“

„Dunkelmagier? Oh, ich nehme an, du meinst die Magiekrüppel. Es gab mal einen, unten am Dock 2. Hat sich damit gebrüstet, er könnte Magie wirken. Ich habe ihn nie getroffen, aber ein paar Kumpel haben mir die Geschichte erzählt. Der Typ soll wohl andauernd geprahlt haben, er sei so toll, dass ihn alle damit aufgezogen haben. Dann wollte er es ihnen beweisen und hat angedroht, einen Sturm durch den Hafen zu treiben. Na, Sturm hat’s auch gegeben, aber nur innerhalb seiner kleinen Bude. Ist wohl einiges zu Bruch gegangen. Und ein paar Stunden später standen ein halbes Dutzend Druiden vor seiner Tür.“

Captain Hansom bedachte Clyde mit einem vorwurfsvollen Blick.

„Wir sind wegen des jungen von Winterstein hier. Damit sind wir bis jetzt nicht weiter.“

Clyde nickte etwas zerknirscht und wandte sich weiter an Miles.

„Wir sollten also davon ausgehen, dass er freiwillig ins Hafenviertel gegangen ist. Alles andere macht keinen Sinn. Das Personal des Gesandten hat ja ebenfalls seine Spur aufgenommen, die sich im Hafen verliert. Das würde heißen, sie wussten nichts davon und er hat sich heimlich auf den Weg gemacht. Jemand hat ihn dorthin gelockt, vermutlich mit irgendeiner Versprechung.“

„Und dann brauchten sie nur auf ihn zu warten um ihn gefangen zu nehmen. Was können wir tun?“

Miles überlegte einen Moment. Er hatte eine vage Idee, wusste aber nicht, wie er sie dem Captain verkaufen sollte.

„Es gibt da einen Hehler bei den Drydocks, Larry Fine. Larry hört so ziemlich alles, was im Hafen vor sich geht. Er handelt auch weniger mit Waren, als mit Informationen. Wenn einer weiß, ob da etwas vor sich gegangen ist, dann er.“

Nach einer Weile des Schweigens, ergriff Daniel Hansom das Wort.

„Also, Miles. Wenn du es so formulierst, ist doch bestimmt ein Haken dabei.“

Miles nickte zögernd und sah seinen Captain direkt an.

„Er verkauft seine Informationen nur gegen andere Informationen. Und die müssen schon sehr interessant und lohnenswert für Larry sein.“

Daniel und Percy wechselten einen schnellen Blick.

„Da hätten wir nicht so viel zu bieten.“

Miles nickte und sein Blick flatterte nun etwas nervös. Er wusste, wie sein Captain bei dem folgenden Thema reagieren würde.

„Nun ja, es gibt da etwas, was Larry noch interessanter findet, als wichtige Informationen und das ist der Arsch eines hübschen Jungen.“

Daniel Hansom fuhr hoch.

„Niemals! Niemand meiner Besatzung wird seinen Körper an jemanden verkaufen. Egal wofür und egal warum.“

In das folgende Schweigen fiel das heisere Räuspern von Clyde.

„Von der Besatzung vielleicht nicht, aber von den Scouts schon.“

Alle Anwesenden fuhren herum und starrten Clyde an.

„Auf gar keinen Fall! Ich untersage solche Einsätze.“

„Verzeihung, Sir. Aber für genau solche Einsätze sind wir da. Wir sollen Informationen beschaffen und das tun wir auch. Unsere Aufgabe ist es, mit allen Kräften zu dienen und unsere Aufträge zu erfüllen. Und einen solchen Auftrag können wir erfüllen. Wir sind dazu in der Lage, ohne dass es uns großartig schadet. Ich bin mir sicher, dass es mehrere Freiwillige geben wird, wenn ich die Sache erkläre.“

Daniel Hansom starrte Clyde immer noch wütend an. Percy legte ihm eine Hand auf den Unterarm und drückte ihn leicht. Daniel Hansom sah seinen Partner an, dann wieder zu Clyde.

„Also gut. Möglicherweise bin ich etwas zu voreingenommen. Aber ich bestehe darauf, dass es ein Freiwilliger sein wird. Und ich möchte vor dem Einsatz mit ihm reden. Ich denke, Miles kann euch noch ein paar Einzelheiten geben.“

Clyde nickte und erhob sich, Miles und auch Ragnar folgten ihm. Daniel Hansom sah ihnen hinterher, als sie die Kapitänskajüte verließen.

„Percy, worauf haben wir uns hier eingelassen? Das wird immer schlimmer. Ich habe die Jungs aufgenommen um ihnen Sicherheit zu bieten und nicht, damit sie für mich auf den Strich gehen.“

„Das tun sie auch nicht. Ganz im Gegenteil. Ich denke, sie wissen ganz genau, dass sie hier in Sicherheit sind und sie so leben können wie sie möchten. Und sie wissen genau, wem sie das zu verdanken haben. Glaubst du nicht, dass ihr Einsatz eine Form ist, dir dafür zu danken? Sie wollen auch etwas geben. Und sie wollen, dass diese Gemeinschaft so lange wie möglich weiter existiert. Dafür kämpfen sie.“

Mit einem leisen Seufzer legte Daniel seinen Kopf an Percys Brust.


Im Deck der Scouts war eine lustige Runde versammelt. Zu Clydes Überraschung saß Diethard Wegener ebenfalls am Tisch und ließ sich von den Scouts sehr ausführlich über ihre Aktionen erzählen, die sie wieder zusammengeführt hatten. Wie Clyde zu seinem Leidwesen feststellen musste, war da auch das Abenteuer in den Bädern von Schloss Argyll inbegriffen. Besonders Mario schien davon sehr angetan, denn er erzählte alles äußerst ausführlich und ausschmückend.

Miles und Ragnar lauschten amüsiert, nur Clyde fand das nicht besonders lustig.

„Leute, wir haben einen neuen Auftrag. Es wird wohl diesmal etwas anderes als sonst üblich.“

Diethard erhob sich, um das Deck zu verlassen, doch Clyde gab ihm aus einem Impuls heraus das Zeichen, sitzen zu bleiben. Dann gab Clyde fast das gesamte Gespräch über den vermissten Grafensohn wieder und Miles ergänzte den Bericht mit etlichen kleinen Informationen über den Hafen und auch über Larry Fine. Am Ende der Ausführungen verabschiedete sich Miles und Clyde sah von einem zum anderen.

„Du denkst also, einer von uns soll seinen süßen Hintern verscherbeln, damit wir diesen Idioten finden?“

Clyde sah zu Mario, der erwartungsgemäß als erster vorgeprescht war.

„Ich denke das, ja. Ich befehle es keinem, aber ich bin der Meinung, es ist unsere einzige Möglichkeit, schnell an die Information zu kommen, ohne dass unsere Zielperson bis dahin beseitigt worden ist.“

„Zugegeben, das könnte tatsächlich die einzige Möglichkeit sein. Aber wer soll gehen? Oder, wer will gehen.“

„Sollten wir nicht besser fragen, welchen Typ dieser Larry am liebsten hat?“

Alle drehten sich zu Arje, der nur mit den Schultern zuckte.

„Alles eine Frage von Angebot und Nachfrage. Wenn wir das bestmögliche Ergebnis haben wollen, müssen wir auch die beste Ware bieten.“

„Mein Hintern ist keine Ware. Ich verkaufe meinen Körper nicht wie einen Sack voller Erbsen.“

fauchte Dian und Arje zuckte merklich zusammen.

„So war das auch nicht gemeint. Nur, wenn wir in diesem Fall tatsächlich jemanden dieser äh… Situation aussetzen, dann sollte es auch nicht vergeblich sein.“

Clyde hob eine Hand und bat um Ruhe.

„Ich weiß, was Arje meint. Einer von uns wird ein persönliches Opfer bringen. Es sollte nicht vergeblich sein. Wir alle hier…“

Sein Blick wanderte über die Anwesenden und blieb etwas verwirrt an Diethard und Ragnar hängen. Warum waren sie hier? Da war etwas… Hektisch zählte Clyde durch. Acht! Sein Unterbewusstsein hatte ihm schon wieder einen Streich gespielt und er hatte Diethard und Ragnar hier an ihrem Gespräch teilnehmen lassen. Acht!

Clyde sprang plötzlich auf und deutete auf den großen Raum.

„Los! Alle nach drüben. Jetzt machen wir mit acht Mann einen vollen Kreis.“

„Mit oder ohne Klamotten?“

Clyde warf Mario einen vernichtenden Blick zu, überlegte aber trotzdem einen Moment.

„Könnt ihr anlassen. Ich will nur etwas überprüfen.“

Mario murmelte etwas, was ihm allerdings einen Schlag an den Hinterkopf von Frank einbrachte.

Clyde stellte sich in die Mitte des Raumes und wartete einfach bis sich alle etwas verteilt hatten. Dann gab er ihnen ein Zeichen, sich zu setzen.

Genau vor ihm saß nun Ragnar. Links von Clyde saß Dian. Zwischen den beiden Arje.

Rechts von Clyde saß Diethard. Zwischen ihm und Ragnar Mario.

Direkt hinter Clyde war Finn. Zwischen ihm und Dian saß Eldar. Zwischen Finn und Diethard befand sich Frank.

Clyde begann seine Betrachtung und er wusste, dass sich jeder auf dem richtigen Platz befand. Auf einmal wusste er auch, warum sich jeder dort befand. Einen Moment lang bewunderte er das schöne symmetrische Muster ihrer Beziehungen, bis er die Betrachtung aufhob.

„Wurde auch verdammt Zeit!“

Clydes Blick ruckte zu Mario, dann kam ein Kommentar von Arje.

„Es ist wohl besser ohne Bekleidung. Mit den Sachen wird es wohl jedes Mal eine kleine Sauerei geben.“

Clyde erstarrte.

„Was? Schon wieder?“

„Nein, aber dicht davor. Ich hoffe, du hast alles erfahren, was du wolltest.“

„Ja. Habe ich. Bleibt bitte auf euren Plätzen sitzen. Ich werde kurz zu jedem einzelnen etwas sagen.“

Ragnar und Diethard wechselten einen fragenden Blick, sahen aber dann erwartungsvoll zu Clyde.

„Ich habe schon einmal einen Kreis wie diesen einberufen, aber da waren wir weniger und er kam mir unvollständig vor. Heute ist er vollständig und zwar mit genau den richtigen Leuten an der richtigen Stelle. Es ist sehr schwer zu erklären, was ich gesehen habe. Das, was sich zeigt, ist nicht immer Magie, sondern nur ein Abbild davon. Stellt euch bitte ein Spinnennetz vor. Es ist achteckig und an jeder Ecke sitzt einer von euch.“

„Und du bist die Spinne in der Mitte?“

„Ja. Nein, nicht in diesem Sinne. Von jedem von euch laufen Fäden in alle Richtungen und verbinden euch. Ich bin in der Mitte, weil dort die Fäden jedes einzelnen sich sammeln und eine Einheit bilden. Jeder der Fäden ist eure Beziehung zu einem anderen von uns.“

Clyde bekam mit, wie Diethard nach Luft schnappte.

„Und diese Fäden sind sogar unterschiedlich. Mal sind sie dicker oder dünner, je nachdem, wie intensiv diese Beziehung zueinander ist, einige sind sogar farbig.“

Die Jungen aus dem Kreis sahen sich fragend an und einige nickten nachdenklich. Ragnar sah lächelnd zu Arje, der schüchtern zurücklächelte. Clyde schien es, als ob er in diesem Moment einen Ton hörte, als ob eine Saite ganz leise angeschlagen worden wäre. Unmutig schüttelte er seinen Kopf.

„Die Sache mit den farbigen Fäden ist mir noch etwas unklar, aber wenn ich es richtig interpretiere, sind die Besitzer magisch begabt.“

Der erste, der die ganze Tragweite der Aussage begriff, war Eldar.

„Die Besitzer? Es sind mehrere? Aber hier ist doch nur…“

Eldar verstummte und sah sich um. Einige der anderen sahen verschreckt zu Clyde. Der sah direkt zu Ragnar.

„Der Norden. Wasser und Eis. Das Element des Wassers.“

Ragnar nickte stumm.

„Der Süden. Feuer und Schwert. Das Element des Feuers.“

Wenn Ragnar den Norden symbolisierte, dann saß Finn im Süden. Alle sahen ihn an, bis er realisierte, was Clyde damit andeuten wollte. Er wollte etwas sagen, doch Frank bedeutete ihm, ruhig zu bleiben.

„Der Osten. Erde und Fels. Das Element der Erde.“

Nun wandte sich die Aufmerksamkeit zu Diethard. Sein Blick war zu Boden gerichtet und er murmelte etwas Unhörbares.

Ihm gegenüber wurde Dian immer nervöser. Wenn Clyde den Kreis in der gleichen Weise schließen würde, wie er ihn begonnen hatte, saß er hier definitiv verkehrt.

„Der Westen. Luft und Leben. Das Element der Luft.“

Clyde sah nun nach links und blickte Dian direkt an.

„Es tut mir leid, dass du es auf diese Weise erfahren musst, aber dein Name wurde dir, so wie es aussieht, nicht zufällig gegeben. Die meisten Luftmagier betreiben Wettermagie, einige sind allerdings auch begabte Heiler.“

In seiner sitzenden Position drehte sich Clyde etwas mühsam zu Finn herum.

„Du hast es wahrscheinlich schon geahnt. Es bedarf nur eines kleinen Anstoßes und aus der Kunst des Schwertkampfes wird die Magie des Schwertkampfes.“

Eine weitere kleine Drehung.

„Diethard, sieh mich an. Du bist das Kind des zerrissenen Landes. Du hast mir vertraut, als du mir die Münze gegeben hast und du hast uns vertraut, dich zu retten. Du bist mit deiner Magie an das Land, die Erde gebunden, was Rückhalt und Vertrauen symbolisiert. Ich weiß nicht, was deine Magie für dich bereithält, doch sie wird wahrscheinlich sehr mächtig sein.“

Nach einer letzten Drehung sah er wieder Ragnar an.

„Bist du nun bereit, das Erbe deiner Väter anzutreten?“

Ragnar nickte langsam, aber nachdrücklich.

„Und was ist mit uns? Hier sind jetzt mehr Magier, als bei einem Zauberwettbewerb in Cymru. Sind wir jetzt über?“

Clyde fuhr herum.

„Auf gar keinen Fall, Mario. Sieh dich mal um. Jeder magisch Begabte sitzt genau zwischen zwei nicht begabten. Das hat seinen Grund. Du sitzt zum Beispiel zwischen Wasser und Erde. Betrachte es einfach als symbolisch. Wasser und Erde – verbergen und schleichen.“

Mario stutzte und sah von Ragnar zu Diethard.

„Frank, bei dir ist es einfacher. Erde und Feuer. Aufklären und kämpfen.“

„Eldar?“

Der hatte sich tatsächlich bereits selber Gedanken gemacht.

„Ich glaube, ich verstehe. Feuer und Luft. Kämpfen und verschleiern.“

Clyde nickte grinsend und sah zu Arje, der etwas verloren von Dian zu Ragnar blickte.

„Luft und Wasser. Du hast es am Schwierigsten, Arje. Beide Magiearten beinhalten das Arbeiten im Verborgenen, doch Luft hat auch etwas mit Wetter zu tun und Wasser mit Seefahrt. Ich behaupte mal, wir werden wahrscheinlich in nächster Zeit auf deine Talente als Kaufmann und Händler zurückkommen.“

Arje sah ebenso erstaunt aus, wie die anderen, doch Clyde hob noch einmal beide Hände um etwas Ruhe zu bekommen.

„Und dann ist da noch etwas. Mario wird wahrscheinlich gleich sagen, er hätte es von Anfang an gewusst, aber es ist mir eigentlich erst jetzt klar geworden. Es geht um unsere Beziehungen untereinander. Ich nehme an, dass fast alle mitbekommen haben, dass ich nicht nur… äh… ich meine, also…“

„Du hast dich um mehr als einen aus unserer Truppe gekümmert.“

„Danke, Mario, sehr dezent formuliert.“

„Also, ja. Und genauso habe ich bemerkt, dass einige von euch auch nicht in trauter Zweisamkeit geblieben sind. Warum ich das jetzt erwähne? Weil ich befürchte, nein, weil ich glaube, dass unser kleiner Zirkel hier eine sehr wechselhafte enge Beziehung haben wird. Ich möchte da kurz wiedergeben, was mir ein Druide in Argyll-House erklärt hat.“

Interessiert lauschte der Kreis um Clyde nun der Einschätzung des Ältesten Firbolg. Als Clyde zu Ende gekommen war, sah er in erstaunte, aber auch amüsierte Gesichter.

Dian konnte es kaum glauben.

„Das hat der Druide echt gesagt? Deine Magie hat uns zusammengeführt und wir sind eine Gemeinschaft?“

Mario lachte.

„Der Aspekt der Fruchtbarkeit hält unsere Gemeinschaft zusammen. Da bin ich doch gerne der Zusammenhalt.“

Mario hatte Glück, dass er nicht in Reichweite von Frank saß, aber die Aufgabe übernahm nun Ragnar und schon wieder klatschte es bei Mario. Finn hingegen schüttelte ungläubig den Kopf.

Ihr zieht mit euren Gefährten durch das Land, wie einst die Túatha oder die Helden von Erin. Hat er das ernst gemeint?“

Ragnar schüttelte sich.

„Wahrscheinlich. Wenn wir tatsächlich Teil des Großen Ganzen sein sollten, können wir uns ohnehin nicht dagegen wehren. Der Wille der Götter ist manchmal unerklärlich.“

„Können wir jetzt zum lustigen Teil kommen?“

Diesmal war Mario in Reichweite von Ragnar und Diethard.


Sehr zum Leidwesen von Mario hatte Clyde alle Mann wieder am Tisch Platz nehmen lassen und sah in die Runde. Amüsiert stellte er fest, dass sich vier Paare gebildet hatten, die fast die Aufteilung im Zirkel widerspiegelten. Frank saß neben Diethard und Mario neben Finn. Dian saß neben Eldar und Arje hatte sich sogar an Ragnar angelehnt.

„Es tut mir leid, dass ich die Sache jetzt so unvorbereitet auf euch habe einprasseln lassen, aber ich wollte sicher gehen, dass mich mein Gefühl nicht getrogen hat, was diese acht Personen betrifft. Wir sind ja nun immer noch nicht viel weiter, was den Einsatz bei Larry betrifft. Die Frage ist, wenn ich es richtig verstanden habe, wer von uns am besten den Typ trifft, den dieser Larry mag.“

„Ob Miles da etwas weiß?“

„Wir können ihn ja fragen.“

Clyde deutete auf Frank und nickte ihm zu. Der erhob sich auch sofort und verließ das Deck. Schon nach kurzer Zeit kam er wieder und grinste leicht.

„Man sollte es kaum glauben, aber dieser Larry bevorzugt wohl den Typ, der in Caerdon am seltensten zu bekommen ist. Klein und dunkel, am besten mit schwarzen Locken und noch jung und unschuldig.“

Beim ersten Teil der Beschreibung hatten alle automatisch zu Mario gesehen, doch die letzte Bemerkung ließ alle enttäuscht aufseufzen.

„Hey, was soll das denn heißen? Ich kann auch einen auf jung und unschuldig machen.“

Arje warf ihm einen zweifelnden Blick zu.

„Glaub‘ ich nicht. Spätestens wenn er dich auf den Bauch gedreht hat, weiß er, dass das ein Fall von Salami im Hausflur ist.“

Mario sah Arje mit offenem Mund an, während der Rest in lautes Gelächter ausbrach. Clyde seufzte.

„Mario ist der einzige mit schwarzen Haaren. Wenn es tatsächlich daran liegen sollte… Würdest du es machen?“

Mario war so ehrlich, nicht gleich zuzustimmen. Er sah nachdenklich auf den Tisch und sprach dann auch, ohne seinen Kopf zu heben.

„Es ist lange her, dass ich es nicht freiwillig mit jemandem gemacht habe. Ich meine, bei dem ich lediglich eine Art Handel abgeschlossen habe. Mein Körper gegen etwas, was ich haben wollte, was ich haben musste, oder einfach zum Überleben. Es war nicht immer schön und ich hatte mir fest vorgenommen, dass es nie wieder passieren würde.“

Mario sah nun wieder auf und Clyde direkt ins Gesicht.

„Aber ich werde es tun.“

Damit stand er auf und verließ das Deck. Alle anderen sahen sich betreten an. Clyde stand seufzend auf und ging ebenfalls nach oben, während am Tisch eine heiße Diskussion um die Natur der Magie ausbrach.

Clyde brauchte nicht lange zu suchen. Mario hatte sich an die Reling verzogen und stand bei den Wanten des Großmastes. Wortlos trat Clyde zu ihm und nahm ihn an der Hand. Schweigend führte er ihn hinunter zur Segellast. Dort, im Schein zweier abgeschirmter Laternen, schreckten sie zunächst zwei Schiffsjungen auf, die es sich dort gemütlich gemacht hatten. Die beiden schnappten schnell ihre Sachen und verschwanden flink nach oben.

„Du musst es nicht machen.“

„Doch, denn es ist im Prinzip genau das, was ich geschworen habe. Du erinnerst dich an den Eid der Shadows? Wenn ich bereit bin, mein Leben zu geben, dann sollte ich auch meinen Hintern hinhalten können.“

„Nein, das ist etwas anderes. Komm einmal zu mir.“

Clyde hatte sich inzwischen entkleidet und legte sich in eine kleine gepolsterte Mulde im Segeltuch, die wohl schon so manche Paare hier unten genutzt hatten.

Mario sah nachdenklich auf Clyde herab, dann entkleidete er sich ebenfalls und legte sich zu ihm.

„Was wird das?“

„Nach was sieht es aus? Ich möchte deine ehrliche Meinung über diesen Einsatz. Sind wir wirklich dafür bereit? Bist du dazu bereit? Überschreiten wir damit irgendwelche Grenzen? Du kannst dir sicherlich denken, dass der Captain nicht begeistert war.“

Mario lächelte grimmig und fuhr etwas geistesabwesend mit einem Finger über Clydes Brust und Bauch.

„Kein Wunder. Das Gerücht sagt, der alte Captain, also der erste Earl, hat ihn mit einigen anderen aus einem Bordell befreit, wo sie gefangen gehalten und ausgepeitscht worden waren, wenn sie nicht den Kunden voll befriedigt hatten.“

Clydes schloss erschüttert die Augen. Kein Wunder, dass er so reagiert hatte.

„Aber um mich das zu fragen, hättest du mich nicht hierherschleppen brauchen.“

„Bist du enttäuscht, weil einige von uns magische Fähigkeiten zeigen?“

Mario stutzte bei dem plötzlichen Themenwechsel.

„Nun, nicht direkt. Ich meine, ich wäre vielleicht auch gerne Magier. Aber dann doch nicht. Ich denke, die Verantwortung wäre mit zu groß. Ich mag lieber eine andere Form von Magie.“

Damit strich er sanft an Clydes Erektion entlang und kitzelte ein wenig die Spitze, so dass Clyde überrascht nach Luft schnappte.

„Das ist genau das Thema, warum ich diese äh, Umgebung gewählt habe. Bist du sicher, dass du die Aufgabe erfüllen willst? Wir wissen nicht viel über diesen Larry, nur das, was Miles erzählt hat. Wir wissen nicht einmal, was er alles mit den Jungen anstellt, die er zu sich nimmt. Immerhin, du bist achtzehn, was eigentlich die Kriterien jung und unschuldig ausschließen würde. Aber dennoch…“

Nun ließ Clyde eine Hand an Marios Körper heruntergleiten, dessen dunkler Teint einen starken Kontrast zu Clydes heller Haut bildete. Alles an ihm schien dunkel zu sein, die schwarzen, lockigen Haare, die braunen Augen und die Haut. Der Körper war schlank, aber nicht dünn oder schmächtig. Clyde bemerkte ein deutliches Sixpack und die Brustmuskeln fühlten sich ebenfalls gut an. Ein kurzes Verweilen an einer Brustwarze ließ Mario wohlig brummen, bis Clyde südlich des Bauchnabels angekommen war.

Mario sah Clyde in die Augen und erkannte in diesem Moment, was wirklich mit ihnen geschah. Langsam beugte er sich vor und gab Clyde einen langen, ausdauernden Kuss. Nur dieser eine Kuss ließ Mario erschauern und er strich Clyde sanft über dessen rote Haare.

„Ist es wirklich so? Werden wir tatsächlich eins? Alle acht, nein, alle neun, in Liebe miteinander vereint und aneinander gebunden?“

„Ich wünschte mir, ich könnte es dir sagen, aber das wissen nur die Götter. Und die möchte ich eigentlich ungerne fragen.“

Mario lachte leise und drehte sich herum, doch Clyde drehte ihn wieder zurück.

„Wir wollen dir doch nicht unnötig deine Unschuld rauben. Heute bin ich dran.“


Miles brachte die Nachricht, dass Larry wohl ein gewisses Interesse an einem Deal hatte. Er hatte wohl auch angedeutet, dass er etwas über den verschwundenen Sohn des Grafen von Winterstein wusste. Der Preis war, wie erwartet, eine andere Information oder eben die Nacht mit einem jungen Mann. Miles war vorbereitet zu den Verhandlungen gegangen und konnte Larry ein paar Einzelheiten entlocken.

Am nächsten Morgen saß Miles wieder im Deck der Scouts und berichtete von dem Gespräch. Bei seinem Blick in die Runde bemerkte er zu seiner Verwunderung, dass sowohl Ragnar als auch Diethard mit am Tisch saßen.

„Also, es geht um eine ganze Nacht. Er hat sich tatsächlich auf jemanden eingelassen, der etwas älter ist, der dann aber seinen Vorstellungen entsprechen sollte. Klein, schwarze Haare, dunkle Erscheinung. Und dann hat er etwas gesagt, was ich nicht verstanden habe. Der Junge sollte so sein, wie eine Capriolo. Was hat die denn damit zu tun?“

Alle sahen verblüfft zu Mario, der lauthals lachte.

„Das hat er gesagt? Ich glaube, wir müssen unsere Meinung von diesem Larry etwas revidieren.“

Frank und Fynn sahen etwas ratlos zu Mario.

„Was, bitte, ist eine Capriolo?“

„Das ist eine kleine rotanische Münze. Im Gegensatz zu fast allen Münzen, die in den ganzen Ländern in Umlauf sind, hat diese eine Besonderheit. Sie hat keine Vorder- und Rückseite. Auf beiden Seiten ist das gleiche Bild eingeprägt.“

„Und was hat das jetzt mit Larry zu tun?“

Mario grinste breit und auch Arje lachte in plötzlicher Erkenntnis.

„Zwei gleiche Seiten, egal wie du sie drehst. In Rota war sie bald schon das Sinnbild für jemanden, der das gleiche Geschlecht bevorzugt. Und bei den Jungs auf dem Strich war sie das Zeichen für einen Kunden der beides macht, also äh… aktiv und passiv ist.“

Clyde lehnte sich zurück und sah Mario lächelnd an.

„Jetzt verstehe ich. Deshalb die Zustimmung, dass derjenige etwas älter sein kann. Da kann er einiges mehr mit dir anfangen. Aber sag mal, bist du sicher, dass du eine ganze Nacht durchhältst? Du bist schließlich nicht mehr der Jüngste.“

Alle lachten bei Marios empörtem Gesicht, doch dann wurden sie wieder ernst. Eldar sah nachdenklich zu Clyde.

„Wie machen wir es, wenn wir die Information haben? Wann werden wir sie überhaupt bekommen und wie garantieren wir Marios Sicherheit? Wir benötigen Leute, die sich im Hafen auskennen und wir müssen für den Fall vorbereitet sein, falls etwas schief geht.“

Clyde sah fragend zu Miles.

„Es gibt genug von unseren Leuten, die sich im Hafen auskennen. Am besten, ihr fragt Feliciano, ob ihr die Zwillinge kriegen könnt. Die sind hier aufgewachsen und kennen jeden Weg und Steg.“

„Sehr gut. Danke, Miles. Ich denke, du hast uns sehr geholfen.“

Miles lächelte, stand auf und ging zur Tür. Bevor er das Deck verließ, drehte er sich noch einmal um.

„Zugegeben, ich würde wahrscheinlich endlosen Ärger mit meinem Kerl kriegen, aber ich wäre auch zu gerne Mäuschen, wie Mario und Larry die Nacht verbringen.“

Mario sah verblüfft auf die nun geschlossene Tür, durch die Miles verschwunden war. Clyde hatte ihm ebenfalls hinterhergesehen und fragte sich nun, mit wem Miles eigentlich zusammen war.

„Egal. Also, Leute, Eldar hat ganz recht, wir brauchen einen Plan, der so ziemlich alle Möglichkeiten abdeckt, die passieren könnten.“

Eldar tuschelte eine ganze Weile mit Arje und schüttelte dann den Kopf.

„Das kannst du vergessen. Wir können nicht alles abdecken. Wir können nur einen Plan machen, so wie wir uns vorstellen, dass es ablaufen soll. Dann vielleicht noch eine Ausweichmöglichkeit und einen Notfallplan. Mehr geht nicht.“

Eldar und Arje flüsterten wieder miteinander, bis Eldar den kleineren anstieß.

„Los, sag schon.“

Arje sah etwas nervös in die Runde.

„Ist im Prinzip ganz einfach. Wir müssen einen Plan machen, der den ganzen Ablauf der Nacht beinhaltet. Wenn etwas schief geht, haben wir nicht die Zeit, uns etwas Neues zu überlegen. Wir müssen uns klar darüber sein, was wir wollen, was passieren kann und was für Leute und Material wir haben, die wir nutzen können.“

Clyde sah Arje erstaunt an, doch bevor er etwas sagen konnte, meldete sich Mario.

„Ich nehme mal an, ich bin Punkt eins auf dem Plan. Ohne meinen Einsatz keine Informationen. Ich habe aber keine Ahnung, wann ich die Information bekomme. Höchst wahrscheinlich erst am nächsten Morgen.“

Eldar nickte und zog aus einer Umhängetasche Papier, Feder und Tinte.

„Erstens, Einsatz Mario. Frage nach der Absicherung.“

Finn sah zu Frank, dann zu Clyde.

„Die ganze Nacht über? Dann bräuchten wir zwei Gruppen, die sich abwechseln. Ich habe keine Ahnung, wie das Gelände oder das Haus dort aussieht. Das müssen wir vorher aufklären.“

„Da brauchen wir dann wohl wirklich Unterstützung. Wen hatte Miles vorgeschlagen?“

„Die Zwillinge. Henk und Thies Behrend von den Seesoldaten.“

Arje sah fragend zu Mario.

„Henk und Thies? Sind die aus Nassouwe?“

„Soviel ich weiß, nur ihre Eltern. Die beiden sind in Caerdon geboren. Die Eltern wollten auswandern in die Neue Welt, nach Neu-Amsterdam, der kleinen Kolonie von Nassouwe. Aber das Auswandererschiff hier in Caerdon wollte die hochschwangere Frau nicht mitnehmen, da sind sie hier sozusagen gestrandet.“

Arje nickte dankend, während Finn nur den Kopf schüttelte.

„Was du so alles weißt.“

Clyde deutete auf Mario.

„Geh bitte nach oben und frag Feliciano, ob er uns die Zwillinge für einen Einsatz ausleiht.“

„Aye, aye, Sir.“

Mit einem legeren Salut verschwand Mario durch die Tür, während Ragnar sich räusperte.

„Sollen wir die Möglichkeit bedenken, dass uns jemand mit einem Schiff entkommt?“

Clyde sah ihn verwirrt an, wurde dann aber von Dian und Diethard abgelenkt, die anscheinend ein kleines Streitgespräch hatten.

„Was ist?“

Dian sah erschreckt zu Clyde, doch Diethard nickte ihm zu. Dian machte etwas dicke Backen, bevor er sprach.

„Ich weiß nicht, wie ich es sagen soll, aber das Ganze geht doch darum, dass dieser äh… wie heißt der noch – Leopold? Also dieser Leopold heimlich in den Hafen gegangen und dort in einer der Kneipen verschwunden ist. Warum sollte jemand von seiner Herkunft heimlich in den Hafen gehen? Ich wüsste nur einen Grund und der ist, dass er sich still und leise aus dem Staub machen wollte. Und zwar mit einem Schiff. Denn sonst wäre er ja schon längst in eine andere Richtung unterwegs.“

Dian stockte etwas mit seiner Rede und Clyde bedeutete ihm, fortzufahren.

„Wo will er hin? Nach Hause? Das hätte er nicht heimlich zu machen brauchen. In ein anderes Land, ohne Einverständnis seines Vaters? Wir wissen nicht viel über sein Leben, aber das ist auch ziemlich unwahrscheinlich. Da werden wir wohl nur raten können, aber das hilft uns nicht weiter. Der andere Punkt ist seine Entführung. Die Entführer sind dabei, einen Gesandten am Hof der Königin zu erpressen. Sie dürften also einige Erfahrung mit so etwas haben. Wenn die Erpresser mitbekommen, dass im Hafen nach ihnen gesucht wird und die Schlinge sich enger zieht, werden sie bestimmt versuchen, ihre Geisel in Sicherheit zu bringen. Und da kommt…“

Diethard unterbrach Dian mit einem amüsierten Blick.

„Was unser redegewandter Heiler mitteilen möchte ist folgendes. Sobald die Entführer Gefahr wittern, packen sie Leo auf ein Schiff und entschwinden auf See, wo wir keinen Anhaltspunkt haben, wohin sie sich wenden könnten.“

Clyde nickte lächelnd und sah zu Ragnar, der ebenfalls lächelnd nickte.

„Ich werde Thorben Bescheid geben, dass wir die ESTRAY möglicherweise sehr kurzfristig benötigen könnten.“

„Sehr gut. Was sollten wir noch…“

Clyde wurde von einer Bewegung an der Tür unterbrochen, als dort Mario, gefolgt von zwei weiteren Personen erschien.


Die Zwillinge waren tatsächlich identisch. Ein Eindruck, der sich durch die Uniform sogar noch etwas verstärkte. Sie waren groß, hellblond und lächelten beide in der gleichen Art und Weise, so dass Clyde unwillkürlich von einem zum anderen blickte, um einen Unterschied feststellen zu können.

„Da bin ich wieder. Dies sind Henk und Thies Behrend.“

Mario deutete auf seine beiden Begleiter, die bei der Nennung ihres Namens eine Hand zum Gruß hoben.

„Behaupten die beiden wenigstens. Ich kann sie nicht auseinanderhalten. Da ist es schon besser, wenn man gleich alle beide…“

Mario verstummte, als einer der Zwillinge ihm einen Finger auf den Mund legte.

„Nicht verraten. Das können sie schon selbst herausfinden. Wir sind aber, glaube ich, wegen etwas anderem hier.“

Clyde nickte und deutete auf den Tisch, was die Zwillinge dahingehend richtig interpretierten, sich einen Sitzplatz zu suchen.

Clyde erklärte in groben Zügen ihren Auftrag und die Zwillinge sahen sich mit erhobenen Augenbrauen an.

„Ihr fangt nicht mit den leichten Sachen an. An Larry heranzukommen ist nicht schwierig, tagsüber zumindest. Da residiert er sozusagen im ‚Happy Otter‘ und macht dort seine Geschäfte. Nachts jedoch ist er in seinem Haus und da rein zu kommen, haben schon viele versucht.“

„Wir wollen ja auch nicht einbrechen. Ich denke, wir brauchen eine Überwachung für den Fall, dass etwas schief geht. Ich lasse Mario nicht gerne alleine mit dem Kerl. Wer weiß, was dem so alles einfällt.“

Die Zwillinge sahen sich an und schienen lautlos miteinander zu reden, bis einer von ihnen seufzend nickte.

„Also gut. Wir können euch definitiv sagen, dass Larry in dieser Hinsicht ziemlich harmlos ist. Für wichtige Information verlangt er eine entsprechende Gegenleistung, aber er ist weder brutal, noch nimmt oder verteilt er irgendwelche Drogen oder so ein Zeug. Man muss nur ausdauernd genug und die ganze Nacht über bereit und willig sein.“

Clyde wollte schon nachfragen, bis ihm klar wurde, dass die Zwillinge dieses Wissen über Larry eigentlich nur auf eine einzige Art und Weise erworben haben konnten. Er zuckte mit den Schultern und sah zu Mario, der nun erwartungsvoll grinste.

„Ich bin immer bereit. Und ausdauernd auch.“ fügte er mit einem Seitenblick auf Finn hinzu.

„Aber wir haben noch eine andere Frage. So, wie wir es mitbekommen haben, soll dieser Grafensohn irgendwo gefangen gehalten werden, um von seinem Vater irgendetwas zu erpressen. Selbst wenn ihr herausbekommt, wo er ist, wird es nicht einfach, ihn da herauszuholen. Die ganzen Lagerhäuser im Hafenviertel sind stark bewacht und auch die anderen Gebäude, wie Kontore oder die Kneipen sind nie ohne Aufsicht.“

„Was sollen wir dann also machen?“

Es gab wieder eine kurze, stumme Kommunikation zwischen Zwillingen, bis einer prüfend über die Scouts sah.

„Wie sicher seid ihr, dass sie die Geisel am Leben lassen, sobald das Versteck überfallen wird?“

Eldar schüttelte den Kopf.

„Gar nicht. Die Erpressung hat bereits stattgefunden. Der Gesandte hatte seinen Auftritt und hat dabei kläglich versagt. Er wurde sogar des Landes verwiesen. Die Geisel ist nicht mehr viel wert, es sei denn, sie versuchen noch ein Lösegeld herauszupressen.“

Plötzlich sah Dian zu Eldar und strahlte.

„Natürlich, das ist es. Der Gesandte war gar nicht so dumm, wie er uns glauben machen wollte. Er hat mit voller Absicht seinen Rauswurf provoziert. Die einzige Möglichkeit, die Erpressung zu beenden. Er muss das Land schnellstens verlassen, also bleibt den Erpressern nicht viel Zeit zu handeln, wenn sie noch etwas von ihm wollen.“

Eldar verwuschelte Dians rote Haare und gab ihm einen schnellen Kuss. Clyde spürte ein leichtes Schwingen in seiner Magie, als ob jemand ganz leicht eine Saite angeschlagen hätte. Verblüfft sah er zu Eldar und Dian. Wenn ihm das jetzt schon passierte, wenn sich zwei von seinem Zirkel küssten, dann wollte er nicht wissen, was er davon mitbekam, wenn sie deutlich mehr als das taten. Oder wenn gar vier Paare gleichzeitig etwas machten. Clyde erschauerte bei dem Gedanken und versuchte, sich von seiner spontan aufgetretenen Erregung abzulenken.

„Was heißt das jetzt für uns? Wir müssen zunächst herausfinden, wo genau er festgehalten wird. Das ist die Aufgabe für Mario. Dann müssen wir sehen, ob sich an dem Versteck etwas tut, oder nicht. Jemand eine Idee?“

Die Zwillinge nickten simultan.

„Wir brauchen das in Frage kommende Gebäude lediglich zu überwachen. Ist es eine Kneipe, ist es am Einfachsten. Sobald sie öffnet, sickern wir einfach mit den ersten Kunden rein. Immer einzeln oder zu zweit, gut verkleidet oder auch auffällig.“

Finn seufzte.

„Wieso seht ihr immer mich dabei so an?“

„Weil du eben auffällig bist. Das ist auch gut so, denn dann lenkst du möglicherweise etwas von den anderen ab.“

„Und was dann?“

„Das müssen wir aus der Lage entscheiden, die wir dort vorfinden.“

Clyde seufzte. Der Plan war nicht gerade genial, aber immer noch besser, als gar keiner.

„Was ist mit der Möglichkeit, dass sie auf dem Wasser entkommen?“

Clyde wollte sicher sein, dass er die wahrscheinlichsten Möglichkeiten abdeckte. Ragnar sah zunächst zu Diethard, bevor er antwortete.

„Wie gesagt, wir könnten die ESTRAY nutzen. Da wir nicht wissen, in welchem der Hafenbecken unser Ziel liegt, müsste der Kutter ziemlich weit nach draußen, aber immer noch schnell zu erreichen sein.“

Einer der Zwillinge drehte sich zu Ragnar.

„Da wäre die Kopfpier der Drydocks am besten. Die Halbinsel ist fast genau in der Mitte des Hafengebietes und weit genug draußen, dass fast jedes auslaufende Schiff erst mal dran vorbei muss.“

Ragnar nickte zustimmend.

„Ja. Gute Idee. Ich werde mit dem Captain und mit Thorben reden. Der kann die ESTRAY dann vor unserem Einsatz schon mal verlegen.“

Clyde verfiel einen Moment in Schweigen. Hatten sie an alles gedacht? Wahrscheinlich nicht. Der Plan war nicht gerade ausgereift, aber für mehr hatten sie einfach keine Informationen. Die würde Mario hoffentlich beschaffen. Mario. War es wirklich richtig…? Nein, diese Diskussion hatten sie hinter sich. Jetzt hieß es nur noch abwarten.

„So, Mario, ich weiß nicht ob ich es so sagen darf, aber ich wünsche dir viel Glück und auch viel Spaß.“


Clyde musste erneut feststellen, dass alle anderen, außer ihren Uniformen, noch etliche weitere Bekleidungsstücke besaßen. Lediglich er hatte nur seine Uniform. Das jetzt auf die Schnelle zu ändern ging schlecht und so wandte er sich noch einmal an Diethard Wegener. Der schleppte ihn auch sofort in die Junior-Messe.

„Zivilkleidung? Ach ja, für die Überwachung und die Kneipe. Möchtest etwas mehr Auffälliges oder was Schlichtes?“

„Ich denke, ich bevorzuge da etwas Schlichtes. Ich bin ohnehin auffällig genug.“

Diethard sah ihn grinsend an, dann wurde er schlagartig wieder ernst.

„Wie habt ihr mich eigentlich so schnell gefunden? Hat es was mit dieser Magie zu tun, die ich angeblich haben soll? Aber in Arlemande gibt es keine Magie!“

Clyde lachte leise und legte Diethard einen Arm um die Schulter.

„Ich habe genau das gemacht, was du mir gesagt hast. Ich habe dein Geschenk genutzt, das du mir anvertraut hast. Die Münze hat mich zu dir geführt. Und ja, es hat wahrscheinlich etwas mit deiner Magie zu tun. Was diese Magie genau ist, können nur die Druiden feststellen. Aber es gibt da auch eine weitere Schwierigkeit, die deine Magie betrifft.“

Diethard seufzte und lehnte sich nun an Clyde.

„Erzähl‘ schon.“

„Wenn sich jemand seiner Magie bewusst ist, sollte sie auf jeden Fall ausgebildet werden. Nichts ist gefährlicher, als ein Begabter, der nicht weiß, womit er hantiert. Oder gar jemand, bei dem die Magie plötzlich unkontrolliert hervorbricht.“

Diethard schreckte hoch und sah Clyde an.

„Das kann passieren?“

Er sah nachdenklich auf den Boden und dann wieder zu Clyde. Etwas zögernd versuchte er, eine Antwort für sich und auch für Clyde zu finden.

„Es… es tut doch nicht weh, oder? Ich meine, die Ausbildung. Was werde ich dort lernen? Oder was werde ich noch alles finden? Ich weiß gar nicht mehr, wer ich wirklich bin. In Arlemande wird Magie als etwas Bösartiges, etwas Schreckliches dargestellt, das von wahren Gläubigen der Kirche gar nicht ausgeübt werden kann. Und jetzt, da dieser verdammte Krieg das Land dermaßen zerrissen und die Kirche gespalten hat…“

Die Gedanken führten Diethard zu einer anderen Spur.

„Glaubst du, dass in Arlemande die Magie wieder ausgeübt wird, wenn der Glaube der Salvatoristen sich weiter ausbreitet?“

Clyde stutzte. Er war noch nie auf den Gedanken gekommen, dass die Ausübung der Magie in Arlemande nun vielleicht unter anderen Gesichtspunkten betrachtet wurde. Der Krieg hatte dem Land eine zweite Religion beschert und war mit großen Verlusten zu Ende gegangen. Eigentlich war es keine zweite Religion, die ‚Kirche der Salvatoristen‘ war aus der ‚Kirche der reuigen Sünder‘ hervorgegangen. Sahen die Salvatoristen die Magier ebenfalls als Ketzer? Würde nun eine weitere Welle der Verfolgung von Magiern durch Arlemande rollen? War sie vielleicht sogar schon im Gange?

„Ich weiß es nicht. Wir müssen sehen, was die Zeit bringt. Ich werde mich erkundigen, ob etwas darüber bekannt ist, aber jetzt brauch ich was zum Anziehen.“

Diethard lächelte und kramte in seiner Seekiste.

„Dann zieh dich erst mal aus.“

Clyde schlüpfte kommentarlos aus seinen Sachen und provozierte so einige Kommentare der Messebewohner. Clyde zuckte nur mit den Schultern und zog sich die Sachen über, die Diethard ihm an den Kopf warf.

„Bist du sicher, dass das unauffällig ist?“

Diethard musterte Clyde kritisch und nickte. Die Hose reichte gerade bis unterhalb der Knie und wurde nur durch einen breiten Ledergürtel gehalten. Das Hemd war ein gelbliches Leinenhemd älteren Datums und schon oft getragen worden. Dazu gab es lediglich ein Paar lederne Sandalen.

„Klar. Damit bist du ein arlemandisches Landei zu Besuch in der großen Stadt.“

„Na toll. Bei meinen Sprachkenntnissen merkt doch gleich jeder, dass ich nicht aus Arlemande stamme.“

Robert Jarmund hatte aus dem Hintergrund mitbekommen, dass Clyde sich für einen besonderen Einsatz vorbereitete und dass wohl die Sprachkenntnisse eine Schwierigkeit waren.

Neugierig trat er näher und musterte Clyde ebenfalls.

„Ja, das geht so durch. Und wegen der Sprache mach dir keine Sorgen. Du musst nur versuchen, deinem Britannisch einen arlemandischen Akzent zu verpassen. Also in etwa: Ei no, werr ju häff bien.“

Diethard und Clyde sahen Robert erstaunt an, dann brachen alle drei in Gelächter aus. Diethard nickte.

„Ja, das ist es. Damit kommt er ganz groß raus.“

Bei allen anderen war die Kleidung kein Problem. Sie trafen sich wieder im Deck der Scouts auf der FAIRYTALE und Clyde musterte einen nach dem anderen.

Er nickte nur, als er Finn wieder in seinen alten Sachen sah, die so manchen neugierigen Blick auf sich ziehen würden. Dian hingegen hatte sich wieder in den Landarbeiter verwandelt, der er ja eigentlich war. Ein wenig unglücklich sah er sich immer wieder um, doch Dubh durfte dieses Mal nicht mit. Der war unter der Obhut von Ragnar an Bord der ESTRAY und wurde dort von den Schiffsjungen beschäftigt.

Die Behrend-Zwillinge waren natürlich gleich gekleidet erschienen, diesmal in seriösem Outfit mit langen Hosen, Rüschenhemd, und einer gemusterten Weste.

„Wir sind sozusagen Kaufmannsgehilfen oder sowas. Das hat bis jetzt immer funktioniert.“

Clyde wunderte sich ein wenig, wobei das funktioniert haben sollte, aber er wurde von Frank, Arje und Eldar abgelenkt. Frank trug die gleichen Sachen, die er schon im ‚Smiling Seal‘ getragen hatte, wo er als Reisender aufgetreten war.

Arje hatte sich in ein paar alte Sachen geworfen, die Clyde dann doch etwas gewagt fand. Die kurzen Hosen waren ziemlich eng und das weiße Hemd war bis zum Bauchnabel offen.

„Bist du sicher? Das sieht aus wie…“

„Ich weiß, wie das aussieht und das soll es auch. Fünf Shilling fürs Blasen und zwei Sovereigns für meinen Arsch.“

Clyde starrte Arje verblüfft und auch etwas fassungslos an. Thies Behrend hingegen pfiff leise durch die Zähne.

„Ganz schön teuer, der junge Herr.“

Arje warf ihm mit einem koketten Augenaufschlag eine Kusshand zu, wobei seine andere Hand aufreizend durch seine blonden Locken strich.

„Natürlich, aber schließlich bin ich das Geld auch wert.“

Clyde schüttelte den Kopf. Wenn das mal nicht schief ging.

„Ich weiß nicht so recht. Aber das ist deine Entscheidung. Pass bloß auf dich auf.“

„Das mach‘ ich schon.“

Clyde drehte sich nun zu Eldar, der sich fast komplett verwandelt hatte. Der sonst immer sehr seriös gekleidete Isafjorder hatte sich ganz in Felle gehüllt. Angefangen an den Beinen, die trotz der sommerlichen Temperaturen in dicken, von Lederriemen umwickelten Schaffellen steckten. Dann ein Lendenschurz aus Schaffell, gehalten von einem breiten Ledergürtel mit einer riesigen silbernen Schnalle. Dazu eine Weste aus weißem Fell, die Clyde glaubte, schon einmal bei Sven gesehen zu haben. Auf dem Rücken trug Eldar eine riesige Streitaxt.

„Huh?“

„Was ist? Der Anzug? Du weißt, dass dich die meisten Leute unterschätzen, weil sie nur nach dem Äußeren gehen. Oder die Axt? Ich bin zwar Schreiber, aber ich stamme immer noch aus Isafjord und da lernen schon die kleinen Kinder, sich zu verteidigen. Jeder anständige Isafjorder kann mindestens mit der Axt oder dem Schwert umgehen. Die meisten sogar mit beiden.“

„In Ordnung. Also, hm… Frank, Arje und Eldar gehen mit Henk. Und Dian, Finn und ich gehen mit Thies. Ab jetzt können wir nur noch warten, bis Mario sich wieder meldet.


Diethard Wegener hatte inzwischen eine Unterredung mit Captain Hansom. Clyde hatte ihm den Auftrag gegeben, den Captain von ihren Absichten für den Einsatz zu unterrichten und er sollte ihm, viel wichtiger, von dem Zirkel berichten und dem Ergebnis, dass nun einige Magier an Bord waren, von denen er bisher nichts wusste.

„Was? Drei Leute? Abgesehen von Ragnar. Wie kann das sein? Miles hat nie etwas verlauten lassen.“

„Ich habe auch keine Ahnung, aber Clyde hat gesagt, wenn die Magie sich noch nicht gezeigt hat, kann sie auch niemand spüren. Er hat sie nur gefunden, weil wir im Zirkel eingebunden waren.“

Daniel Hansom schüttelte erstaunt seinen Kopf.

„Also sind das außer Miles noch Clyde, Ragnar, Finn, Dian und du?“

„Jawohl, Sir.“

„Du brauchst nicht eingeschnappt zu sein. Ich war nur etwas überrascht. Wenn ich es richtig verstanden habe, braucht ihr aber erst eine Ausbildung, bevor ihr die Magie auch einsetzen könnt. Oder dürft, was das betrifft.“

Captain Hansom stand hinter seinem Schreibtisch auf und ging in der Kajüte auf und ab. Die beste Methode um etwas nachzudenken.

„Du kannst Clyde folgenden Befehl überbringen. Jedem nicht ausgebildeten Magier ist es an Bord oder auch an Land strengstens verboten Magie auszuüben. Die Erlaubnis zur Ausübung erteile ich nach der Prüfung durch die Druiden. Druiden…“

Schnell eilte Daniel Hansom zum Schreibtisch und kritzelte eine Notiz.

„Wir brauchen eine Heiligen Hain auf Scythe.“

murmelte er während des Schreibens. Dann drehte er sich ruckartig zu Diethard herum und sah ihn durchdringend an.

„Du bist auf der ESTRAY zurückgekommen und Clyde hat dich und Ragnar einfach in diesen Zirkel aufgenommen. Ich nehme an, du hast dabei auch etwas von den Aufgaben der Scouts mitbekommen.“

Diethard sah betreten zu Boden und dann wieder seinen Captain an.

„Jawohl, Sir. Sie haben einfach so getan, als ob ich schon immer dazugehören würde. Clyde hat gesagt, es wäre eine Gefühlssache gewesen. Also das mit dem Zirkel. Ragnar und ich wären die fehlenden Eckpunkte, die diese ganze Sache erst – hm… komplett machen?“

Captain Hansom seufzte und sah automatisch zum Porträt der Königin hoch.

„Na gut. Dann werde ich mal eine kleine Änderung vornehmen. Du wirst die FAIRYTALE ab sofort verlassen…“

„Bitte? Aber Sir…“

„Lässt du mich bitte ausreden. Pack deine Sachen. Du ziehst auf die ESTRAY und tust dort Dienst als Midshipman. Thorben freut sich bestimmt, auch wenn er wohl Platzprobleme bekommt. Ich denke, deine Hauptaufgabe wird Signaldienst sein, da kannst du dann auch gleich den Schiffsjungen ausbilden, der dafür vorgesehen ist. Damit wäre dann der Zirkel immer vollzählig, solange die Scouts auf der ESTRAY sind.“

Diethard war überrascht. Damit hatte er nicht gerechnet. Aber würde dann auf der FAIRYTALE nicht ein Midshipman fehlen?

„Verzeihung, Sir. Aber was ist mit meiner Wache? Da ist dann nur noch ein…“

Daniel Hansom hob lächelnd eine Hand.

„Keine Angst. Die Besetzung der ESTRAY hat ohnehin einiges durcheinandergebracht. Wir werden wohl gleich drei neue Midshipmen benötigen.“

„Drei?“

„Ja, rechne mal nach. Auf dem Kutter sind Thorben, Ragnar und jetzt du. Ich denke, für den Posten von Thorben werde ich einen Midshipman befördern und die Stellen von Ragnar und dir müssen auch nachbesetzt werden.“

Diethard überlegte jetzt angestrengt, wen es wohl mit der Beförderung treffen könnte.

„Ich muss dich nur bitten, nichts zu sagen, bevor alles öffentlich verkündet worden ist. Du kannst jetzt auf die ESTRAY und Thorben die Erlaubnis für die Verlegung überbringen. Ach ja, lass dir von Liam die Unterlagen über den Signaldienst geben.“

Der Captain grinste Diethard an.

„Er wird sie auf seinem neuen Dienstposten wahrscheinlich weniger brauchen.“


Clyde hatte seine Scouts auf der ESTRAY gesammelt. Sie konnten nur abwarten, bis Mario sich meldete. Abwechselnd waren immer zwei Mann unterwegs in der Nähe von Larrys Haus und beobachteten das Geschehen dort.

Diethard hatte sich wie befohlen bei Thorben gemeldet und dieser war tatsächlich sehr erfreut, einen Midshipman zu bekommen.

„Das ist sehr gut. Da kannst du den Unterricht für den Signaldienst übernehmen. Dann gehst du zusammen mit Sven die Wache. Mal sehen, wenn Sven und ich mit deinen Leistungen einverstanden sind, könntest du sogar irgendwann eine Wache alleine gehen.“

Diethard sah Thorben erstaunt an. So ein Gedanke war ihm gar nicht gekommen. Auf der FAIRYTALE waren die Wachgänger alle Offiziere. Nun, die ESTRAY war auch erheblich kleiner und etwas einfacher zu handhaben. Hoffte Diethard zumindest.

„Ehrlich? Ich weiß nicht, was ich sagen soll…“

Thorben lachte leise und deutete in Richtung des Mastes.

„Erst mal nichts. Aber du kannst schon mal mit deinen Aufgaben anfangen. Der Stückmeister ist gerade beim Unterricht für die Schiffsjungen. Du kannst dir einen heraussuchen als Helfer für den Signaldienst. Ach ja, du brauchst auch noch eine Unterkunft. Das wird jetzt aber ein bisschen schwierig. Frag mal Peter Jaden, ob noch irgendwo Platz ist. Oder du gehst einfach zu den Scouts. Ich habe gehört, Ragnar und du, ihr seid da sozusagen adoptiert worden.“

Diethard sah den immer noch lächelnden Thorben verblüfft an. Woher wusste er das denn?

„Äh, ja. Kann man so sagen.“

Mit einem kurzen Gruß drehte sich Diethard um und sah hinüber zu den Schiffsjungen. Der Stückmeister hatte sich ein kleines Fass gesucht und darauf gesetzt. Die Schiffsjungen saßen auf dem Deck um ihn herum. Mitten dazwischen auch Dubh, der ebenfalls den Erklärungen zuzuhören schien.

„… daher sind natürlich auch die Kartuschen und die Kugeln erheblich kleiner als bei den Zwölf- oder den Achtzehnpfündern der FAIRYTALE. Wir mussten an Bord einiges umbauen und deshalb haben wir hier eine Besonderheit. Es gibt keine eigene, abgesicherte Pulverkammer mit losem Pulver. Die Kartuschen kommen bereits gefüllt und vernäht an Bord und werden im Kartuschenraum aufbewahrt. Dort brauchen sie nur noch abgeholt und zu den Geschützen gebracht zu werden. Aber das kennen ja einige von euch schon. Wichtig ist zunächst für euch der Umgang mit den Pulverkartuschen und die Einhaltung der Sicherheitsbestimmungen, damit wir nicht durch eigene Dämlichkeit in die Luft fliegen.“

Diethard Wegener trat nun näher und der Stückmeister sah auf. Eigentlich war die Bezeichnung lediglich ehrenhalber, denn in der Besatzungsliste wurde er als Stückmeistersmaat geführt. An dienstälteren Unteroffizieren, die den Meistertitel führten, hatte die ESTRAY lediglich zwei, den Bootsmann und den Zimmermann. Die jüngeren Unteroffiziere wurden als Maate geführt, von denen es sechs gab. Einen Segelmachersmaat, einen Zimmermannsmaat, zwei Bootsmannsmaate, einen Stückmeistersmaat und den Offizierssteward. Da es für den Segelmacher und den Stückmeister keinen entsprechenden älteren Unteroffizier gab, wurden sie mit diesem Titel angesprochen.

In seiner sitzenden Position war Alexander Barussow fast immer noch so groß wie Diethard, der neben ihm stand. Diethard kannte ihn bereits von der FAIRYTALE und war ihm meistens aus dem Weg gegangen. Dort kannten ihn die meisten Besatzungsmitglieder als einen schweigsamen und etwas grantigen jungen Mann. Hier schien er aber ziemlich gut mit den Schiffsjungen auszukommen.

„Seekadett Wegener, sie wollen zu mir?“

Da war sie wieder, diese Distanz die der Stückmeister zu fast jedem aufgebaut hatte, so als ob er alles und jedem misstraute.

„Ja. Oder besser, zu den Schiffsjungen. Der Kommandant hat angeordnet, dass ich die Ausbildung des Signalgasten übernehmen soll. Es ist ja einer der Jungen überzählig. Allerdings bin ich mir noch nicht im Klaren darüber, wer es werden soll.“

Die Jungen waren jetzt ganz Aufmerksamkeit, auch Dubh spitzte die Ohren. Alexander Barussow erhob sich von seinem Sitzplatz und überragte Diethard um fast zwanzig Zentimeter. Prüfend sah er auf den Seekadetten herab und dann zu den Schiffsjungen, die sich ebenfalls erhoben hatten.

„Da würde ich doch einen kleinen Test vorschlagen. Was soll der junge Mann denn können?“

Diethard atmete pustend aus.

„Also, zunächst mal lesen und schreiben in Britannisch. Dann sollte er schwindelfrei sein, für die Arbeit im Ausguck. Ach ja, er sollte Farben richtig unterscheiden können.“

„Farben?“

Diethard deutete grinsend auf einen Seesack, der neben dem Steuerruder stand.

„Das ist neu. Bei nur einem Schiff haben wir es nie gebraucht, aber mit zwei Schiffen wird auch mit Flaggen signalisiert.“

Alexander Barussow nickte schweigend. Er hatte schon eine gewisse Vorstellung davon, wen es treffen könnte, aber er wollte dem Seekadetten nicht vorgreifen.

„Wir haben sieben Schiffsjungen aus sechs verschiedenen Ländern. Alle im Alter zwischen zwölf und vierzehn.“

„Vierzehn? Ich dachte, dann muss man die Schiffsjungen verlassen.“

Wortlos deutete der Stückmeister auf den Jungen, der deutlich aus der Gruppe herausragte. Dieser sah nun peinlich berührt zu Boden.

„Captain Hansom hat eine Ausnahme genehmigt. Ich darf noch ein halbes Jahr bleiben und muss mich erst dann entscheiden. Ich bin nicht schwindelfrei, kann also nicht im Mast arbeiten oder Seekadett werden. Als Kanonier bin ich ebenfalls nicht geeignet. Ich habe mich schon zweimal bei den Übungsschießen mit den Richtkanonieren angelegt.“

Diethard sah den Stückmeister erstaunt an und dieser nickte.

„Später. Wir sind noch auf der Suche.“

Diethard überlegte. Was konnte er noch gebrauchen?

„Kann jemand, außer seiner Muttersprache und Britannisch, noch eine andere Sprache?“

Die Schiffsjungen sahen sich fragend an, bis einer zögernd eine Hand hob.

„Ja? Wer bist du und was für Sprachen sprichst du?“

„Ich bin Manuel Lopez y Romero, bin dreizehn Jahre alt und komme aus Letrion. Ich spreche Letrionisch, Britannisch und Herblondaise.“

Diethard sah überrascht den kleinen dunkelblonden Schiffsjungen an, der nicht gerade aussah wie ein typischer Letrioner. Er gehörte zu den Kleinsten der Gruppe. Seine Haut war nicht sehr dunkel und sein Gesicht war eher länglich, als die runden Gesichter der Leute aus Letrion.

Manuel hatte deutlich den überraschten Blick bemerkt und seufzte ergeben.

„Ich komme aus dem nördlichen Teil von Letrion. Aus den Bergen an der Grenze zu Herblonde. Wir wachsen dort alle mit beiden Sprachen auf. Ich kann letrionisch und britannisch lesen und schreiben, Herblondaise nur sprechen. Ich bin schwindelfrei und was die Farben betrifft, ich war einer Derjenigen, der die SLEIPNIR und auch die ESTRAY mit der neuen Heckbemalung versehen haben.“

„Oh.“

Diethard konnte sich an das achtbeinige Pferd erinnern und ihm war auch die neue Bemalung aufgefallen, die einen Kutter ohne Segel zeigte, vor dessen Mast ein überdimensionaler schwarzer Hund saß. Irgendwie erinnerte der Hund an… Richtig, da saß Dubh und sah Diethard grinsend an. Konnten Hunde grinsen?

„Aha, noch jemand mit weiteren Kenntnissen, die interessant für die Arbeit im Signaldienst sein könnten?“

Wieder sahen sich die Schiffsjungen fragend an, doch bald schüttelten alle den Kopf.

„Wenn das so ist, werde ich den Kommandanten darüber informieren, dass Manuel, äh…“

„Lopez y Romero.“

„Also, dass Manuel Lopez y Romero ab heute der neue Signalgast ist.“

Der Junge strahlte sichtlich und Diethard legte ihm eine Hand auf die Schulter.

„Dann komm gleich mit. Wir beide haben nämlich noch eine Menge Arbeit vor uns.“


Am frühen Morgen, kurz vor Beginn der Morgendämmerung kam Thies Behrend mit einer Nachricht von Mario.

„Wir haben ihn. Larry wusste tatsächlich, dass der Sohn des arlemandischen Gesandten gefangen gehalten wird und sogar wo. Mario wird erst später erscheinen, er wollte noch mindestens eine Stunde schlafen.“

Thies grinste.

„Alleine und ungestört.“

Clyde nickte und ging in Gedanken bereits seine Möglichkeiten durch.

„Also, wo ist er und wie kommen wir an ihn heran?“

„Im ‚Jolly Roger‘. Unten im Bierkeller. Wird wohl von den Thrifters bewacht. Das ist eine der vielen Banden hier im Hafenviertel. Sind nicht besonders groß, gelten aber als sehr schlagkräftig.“

„Das ‚Jolly Roger‘? Sollte da nicht die Übergabe der Papiere sein?“

Clyde sah sich fragend zu Eldar um.

„Ja. Und zwar heute. War aber keine Uhrzeit angegeben. Kann ohne weiteres sein, dass wir genau in die Übergabe platzen. Was machen wir jetzt?“

„Wir müssen diese Kneipe unauffällig überwachen. Jetzt müssen wir nicht nur aufpassen, was rausgebracht wird, sondern auch, ob jemand etwas Verdächtiges reinbringt. Ich habe keine Ahnung, wie wir das machen sollen.“

Thies wies auf Eldar und dann auf Arje, der sich schon vor einer Weile auf einem Packen Segeltuch zum Schlafen hingelegt hatte.

„Lass die beiden reingehen. Die sind am unauffälligsten. Das ‚Jolly Roger‘ bietet auch Brot und Hafergrütze für die Arbeiter, die morgens beginnen oder die Nachtschwärmer, die den Tag beenden. Arje hat es sich verdient.“

Clydes Blick wanderte verblüfft zu dem blondgelockten Schläfer, dann zu Eldar.

„Er hat doch nicht wirklich…“

„Doch, hat er. Er hat sich in der Nacht fünfzehn Shilling verdient. Das ist mehr, als er hier an Bord im ganzen Monat bekommt, richtig?“

Clyde war entsetzt. Soweit hatte er es nicht kommen lassen wollen.

„Und ihr hattet keine Probleme? Was hat Arje denn dazu gesagt?“

„Also Probleme hatten wir nicht wirklich. Ein Kunde war dabei, der hat nachher gemeckert und wollte nicht alles zahlen.“

Eldar griff zu der Streitaxt, die neben ihm lag.

„Ich hatte die besseren Argumente um ihn zu überzeugen. Was Arje betrifft, solltest du mit ihm reden. Zu mir hat er nur gesagt, dass er jetzt weiß, dass er keine Schlampe und auch keine Hure ist.“

Clyde schüttelte sprachlos den Kopf. Er würde sich darum kümmern, wenn diese Aktion hier vorbei war. Aber jetzt musste er sich um diese verdammte Kneipe kümmern. Er sah zu, wie Eldar Arje weckte. Dieser schüttelte die Decke ab unter der er gelegen hatte und enthüllte seinen nackten Körper. Er sah sich um und grinste schüchtern, als er Clyde bemerkte.

Clyde wunderte sich nicht, dass Arje in der Nacht Erfolg gehabt hatte. Seine goldblonden Locken und der helle, schlanke Körper waren wunderschön. Er war gespannt, was Arje ihm über seine Abenteuer aus der Nacht erzählen würde.

„Ihr beide müsst noch einmal los. Ihr geht ins ‚Jolly Roger‘ und nehmt da ein Frühstück, oder als was die da ihr Zeug verkaufen. Haltet euch nicht verdächtig lange auf. Eldar soll nur beobachten, ob die Übergabe der Geheimpapiere schon morgens stattfindet.“

Arje nickte und bückte sich, um seine Sachen aufzusammeln. Clyde starrte nachdenklich auf Arjes Hinterteil und überlegte ernsthaft, ob es wirklich zwei Sovereigns wert war. Dann verscheuchte er ganz schnell diesen Gedanken.

„Draußen vor der Kneipe werden wir noch ein oder zwei Beobachter postieren. Sobald ihr wieder rauskommt, werden zwei andere euren Platz einnehmen. Wir dürfen nichts verpassen.“

Eldar und Arje nickten und verschwanden.


Das ‚Jolly Roger‘ war zu der frühen Stunde schon ziemlich frequentiert. An den einzelnen Tischen saßen tatsächlich eine ganze Anzahl von Männern und auch einige Frauen, die aussahen, als würden sie im Hafen arbeiten. Sie waren hauptsächlich zum Essen hier und verschwanden auch immer ziemlich schnell.

Als Arje und Eldar eintraten, verstummten die meisten Gespräche und alle starrten sie an. Dann wurde das Gemurmel wieder lauter. Der Wirt, ein vierschrötiger älterer Mann, kam auf Eldar zu und deutete auf die Axt.

„Meinetwegen könnt ihr hereinkommen, aber ich will keinen Ärger. Und der Kleine geht hier auch nicht anschaffen. Ich will keine Unruhe im Laden.“

Eldar nickte.

„Wir machen keinen Ärger. Wollen nur was zu essen nach der Nacht.“

Der Wirt grinste schmierig und ging zurück zum Tresen, während sich die beiden neuen Gäste einen freien Tisch suchten. Eldar setzte sich so, dass er den Eingang im Auge behalten konnte.

Der Schankbursche war wohl ein oder zwei Jahre jünger als Arje und sah ihn neugierig an, bevor er nach ihren Wünschen fragte. Arje und Eldar entschieden sich beide für die Hafergrütze mit Brot, dazu einfaches frisches Wasser. Für Wein oder Dünnbier war es dann doch etwas zu früh.

Arje sah dem Schankburschen hinterher.

„Hast du den Blick gesehen? Ich glaube, der möchte auch mal.“

„Du hast den Wirt gehört. Nicht hier drin.“

„Wer sagt denn, dass ich Geld dafür haben will. Vielleicht weiß er ja was.“

„Spinnst du? Was ist, wenn er gleich zum Wirt rennt und alles erzählt? Wir sollen nur beobachten.“

Arje erwiderte nichts, beobachtete aber den Schankburschen.

Nach einer sehr langen Zeit, zumindest kam es Eldar so vor, kam dann auch endlich ihr Essen. Das Brot war frisch und noch warm, die Hafergrütze ebenso. Eldar grunzte erfreut, musste aber zugeben, dass die Hafenarbeiter hier nicht essen würden, wenn es nicht gut wäre.

Arje hielt den Schankburschen an.

„Wo kann man hier pinkeln gehen?“

„Oh, geh‘ einfach da hinten nach draußen. Wir grenzen hier direkt ans Hafenbecken.“

Arje nickte dankend und macht sich über das Essen her. Nachdem er gegessen hatte erhob er sich und ging zu der Tür, auf die der Schankbursche gezeigt hatte. Die Tür führte durch einen schmalen Gang tatsächlich zur Rückseite des Gebäudes. Nur ein kleiner Umgang mit einem flachen Geländer trennte es vom Hafenbecken. Ein paar Meter weiter lag einer der zahllosen Küstenlogger, die es hier in der Gegend gab.

Arje zuckte die Schultern und öffnete seine Hose. Er musste tatsächlich pinkeln und so war es die perfekte Tarnung für einen Rundblick. Nur einen Moment später erschien der Schankbursche neben ihm, sah kurz an ihm herab und öffnete ebenfalls seine Hose.

Arje sah ihn nun genauer an. Hier, wo es nicht so dunkel war wie in der Kneipe, sah er doch ganz ansehnlich aus. Etwa so groß wie Arje, noch etwas schlanker und mit dunklen, braunen Haaren.

Auch er hatte ein Geschäft zu erledigen und beide beendeten es fast gleichzeitig. Nur mit dem Verstauen dauerte es etwas länger. Arje sah nach links und bemerkte mit einem leichten Lächeln, dass der junge Mann neben ihm wohl arge Schwierigkeiten hätte, das Ding jetzt in seiner Hose unterzubringen. Entschlossen griff er zu, um ihm dabei zu helfen.

Der Junge neben Arje warf ihm einen erstaunten, ja erschrockenen Blick zu. Arje zögerte nun, doch dann spürte er ebenfalls eine Hand. Ohne sich darum zu kümmern, was um sie herum vorging, gaben sich die beiden ganz ihren Gefühlen hin und es dauerte wirklich nicht lange, bis beide schwer atmend und mit heruntergelassenen Hosen auf dem frei einsehbaren Umgang standen.

Es war ein Wunder, dass in der Zwischenzeit niemand anderer herausgekommen war. Etwas hektisch zogen beide die Hosen hoch und sahen sich grinsend an.

„Und wer bist du?“

„Ich heiße Thomas. Bin neu hier. Meine Eltern sind von Arlemande herübergekommen und wollten eigentlich weitere in die Neue Welt. Aber das ist zu teuer, das können wir uns nicht leisten. Also haben unsere Eltern mich und meine Geschwister zum Arbeiten geschickt. Wenn wir genug gespart haben, können wir uns die Überfahrt in zwei bis drei Jahren sicher leisten. Und du gehst hier… also ich meine, arbeitest du auch hier in der Gegend? Ich habe dich noch nie gesehen. Ich bin zwar noch nicht lange hier, aber jemand wie du wäre mir schon aufgefallen.“

Thomas sah nun etwas schüchtern zu Boden und Arje lächelte.

„Kann man so sagen. Ich heiße Arje. Ich bin selten hier unterwegs. Eigentlich gehöre zur Besatzung der FAIRYTALE.“

Das stimmte zwar nicht so ganz, aber Arje wollte sehen, wie Thomas reagierte. Dessen Kopf kam auch prompt hoch und er sah Arje mit großen Augen an.

„Die FAIRYTALE? Das Schiff, wo alle…“

„Ja, dort wo alle glücklich sein können, mit wem oder wie auch immer.“

Thomas war ganz in Gedanken versunken, als die Tür hinter ihnen aufging und Eldar heraus sah. Kopfschüttelnd sah er Arje an.

„Bist du nun endgültig bescheuert? Du da, der Wirt sucht schon eine ganze Weile nach dir.“

Thomas erschrak und eilte nach drinnen.

„Und du? Lass mich raten, du hast die Zeit gut genutzt. Wir sollten drinnen aufpassen.“

„Ist ja gut, ich hab’s verstanden. Was ist eigentlich mit dem Logger hier? Worauf warten die? In etwa einer Stunde beginnt das Wasser abzulaufen. Wenn er raus wollte, müsste sich längst was getan haben.“

Eldar sah hinüber zu dem Schiff und überprüfte dann die Gegend. Nichts rührte sich.

„Hm, alles ruhig. Wann ist Hochwasser? Sieht tatsächlich merkwürdig aus. Komm, wir gehen. Wir lassen uns ablösen und dann muss ich mit Clyde reden.“


„Dian und Frank sind jetzt drin. Zwei Landarbeiter auf der Suche nach Arbeit. Wenn Arje Recht hat, wartet der Logger auf die Übergabe der Papiere um dann sofort auszulaufen. Und wenn wir Pech haben, schaffen sie diesen Grafensohn ebenfalls mit raus und übergeben ihn an das wartende Schiff.“

„Das darf auf keinen Fall passieren. Wir wissen nicht, wer am Rendezvouspunkt wartet. Der ist vermutlich größer als wir und dann haben wir ein Problem.“

Eldar nickte.

„Sollte die FAIRYTALE nicht ebenfalls rausgehen und das Schiff auf dem Treffpunkt abfangen?“

„Oh, richtig. Ich weiß nicht, ob…“

Es klopfte kurz an der Tür zur Segellast, die sich dann öffnete und einer der Schiffsjungen seinen Kopf hereinsteckte.

„Eine Empfehlung vom Wachhabenden Offizier, Sir. Die FAIRYTALE hat uns gerade auslaufend passiert. Signal lautet: Warten, dann Folgen.“

„Ja, danke. Hm, du bist der neue Signalgast?“

„Jawohl, Sir. Ich heiße Manuel.“

„In Ordnung, Manuel. Dann lass den Wachhabenden Offizier nicht so lange warten. Ich komme gleich hoch.“

Der Kopf verschwand und Clyde grinste.

„Da haben wir unsere Antwort. Wir brauchen nur noch abzuwarten, wann die Übergabe im ‚Jolly Roger‘ erfolgt.

Oben an Deck war Manuel wieder zu Diethard Wegener zurückgekehrt. Thorben hatte den Seekadetten schon mal als Wachhabenden Offizier während des Hafenbetriebs eingesetzt und Diethard war etwas nervös wegen der ihm übertragenen Verantwortung.

Die erste Signalübermittlung hatte zumindest gut funktioniert. Der Ausguck, der zusammen mit dem Wachhabenden Offizier auf dem Achterdeck stand, hatte in den Hafen gedeutet.

„Die FAIRYTALE kommt raus. Da wehen ein paar Flaggen.“

Diethard wandte seine Aufmerksamkeit dem Schiff zu.

„Manuel!“

„Ja, Sir?“

„So, das erste Signal der FAIRYTALE. Hast du dir alles gemerkt, was ich dir über die Reihenfolge gesagt habe?“

„Ja, klar. Ganz außen die Nummer für den Adressaten. In der Mitte die Befehle nach dem Signalbuch und innen, wenn nötig eine Erklärung oder eine Zahl.“

„Was machen wir als erstes?“

Manuel sah Diethard etwas planlos an? Dann erinnerte er sich.

„Der Antwortwimpel!“

„Richtig. Aber erst halb!“

Manuel sauste los zu den Flaggenleinen, die seit neuestem vom Achterdeck bis zur Bramrahe reichten. Dort hisste er einen rot-weiß gestreiften Wimpel bis zur halben Höhe.

„So, jetzt wissen sie, dass wir das Signal gesehen haben. Was jetzt?“

„Lesen und entziffern.“

„Das wird bei dir noch dauern. Aber du kannst schon mal mitschreiben. Also außen Null und zwei. In der Mitte die vier, dann T, F und B. Innen ist frei.“

Manuel blätterte in ihrem kleinen Heft, das Diethard so großartig als Signalbuch bezeichnet hatte.

„Also, Null-zwei sind wir. Dann auf Seite vier die erste Spalte T ist ‚Warten‘. Die zweite Spalte F ist ‚Danach‘ und die dritte Spalte B heißt ‚Folgen‘. Das ergibt dann ‚Warten danach folgen‘. Macht das Sinn?“

Diethard lächelte.

„Wir haben es entziffert. Also erst mal bestätigen.“

Manuel wandte sich wieder dem Antwortwimpel zu und zog ihn ganz hoch. Auf der FAIRYTALE schienen sie darauf gewartet zu haben, denn dort ging das ganze Signal nieder. Auch Manuel nahm seinen Wimpel so schnell nieder, wie er konnte.

„Bestätigung durchgeführt und erkannt.“

„Sehr schön. Und jetzt gehst du zum Kommandanten und meldest das Signal. Danach gehst du zu Leutnant Cameron und meldest es ihm ebenfalls.“

Manuel sauste los und so traf Clyde auf Thorben, der gerade der entschwindenden FAIRYTALE hinterher sah.

„Guten Morgen. Was soll das Signal denn heißen?“

Thorben drehte sich zu Clyde.

„Genau weiß ich es auch nicht, aber ich nehme an, wir sollen erst hier warten, bis wir ein Ergebnis haben und dann der FAIRYTALE hinaus bis zum Rendezvouspunkt folgen.“

„Wie lange werden wir dafür brauchen?“

„Mit dem ablaufenden Wasser etwa zwei Stunden, sobald wir aus der Flussmündung raus sind, heißt das. Hier gibt es einige schwierige Stellen.“

Auf der Pier gab es jetzt ein paar auffällige Bewegungen und Clyde erkannte den Rest seiner Truppe, der eilig zur ESTRAY strebte. Auch Thorben hatte sie bemerkt und fuhr herum zu Diethard.

„Klarmachen zum Auslaufen.“

Clyde wandte sich an einen der Zwillinge, der zweite war im Moment nicht zu sehen.

„Was ist passiert? Wo ist dein Bruder?“

„Thies holt gerade Mario ab. Das dauert nicht lange. Es hat Schwierigkeiten bei der Übergabe gegeben. Der Bote hat das Ding wohl nicht herausgerückt, sondern wollte unbedingt mit an Bord. Hat ein Mordsgeschrei gegeben, dass fast die halbe Kneipe es mitbekommen hat.“

„Verdammt, was ist mit dem Gefangenen?“

„Wissen wir nicht genau. Die Thrifters haben sofort die Kneipe geräumt und alle rausgeschmissen. Der Logger liegt noch da, wird aber gerade seeklar gemacht.“

„Wir müssen wissen, ob wir ihm folgen sollen, oder ob der Gefangene immer noch im Keller ist. Ich brauche eine Erkundung.“

Clyde sah sich um und sein Blick fiel auf Arje. Der war noch am unauffälligsten. Außerdem war er schon dort gesehen und wohl als harmlos eingestuft worden.

„Los, mitkommen. Wir beide gehen auf Tour.“

Eldar und auch Finn wollten etwas sagen, wurden aber nur mit einem vernichtenden Blick bedacht. Clyde öffnete eine Faust zur Hälfte und ließ ein leichtes Flackern erscheinen. Finn verdrehte nur die Augen und seufzte.

Als Clyde und Arje zum ‚Jolly Roger‘ kamen, standen schon ein paar Leute vor dem Eingang, wurden aber von dem missmutigen Wirt abgewiesen.

„Tut mir leid, Leute, ist gerade geschlossen. Wir haben da ein äh… Problem mit Ratten. In einer Stunde oder so ist wieder auf, versprochen. Ich geb‘ auch ‚ne Runde Freibier.“

Die Leute zerstreuten sich murmelnd, aber erfreut von der Aussicht auf ein Freigetränk. Dann fiel Arjes Blick auf Thomas, der vor der Kneipe auf einem alten Fass saß und sich die Wange hielt. Arje trat näher und sah, dass die Wange rot und geschwollen war.

„Was ist denn mit dir passiert?“

Thomas warf einen Blick auf die Kneipentür durch die der Wirt gerade nach drinnen verschwunden war.

„Ich wollte noch in den Keller, aber da waren diese Schläger und haben mich rausgeworfen. Als ich nicht schnell genug war, haben sie mir eine gescheuert.“

Spontan beigte sich Arje vor und küsste Thomas auf die malträtierte Wange. Clyde hob amüsiert die Augenbrauen, als Thomas dabei seufzte. Da sollte er doch mal fragen, was da gelaufen war. Arje hingegen war volle Aufmerksamkeit.

„Was wollten denn die Schläger im Keller?“

„Keine Ahnung. Sie haben jedenfalls jemanden da rausgeführt und an Bord dieses Loggers gebracht.“

„Und dir geht es sonst gut?“

„Ja, geht so. Mister Pyne hat gesagt, ich bekomme den ganzen Tag bezahlt, auch wenn ich gerade nicht arbeite. Könnte nicht besser sein.“

„Dann ist ja gut. Wir müssen jetzt auch weiter. Wir sehen uns bestimmt noch.“

„Ehrlich?“

„Bestimmt. So schnell vergesse ich jemanden wie dich nicht.“

Thomas errötete etwas während ihm Arje noch einen weiteren Kuss gab. Dann schlenderten Clyde und Arje bis zur nächsten Hausecke. Danach verfielen sie in einen schnellen Trab und rannten zur ESTRAY. Etwas atemlos erreichten sie das Schiff und Clyde wandte sich sofort an Thorben.

„Wir müssen los. Er ist auf dem Logger. Genauso wie der Bote, der die Papiere überbracht hat.“

Thorben nickte und gab die Befehle zum Ablegen.


Clyde sah sich nun nach Mario um, konnte ihn aber nicht sofort finden. Diethard deutete seinen suchenden Blick richtig und zeigte auf den Niedergang zur Segellast. Neugierig machte sich Clyde auf den Weg. Auf einem der Ruhelager, das sich die Scouts dort unten eingerichtet hatten lag Mario.

Eingerahmt von den Behrend-Zwillingen lag er dort friedlich schlummernd. Seine Kleidung war säuberlich gestapelt neben dem Ruhelager und ebenso die der Zwillinge. Clyde betrachte etwas amüsiert die drei nackten Körper und war etwas überrascht, als einer der Zwillinge leicht seinen Kopf hob, ihn ansah und dann einen Finger auf seine Lippen legte. Clyde nickte und verschwand wieder nach oben.

Die ESTRAY hatte inzwischen die Hafenanlagen verlassen und befand sich auf dem Tyne. Eldar stand neben Thorben und deutete auf eines der Schiffe voraus, das ebenfalls flussabwärts fuhr.

Am frühen Morgen war bei den Gezeitenverhältnissen ziemlich viel los auf dem Fluss. Die meisten Schiffe verließen den Hafen und gingen seewärts, denn mit dem ablaufenden Wasser und der Strömung des Flusses machten sie gut Fahrt.

Clyde bemerkte, wie Thorben mit Sven redete und ein nachdenkliches Gesicht machte. Mit gerunzelter Stirn sah Thorben nun nach vorne und dann zu dem Logger, der ihr Ziel war. Zwischen den anderen Schiffen, die den Hafen verließen, war die ESTRAY nicht besonders auffällig, aber spätestens, wenn sich in der Flussmündung die Schiffe verteilten, würde klar werden, wen sie verfolgten.

„Da, er dreht ab.“

„Was? Wohin?“

„Süd-West. Er will anscheinend zwischen den Lobsters durch.“

Die Lobster-Islands waren mehrere kleine Felsen südlich des Fahrwassers, das in den Tyne führte. Der Grund rund um die Inseln war ziemlich flach und bei Ebbe fiel er teilweise trocken. Ein schmales Fahrwasser führte mitten durch die Felsformation und war für kleinere Schiffe bei Hochwasser leicht passierbar.

„Sollen wir hinterher?“

Sven sah fragend zu Thorben, der sich auf seine Unterlippe biss. Folgten sie dem Logger, musste dessen Kapitän sofort klar werden, dass er verfolgt wurde. Würden sie die Lobsters umrunden, verloren sie mindestens eine halbe Stunde.

„Wir gehen hinterher.“

„Aye-Aye, Sir.“

Sven gab Anweisungen an den Rudergänger und die ESTRAY schwang herum und hielt ebenfalls auf die schmale Durchfahrt zu. Es dauerte auch nicht sehr lange, bis sich auf dem fremden Schiff etwas tat. Thorben spähte angestrengt durch sein Fernrohr.

„Sie haben das Segel noch einmal nachgesetzt. Viel mehr Fahrt können sie hier aber nicht machen. Sie müssen erst durch die Fahrrinne.“

Ragnar sah nach oben zu ihren Segeln.

„Viel schneller können wir aber auch nicht. Wenn er durch ist, kann er nach Süd-Ost abdrehen und dann ist er hoch am Wind. Dann wird es schwierig, ihn einzuholen.“

Die beiden Schiffe fuhren mit hoher Geschwindigkeit auf die schmale Fahrrinne zu, doch Clyde kam es so vor, als ob die Entfernung voneinander sich ganz langsam verringern würde.

„Verdammt, wir verlieren ihn.“

Thorben war blass vor Wut und starrte auf den Logger vor ihnen und dann nach links, wo weitere Felsen aus dem Wasser ragten.

Clyde sah ebenfalls hinüber, konnte aber nichts Auffälliges entdecken. Verwirrt trat er zu Sven.

„Was hat er damit gemeint? Es sieht doch so aus, als ob wir aufholen.“

Sven sah hoch zu den Segeln und dann nach vorne.

„Dort drüben, siehst du dort voraus die beiden Felsen? Da knickt das Fahrwasser nach Süd-Osten ab. Bei dem Knick müssen wir eine Kursänderung machen. Er natürlich genauso. Das Problem ist, nach der Kursänderung könnte er hoch an den Wind gehen. Und mit seiner Besegelung und seinem geringeren Gewicht ist er dann etwas schneller als wir. Es würde eine lange Jagd werden. Wenn wir Pech haben, verlieren wir ihn draußen irgendwo.“

„Wir verlieren ihn auf offener See?“

Sven grinste, ließ aber die Fahrrinne und das andere Schiff nicht aus den Augen.

„Wenn er nur ein Knoten schneller ist als wir, sind das in zwölf Stunden zwölf Seemeilen. Was glaubst du, wie weit kannst du ihn sehen?“

„Keine Ahnung.“

„Das hängt davon ab, wie hoch sein Mast ist und wie weit oben unser Ausguck ist. Wenn sein Mast zehn Meter hoch ist und unser Ausguck ebenso zehn Meter weit oben ist, kannst du seine Mastspitze etwa dreizehn Meilen weit sehen. Wenn du sie dann noch erkennen kannst, heißt das.“

„Oh.“

Clyde starrte wieder nach vorne. Es trennte sie eine gute Kabellänge von dem Logger, doch die beiden Felsen kamen immer näher. Das kleine Schiff zog unbeeindruckt auf seinem Kurs dahin. Sie waren sich sicher, dem größeren und sicherlich auch schwerer bewaffneten Kutter entkommen zu können.

„Mit der FAIRYTALE wäre das nicht möglich. Die hat vorne zwei Jagdgeschütze auf der Back. Da hätten wir längst einen Schuss versucht. Wir haben leider keine. Thorben hat versucht, welche zu bekommen, aber das dauert etwas. Außerdem müssen wir dann die Gewichte auf dem Kutter anders verteilen.“

Clyde sah überrascht nach vorne und dann nachdenklich an der Reihe der Kanonen auf einer Seite entlang. Den Göttern sei Dank, dass er nicht zu berechnen hatte, wie die Gewichte neu verteilt werden mussten.

Bei dem Gedanken an die Jagdgeschütze kam ihm eine andere Idee. Er ging ganz nach vorne und spähte noch einmal hinüber. Die Entfernung war zwar groß, aber es war einen Versuch wert. Schnell trat er zu Thorben, der neben dem Kompass stand.

„Erbitte Erlaubnis, das Feuer auf den Logger zu eröffnen.“

Thorben sah Clyde vollkommen verblüfft an, bis dieser eine Hand ausstreckte und auf seiner Handfläche eine kleine Flamme tanzen ließ.

„Oh, richtig. Daran habe ich gar nicht mehr gedacht. Wenn du meinst, du triffst ihn, dann ist die Erlaubnis erteilt. Nein, warte. Das machen wir erst nach der Kursänderung. Ich möchte nicht hier in dem engen Fahrwasser ein Gefecht während einer Kursänderung versuchen. Sven soll dir sagen, wann wir frei sind. Aber versuch bitte, nur das Segel zu treffen. Wir müssen uns ebenfalls noch vorbereiten. Warte auf das Signal.“

Doch als erstes stand der Kurswechsel an. Clyde beobachtete, wie der Logger vor ihnen langsam herumschwang und ziemlich dicht an einem der Felsen entlang zog. Die ESTRAY folgte einige Zeit später und ihre Drehung war deutlich eleganter und sie blieb auch deutlich weiter von den Felsen weg.

„Ganz schön nervös, der Typ vor uns.“

murmelte Ragnar, dann hob er seine Stimme.

„Besatzung auf Gefechtsstationen! Geschütze klarmachen an Backbordseite für Kartätschenbeschuss.“

Alles eilte zu den Gefechtsstationen und Clyde sah aus den Augenwinkeln heraus, wie Diethard seinem neuen Signalgasten zeigte, wie er die große Gefechtsflagge zu hissen hatte.

Clyde arbeitete sich in dem Gewusel nun nach vorne und nach kurzer Konzentration bildete sich ein Feuerball auf jeder seiner Handflächen. Er bemerkte, wie einige Leute ihn neugierig anstarrten. Er sah zurück zu Thorben, der Ragnar kurz zunickte.

Clyde musste etwas Lachen, als Ragnars Trillerpfeife ertönte, die er normalerweise für das Abfeuern der Kanonen benutzte. Die Besatzungen an den Geschützen hatten ihre Befehle und blieben ruhig.

Mit einer fast lässigen Handbewegung schickte Clyde seine Feuerbälle auf den Weg. Der erste zischte knapp über den Mast des Loggers hinweg und verlor sich in weiter Ferne. Der zweite jedoch traf das große Lateinsegel. Eine Sekunde später stand das Segel in hellen Flammen und fiel in sich zusammen. Erschrockene Rufe schallten herüber und der Schiffsführer hatte Mühe, das nun antriebslose Schiff auf einem geraden Kurs zu halten.

Sven hatte ebenfalls sofort reagiert, ließ die Segel kürzen und die ESTRAY langsam herumschwenken. Als sich der Kutter näherte, gab es hektische Aktivitäten auf dem Logger. Nach einem Moment konnte man mehrere kleine Rauchwölkchen erkennen, denen ein heller Knall folgte und dann stiegen einige kleine Fontänen vor der ESTRAY hoch.

„So ein paar Armleuchter!“

Thorben griff nach einer Flüstertüte.

„Ihr da drüben! Sofort Feuer einstellen und ergeben!“

Als Antwort kam ein weiterer Knall und eine Fontäne stieg dicht neben der ESTRAY hoch.

„Sie haben es nicht anders gewollt. Sven, anluven! Ragnar, sobald wir rum sind, Feuer eröffnen.“

Langsam schwenkte die ESTRAY herum und kurz darauf hörte Clyde wieder die Trillerpfeife von Ragnar, doch diesmal waren tatsächlich die Kanonen gemeint. Die Breitseite war zwar nicht so ohrenbetäubend wie auf der FAIRYTALE, doch die Wirkung war genauso spektakulär.

Thorben hatte sich für Kartätschen entschieden, denn er wollte den Lugger ja nicht versenken, sondern seine Besatzung außer Gefecht setzen. Es war deutlich besser, die gegnerische Besatzung zu dezimieren, als bei einem Enterangriff eine starke Gegenwehr zu haben.

„Klarmachen zum Entern!“

Sven ließ die ESTRAY weiter herumschwenken und dann die Rahsegel backbrassen. So näherten sie sich langsam dem Logger. Clyde begab sich zum Großmast, wo sich die Scouts versammelt hatten.

„Frank und Arje, ihr beobachtet das Deck. Ich möchte keine Überraschungen erleben wie beim letzten Mal mit der Drehbasse. Sobald sich jemand einem Geschütz nähert, ist er dran. Finn und Mario, ihr sucht nach dem Kapitän oder sonst irgendjemandem, der Befehle gibt. Den aber nur außer Gefecht setzen. Wir wollen ihn noch befragen. Dian, du gehst runter zu Hendrik in die Segellast, Eldar bleibt bei mir.“

Dian machte ein etwas enttäuschtes Gesicht, begab sich aber auf seinen Weg. Die beiden Paare mit den Schützen verteilten sich entlang der Reling.

„Was ist mit uns?“

Clyde sah etwas irritiert zu den Behrend-Zwillingen, die in ihre grünen Uniformen gekleidet und mit Karabinern bewaffnet neben den Scouts standen.

„Oh, Entschuldigung. Ihr überwacht bitte auch das Deck. Wie gesagt, sobald sich jemand einem Geschütz nähert, ist er dran.“

Als die ESTRAY den Logger erreichte und mit seiner Steuerbordseite längsseits ging, flogen die ersten Draggen hinüber, um die Schiffe nebeneinander zu fixieren. Die ersten Matrosen des Kutters sprangen hinüber, als auch schon ein Schuss fiel. Clyde sah zu Mario, der mit einem grimmigen Gesicht seinen Karabiner nachlud. Finn hatte einen Pfeil noch locker auf der Sehne.

In diesem Moment erhoben sich etwa ein Dutzend Matrosen des Loggers aus ihren Deckungen und versuchten, die Angreifer zu vertreiben. Clyde schüttelte den Kopf. Was wollten sie erreichen. Die Besatzung der ESTRAY war mehr als viermal so stark. Warum ergaben sie sich nicht einfach?

Dann erblickte er den Mann, der hinter dem kleinen Deckshaus des Loggers sein Kopf erhoben hatte und sich umsah. Flugs verschwand er wieder hinter seiner Deckung. Clyde hatte ihn zwar bisher nur ein einziges Mal gesehen, doch er hatte ihn erkannt und wusste nun, wie einige der Dinge zusammenhingen. Am Deckshaus gab es nun wieder eine kleine, verdeckte Bewegung, die Clyde aber trotzdem registrierte. Der Mann hatte seinen Gehrock abgelegt und trat gebückt zur gegenüberliegenden Reling des Loggers. In seiner rechten Hand hielt er ein kleines Paket. Damit verließ er seine Deckung und Clyde reagierte sofort.

„Finn!“

Finn brauchte keinen Hinweis, er hatte den Mann ebenfalls gesehen, als dieser aus seiner Deckung hervortrat. Clyde hatte kaum ausgesprochen, als ein Pfeil den Mann in den Rücken traf. Aufstöhnend sank er zusammen.

Clyde stürmte, dicht gefolgt von Eldar hinüber auf den Logger. Ihn kümmerten nicht die kleinen Handgemenge, denen er geschickt auswich und auch nicht die schwungvollen Bewegungen von Eldar mit seiner Axt. Clyde eilte Zielstrebig zu dem Verräter. Als sie ihn erreichten, drehte Eldar den Mann auf die Seite. Nach einer kurzen Untersuchung schüttelte er den Kopf.

„Finn war gründlich.“

Enttäuscht seufzte Clyde. Er bückte sich und nahm das Paket auf, dass der Mann noch in seiner Hand hielt. Gerne hätte Clyde ein paar Antworten gehabt. Aber darum musste sich Sir Sean kümmern.

Die plötzlich einkehrende Ruhe ließ Clyde sich umblicken. Die Kämpfe waren beendet und nur noch wenige Besatzungsmitglieder des Loggers standen auf ihren Beinen. Erstaunt bemerkte Clyde sogar zwei Schiffsjungen der ESTRAY, die beide mit einem kurzen Entersäbel bewaffnet, einen älteren Mann bedrohten. Wenn Sven das mitbekam, würde das für die beiden kein gutes Ende nehmen.

Ein kurzer Jubel brandete auf, den Ragnar aber schnell beendete.

„Ruhe! Alle Gefangenen nach vorne! Holt den Arzt, wenn er bei uns fertig ist. Bootsmann, wir brauchen ein neues Segel. Die Scouts durchsuchen das Schiff!“

Clyde hob seine rechte Hand zu einem kurzen militärischen Gruß und sah sich um. Frank und Arje waren mit den Zwillingen noch an Bord der ESTRAY. Er winkte sie herüber und bemerkte dann Finn und Mario, die sich ihm näherten. Finn sah auf den Boden und schüttelte den Kopf.

„Ich hätte es beinahe nicht gekonnt. Es widerstrebt mir, jemanden in den Rücken zu schießen.“

Clyde nickte und nahm sich vor, am Abend ein paar persönliche Worte mit Finn zu wechseln.

„Ihr beide fangt hier an. Hier unten dürfte nur ein kleiner Raum sein. Denkt bitte auch an eventuelle Verstecke.“

Mario bedachte Clyde mit einem entrüsteten Blick.

„Was glaubst du denn wohl? Wenn ich nichts finde, ist da unten auch nichts.“

Clyde verdrehte nur die Augen und sah nun zu Frank und Arje.

„Ihr beiden durchsucht die Laderäume. Ich nehme mal an, unsere Zielperson ist irgendwo dort unten versteckt. Henk und Thies, ihr könnt den beiden helfen. Aber seid vorsichtig, vielleicht sind unten noch Wachen.“

Jetzt blieb Clyde nichts weiter zu tun, als zu warten. Er schreckte hoch, als aus der Richtung des Laderaumes ein Schuss ertönte. Er wollte schon nach vorne gehen, als ihm Frank und Arje in Begleitung eines jungen Mannes entgegenkamen, der definitiv nicht zur Besatzung gehörte.

Die Kleidung bestand nur aus einem ehemals weißen Hemd und einer dunkelbraunen Hose. Doch die Stiefel verrieten ihn. Es waren schwarze Lederstiefel die deutlich mehr kosteten, als Clyde im ganzen Monat verdiente.

Ansonsten sah der junge Mann etwas derangiert aus. Kurze, dunkelblonde Haare und graue Augen. Wobei die Haare trotz ihrer Kürze aussahen, als ob wilde Katzen damit beschäftigt gewesen waren. Außerdem hatte er sich wohl mehrere Tage nicht rasiert. Das Gesicht und der Oberkörper waren verdreckt, ebenso die Hose. Außerdem stank er nach Fisch und abgestandenem Bier. Der junge Mann rieb sich seine Handgelenke, wo Clyde die Spuren von Fesseln erkennen konnte.

„Herr von Winterstein, nehme ich an.“

Der junge Mann sah Clyde vollkommen verblüfft an. Nicht nur war er in Arlemandi angesprochen worden, man kannte sogar seinen Namen.

„Ja. Leopold von Winterstein. Aber woher…“

„Mein Name ist Clyde Cameron. Wir haben sie gesucht. Ebenso wie ihr Vater.“

Die Reaktion von Leopold war nicht so, wie Clyde sie erwartet hatte. Der verzog fast schmerzlich sein Gesicht und sah dann betreten zu Boden.

„Hat mein Vater sie etwa beauftragt, mich zurückzubringen?“

Clyde stutzte. Was war das jetzt? Er musste etwas vorsichtig mit seinen Antworten sein. Der junge Mann brauchte nicht unbedingt sofort zu wissen, dass sie ihn gesucht hatten, weil sein Vater erpresst wurde.

„Nein. Wir wissen zwar, dass ihr Vater sie sucht, aber dass wir sie hier gefunden haben, ist reiner Zufall.“

Leopold holte tief Luft und seufzte dann.

„Würde es ihnen etwas ausmachen, meinem Vater nichts von meiner Anwesenheit hier zu verraten?“

Clyde sah kurz zu Frank, der ihrer Unterhaltung interessiert gefolgt war. In Britannisch gab er dann alle weiteren Anweisungen.

„Frank und Arje, Ihr begleitet unseren Gast bitte auf die ESTRAY. Lass Dian nach seinen Verletzungen sehen und dann fragt ihr Thorben, ob wir seine Kajüte kurz benutzen dürfen. Wir treffen uns gleich unten in unserem Deck, dann… Wo sind überhaupt Finn und Mario?“

„Immer noch unten. Vielleicht haben sie ja was gefunden.“

Bevor sich Clyde auf den Weg in die kleine Kammer des Kapitäns machen konnte, kamen Henk und Thies Behrend auf ihn zu.

„Es war tatsächlich noch jemand unten. Wir waren schneller.“

Clyde nickte, er hatte den Schuss gehört.

„Jemand verletzt?“

Beide schüttelten simultan den Kopf.

„Nein. Aber den Kerl unten sollten wir in Caerdon abliefern. Das war der Anführer der Thrifters. Der ist zwar mausetot, wird aber von der Constabulary des Lord-Mayors steckbrieflich gesucht. Tot oder lebendig.“

„Oh. Mal sehen, wie wir das hinkriegen. Informiert bitte Thorben darüber.“

Die Zwillinge nickten, sahen hinüber auf die ESTRAY und zogen los. Clyde machte sich auf den Weg nach unten in die kleine Kajüte, die normalerweise dem Schiffsführer vorbehalten war. Unten schienen sich Finn und Mario nicht ganz einig zu sein.

„In Ordnung, dann machen wir es eben auf deine Weise.“

Clyde beobachtete Finn und Mario, die beide vor der Wand standen, die die Kajüte vom vorderen Teil des Schiffes trennte. Mario sah sich um, als er die Geräusche hinter sich hörte.

„Ah, ihr seid’s. Wir haben was gefunden. Hinter dieser Wand ist auf jeden Fall ein Hohlraum, aber ich kann keinen Zugang finden. Entweder ist das verdammte Ding verklemmt, oder es gibt noch eine dritte Sicherung, die ich noch nicht gefunden habe.“

„Aha. Und was hat Finn vorgeschlagen?“

Wortlos griff Finn nach hinten und nahm die schwere Streitaxt von seinem Rücken. Clyde wunderte sich schon gar nicht mehr, dass er sie fast überall mit sich herumschleppte.

„Damit? Willst du das Schiff versenken?“

Finn brummte etwas Unverständliches, dann hieb er mit der Axt genau in die Spalte, wo zwei Bretter aneinanderstießen. Ein leichtes Ruckeln, dann ein Drehen des Blatts und nach lautem Krachen sprang eine kleine Tür auf. Mario sah etwas säuerlich zu Finn hoch, der breit grinste. Doch lange ließ Mario sich nicht ablenken.

„Mal sehen, was wir denn hier so haben. Aha, ein Stapel Papiere und dann hier… Clyde, kommst du mal bitte!“

Clyde trat neugierig näher und spähte an Mario vorbei in das kleine Lager. Neben einem dünnen Stapel Papiere lagen fein säuberlich nebeneinander drei hellglänzende Barren. Clyde versuchte, einen davon anzuheben.

„Tja, ich würde sagen, drei Barren massives Gold. Mal ehrlich, keine Ahnung, wieviel so etwas wert ist.“

„Deutlich mehr als dieses Schiff. Ich würde sagen, wir könnten damit ohne weiteres ein Schiff in der Größe der FAIRYTALE kaufen.“

Clyde wurde blass und drehte sich zu Eldar um.

„Bist du sicher?“

Eldar nickte und Clyde überlegte, was zu tun war. Dann wandte er sich an Mario und Finn.

„Ihr beide bleibt hier unten. Und das meine ich wörtlich. Niemandem ist der Zutritt zu gestatten, bevor wir nicht Tarray erreicht haben. Ich fürchte, ich habe schlechte Nachrichten für Thorben.“


Clyde erwischte Thorben auf dem Achterdeck der ESTRAY, wo er gerade zwei Schiffsjungen in einer Form und Lautstärke abkanzelte, wie Clyde sie noch nie zuvor an ihm gehört hatte.

Clyde erkannte in den Delinquenten die beiden Jungen, die mit dem Enterkommando an Bord des Loggers gegangen waren. Nun standen sie mit gesenkten Köpfen und den Tränen nahe vor ihrem Kommandanten und wussten nichts zu sagen.

„Thorben?“

Thorben sah Clyde mit grimmigem Gesicht an. Clyde konnte nachvollziehen, was in ihm vorging. Er war für die Jungen verantwortlich und so merkwürdig es auch klang, bei einem Gefecht zu sterben war manchmal unvermeidlich, doch aus lauter Übermut an einem Enterangriff teilzunehmen war nicht vorgesehen. Bei dem ersten war es ihre Aufgabe und das Schicksal, mit dem sie zu Leben oder zu sterben hatten, bei dem zweiten war es schlicht Dummheit.

„Immerhin haben sie einen Gefangenen gemacht.“

Thorben sah Clyde erstaunt an, dann drehte er seinen Kopf zur Seite, damit niemand sein Grinsen sah.

„Also gut. Der Steuermann wird sich eine entsprechende Bestrafung für euch ausdenken. Wegtreten.“

Erleichtert wandten sich die Jungen ab und Clyde erklärte Thorben kurz, was sie alles auf dem Logger gefunden hatten.

„Wir haben den Befehl, der FAIRYTALE zu folgen, wenn wir unseren Auftrag erfüllt haben. Was machen wir jetzt?“

„Wir müssen unbedingt das Gold und auch diesen Räuberhauptmann loswerden. Außerdem sollten wir Herrn von Winterstein ebenfalls zurückbringen. Können wir den Logger alleine zurückschicken?“

Thorben machte dicke Backen.

„Das kostet uns mindestens einen Offizier und sechs Matrosen. Hm, ich habe ja noch Diethard, der könnte Wache gehen. Die Matrosen, mal sehen…“

Ganz in Gedanken wandte sich Thorben um und suchte den Bootsmann. Clyde ging hinunter in die Kapitänskajüte des Kutters. Dort saßen Ragnar und der junge Herr von Winterstein. Leopold hatte sich inzwischen waschen können und sah nun ein wenig besser aus. Neugierig sah er auf, als Clyde eintrat.

„Ich wusste nicht, dass sie von Adel sind, Lord Clyde.“

Clyde lachte und schüttelte den Kopf.

„Das ist hier vollkommen belanglos. Ich bin Leutnant Cameron und sonst niemand. Es tut mir leid, aber wir haben nur sehr wenig Zeit zum Reden. Es mag unhöflich erscheinen, aber darf ich fragen, warum sie sich offensichtlich ohne Wissen ihres Vaters in den Hafen begeben haben?“

Leopold von Winterstein sah etwas betreten auf den kleinen Tisch vor ihm.

„Gut, keine langen Worte. Ich hatte eine Meinungsverschiedenheit mit meinem Vater und habe versucht, im Hafen eine Überfahrt zu erlangen.“

„Nach Arlemande?“

„Nein, nach Scythe.“

Clyde und Ragnar sahen sich an und dachten beide das Gleiche. Dann platzten sie beide mit leisem Gelächter heraus. Leopold sah irritiert von einem zum anderen.

„Was gibt es da denn zu lachen?“

„Nun, wir glauben ganz sicher zu wissen, warum sie nach Scythe wollten. Der zweite Grund ist, dass das Schiff, auf dem sie sich jetzt befinden, zur Kaperflotte des Earls of Scythe gehört. Ich bin Leutnant der Scythe-Scouts und sie sind im Prinzip genau da, wo sie hin wollten.“

Der junge Mann sah verblüfft von Clyde zu Ragnar.

„Ernsthaft? Aber wie…“

„Das ist eine längere Geschichte und muss erst einmal warten. Wir werden sie nach Caerdon zurückbringen, um einige diplomatische Verwirrungen zu entknoten und dann können sie immer noch entscheiden, ob sie mit nach Scythe wollen.“

Leopold nickte zögernd. Dann sah er zu Ragnar und sein Gesicht bekam einen träumerischen Ausdruck.

„Nach Scythe will ich auf jeden Fall. Zu meinem Vater nur sehr ungerne, aber wenn es sein muss…“

Clyde hatte den Blick bemerkt, den Leopold Ragnar zugeworfen hatte. Er war auf Scythe bestimmt gut aufgehoben. Aber jetzt erst einmal eines nach dem anderen.

„Ragnar, ich glaube, der Kommandant sucht nach dir.“

„Was? Warum?“

Clyde grinste breit.

„Gewöhn dich schon mal an die Segeleigenschaften eines Loggers.“

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