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How To Fall

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Vorwort

Mein Dad sagte und sagt heute noch immer zu mir: „Du bist ein reiner Gefühlsmensch. So überschwänglich du sein kannst, so sehr nimmt dich das kleinste Leid mit und macht dich krank.“

Da hat er verdammt recht. Man kann sich neben mich setzen, ein paar Minuten könnte ich in Tränen ausbrechen, weil all die Gefühle einer anderen Person wie ein Funke des Feuers auf mich überspringen. Das ist sau ungesund, denn ich werde wirklich krank davon, aber andererseits macht mich gerade das aus.

Ich schreibe diese Zeilen für einen bestimmten Menschen, den ich nicht einmal annähernd kenne, dessen Leid ich doch so nah bei mir spüre.

 

Wenn ein Glas herunterfällt, so zerbricht es in abertausenden von Scherben, man flucht leise vor sich hin, macht sauber und schneidet sich dabei vielleicht ins eigene Fleisch. Dann flucht man noch ein bisschen mehr, pappt ein Pflaster auf die Wunde und ein paar Tage später ist davon bestenfalls nichts mehr zu sehen. Vielleicht war es sogar das Lieblingsglas, das ärgert einen besonders, oder es war ein Geschenk und man fragt sich, ob man das irgendwie geheim halten kann. Dennoch war es ja nur ein Glas, von denen noch mehrere im Schrank stehen, von denen man noch mehr kaufen kann als es in Splitter zerbrochen ist.

Doch wenn die eigene Welt vor einem herunterfällt wie ein Glas, so schneidet man sich nicht nur einfach in den Finger. Ein Pflaster nützt da auch nichts. Und jedes noch so tröstende Wort, jede noch so herzliche Umarmung – alles sinnlos.

Am Anfang ist man wie gelähmt – man nimmt noch gar nicht wirklich wahr, was da überhaupt passiert ist. Man kann nicht wirklich denken, obwohl einem zigtausend Fragen durch den Kopf schießen. Fragen, die man sich sonst nicht stellt, über die man nicht mal annähernd nachgedacht hat. Um einen herum baut sich etwas auf, eine Art Hülle, zunächst weit entfernt, dann immer näher…

… bis sie einen umschlingt. Wie eine groteske, riesige schwarze Hand legt sie sich um den eigenen Brustkorb und drückt heftig zu – man befürchtet zu ersticken, ringt nach Luft, streckt die Arme von sich, will mit den Händen nach etwas greifen, doch da ist nichts. Nichts, was einem Halt gibt, nichts, was einen auffängt.

Dann fällt man. Man fällt in dieses Loch, dieses Loch, von dem man denkt, dass es einen nie verschlingen wird, obwohl es ständig unter einem ist, regelrecht darauf wartet, dass man sich in ihm befindet. Es schnappt schneller zu als man glaubt, man sieht oben noch schwach das Licht der Welt aus der man kommt – und über die Öffnung schiebt sich eine durchsichtige Wand. Und je tiefer man fällt, desto kleiner wird dieser Fleck Licht.

Man fällt nicht direkt. Es ist auch nicht unbedingt dieses Gefühl, wirklich zu fallen, sondern eher… ein schwebendes Gefühl. Man schwebt durch die Dunkelheit, immer tiefer und tiefer. Und man spürt, wie sich lange, gierige Hände nach einem ausstrecken, die Finger knochig und lang, jede einzelne Hand mit einem neuen schlechten Gefühl verknüpft. Jede Berührung schmerzt, schnürt einem nur noch mehr die Brust zu. Man atmet keine Luft mehr. Vielleicht atmet man sogar gar nicht mehr, denn die Hand drückt unerbittlich weiter zu. Man ist ausgefüllt von Kummer, Sorge und Leid. Von Fragen, Vorwürfen, Gedanken, Erinnerungen. Man möchte sich an die schönen Dinge erinnern, um den Schmerz erträglich zu machen, falls das überhaupt geht. Doch je mehr man daran denkt, desto mehr schreit die Seele, desto mehr schreit man selbst in diesem Loch in dem man von niemandem gehört wird.

Es gibt für so ziemlich jede Krankheit Medikamente, es gibt genügend Ärzte, Therapeuten – alles Leute, die einem helfen wollen, in vielen Fällen sogar erfolgreich. Doch jedes Mal stehen sie vor dem einen Problem: wie der Seele helfen, wenn sie krank ist?

Die Seele ist ein nicht fassbares Organ, manche Intelligenzbestien streiten sich darüber, ob es so was wie die Seele überhaupt gibt. Es liegt doch auf der Hand, dass es sie geben muss. Wenn keine Medikamente helfen, keine Ärzte, keine Therapeuten, keine Familie, Freunde… was soll es dann sein, was da leidet? Was soll es dann sein, was da tief in einem schreit, weint, um Erlösung fleht, dem Schmerz entfliehen will und trotzdem, so absurd es ist, sich immer weiter ins Verderben stürzt? Wenn es nicht die Seele ist, was denn dann?

Und so schreit man. Oder man verstummt, weil man keine Kraft mehr hat. Weil man nicht mehr kämpfen kann. Oder nicht will. Weil man all diese Enttäuschungen kennt und sie nicht noch einmal erleben möchte. Was gibt es in dieser Welt, für das es sich lohnen würde ans Licht zu gehen? Freunde? Familie? Um geradewegs wieder an den Punkt zu gelangen, an dem man schon angekommen ist? Liebe? Dieses Gefühl, welches einem angeblich alles gibt, alles Schlechte vergessen lässt?

Wo ist dann diese Liebe? Wo ist sie, wenn sie einem über alles hinweghelfen kann? Wieso leide ich, wieso schreie ich, wieso falle ich, wieso ist es so dunkel, wieso höre ich nichts, wieso kann mich keiner hören, wieso, wieso, wieso, WIESO?!

Knochige Arme schlingen sich von hinten um den Körper. Man realisiert erst später, dass es wirklich Knochen sind. Strahlend weiße Knochen. Sie streicheln einem über die Brust, berühren einen fast schon zärtlich und für einen Augenblick – oder gar mehrere – wünscht man sich, dass man sich ihnen völlig hingeben kann.

Dann blitzt da etwas auf, direkt vor den Augen, die ausdruckslos einfach nur weiter nach oben starren, an die Oberfläche, die so weit entfernt ist. Es ist silberfarben, glänzt wie Schnee, welcher die Sonne reflektiert. Spitz und lang ragt es über einem auf, die Arme legen sich fester um einen, man spürt Knochen, Knochen, Knochen…

Man denkt, dass kein Schmerz der Welt einem noch mehr wehtun kann, man ist doch ohnehin schon am Ende. Doch in dem Moment, als das glänzend kühle Metall die Brust durchbohrt, sich durch Knochen frisst und man nur noch das Zerreißen tief in einem hört, weiß man es plötzlich besser.

Die Knochen verschwinden, der Körper wird rot gefärbt. Blutrot. Und obwohl man blutet, so stark blutet, lebt man immer noch. Die Brust hebt sich immer noch, man kann immer noch die Luft spüren, die man einatmet. Doch alles ist so schwach. So kaum wirklich da. Es ist doch alles da, alles, doch man nimmt es kaum noch wahr. Die Stimmen, die einem ans Ohr dringen, sich durch den Kopf fressen wie Maden beim Leichenschmaus, klingen so dumpf. So weit entfernt.

Das Gefühl, alleine zu sein, nur dieses endlose, tiefe Schwarz zu sehen, frisst einen allmählich auf. Man denkt noch, dass man zurück muss, dass es etwas gibt, wofür es sich zu kämpfen lohnt. Doch je länger man fällt, desto mehr spürt man, dass es hier unten doch ganz angenehm ist. Es ist gar nicht so kalt. Gar nicht so leer. Da sind doch überall diese Stimmen, die mir sagen, dass alles okay ist, dass ich hier bleiben kann, dass ich nicht alleine bin.

Sie haben Recht. Sie haben ja so Recht.

Wieso soll ich von hier verschwinden? Was soll ich in dieser anderen Welt, in der ich nur Schmerz und Leid erfahre? Wieso soll ich in diese Welt, die aus Lügen, Angst, Hass und Verachtung besteht? Wo die schlechten Erfahrungen, der Kummer und die Sorgen alle schönen Momente überwiegen?

Ich habe so viel Scheiße erfahren, auf die ich gerne verzichtet hätte. Ich bin quasi in Krankenhäusern aufgewachsen, wurde mit Medikamenten voll gestopft und bin mein Leben lang von ihnen abhängig. Andere werden krank, eine leichte Erkältung. Ich werde krank, nehme mindestens vier verschiedene Medikamente, eine Erkältung hält bei mir mindestens einen Monat an. Es hat viele Schicksalsschläge gegeben, über die ich heute immer noch nicht hinweg bin. Man hat mich in Therapie geschickt, weil man dachte, dass ich das nötig habe, dass ich das brauche um einigermaßen gut mit allem klar zu kommen. Ich wollte vermitteln, zusammenführen, Friedensstifter spielen, allen gut genug sein, es allen recht machen, das Beste sein, bewundernswert. Und weil ich das nicht konnte, fing ich an, mich nur noch über meinen Körper zu definieren, verletzte ihn, trieb ihn an die unmenschlichsten Grenzen, bezahlte dafür und statt Sorgen bekam ich Vorwürfe zu hören. Die Therapie hat mir geholfen, sie hat mir ein Stück weit andere Wege aufgezeigt, die ich nicht gesehen habe, die ich nie betreten habe. Und als ich diese Wege ging, so lernte ich etwas völlig Neues: Ich lernte mich kennen und die Dinge, die mich ausmachten. Ich kam mit mir selber wieder besser klar, doch die Narben waren tief und würden niemals vollständig verheilen. Narben bleiben immer zurück, hässliche Stigmata auf dem Körper, auf der Seele. Und immer wieder diese Rückfälle, immer wieder er der mich angrinst, die Arme ausbreitet und nur auf mich wartet. Ich habe mich ihm zu oft genähert, bin zu oft zu ihm gegangen, zu meiner letzten Chance, wie ich dachte. Ich habe wahnsinnige Angst vor dem Alleinsein, ich hasse die Dunkelheit, ich habe jede Nacht Albträume, ich habe Angst davor, schlafen zu gehen – denn dann bin ich immer alleine. In meinem Kopf spielen sich Dinge ab, die man weder in Worten noch in Bildern ausdrücken kann. Man bezeichnet mich gemeinhin als Psycho, das ist auch okay, weil diese Menschen mich nicht kennen. Sie wissen nicht, wie sich mein Lachen anhört, wie meine Augen leuchten, wenn ich mich über die kleinsten, absurdesten Dinge freue. Sie wissen nicht, mit was für einer Aggression ich tief in mir kämpfe und sie wissen nichts von dem Gewitter in meinem Kopf und sie wissen auch nichts von meiner Liebe zu den Menschen, die bei mir sind.

Sie wissen nichts von mir, denn sie sehen nur meine Hülle und die Narben auf meinem Körper.

Irgendwann kommt man an einen ganz bestimmten Punkt. An den Punkt, an dem der Körper sich radikal umdreht. Es ist wahnsinnig, aber all die Instinkte, die wir im Laufe unseres Lebens verlieren, kehren schlagartig zurück. Der Körper rebelliert immer stärker, will zurück an die Oberfläche, doch die Seele ist verletzt. Tief verletzt. Sie ist verwundet, blutet, schreit und keiner hilft ihr.

Das, wofür es sich zu kämpfen lohnt, wo ist es? Wofür soll ich nach da oben hin zurück? Um andere glücklich zu machen? Damit sich keiner mehr sorgt? Was ist mit mir? Was ist mit meinen Gefühlen? Was ist mit meinem Herz? Wo ist es, wenn nicht in meiner Brust? Wieso ist da dieses Loch, wieso habe ich das zugelassen? Das man es mir nimmt, dass man es zertrümmert, es wegschmeißt, es zu Boden fallen lässt wie ein heruntergefallenes Glas?

Man macht sich immer mehr Gedanken. Man denkt plötzlich wieder an die Freunde und die Familie. An die Liebe, die man zu einem bestimmten Menschen hat. Zu ihm, der einem so viel gibt. Dem man vertraut, den man liebt, auch wenn es viele, viele Narben wegen ihm gibt.

Vielleicht begreift man allmählich, dass da draußen nichts ist, wofür es sich zu kämpfen lohnt.

Vielleicht begreift man, dass es in einem ist, tief in einem drin. Das es nicht fassbar ist.

Doch lohnenswert dafür zu kämpfen.

Über einem blitzt etwas auf. Man fragt sich, wie weit man hat fallen können und ob es überhaupt jetzt noch möglich ist, dorthin zurückzukehren.

Geh zu ihm.

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