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Die Geister, die ich rief

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Inhaltsverzeichnis

Die Geister, die ich rief

Gedankenverloren stand ich am Fenster. Ich liebte den Ausblick aus meinem Gästezimmer. Einen Steinwurf entfernt begann die schier endlose Reihe der Weinreben, die, wie ich wusste, erst in etwa einem halben Kilometer Entfernung und über 300 Meter tiefer endete. Der Blick in den Talkessel war phantastisch, die malerischen kleinen Dörfer erinnerten mich stets an eine dieser kitschig-schönen Postkartenansichten, die man Freunden und der Familie mit hastig dahingekritzelten Beteuerungen zuschickte, wie großartig dieser Urlaub doch ist.

„Oh, hallo Miloh! Kommst du mit spazieren gehen?“, hörte ich Bens Stimme aus dem Garten. Er hatte an seinem Fahrrad herumgeschraubt und auf meinen „Hey!“ Ruf hin war sein Kopf nach oben geruckt. „Ja, gib mir fünf Minuten!“, gab ich zurück.

Dass wir morgens gemeinsam den Hund ausführten, war ein Ritual geworden. Manchmal kamen auch andere Familienmitglieder mit, aber meistens waren Ben und ich alleine. Dann hatten wir Muße, uns ausführlich übers Musikmachen zu unterhalten – ein Thema, das die anderen überaus langweilig fanden. Während ich mir die Schuhe zuband, kam Bens Vater Holger in den Flur. „Ach, bringt doch bitte ein paar Blumen für die Küchenvase mit“, bat er mich. „Klar“, verabschiedete ich mich gut gelaunt und verließ das Haus mit einem „Komm, Tippo!“, dem der schwarze Königspudel begeistert bellend folgte.

Ich war in den letzten zehn Jahren oft bei meinem Freund Holger zu Gast gewesen, doch mein letzter Besuch lag jetzt bereits ein Jahr zurück. Deswegen würde ich diesmal ganze zwei Wochen bleiben.

Die Familie bewirtschaftete ein Weingut, Holger hatte sich damit seinen Lebenstraum erfüllt und genoss mit seiner Gattin und den drei Kindern das Landleben. Gut, die Kinder sahen das natürlich etwas anders und maulten oft über das „langweilige Kaff“. Immerhin lag Freiburg nur 20 km entfernt.

Ben wartete bereits am Gartentor auf mich und als der Königspudel aufgeregt an ihm hochsprang, wirbelte er Tippo wild kraulend hin und her.

„Schön, dass du auch mal wieder da bist“, meinte der Junge erfreut, als wir langsam den kühlen Weg entlangliefen.

„Ja, finde ich auch. Es tut so gut, mal keine Großstadt um sich zu haben.“

Er lachte. „Ach, du weißt ja: Wir können gerne tauschen!“

Und ob ich das wusste. Er war verrückt nach Hamburg und eine fanatische Wasserratte, seine Augen fingen schon an zu glänzen, wenn man nur das Wort „Meer“ aussprach.

„Naja, dafür hast du hier immer genügend Wein und musst nicht mit nem gefälschten Ausweis in den Supermarkt!“, witzelte ich wie früher.

„Hey, ich bin mittlerweile 17, ich darf sehr wohl Wein kaufen!!!“, empörte er sich gespielt. War die Zeit wirklich so schnell vergangen?

„Oh, stimmt ja. Aaaaber ... in Hamburg würdest du keine Besuchergruppen in eurem Betrieb herumführen, mit ihnen Wein trinken, ihnen im Weinkeller Klavier vorspielen und dann noch fett Trinkgeld abstauben“, gab ich zu bedenken.

„Jaaaa ... macht schon Spaß ...“, gab er versonnen zu.

Er spielte so gut Klavier, dass diese Trinkgelder sogar gerechtfertigt waren und bereitete sich gerade auf seine Aufnahmeprüfung an einer Musikhochschule vor. Aber natürlich flossen sie auch deshalb so reichlich, weil Ben das Charisma eines wandelnden Schwiegermuttertraums ausstrahlte: wortgewandt, kultiviert und charmant; stets adrett und trotzdem körperbetont gekleidet; ein fast schon mädchenhaft hübsches, doch nicht zu feminines Gesicht mit vollen dunkelroten Lippen und einem kleinen Kinngrübchen, umrahmt von auffällig strohblondem, halblangem Haar, das perfekt zu seinem hellen Teint passte. Zu allem Überfluss war er auch noch mit einem wohlhabenden Elternhaus gesegnet. Eben der perfekte Schwiegersohn.

Ben wusste genau, wie viel Glück er mit diesem Elternhaus hatte und oft schwang eine Dankbarkeit mit in dem, wie er etwas sagte und tat. Dass er seinen Eltern kein bisschen ähnlich sah, war nie ein Problem für ihn gewesen, denn er hatte die Adoption damals bewusst miterlebt. Manche Menschen verlieren sich in ihrem Schneckenhaus, wenn sie eine schwere Zeit erleben. Ben jedoch hatte den Weg heraus gefunden und war stark und selbstbewusst geworden. So selbstbewusst, dass ich schon vor langer Zeit angefangen hatte, ihn (meistens) wie einen Erwachsenen zu behandeln, was er sehr schätzte. So nannte ich ihn dann auch konsequent „Ben“ oder „Benjamin“ statt, wie die meisten anderen, „Benni“.

„Bring den Stock!“, rief Ben dem Hund zu. Tippo rannte wie von der Tarantel gestochen hinter dem abgekauten Ast her, der an der Weggabelung krachend in ein Gebüsch einschlug.

Ich betrachtete Ben in Ruhe und versuchte herauszufinden, was an ihm sich in diesem vergangenen Jahr verändert hatte. Sein Gesicht war etwas härter und markanter geworden, er wirkte längst nicht mehr so kindlich wie bei meinem letzten Besuch, auch hatte er einige Kilo zugelegt. Etwas wehmütig stellte ich fest, dass er nun beinahe so groß war wie ich. Nein, er war ganz sicher kein Kind mehr. Und das Kind, das er gewesen war, würde mir wirklich fehlen. Niemand hatte es wie er geschafft, dass ich mich selbst wieder wie ein Kind fühlte. Befreit von allen lästigen Pflichten und ganz im Moment aufgehend.

Ich musste lächelnd daran denken, was für ein vielschichtiger und interessanter Mensch er war und wie gut er sich entwickelt hatte. Wer ihn nicht näher kannte, hätte hinter dem braven Äußeren wohl kaum einen Jungen vermutet, der sehr aufbrausend sein konnte, als Kind einer beinahe fatalen Faszination für „Feuerchen“ frönte und in jüngeren Jahren exzessiv seine Grenzen ausgelotet hatte. Während er sich in der Schule eher angepasst gab, hatte er jahrelang jeden Erwachsenen in seinem privaten Umfeld gekonnt herausgefordert und war berüchtigt dafür, ein schlechter Verlierer zu sein. Immerhin war ich schnell ziemlich gut darin geworden, ihm seine Grenzen aufzuzeigen. Ich wiederum war durch den Umgang mit ihm toleranter und verantwortungsvoller geworden. Den gegenseitigen Respekt, den wir füreinander empfanden, hätte Holger jedoch eher als „Burgfrieden“ bezeichnet.

Heute erschien Ben mir allerdings gar nicht wie das extrovertierte Energiebündel, das ich von früher kannte, sondern eher nachdenklich. Wir liefen minutenlang schweigend den Weg entlang. Hatte er sich in diesem einen Jahr innerlich so verändert? Oder beschäftigte ihn etwas? Ich würde ihm Zeit lassen, mit der Sprache herauszurücken.

„Miloh, ich möchte dich was fragen. Aber du darfst nicht lachen.“

Das ging ja schneller als erwartet.

„Klar, leg los. Ich lache nicht.“

„Ich ... bin etwas verwirrt. Ich hab dir ja damals erzählt, dass ich mit meiner Exfreundin schon oft richtigen Sex hatte. Ist also nicht so, dass ich Jungfrau oder ... äh ... verklemmt wäre. Ich fasse ja auch beim Tanztraining ständig andere an.“

„Ja, ich weiß.“

„Gut. Also ... nach unserer Trennung habe ich mit einigen Leuten rumgemacht. Aber es fühlte sich irgendwie nicht ... gut an.“ Ich war überrascht, ihn so zaghaft und zurückhaltend zu erleben.

„Leute ... heißt dann wohl soviel wie ›Jungs und Mädels‹, oder?“, schlussfolgerte ich messerscharf. Er sah mich mit großen Augen ertappt an. Ja genau, es gibt auch Leute, die gut zuhören ...

Ich lächelte ihn an und klopfte ihm beruhigend auf die Schulter. „Entspann dich, Ben. Experimentieren gehört dazu. Mehr Erfahrung gleich besserer Sex. Nur so findest du heraus, was dir wirklich gefällt.“

„Cool, dass du das so locker nimmst“, lächelte er etwas schüchtern, aber sichtlich erleichtert zurück. „Erzähl nur bitte nichts den anderen, ja?“ – „Nein“, das würde ich sicher nicht. Seine Familie wusste ja nicht mal etwas über meine eigene sexuelle Orientierung; ich hatte das bis Anfang zwanzig so vielen Leuten (auch Wildfremden) um die Ohren gehauen, dass ich es irgendwann müde geworden war und meine Sexualität schließlich zu meiner Privatsache erklärte, außer es kamen irgendwelche schwulenfeindlichen Bemerkungen. Das einzige, was ich jemals vor Holgers Familie geäußert hatte war, dass ich nicht der Typ für eine Ehe wäre (was stimmte), mir schon einmal Kinder gewünscht hätte (was stimmte), aber es sich halt nie ergeben hätte (was ebenfalls stimmte). Alle waren entweder zu gut erzogen, um nachzuhaken oder sie wollten schlichtweg keine weiteren Details erfahren. Was mir nur Recht war.

„Naja, also ...“, fuhr Ben fort, „... ich weiß einfach nicht, ob ich guten Sex hatte oder ob er schlecht war, also ... ob ... ich nicht vielleicht sogar schlecht im Bett bin!“

Jetzt war es raus und das kam unerwartet.

„Haben die anderen dir denn irgendwas in die Richtung gesagt?“

„Nein. Aber wie gesagt, es fühlte sich meistens irgendwie ... naja komisch an. Ich kann es nicht besser beschreiben.“

Da ich Ben als Kind regelmäßig nackt baden gesehen hatte, vermutete ich, dass sein Körper wohl nicht das Problem wäre. Trotzdem fragte ich: „Penisprobleme?“, was er mit entsetzt aufgerissenen Augen und einem heftigen Kopfschütteln verneinte.

„Hm, naja, also ... ich habe schon asexuelle Menschen kennengelernt, die fühlten sich einfach nicht sexuell zu anderen hingezogen. Als Asexueller kann man auch sein Leben genießen und sogar Beziehungen führen – halt ohne Sex, dafür mit viel Kuscheln“, gab ich zu bedenken. Ich sah, wie es in seinem Kopf arbeitete.

„Wünschst du dir denn Sex oder ist es nur lästige Pflicht?“, forschte ich weiter.

„Doch schon, aber wenn ich angefasst werde, turnt mich das meistens irgendwie ab.“ Nachdenklich setzte er hinterher: „Woran erkennt man zum Henker, ob man guten Sex hat oder ob man gut im Bett ist?“

„Gute Frage!“ Zum Glück hatte ich dazu eine Theorie, wenn sie auch sicher nicht wissenschaftlich war. „Es ist keine Frage der Technik! Wenn man sich auf Technik konzentriert, wird es eher schlimmer statt besser. Sondern es geht um Leidenschaft und Gefühl und darum, im Augenblick zu sein. Wie man es tut und wie man sich dabei fühlt ist viel, viel wichtiger als das, was man tut.“

Ich sah riesige Fragezeichen in seinen Augen, er nahm sich Zeit, darüber nachzudenken. „Gefühle und Leidenschaft kann man doch unmöglich steuern, entweder man fühlt was oder eben nicht?!“, antwortete Ben schließlich in gereiztem Tonfall. „Das war echt nicht hilfreich, Dr. Sommer“, fügte er frustriert hinzu. Oh, das schien ja eine tiefere Wunde zu sein, so hatte ich ihn schon lange nicht mehr erlebt. „Bist du sicher, dass du überhaupt weißt, wovon du da redest? Vielleicht bist DU ja hier der kuschelige Asexuelle! Immerhin hast du weder Frau noch Kinder!“, setzte er in einem stichelnden Tonfall nach.

Ich hasste es, wenn er das tat. Er wusste genau, dass ich ebenfalls leicht reizbar war. „Offizielle Herausforderungen“, wie wir sie damals irgendwann genannt hatten, waren zum Glück sehr selten geworden. Ich hätte es nie zugegeben, aber insgeheim war ich froh darüber, denn er war ein hartnäckiger Gegner, egal ob es um Tischtennis, Kartenspielen, Schneller-Laufen, Schneller-Schwimmen, Notendiktate und Gehörbildung oder schlichtweg ums Rechthaben ging. Er schien in jungen Jahren den Siegeswillen eines Olympioniken in sich zu haben, freundlich ausgedrückt. Man hätte es genauso gut als „sture Verbissenheit“ bezeichnen können.

Ich starrte ihn leicht angepisst an. „Willst du mich herausfordern?“

Er winkte ab. „Ach quatsch, das war mal. Weißt du, was mich nervt? Erwachsene meinen immer, für alles eine gute Erklärung zu haben und fühlen sich so schlau. Aber wenn sie dann mal keine Antwort haben, erfinden sie einfach eine.“ Das hätte er besser nicht gesagt! Ich war ziemlich kreativ darin, Herausforderungen zu beantworten, was er auch genau wusste. Und ich hatte auch schon eine kleine, böse Idee ...

„O.k., gefrusteter Ben. Dann fordere ICH dich hiermit heraus. Ich werde dir beweisen, dass das, was ich gesagt habe, stimmt. Und hier die Regeln. Erstens: Du darfst es nicht persönlich nehmen! Und zweitens: Du musst dabei die Augen geschlossen halten und darfst sie erst wieder öffnen, wenn ich es sage!“

Er glotzte mich ungläubig und verwirrt an.

„Ach, kein Problem, wenn du kneifst. Deine Frage war wohl auch nicht so wichtig“, meinte ich beiläufig mit einem betont künstlichen Lächeln und machte Anstalten, weiterzugehen. Was er konnte, konnte ich schon lange.

Er atmete geräuschvoll aus und sprach schnell die Zauberworte aus, die wir schon so oft voneinander gehört hatten: „Das ist zwar die dümmste Herausforderung in der Geschichte der Menschheit seit dem Neolithikum. Aber ich nehme diese Herausforderung an und akzeptiere die Regeln!“

Ja, so kannte ich ihn. Und diesmal würde ich ihm ganz sicher eine Lektion erteilen, nachdem ich die letzte „offizielle“ Herausforderung so schmählich vor ungefähr zwei Jahren verloren hatte. Und mir danach immer wieder seine nervigen Sprüche anhören musste. Rache ist so süß! Um ihn zu verunsichern, senkte ich den Kopf etwas, kniff die Augen leicht zu und fixierte ihn wie ein gefräßiges Raubtier seine Beute. Dann zeigte ich ihm ein böses, hintergründes Lächeln. Das ließ natürlich seine Alarmglocken läuten und plötzlich fragte er, halb im Scherz, unsicher lachend:

„Aber du ... gehst mir jetzt nicht an die Eier oder gibst mir einen Zungenkuss, oder?“

„Haha, ganz sicher nicht, denn du bist nicht mein Typ. Zu jung, zu dünn, zu blond.“ Er lachte laut und erleichtert los, als hätte ich einen guten Witz gerissen, doch ich hatte jedes Wort ernst gemeint. „Man kann nie blond genug sein!“, setzte er noch einen drauf, um das letzte Wort zu behalten.

Wir waren mittlerweile bei der alten Ruine angelangt, die im 14. Jahrhundert vielleicht tatsächlich eine kleine Burg auf einem kleinen Berg gewesen sein mochte, heute jedoch nicht mehr war als eine trostlose, chaotische Ansammlung von Steinen und Geröll. Schon der Name „Ruine“ war eine gewaltige Übertreibung.

Ich trat an ihn heran, fixierte seine Augen und sagte leise: „Ich zeige dir jetzt zwei Variationen zu einem Thema!“, was ihm ein kleines Grinsen aufs Gesicht zauberte. Jeder von uns beiden liebte musikalische Metaphern.

„Und jetzt schließe die Augen, bis ich dir sage, dass du sie wieder öffnen darfst!“ Er tat es.

Und das war die erste Variation: Ich trat ganz nah an Ben heran, nahm ihn mit links halb in den Arm und begann, ihm mit der rechten Hand mechanisch den Rücken und Arm zu streicheln, wie ich es, eine Fernsehsendung glotzend, mit einem Hund tun würde. Er zuckte nicht mal zusammen, er hatte sicher erwartet, dass ich ihn anfassen würde. Dann meinte ich mehr oder weniger gleichgültig: „Es ist so schön mit dir“. Dieses Spiel zog ich eine gefühlte Minute lang durch. Ich erinnerte mich dabei lebhaft an einen Lover namens Markus, der mich so berührt hatte. Nicht einmal Markus’ gutes Aussehen konnte noch irgend etwas herausreißen, denn es fühlte sich an wie Sex mit einer ferngesteuerten Marionette. Sicher lag es auch daran, dass er damals eine Freundin hatte und ich sein erster Mann war. Wie dem auch sei – ich sah mit Genugtuung den Widerwillen auf Bens Gesicht, spürte seinen betont gerade gehaltenen Körper, sah seine geschlossenen Augen. Ich ließ Ben wieder los. „Wir sind noch nicht fertig, Augen schön zulassen. Jetzt kommt die zweite Variation!“, sagte ich leise.

Ich schloss meinerseits die Augen. Atmete tief und ruhig ein und aus. Konzentrierte mich, um ein ganz bestimmtes Bild zu beschwören. Doch aus dem Nebel meiner Erinnerungen schälte sich nicht das Gewünschte heraus. Es war – zu meinem leichten Entsetzen – ein ganz anderes Bild! Eines, von dem ich annahm, es endlich losgeworden zu sein. Nämlich das von Timo, meiner ersten großen erfüllten Liebe. Die mir auf so brutale Art und Weise genommen wurde. Mein bildliches Vorstellungsvermögen war schon immer exzellent gewesen, aber so intensiv hatte ich noch nie zuvor etwas innerlich gesehen, zumindest nicht im Wachzustand. Er wirkte so echt, als wäre all das nie geschehen. Als würde ich wieder langsam mit ihm tanzen, er mit leicht schiefem Kopf vor mir stehend, sein liebes Gesicht ganz nah. Seine strahlenden Augen, sein noch strahlenderes Lächeln, das Gefühl, mit ihm eins zu sein und vor Glück platzen zu wollen. Ich beschwor nichts Geringeres als die ekstatische Amour Fou meiner Jugend, die zuerst mein größtes Glück und dann über Jahre meine ganz persönliche Folterkammer gewesen war.

Hätte ich noch fünf Sekunden nachgedacht, hätte ich wohl abgebrochen, statt mich der Erinnerung hinzugeben. Doch ich wollte ihn jetzt nicht loslassen und trotzig ignorierte ich alle Zweifel.

Als ich Ben berühre, meine Augen weiter fest geschlossen, ist das nicht mehr Ben. Es ist alles wieder da – die Verbundenheit, die Leidenschaft, die Begierde. Das tiefe Glück, ihn hier und jetzt, in diesem kostbaren Moment bei mir zu haben. Meine rechte Hand, die zart und entschlossen seinen Nacken fasst, um ihn sanft, doch fordernd an mich zu drücken. Meine linke Hand schwer auf seiner rechten Schulter. Seine weiche, warme und zugleich feste Haut. Meine Wange an seiner Wange, mein flacher Atem, mein schnell schlagendes Herz an seiner Brust, meine zarten Küsse auf seinen Hals, mein sehnsuchtsvoll in sein Ohr gehauchtes „Du hast mir so gefehlt“, das sich anfühlt wie das inbrünstige erste Gebet eines Atheisten, in dem plötzlich der Glaube an die Liebe hell lodernd aufflammt. Mein Unterleib, der mit sanftem, beinahe unschuldigem Druck an seinem liegt – ein stummes Versprechen, das danach schreit, eingelöst zu werden. Es ist alles wieder da.

Wie lange stehen wir schon dort – 1 Minute? 2 Minuten? Mein halbes Leben? Dann kehrt die banale Realität zurück und frisst die kostbare Erinnerung Stück für Stück auf.

Ich gehe einen kleinen Schritt rückwärts, spüre meine beiden Hände jetzt auf seinen Schultern, vermeine ein leises Zittern tief in ihm zu vernehmen, doch es könnte genauso gut das Zittern tief in mir sein. Sein Atem geht schnell und flach oder ist das nur mein Atem und er hält seinen an? Wo hört mein Körper auf, wo fängt seiner an? Ich fühle mich plötzlich erschöpft, lasse meine Hände kraftlos von seinem warmen, festen Körper abgleiten, ein letzter wehmütiger Gruß, will ihn nicht weiter festhalten.

Ich öffne die Augen und will doch nichts sehen. Der Hund wühlt mit schmutzverkruster Schnauze im Boden an der Eckgabelung. Die Blätter tanzen nervös grelle Lichtreflexe auf den staubigen Geröllboden. Das Gras fühlt sich feuchtkalt an, als ich mich an den Wegesrand setze, ich lasse mich schwer nach hinten fallen. Ich versuche, die Tränen zu unterdrücken. Es gelingt mir gut, vielleicht, weil ich damals so viele von ihnen vergossen hatte. Ich fühle mich wieder so einsam und leer. Als wäre ich der einzige Mensch in der Nähe, alle anderen zwar in Sichtweite, vielleicht nur hundert Meter von mir entfernt, aber immer genau diese verfluchten hundert Meter entfernt, egal, wohin und wie weit ich gehe.

„Darf ich die Augen wieder öffnen?“, kam es leise von Ben. „Ja, leg dich doch ein paar Minuten neben mich. Bitte!“

Ein paar Minuten können endlos lang sein.

„Was zum Teufel war das gerade?“, meinte er plötzlich, seine Stimme klang aufgewühlt.

„Ich hab’ dich gewarnt: ›Nimm es nicht persönlich‹. Verstoße niemals gegen die Regeln!“, erwiderte ich.

Er lachte bitter auf. „Wie soll das bitte gehen? Persönlicher geht's ja wohl kaum.“ Der nächste Satz war mehr Anklage als Frage: „Wieso hast du das getan?“

Ich spürte Wut in mir aufsteigen. „Weil du mich herausgefordert hast. Und das gerade eben warst auch nicht du, sondern ... ein Geist. Ein Geist aus ... meiner Jugendzeit“, gab ich matt zurück. Ich hörte mir beim Reden zu und fand plötzlich, dass es nicht gerade überzeugend klang. Ergab das alles einen Sinn? Diesmal hatte ich den Bogen vermutlich überspannt.

Das fand Ben wohl auch, denn ich hörte ihn hervorpressen: „Ein ... Geist?! Du bist noch durchgeknallter, als ich dachte!“

„Verdammt, was ist dein Problem?“, fuhr ich ihn grob an. „Du!“, meinte er und dann, schreiend, während er hochsprang „DU BIST DAS PROBLEM!“

Mit einem scharfen Pfiff holte er den Hund herbei, würdigte mich keines Blickes mehr und hastete zum Anwesen zurück.

Ich fühlte mich betäubt, wie vor den Kopf geschlagen. Nach einigen Minuten stand ich auf und folgte ihm, nicht ohne einige Blumen für die Küchenvase zu pflücken. Die anderen mussten von unserem Streit nichts erfahren.

Gegen Mittag erfuhr ich dann, dass Ben zu Freunden gefahren war. Mit denen würde er noch am selben Tag zu einem Musikfestival aufbrechen, gefolgt von einem Camping-Trip. Absolut nichts deutete auf irgendeine Irritation meines Gastgebers hin. Und auch ich ließ mir nichts anmerken.

10 Tage später

Es war ein Mittwoch und ich stand gedankenverloren am Fenster. Satt behangene Weinreben vor mir. Zart hingetupfte, beschauliche Dörfer in der Ferne, flirrend in der Sommersonnenglut – wie ein unwirklicher Gruß aus einer Parallelwelt. Unerreichbar und dennoch immer, immer sichtbar. Tag für Tag für Tag. Wie es wohl sein würde, dort zu leben, fernab der Großstadthektik, mit einer Familie, die ganz zu mir gehört? „Das wirst du niemals erfahren!“, schien es mir höhnisch entgegenzuflüstern.

Drei Klopfer an die Tür. Leise, aber gleichzeitig fordernd.

„Komm rein, Ben.“ Ich wusste, dass er es war. Er schloss die Tür hinter sich, kam mit langsamen Schritten an meine linke Seite. Ich hatte ihn seit fast zwei Wochen nicht gesehen, würde aber nicht nach seinen Erlebnissen fragen. Ich drehte mich nicht einmal zu ihm um.

Er stand einige Zeit still neben mir, bis er sich räusperte und mit leiser, nachdenklicher Stimme meinte: „Als ich noch klein war und das hier mein Kinderzimmer war, habe ich oft genau da gestanden, wo du jetzt stehst. Und dann ganz lange aus dem Fenster geschaut. Ich wollte das Bild so gerne in meinem Kopf festhalten, damit es nicht verschwindet. Insgeheim dachte ich, das kann doch alles nur eine wunderschöne Fata Morgana sein, ich hatte es einfach nicht verdient. Ich war mir sicher, ich wache am nächsten Morgen auf und sehe aus dem Fenster – und da ist nur noch totes Land, abgebrannte Baumstümpfe, alles schwarz in schwarz. Alles tot und kahl und einsam. Ich habe so oft davon geträumt.“ Die letzten Worte waren fast ein Flüstern.

Ich wischte das Bild, das er in mir beschworen hatte, weg und konzentrierte mich auf das, was vor mir lag; betrachtete die friedliche Szenerie jetzt intensiver als je zuvor, versuchte, jedes noch so kleine Detail zu erfassen. Dann drehte ich mich zu ihm um.

„Nein, Ben, es ist alles echt. Kein Feuer. Kein Tod. Kein böses Erwachen.“

Ich war mir sicher, dass es stimmte.

Er drehte sich zu mir und sah mir direkt in die Augen. „Ich habe übertrieben“, gab er zu. „Ich auch“, erwiderte ich, zaghaft lächelnd. „Es tut mir leid“, entschuldigte er sich. „Mir erst recht“, stimmte ich ein.

„Aber ... das muss es gar nicht!“, überraschte er mich. Er kam einen Schritt auf mich zu. Legte seine Hände schwer und warm auf meine Schultern. Irritierte mich damit maßlos. Und erklärte dann: „Ich weiß jetzt, was du mir zeigen wolltest.“

Ich runzelte die Stirn, musterte suchend sein Gesicht. Und dann fand ich es. Nicht leicht zu entdecken, aber es war da. Und als ich es in seinem Gesicht erst einmal entdeckt hatte, schrie dieses Strahlen mich förmlich an.

Ich musste lächeln, mein Lächeln wurde breiter, ich fühlte mich ihm verbunden wie nie, fühlte, wie sich Wärme in mir ausbreitete, als würde eine unsichtbare Kraft von seinen Händen in mich fließen und wieder zurück.

„Du hast ... deinen eigenen ... Geist gefunden?!“, stellte ich ungläubig fest.

„Wenn Sie es so nennen möchten, Herr Poet!“, lächelte er mich glücklich an.

„Ist es ein Mädchen oder ein Junge geworden?“, rutschte es mir heraus.

Und dann fingen wir an zu kichern wie zwei überdrehte Kinder, die sich über einen großartigen Streich freuen, den sie gerade der Welt gespielt hatten.

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