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Right to the End

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Informationen

Vorwort

Hinweis: "Right to the End" ist eine eigenständige Story, da aber eine der wesentlichen Figuren aus "Riding the Devil" hier die Hauptrolle spielt, kann ich dir nur empfehlen, "Riding the Devil" vorher zu lesen!

 

Der Blick eines Wanderers wäre wohl zuerst auf den Berg gefallen, und obwohl er sich klar gegen den Horizont abzeichnete, schien er merkwürdig unnahbar, fast schon entrückt. Keinesfalls ein bloßer Steinhaufen, eher ein Monument der Ruhe, strahlte er eine Macht aus, die unseren einsamen Wanderer zu einem Moment des Innehaltens gebracht hätte. Es war allerdings kein Wanderer zu sehen, nur ein kleiner Hügel, winzig neben seinem großen Bruder. Und doch zeigte sich auf dem Hügel, inmitten der Wälder, eine Spur menschlicher Besiedlung, einige Häuser gruppiert um ein größeres Anwesen und verbunden durch asphaltierte Wege. Auf einem dieser Wege ging eine große Gestalt langsam durch den nachmittäglichen Sonnenschein, der schon die ersten langen Schatten warf. Sie betrat eines der kleinen Gebäude, nahm die Kellertreppe und blieb vor einen schweren Metalltür stehen. Das scharfe Licht der Neonröhren entblößte die kantigen Gesichtszüge und auch das graue Haar des Mannes, der nach einem tiefen Atemzug die Klinke der Tür ergriff und sie öffnete. Nach all den Jahren war es ihm immer noch unangenehm, diesen Raum zu betreten, er mied sogar das ganze Gebäude, so gut er konnte. Dabei schien es sich um ein ganz normales, wenn auch fensterloses, Gästezimmer zu handeln, etwas unpersönlich, aber durchaus mit einem Mittelklassehotel vergleichbar. Mattes Licht zeichnete die Konturen der Einrichtung nach und störte die Gestalt im Bett offenbar nicht beim Schlafen. Der Mann seufzte leise, nahm sich einen Stuhl und setzte sich ans Bett. Lange saß er da und schaute auf das wenige, was er von dem Schläfer sehen konnte, manchmal zuckte sein rechter Arm, als ob er sich nicht entscheiden könnte, etwas zu tun, aber endlich hob er die Hand und schüttelte die Schulter des Schläfers. Und dann kam das, was er so fürchtete: Die Gestalt im Bett zuckte und schrie, erlebte offenbar furchtbare Dinge, schlug um sich und kämpfte gegen unsichtbare Erinnerungen. Der Mann hatte schon vor langer Zeit schmerzhaft gelernt nicht einzugreifen und wartete, bis das Schreien zum Schluchzen geworden war.

"Ich bin Michael. Willkommen im Wald. Ich weiß, du hast viele Fragen und ich werde sie beantworten, so gut ich kann."

Die Gestalt im Bett musterte den Mann an ihrer Seite und schien wirklich wach zu sein, deshalb sprach Michael weiter.

"Ich nehme an, du möchtest duschen und dir die Zähne putzen..."

Er zeigte vage auf eine halboffene Tür.

"... und im Schrank hängt Kleidung. Ich hole dir etwas zu Essen. Hast du besondere Wünsche?"

"Ja. Kaffee und Zigaretten, bitte."

Michael lächelte.

"Manche Dinge ändern sich nie. Ich bin aber sicher, ich werde auch noch ein paar Brötchen finden. Bis gleich."

Als er nach ungefähr 20 Minuten den Raum zum zweiten Mal betrat, trug er nicht nur ein Frühstückstablett, sondern auch eine dicke Mappe. Der ehemalige Schläfer saß am Tisch und blickte ihn aufmerksam an.

"Warum bin ich hier eingesperrt?"

Michael setzte das Tablett ab und griff nach der Mappe.

"Weil du möglicherweise aus Unwissenheit Dinge tun könntest, die du später bereust. Du hast mein Wort, dass du später gehen kannst, wohin du willst, aber zuerst muss ich dir ein paar Dinge erklären. Es spricht aber nichts dagegen, dass du während unseres Gesprächs frühstückst."

Der Mann schlug die Mappe auf und blätterte etwas ziellos darin herum, offensichtlich suchte er nach den richtigen Worten.

"Du bist also Chris?"


Tja, und so fing das verrückteste Ding an, das ich je erlebt habe, und ein paar Sachen habe ich schon hinter mir. Zuerst hatte ich Angst, dass bei unserer Aktion irgendwas so richtig schief gelaufen wäre und die Schweine mich doch gekriegt hätten, aber dann wäre ich nicht in diesem Zimmer aufgewacht. Und dann hätte es auch kein Frühstück gegeben. Und überhaupt, dieser Mann... Michael... der mochte ja alles mögliche sein, aber ich war mir sicher, dass er nicht zu diesen Typen gehörte. Ich nickte also.

"Ja, ich bin Chris."

Der Mann blätterte in seiner Mappe herum und ich fing mit dem Frühstück an. Dahille hatte mir zwar eingeschärft, 'Ein Krieger handelt und wird nicht behandelt', aber die Brötchen waren wirklich gut und so hab ich mich einfach zurückgelehnt und das rächte sich natürlich.

"Du hast deinen privaten Kreuzzug gestartet und dabei 13 Menschen getötet."

War ein guter Zeitpunkt, sich zu verschlucken. Diese Information konnte eigentlich niemand haben und in der falschen Gegend konnte mich das auf den elektrischen Stuhl bringen.

"Wie kommen Sie darauf?"

Michael lächelte.

"Keine Panik! Ich bin weder Polizist noch Richter."

Irgendwie wusste ich, dass das nur eingeschränkt stimmte, aber trotzdem... ich fing an, dem Mann zu vertrauen.

"Du bist hier, weil du gekämpft hast. Wir brauchen dich, Chris, und ich hoffe, dass du uns hilfst. Was hältst du davon, gegen wirklich Böses zu kämpfen?"

Ich machte mir 'ne Zigarette an und nahm einen tiefen Zug. Jetzt wusste ich, warum ich den Mann mochte, er war ein Krieger. Das hier war mein Spiel, hier war ich irgendwie zu Hause.

"Ich dachte eigentlich, Kindermörder wären böse."

"Sicher, aber du bist nicht hier, um weiterhin durch die Gegend zu laufen und Menschen zu töten... jedenfalls nicht einfach so. Nehmen wir einmal an, du hättest die Möglichkeit, etwas gegen die Leute im Hintergrund zu unternehmen, gegen die, die ein Interesse daran haben, dass so viel Böses geschieht. Klingt das für dich gut?"

"Sind sie von der CIA? Oder von einer dieser geheimen Gruppen? Wollen Sie mich zum Auftragskiller machen?"

Der Mann grinste.

"Der CIA ist sehr mächtig und die US-Regierung ist noch viel mächtiger, aber sie kann keine Toten erwecken. Chris, du bist erschossen worden. Als ihr in dieses Haus gegangen seid, kam euer... Gastgeber mit einer Pistole aus der Küche und wurde dein Todesfall Nr. 13, guter Schuss übrigens. Ihr wusstet nicht, dass es noch drei andere gab, und einer hat dich erwischt. Du warst tot, bevor du auf dem Boden aufschlugst. Deine Freunde haben überlebt und der Junge, den ihr gesucht habt, auch."

Ich wusste, dass der Mann nicht log.

"Wo bin ich dann? Und wer sind Sie? Einen Engel habe ich mir immer anders vorgestellt."

Fast hätte der Typ gelacht, aber nur fast.

"Engel? Ich verwalte nur unser kleines Anwesen hier und kümmere mich um ein paar Kleinigkeiten, das ist alles. Wir nennen das hier den Wald und wenn du dich entscheidest, uns nicht zu helfen, kannst du ihn verlassen und den Weg gehen, den alle gehen, die gestorben sind."

"Sie meinen, ich sterbe dann richtig?"

"Du bist schon richtig gestorben, aber dann gehst du an den Ort, an den alle Toten gehen."

"Und was ist das für ein Ort?"

"Tut mir leid, das kann ich dir nicht sagen."

Irgendwie wusste ich, dass es hier nicht ums Können, sondern ums Wollen ging und dass dieser Mann wesentlich mehr war, als ein simpler Verwalter.

"Wenn du dich allerdings entschließt, uns zu helfen, gibt es eine Art Belohnung. Wenn du möchtest, kannst du anschließend noch ein Leben leben, auf der Erde. Ich garantiere für gute Startchancen, aber was du aus so einem Leben machst, bleibt dir überlassen. Du kannst natürlich auch einfach zu all den anderen Toten gehen."

"Okay, das war das Zuckerbrot, wo ist die Peitsche?"

"Es gibt keine. Komm, ich zeige dir etwas."

Und er zeigte mir wirklich was. Den Berg. Ich war sprachlos. Nicht so sehr, weil mir die Worte fehlten, sondern weil es nichts zu sagen gab. Michael brach das Schweigen: "Dahin gehen alle Toten."

"Alle, bis auf mich."

Er schüttelte den Kopf.

"Du gehst da auch hin, nur vielleicht etwas später."

Das war der Punkt. Ich wäre gern zu dem Berg gegangen, verdammt gern. Aber... ich wusste, was es hieß, in der Scheiße zu sitzen, und wenn ich das jemandem ersparen konnte... dann musste dieser Berg eben noch ein bisschen warten.

"Okay, worum geht's?"

Michael nickte, er hatte wohl mitgekriegt, dass ich eben meine Entscheidung getroffen hatte.

"Warst du mal in Thomasville, Alabama?"

"Nö."

Ich hatte mich mal in Montana rumgetrieben, aber auch nur ‘n paar Tage. Schöne Gegend übrigens... nachdem ich da... tätig gewesen war.

"Da gibt es die 'God’s Army'..."

Michael schnaubte empört.

"... das ist ein Haufen christlicher Fundamentalisten, die alles aus dem Weg räumen wollen, das nicht auf ihrer Linie liegt. Schwarze sind die Kinder Kains und haben in God’s own country nichts verloren, Liberale sind die Seuche, an der das Land zugrunde geht und nur ein toter Schwuler ist ein guter Schwuler. Dieser Wahnsinn soll natürlich Gottes Wille sein und der Verein ist tatsächlich als Kirche anerkannt und zahlt nicht mal Steuern."

"Und wie viele Leute machen da mit?"

"Bis jetzt rund hundert, ungefähr die Hälfte ist auch aktiv, soll heißen: gewalttätig. Es gab einen schwarzen Kandidaten für die Bürgermeisterwahl, als er eines Tages tot an einem Baum hing, lief das offiziell unter Selbstmord, aber jeder wusste Bescheid. Ein stadtbekanntes Schwulenpärchen ist in seinem Haus verbrannt, auch ein bedauerlicher Unfall. Erstaunlicherweise hatten sie sich wohl vorher mit diversen Messerstichen getötet und dann das Haus angezündet. Was es nicht alles gibt."

Da gab´s aber noch was, das mich störte.

"Das ist sicher schlimm, aber so was gibt´s öfter und du schickst doch sicher nicht jedes mal Leute wie mich los. Was ist das Besondere an diesem Verein?"

Michael lächelte.

"Es hat seine Vorteile, die Dinge von hier oben zu sehen. Im Moment ist es noch eine kleine Gruppe, die letztlich von einer Familie geführt wird, allerdings sehr gekonnt. Wenn niemand etwas tut, wird sich die Sache zu einem Steppenbrand ausweiten, der endloses Leid über viele Menschen bringen wird. Du kannst helfen, das zu verhindern."

Ich dachte an die vielen Kriege und dass ein guter Schuss Hitler hätte rechtzeitig stoppen können. Michael ahnte wohl, was ich dachte.

"Manches können wir nicht ändern, konzentrieren wir uns auf das, was wir tun können. Übrigens wirst du nicht allein sein."

"Häh?"

Okay, war keine besonders intelligente Äußerung, aber eigentlich bin ich nicht der große Teamspieler, ich verlass mich lieber auf mich selbst.

"Diese Sache wäre für dich etwas zu groß. Deine Eltern ziehen von Deutschland aus nach Thomasville, dort gibt es eine recht große Papierindustrie. Der dortige Werkleiter von Paper International wird demnächst den Löffel reichen..."

Irgendwie sah ich, wie der Mann ahnungslos im Kreise seiner Familie sein Süppchen löffelte, um dann das besagte Esswerkzeug abzugeben.

"... und dein Vater kriegt den Job. Deine Mutter ist Ingenieurin und kümmert sich um die lokale Wasserversorgung."

"Ach. Ein unerwarteter Todesfall?"

"Nein. Der Mann geht in Pension, aber bei den Leberwerten wird er sie nicht lange genießen."

Die durchschnittliche Lebenserwartung in Thomasville schien nicht sonderlich hoch zu sein - und irgendwie hatte ich das Gefühl, dass meine neue Familie diesen Zustand nicht unbedingt verbessern würde.

"Du und deine Brüder..."

Brüder? Plural? Ach du liebe Güte!

"... besuchen die lokale High School und damit haben wir die wesentlichen Felder abgedeckt. God’s Army hat viele Mitglieder im öffentlichen Dienst und in der Industrie und sie rekrutieren Nachwuchs in den Schulen. Das sollte euch den nötigen Überblick verschaffen, damit ihr tätig werden könnt."

"Soll ich da undercover bei diesen Typen mitmachen?"

Michael schaute mich sehr ernst an.

"Nein, niemals! Wir gehen immer offen vor. Ob ihr eine Gegenbewegung aufbaut oder eines Tages die Verantwortlichen erschießt, ist eure Sache, aber ihr tut niemals so, als ob ihr irgendwelche Sympathien für diese Leute hättet. Komm, ich stelle dich deiner neuen Familie vor."

Komisch, auch wenn man tot ist, kann man dieses merkwürdige Gefühl in der Magengegend haben. Ich wäre viel lieber in einen Kampf gezogen, als Leute zu treffen, die meine Familie sein sollten - auch wenn's nur für ein paar Wochen war. Michael ging mit mir zu einem ziemlich großen Bau.

"Hier wirst du die nächste Zeit wohnen."

Häh?

"Häh? Ich dachte, es ginge in die Staaten?"

Michael grinste.

"Da kommst du schon noch hin, keine Angst. Du musst erst mal deine Leute kennen lernen und wir haben auch noch ein Ausbildungsprogramm für dich."

"Wozu?"

"Weil sich nicht alle Probleme mit einer Pistole oder einem Schwert lösen lassen. Du wirst hier noch eine ganze Menge lernen."

Na ja, wenn's mir nicht passte, konnte ich immer noch zu dem Berg gehen. Wir kamen aber erst mal in einen größeren Raum, offenbar das Speisezimmer. Vier Leute saßen an einem Tisch und weil ich so unglaublich intelligent bin - und weil es zwei Erwachse und zwei Kids waren - wusste ich sofort, dass das meine neue Familie war.

"Da kommt ja der verlorene Sohn! Wir hatten schon Angst, du würdest nicht kommen!"

Manchmal gibt es Sachen, an die erinnert man sich den Rest seines Lebens. Das war so eine Sache, ich meine, da saß eine Frau, lächelte mich an und sagte 'Wir hatten schon Angst, du würdest nicht kommen'... normalerweise haben Leute Angst, dass ich komme. Und manchmal weiß ich einfach nicht, was ich machen soll. Dahille hatte mich gelehrt, ein Krieger zu sein und Walsh hatte mir beigebracht, dass eine Pistole der treueste Freund ist, aber ich wusste nicht, was ich jetzt machen sollte. Zum Glück stellte der ältere von den beiden Kids sein Glas weg und lachte.

"Wenn Michael ihm ein Foto von Dad gezeigt hätte, wäre er bestimmt nicht gekommen! Hi, ich bin Justin."

Der Mann namens Dad grinste.

"Rachel, erinnere mich bitte daran, Justin nach dem Abendessen wegen erwiesener Geschmacklosigkeit zu erschießen, wir haben ja jetzt Ersatz. Hi Chris, ich bin Benjamin, genannt Ben, genannt Dad."

Und dann stand er auf und gab mir die Hand, na ja, Pranke trifft es besser. Der Mann sah aus wie ein Heavy Metal Fan und das 'Judas Priest' Tattoo auf dem Oberschenkel... sorry, Oberarm, der Umfang tut sich nicht viel, machte die Sache auch nicht besser. Ich war froh, als ich meine Hand heil wieder zurück hatte.

"Er ist eigentlich ganz nett..."

Der jüngste der Runde...

"... aber ein bisschen größenwahnsinnig. Justin schießt viel besser als er. Ich heiße Eric."

"Und da gehen die letzten Reste meiner väterlichen Autorität dahin. Ach, Chris, wenn du einen guten Vater brauchst, dann lauf weg so schnell du kannst!"

"Nein, dann komme ich zu Ihnen."

Oops. Manchmal sage ich Sachen, ohne vorher nachzudenken. Kennst du diesen traurigen Dackelblick? Und den von einem Mann, der aussieht als ob er 'ne Horde randalierender Fußballfans abschrecken könnte? Ich konnte nicht anders, ich lachte los - und er lachte mit.

"Komm, setz dich, es ist genug zu Essen da. Wie hat's dich denn erwischt?"

Ist doch gleich viel einfacher, wenn man zusammen gelacht hat.

"Ich bin in einen Hinterhalt gelaufen. Wir dachten, es wäre nur einer, aber es waren vier. Einen hab ich umgelegt, die anderen...?"

Ich guckte zu Michael, der sich auch hingesetzt hatte und gerade ein Brötchen schmierte.

"Dahille, Walsh und Daniel, jeder einen."

"Daniel auch?"

Michael nickte.

"Vier Schuss, der erste hätte auch gereicht. Aber dafür, dass es sein erstes Mal war, hat er sich gut gehalten."

Daniel hatte getötet... der lachende Junge, den ich geliebt hatte. Näher war ich dem Glück nie gewesen.

"Wie geht es ihm?"

"Mittelprächtig. Er kümmert sich um den Jungen, den sie da rausgeholt haben, und das hilft."

Rachel legte mir die Hand auf den Arm, sie sah ein bisschen blass um die Nase aus.

"Moment mal! Hinterhalt? Umgelegt? Wer bist du?"

Ich hab meine Geschichte erzählt. Die ganze Geschichte. Als ich fertig war, war die Luft blau und mein Hals trocken. Draußen war’s dunkel geworden und wir saßen im Schein einer Kerze. Irgendwie verdammt symbolisch. Michael räusperte sich und sprach als erster:

"Ich habe euch gesagt, dass noch ein Krieger dazu kommt. Hier ist er. Ich stelle dir mal die anderen vor."

Anschließend wusste ich, dass ich sozusagen in einem Verliererclub saß. Justin, der übrigens mein Zwillingsbruder sein sollte, hatte auch Filme machen müssen und war bei einem Fluchtversuch ums Leben gekommen. Eric hatte die Sache selbst in die Hand genommen und sich eine hohe Brücke gesucht, Rachel war, wie übrigens auch Justin, Amerikanerin und hatte sich in einer Bürgerrechtsgruppe engagiert und sich dabei zu weit aus dem Fenster gelehnt, ihr Tod war als Autounfall durchgegangen. Ben hatte als Anwalt gegen Großkonzerne gekämpft und war tatsächlich an einem Herzinfarkt gestorben.

Als mir Michael später mein Zimmer zeigte, konnte ich endlich meine Frage loswerden:

"Sag mal, die Leute sind ja nett, aber eigentlich hätte ich eine Gruppe erwartet, die mehr Erfahrung hat. Oder überhaupt Erfahrung hat. Das sind doch eigentlich ganz normale Leute, na ja, eigentlich Verlierer. Wie soll ich mit denen eine Armee aufhalten?"

"Ich hab dir schon mal gesagt, dass nicht alle Probleme mit Waffen gelöst werden. Diese Gruppe ist die absolut Beste und du kannst stolz sein dazu zu gehören. Ihr müsst alle noch eine ganze Menge lernen, du vielleicht noch mehr, als die anderen. Frühstück um acht."

Schwachsinn! Wenn das die beste Gruppe war, dann konnten wir uns gleich das Klo runterspülen! Mit Dahille und Walsh hätte ich mir so eine Aktion zugetraut, die beiden konnten ganz fürchterlich hinlangen, aber mit diesen Leuten?

Am nächsten Morgen war Schießtraining und Michael machte sich zügig vom Acker, kluge Entscheidung, wahrscheinlich konnte er das Elend nicht mehr mit ansehen. Justin hatte Potential, er wollte es lernen, Ben brauchte eigentlich keine Waffe und von Rachel erwartete ich sowieso nicht viel, aber Eric! Du liebe Güte, er hatte ständig Angst, dass ihm die Waffe in der Hand explodieren würde, machte beim Schießen beide Augen zu und zuckte bei jedem Knall zusammen wie ein geprügelter Hund. In seinem Alter hatte ich die ersten Einsätze hinter mir und die Vorstellung, dass im Kampf so ein Weichei hinter mir steht, macht mich rasend. Irgendwann hatte ich echt die Schnauze voll.

"Verdammte Scheiße! Du bist zu dämlich zum Klo putzen! Mit so einem Versager wie dir können wir uns gleich erschießen!"

Da ließ er tatsächlich die Pistole fallen und ging weg... einfach so!

"Bist du ganz durchgeknallt? Du kannst doch nicht einfach so die Waffe fallen..."

Ich sah eine Bewegung, aber dann lag ich schon am Boden und Justin stand über mir. Und er sah mächtig sauer aus.

"Verdammtes Arschloch! Wegen Leuten wie dir hat sich Eric umgebracht! Er hat immer nur versucht, alles richtig zu machen und nie war es gut genug. Und jetzt führst du dich hier auf wie der König der Hundesöhne! Verpiss dich!"

Er ging weg. Und Ben. Und Rachel.

Verpiss dich, hatte Justin gesagt. War vielleicht besser so. Diese ganze Sache mit Familie und so war wohl nichts für mich. Ich lief los, nicht zum Berg, so weit war ich noch nicht, aber in den Wald. Nach ein paar Stunden fing ich an, nachzudenken. Abends saß ich an einem kleinen Tümpel und guckte der Sonne beim Untergehen zu. Und ich hab mich geschämt. Ich hatte 'ne ganze Menge getan, um Kids zu helfen, aber bei Eric hatte ich so richtig in die Scheiße gepackt. Ich dachte daran, wie ich angefangen hatte zu lernen. Wie Dahille es geschafft hatte, aus einem Jungen, der glaubte ein Spielzeug zu sein, einen Krieger gemacht hatte. Wie Walsh gelacht hatte, als ich zum ersten Mal die Scheibe getroffen hatte. Da wusste ich, dass nicht Eric der Versager war, sondern ich. Eigentlich wollte ich direkt zum Berg gehen, aber es war verdammt dunkel... okay, also morgen.

Als ich aufwachte, roch es nach Kaffee. Michael. Hätte ich mir ja denken können. Er warf mir die Thermoskanne rüber und schaute mich lange an.

"Was hast du jetzt vor?"

"Ich gehe zum Berg."

"Nur weil du Angst hast?"

Häh?

"Wie kommst du denn da drauf?"

"Du hast Mist gemacht. Menschen machen Mist. Deshalb gibt es die wunderbare Erfindung des miteinander Redens. Man kann sich auch entschuldigen. Menschen machen so was, wenn sie Mist gemacht haben. Es sei denn, sie haben Angst davor."

Angst. Mein alter Freund. Dahille hatte mal gesagt: 'Solange du Angst hast, lebst du.' Ich hatte gesagt: 'Solange ich lebe, habe ich Angst.' Er hatte genickt und gemeint: 'Die Angst macht dich wachsam und vorsichtig, sie ist dein Freund', aber das hier war wohl was anderes. Ich hatte wirklich Angst davor, Eric zu treffen. Mit ihm zu reden.

Michael spielte mit einem Stöckchen und warf es dann in den Tümpel.

"Chris, ich hab dir gesagt, dass du hier eine Menge lernen wirst. Weglaufen ist keine Lösung und eine Pistole hilft dir hier auch nicht weiter. Natürlich kannst du zum Berg gehen, aber es wäre natürlich besser, wenn du nach Hause kommen würdest... besser für Eric und besonders besser für dich. Da gibt es noch viel, was du lernen kannst."

In der Nacht vor einem Einsatz konnte ich nie schlafen und ich hab immer gegen die Angst gekämpft, aber diesmal war es noch schwieriger. Aber ich hab gewonnen.

"Okay, ich komme mit."

Michael lächelte.

"Was sitzt du dann noch hier faul herum? Wenn wir uns beeilen, sind wir zum Frühstück wieder da."

"Ähhh, das glaube ich nicht. Ich bin ganz schön weit gelaufen."

"Der Wald hat seine Besonderheiten. Übrigens schieße ich viel besser als du."

Ich grinste.

"Träumer!"

"Selber Träumer. 20 Meter, zehn Schuss?"

"Gemacht. Der Verlierer muss hinterher alle Pistolen saubermachen?"

"Gemacht!"

Und dann fiel mir die Kinnlade runter, weil wir aus dem Wald kamen. Ich war gestern doch nicht nur ein paar Meter in den Wald gelaufen. War irgendwie merkwürdig, aber jetzt egal. Wir gingen rein und wie es der Zufall wollte, kam Eric gerade die Treppe runter... Obwohl ich hier oben nicht mehr an Zufälle glaube. Er sah mich und ich sah die Angst in seinen Augen. Die Angst, die ich selbst so gut kannte. Die Angst, die ich in den Augen der Kinder gesehen hatte, die wir aus Kellern geholt hatten. Und ich war Schuld. Himmel, war ich ein Arschloch.

"Gib mir bitte fünf Minuten. Wenn du dann sagst, dass ich gehen soll, dann gehe ich. Endgültig."

Er guckte zu Michael und ich sah aus den Augenwinkeln, dass er nickte.

"Okay, aber... Michael, bleibst du in der Gegend?"

Aua. Eigentlich wollte ich mit ihm reden, ihm erklären, was passiert war und warum, aber das ging jetzt wohl nicht mehr. Na gut, Plan B.

"Komm."

Ich ging mit ihm zum Wald und fand einen handlichen Knüppel.

"Hier! Nimm ihn und schlag zu."

Seine Augen wurden groß und er schaute schon wieder zu Michael. Der Junge wollte echt von ihm das Okay, mich zu schlagen. Wahrscheinlich wäre er lieber irgendwo runter gesprungen.

"Hey, ich hab dir weh getan und ich finde, du hast das Recht, dich zu revanchieren. Mach schon!"

Sein erster Schlag reichte nicht mal für einen blauen Fleck.

"Eric, schau mich an. Und gib mir das Gesicht von all den Leuten, die dir weh getan haben. Und dann versuch’s noch mal."

So hatte ich Schießen gelernt. Ich hab am Anfang keine Scheiben gesehen, sondern das Gesicht meiner Mutter.

Es hat funktioniert. Und es hat höllisch weh getan. Irgendwann hat es aufgehört. Meine Knochen waren noch ziemlich heil, aber mein Schädel fühlte sich wie eine Schmiede. Und das war erst der leichte Teil, jetzt wurd’s kompliziert. Eric stand über mir und die Tränen liefen ihm über das Gesicht

"Eric, ich hab eine Scheißangst davor, so zu sein, wie du. Ich trau mich das einfach nicht. Deshalb hab ich gelernt, zu töten. Damit ich keine Angst mehr haben muss. Deshalb war ich so sauer. Du bist all das, was ich gern wäre, aber nicht sein kann. Du hast da drüben im Haus drei Freunde sitzen, Justin hat mich sogar geschlagen... für dich. Ich kann so was nicht. Ich hab Angst vor Menschen."

Angst ist die Antwort. Immer.

Eric schluckte.

"Du... hast Angst?"

"Jede Sekunde meines Lebens."

Nie war ein Wort wahrer.

"Und... und du wärst gern so... wie ich?"

Ich holte tief Luft.

"Wenn ich auch nur einen verdammten Tag mit dir tauschen könnte, würde ich fröhlich pfeifend zur Hölle fahren."

Noch mehr Wahrheit. Auch wenn sie weh tat. Er merkte, dass ich keinen Scheiß erzählt hab.

"Und warum sollte ich dich verprügeln?"

"Ich wollte dir meine Antwort auf die Angst zeigen. Und ich hab mir gedacht, wenn ich dir was zeige, kannst du mir vielleicht beibringen, wie man... so ist wie du?"

Verdient hatte ich es wirklich nicht, aber er streckte mir die Hand entgegen und half mir hoch. Und er lächelte.

"Zunächst mal solltest du dich waschen. Du siehst verboten aus!"

Ich grinste.

"Nur, wenn du den Knüppel weglegst. Sag mal, hast du eigentlich schon gefrühstückt?"

"Nö, und wenn du dich mit dem Waschen nicht beeilst, wird auch nicht mehr viel da sein."

Ich lachte.

"Vielleicht kannst du Ben überreden, auf eines von seinen zehn Brötchen zu verzichten. Ich beeil mich."

War lange her, dass mich jemand so verprügelt hatte, aber ich stieg trotzdem lächelnd unter die Dusche.

Nachwort

Soweit der erste Teil. Wie du siehst, konnte ich Chris einfach nicht in Frieden ruhen lassen. Der kleine Ausflug ins Übernatürliche tut mir leid, ist eigentlich nicht meine Art, aber ich wusste nicht, wie ich es sonst machen sollte. Der nächste Teil wird etwas irdischer - versprochen.

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