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New Life Diaries

Neue Stadt, neue Familie, neues Leben: Coming-Out Story

Teil 2 - Einleben leicht gemacht

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Informationen

 

Am Heiligabend frühstückten wir alle zusammen um 9 Uhr. Ich war ziemlich ruhig, während Soja ganz aufgeregt war. Für einen Moment erinnerte ich mich daran zurück, wie sehr ich mich in ihrem Alter auch noch auf Weihnachten gefreut hatte. Dieses Jahr stellte sich die Weihnachtsstimmung bei mir noch nicht so recht ein. Gerrit ließ sich von gestern nichts anmerken. Immerhin etwas. Wahrscheinlich mache ich mir viel zu viele Gedanken. Warum sollte er auch schon denken, dass ich schwul sein könnte? Nie und nimmer konnte er den Webseiten-Namen in den wenigen Sekunden erkennen. Und das gestern war doch auch im Grunde nichts.

 

Um 15 Uhr wollten wir zum Krippenspiel in die Kirche. Soja sang im Engelchor. Helena war mit ihr schon vorgefahren. „Sagst du Gerrit Bescheid? Wir müssen los“, kam mein Vater zu mir in die Küche und erwischte mich beim Lebkuchen essen.

„Klar“, kam ich seiner Bitte nach und ging nach oben.

Gerrit musste mich schon gehört haben, denn er machte eine komische Bemerkung. „Kannst ruhig reinkommen, ich hab was an.“

Als ich sein Zimmer betrat, grinste er mich an. 

„Ähm… wir müssen los“, sagte ich unsicher. 

„Alles klar“, sprang Gerrit von seinem Schreibtisch auf und klopfte mir im vorbeigehen auf die Schulter. „Auf geht's!“

 

Das Krippenspiel war schön. Wir waren schon jahrelang nicht mehr in der Kirche zu Weihnachten gewesen. Aber ich erwischte mich immer mehr dabei, Gefallen an unserer neuen Familie zu finden. Soja war echt süß als Engel. Und ihre Begeisterung. Sie hatte überhaupt keine Berührungsängste. Ich kam mir manchmal schon wie ihr richtiger Bruder vor. Kinder sind manchmal so wunderbar offenherzig.

Auch Gerrit verhielt sich wieder ganz normal. Ich sollte wirklich damit aufhören mir ständig irgendwelche Gedanken zu machen, wie die Leute auf mich reagieren und was sie über mich denken könnten. 

 

Zum Abendessen gab es Kaninchen. Helena kann definitiv besser Kochen als mein Vater. Danach ging es ins Wohnzimmer zur Bescherung. Gut, dass ich auch eine Kleinigkeit für Soja und Gerrit besorgt hatte. Hätte nicht gedacht, dass sie mir auch was schenken. So haben wir uns gegenseitig Schoko-Weihnachtsmänner geschenkt. Von Dad habe ich ein neues MacBook bekommen. Echt krass! Gerrit bekam eine Wii, mit der wir alle noch bis spät in die Nacht gespielt haben. Für Golf fehlt mir definitiv das Gefühl. Soja hat alles Mögliche von Barbie bekommen. 

 

Am nächsten Tag waren wir alle noch mit unseren Geschenken beschäftigt. Wieder spielten wir alle zusammen Wii Sports. Am Abend wollte Gerrit zu einer X-Mas Party. Er fragte auch, ob ich mit wollte, aber da ich noch niemanden kannte, fehlte mir dazu auch die rechte Lust. Gerrit aber wollte sich wohl für Marina richtig herausputzen. Eine halbe Ewigkeit rannte er nur in Boxershorts zwischen Bad und seinem Zimmer hin und her und fragte mich immer wieder nach meiner Meinung, wie ich sein Styling und seine Klamotten fand. 

Die Party war jedenfalls ein riesiger Reinfall. Er war schon um halb 2 zurück. Marina war schlecht drauf und hat wohl die ganze Zeit rumgezickt und von seinen Freunden und Schulkameraden war kaum einer da. Jedenfalls war er ziemlich voll als er zurückkam und sich zu mir ins Zimmer setzte und die ganze Zeit darüber redete, wie Scheiße der Abend war. Immerhin meinte er, dass er anfangs echt Zweifel hatte mit dem Zusammenziehen und das es ja echt schlimmer hätte kommen können. Ich hatte das mal als Kompliment aufgefasst.

 

Am 2. Weihnachtstag waren dann die Großeltern von Soja und Gerrit zu Besuch, die zum ersten Mal das fast fertig renovierte Haus gesehen hatten. Im Großen und Ganzen war es aber recht langweilig, weil wir die meiste Zeit mit unten sitzen mussten und immer wieder gefragt wurden, wie das jetzt für uns ist, hier zusammen zu wohnen. Irgendwie war es traurig, meine eigenen Großeltern nicht zu sehen an den Feiertagen, aber die waren bei meiner Tante zu Besuch. Wir wollten zwischen den Tagen für zwei Tage nach Hamburg fahren. Der Abend klang dann mit dem „Traumschiff“ aus – ist wohl so eine Art Tradition in Helenas Familie. Es war so schlecht, dass es fast schon wieder lustig war. Gerrit verstand es echt gut, lustige und passende Sprüche rauszuhauen. 

Am späten Abend loggte ich mich noch bei Romeo ein, um zu sehen, ob es Neues von Lukas gab. Er hatte schon am 24. Dezember geschrieben. „Frohe Weihnachten! Ich freu mich auf Sonntag.“ Anbei hatte er noch seine Handynummer mitgeschickt. Ich nahm mein Handy und wollte ihm ebenfalls noch frohe Weihnachten wünschen. Aber bis ich mich dazu durchrang dauerte es eine Weile. Irgendwie hatte ich echt Schiss vor dem Treffen. Ich hatte ja keine Ahnung wie es so ist mit Schwulen. Hoffentlich merkte man es ihm nicht so an. Von den Bildern her sah er auf jeden Fall überhaupt nicht nach Gay aus. „Danke, ich hoffe du hattest auch ein schönes Fest. Bis morgen“, antworte ich auf seine Nachricht.. 

 

Der Tag war gekommen. Heute traf ich zum ersten Mal Lukas, mit dem ich schon in Hamburg Wochenlang per Romeo geschrieben hatte. Er war einer der ganz wenigen, die ich in dieser Community mochte. Wir waren in einem Café verabredet. Vor dem Lokal wartete ich nervös und hoffte Lukas zu erkennen. „Hallo Marvin“, hörte ich es dann von hinten. Ich drehte mich um und vor mir stand dann Lukas. Ich musterte ihn. Er strahlte übers ganze Gesicht. Seine braunen Haare waren perfekt gestylt. „Hi“, antwortete ich schüchtern. Sein Händedruck war lasch, viel zu lasch. Ich bildete mir ein sofort zu erkennen, dass er schwul war. Seine Art sich zu bewegen und zu sprechen, während er auf den Fotos total hetero wirkte. 

„Freut mich dich endlich mal zu treffen“, sagte Lukas. Wir gingen in das Café und setzten uns. Noch fühlte ich mich ziemlich unwohl und hatte keine Ahnung, worüber wir reden sollten.

„Erzähl, wie gefällt dir die Stadt? Ist doch bestimmt eine große Umstellung!“

„Bis jetzt ganz okay. Bis auf das ständige S- und U-Bahn fahren.“

Lukas lachte. „Da gewöhnst du dich ganz schnell dran.“ Er machte eine kurze Pause. „Du siehst genauso aus wie auf den Bildern.“

Ich hätte am liebsten das gleiche geantwortet, aber mir war er noch fremd. „Danke.“

Wieder lächelte er. Ich glaube er war auch unsicher und wusste nicht, was er so sagen sollte.

„Und triffst du dich oft mit anderen Jungs?“

„Von Romeo?“, fragte er so laut, dass es mir peinlich war, dass uns jemand hörte.

Ich nickte nur.

„Klar, hin und wieder. Meinen Ex habe ich auch drüber kennengelernt.“

Ich war überrascht. Er hatte nie einen Ex erwähnt. „Ich dachte nur deine Schwester und dein bester Freund wissen Bescheid?“

„Nein“, lachte er. „Ich bin komplett geoutet.“

„Und wie hat deine Familie das aufgefasst?“

„Erst waren sie nicht so begeistert und mein Vater wollte mich bekehren. Aber inzwischen ist alles easy.“

„Das freut mich“, sagte ich.

„Wann willst du dich denn outen?“

Ich überlegte. „Ich weiß nicht. Es gibt dazu keinen Grund. Ich weiß ja gar nicht, ob ich überhaupt…“

„Klar!“ Lukas war sich sicher. „Sonst würdest du hier nicht mit mir sitzen - und hast du etwa unsere Chats vergessen? Ich fand sie teilweise sehr anregend.“

„Nein, aber.. vielleicht stehe ich ja auch auf beide. Und ich habe ja auch noch nie mit ’nem Jungen…“ Ich wurde immer leiser, während ich sprach. „Rumgemacht.“

„Dann wird’s aber mal Zeit“, grinste Lukas.

Wir tranken noch unsere heißen Schokoladen aus und verließen dann das Café, vor dem wir stehenblieben. Ich bemerkte plötzlich, wie Lukas auf die andere Straßenseite starrte. Aus einem Lokal gegenüber kam der Junge aus der U-Bahn mit der Gitarre, die er heute aber nicht dabei hatte. Ich glaube er sah uns nicht, aber ich konnte meinen Blick kaum von ihm abwenden, was auch Lukas nicht entging. 

„Du bist schwul.“

„Was?“

„Du starrst anderen Jungs auf den Arsch.“

„Quatsch“, lachte ich. „Ich dachte nur, ich habe den schon mal gesehen.“ 

„Vergiss den Typen. Er ist ein Idiot“, sagte Lukas bestimmend. Scheinbar kannte er ihn. Am liebsten hätte ich weiter nachgefragt, aber Lukas war schon einen Schritt weiter.

„Hast du noch Lust mit zu mir zu kommen?“

„Ich weiß nicht…“

„Komm schon, es ist nicht weit. Es sind nur ein paar Minuten zu Fuß.“

Ich willigte ein. „Okay, ich hab noch etwas Zeit.“

 

Bei ihm zu Haus gingen wir zunächst in die Küche. 

„Cola?“

„Wasser reicht“, erwiderte ich und bekam auch prompt die Flasche gereicht. „Sind deine Eltern gar nicht da?“, fragte ich mich. Es war total ruhig im Haus.

„Die kommen erst morgen zurück“, zwinkerte Lukas mir zu. „Was meinst du, warum ich zu mir wollte?“

Wir gingen auf sein Zimmer. Er drehte die Anlage auf. „Setz dich“, deutete er auf sein Bett. Eine andere Sitzgelegenheit gab es in seinem kleinen Zimmer auch nicht.

„Du siehst echt genauso auf, wie auf den Bildern“, musterte er mich. 

Ich fand Lukas auch echt gutaussehend und sein Hintern sah in seiner Jeans richtig heiß aus. Er war nett und bemüht. Aber irgendetwas fehlte. Es hätte mir besser gefallen, wenn er sich mehr hetero verhalten würde. 

„Ich bin wirklich froh, dich jetzt auch mal im Real Life kennenzulernen.“ 

„Dachtest du ich sei ein Faker?“

„Man kann nie sicher sein auf Romeo.“

Ich wusste was Lukas meinte, war ich doch selbst schon mal auf einen reingefallen. Seitdem bin ich auch äußerst vorsichtig. 

„Wenn du jetzt auch noch ein Foto von dir im Profil hättest, würdest du dich vor Nachrichten kaum noch retten können“, meinte er.

„Ach Quatsch“, lachte ich. „Aber es ist schon etwas blöd. So muss ich immer die Leute anschreiben und suchen.“

„Dann stell ein Foto rein.“

„Das geht nicht.“ Das kam für mich nicht in Frage. „Dann weiß jeder, dass ich mindestens bi bin. So habe ich es unter Kontrolle und kann sicher sein, dass ich keinen Bekannten anschreibe.“

„Hauptsache du hast mich angeschrieben“, setzte sich Lukas zu mir aufs Bett und schaute mir in die Augen.

„Ich bin auch froh. Mit dir habe ich echt Glück gehabt.“

„Und ich hatte Glück, dass du mich angeschrieben hattest…“

Lukas setzte plötzlich zu einem Kuss an. Nie hatte ich damit gerechnet und das war wohl auch der Grund dafür, dass ich nicht reagieren konnte. Ich erwiderte den Kuss auch nicht, aber ließ ihn geschehen. Lukas streichelte über meinen Arm mit seiner Hand und griff mir dann ohne Vorwarnung in meinen Schritt. Und ich bekam auch direkt eine leichte Erregung. Als er mich aufs Bett drücken wollte, rollte ich zur Seite und stand von seinem Bett auf. 

„Ich muss auch los“, stammelte ich.

Lukas blieb enttäuscht auf seinem Bett sitzen. „Was? Deswegen sind wir doch zu mir gegangen!“

Mir war nicht klar, dass Lukas mich nur deswegen eingeladen hatte. „Sorry.“

„Marvin, du hast doch auch voll den Steifen. Jetzt lass uns doch etwas Spaß haben“, wollte Lukas mich aufhalten, doch ich war noch nicht bereit dazu.

„Es geht wirklich nicht, ich habe meinem Vater versprochen ihm beim… Teppichverlegen zu helfen.“

Widerwillig gab Lukas nach. „Okay, aber wir sehen uns doch bald wieder, oder?“

Lukas stand auf und stellte sich mir direkt gegenüber.

„Na klar“, antwortete ich. „Warum auch nicht?“

„Keine Ahnung“, zuckte Lukas mit seinen Achseln und bevor er noch etwas tun konnte, wich ich zurück und verließ sein Zimmer. „Bis dann, ich find allein raus.“

Zurück in die Heimat

Als ich abends in meinem Bett lag und an die Decke starrte, vibrierte mein Handy. Lukas hatte mir eine SMS geschickt: „Sorry, ich wollte dich nicht überfordern. Hoffentlich bis bald?“

Ich ging auf Antworten, ließ es dann aber bleiben und legte mein Handy beiseite. 

Ich war echt sauer auf Lukas. Was hatte er sich dabei nur gedacht? Mich einfach so zu küssen. Ich war mir sicher, dass ich ihm keine Zeichen gegeben hatte, die er fehlinterpretieren konnte. Oder doch? Vielleicht war er die ganzen Wochen nur so nett zu mir, weil er Sex wollte? Verdammt, warum hatte ich mich nur auf dieses dämliche Treffen eingelassen? Ich schaltete das Licht aus und wollte schlafen. Am nächsten Tag ging es früh mit Dad in die alte Heimat.

Mein Vater konnte sich kaum von Helena trennen. Ich saß bereits im Auto und suchte nach einem guten Radiosender. Tolle Idee zwischen den Tagen zu fahren. Die Autobahn war voll. War ich froh, als wir endlich den Elbtunnel erreichten. Zwar erwartete uns ein riesiger Stau, aber so war das Ziel fast erreicht.

Oma und Opa hatten uns kommen hören und öffneten schon ihre Haustür, bevor wir ausgestiegen waren. Nach dem großen Umarmen gab es direkt Kaffee und Kuchen. Außerdem bekam ich noch mein Weihnachtsgeschenk. Ein bunter Teller mit Süßigkeiten, die bis Ostern reichen sollten, einen 50 Euro Gutschein von Saturn und die 2. Staffel Scrubs auf DVD. Cool! Dafür hatte sich die Fahrt schon gelohnt.

 

Am Dienstag traf ich mich mit Janina, meiner besten Freundin – und einzigen Person, die wusste, dass ich auch auf Jungs stand. Wir fuhren mit dem Zug nach Hamburg in die Stadt. Ich löste direkt den Gutschein von Oma und Opa für Staffel 3 und 4 ein. Es war ein toller Nachmittag. Irgendwann waren wir dann bei ihr. Von all meinen Freunden hatte sie die coolsten Eltern. Ich fühlte mich bei ihnen immer wie zu Hause. Nach der Schule kam ich oft zum Mittag zu ihnen. Auf Janinas Zimmer erzählte ich ihr von unserem neuen Haus, meinen Stiefgeschwistern und wie das bei uns jetzt alles so läuft. Sie fand alles megaspannend und wäre am liebsten morgen mit uns gefahren und hätte sich alles angeschaut. Als ich ihr Bilder von Soja und Gerrit zeigte, meinte sie, dass er ziemlich heiß wäre. Mein Blick muss es verraten haben, dass ich das ähnlich sah wie sie.

„Stehst du etwa auf deinen Bruder?“

„Quatsch“, verneinte ich intensiv. „Außerdem ist er nicht mein Bruder.“

„Kommt ja vielleicht noch“, grinste Janina herausfordernd.

„Gerrit ist okay. Bis jetzt ist alles ganz cool zwischen uns.“

Janina ließ nicht locker. „Aber du findest ihn schon ganz süß, oder?“

„Mein Gott“, gab ich nach. „Klar sieht er ganz hübsch aus. Aber ich stehe doch nicht auf jeden Jungen, der ganz hübsch ausschaut. Außerdem hat er eine Freundin.“

„Schade“, verzog Janina ihr Gesicht so seltsam, wie nur sie es konnte. „Ich hätte ihn auch genommen.“

Ich lachte. „Dafür habe ich Lukas getroffen.“

Janina staunte. „Echt jetzt? Du hast dich getraut? Erzähl, wie war’s?“

„Scheiße war‘s“, begann ich zu erzählen, dass er nicht ganz so hetero war, wie ich es gehofft hatte und das er mich dann auch noch mit zu sich genommen hatte, nur um mich klar zu machen.

„Zwei Jungs, die sich mögen, nebeneinander auf einem Bett und sturmfrei. Was dachtest du denn?“

„Auf jeden Fall nicht das. Du lässt dich doch auch nicht von jedem Jungen abknutschen, den du triffst.“

„Du wolltest ja nie“, lachte sie.

„Naja, vielleicht habe ich etwas überreagiert. Aber er hatte schon einen festen Freund, er ist geoutet und alles. Für mich ist das doch alles neu.“

„Ach Marvin“, begann Janina. „Er hat doch nichts Schlimmes getan. Jetzt lass ihn nicht zappeln und antworte auf seine SMS. Oder findest du ihn so Scheiße, dass du nichts mehr mit ihm zu tun haben willst?“

„Nein“, gab ich murrend zu. „Ich mag ihn auch und wenn man sich etwas besser kennt, dann…“

„Dann wird er dein erster Freund“, freute sich Janina. Sie war dabei so süß, dass ich lachen musste. „Quatsch.“

„Er steht auf dich und du magst ihn auch“, kombinierte Janina. „Alles nur eine Frage der Zeit und du kannst mir von deinem ersten Mal mit ’nem Jungen erzählen.“

„Träum weiter“, schüttelte ich schmunzelnd den Kopf. Das würde definitiv nicht geschehen. Trotzdem hörte ich auf ihren Rat und antwortete auf seine SMS. „Bin gut in der Heimat angekommen. Mach dir keine Sorgen, freu mich dich bald mal wieder zu sehen.“

Janina war sichtlich zufrieden. Wir schauten noch ein wenig Fern und nach und nach kamen Andy, Thore und Sabrina. Es war schön alle wiederzusehen, dabei war ich noch gar nicht lange weg gewesen. Wir beschlossen zum Billardspielen zu fahren. Thore war der beste Billardspieler, den ich kannte. Doch all seine Bemühungen mir seine Tricks zu erklären oder überhaupt aus mir einen guten Spieler zu machen scheiterten. Immerhin war Sabrina nicht wesentlich besser als ich. Andy machte die ganze Zeit Witze über meine zukünftige Stiefmutter. Die Vorstellung, dass ich Helena wirklich ganz nett fand, ging nicht in seinen Schädel rein. Außerdem sollte ich davon ausgehen, dass ich mindestens noch zwei Geschwister dazu bekomme und wir dann eine Art Patchwork-Kelly Family werden. Der Abend ging viel zu schnell vorbei. 

 

Und damit ging auch der Besuch bei meinen Großeltern zu Ende. Am nächsten Mittag fuhren wir wieder zurück. Vorher holten wir noch einige Sachen bei meinem Onkel ab, die wir beim Umzug nicht mehr mitbekommen hatten. Mein Vater nervte auf dem Rückweg ein wenig und versuchte die ganze Zeit Helena zu verteidigen, wie toll sie ist und wie sehr er sie liebt und sie mich auch total gern hat. Lauter Dinge, die ich eigentlich nicht hören wollte. Außerdem gab es echt keinen Anlass dazu, weil ich wirklich nichts gegen sie habe. Um kurz nach 21 Uhr waren wir dann wieder zu Hause. Unser Haus strahlte schon von weiten. Es hatte schon leicht was Amerikanisches. Papa wurde noch von einem Nachbarn aufgehalten, mit dem er auch direkt über die Beleuchtung diskutierte. Ich verzog mich ins Haus. Helena begrüßte mich sofort und meinte, dass die anderen im Wohnzimmer Mr. Bean schauten. Ich ging also zu ihnen. Nicht erwähnt hatte sie, dass auch Marina da war und im Arm von Gerrit lag. Ihr Top war so kurz, dass ich erkennen konnte, dass sie einen gepiercten Bauchnabel hatte. Ich gab Soja eine Kleinigkeit von meinen Großeltern, die sie für sie gekauft hatten. Mir kam es so vor, dass alle Spaß hatten – nur Marina nicht. wenn alle lachten, meinte sie nur, dass sie es eh schon kennen würde und beschäftigte sich mehr mit ihrem Handy oder Fingernägeln. Gerrit gab ihr auch immer noch recht. Am meisten nervte mich an ihr, dass sie alles Scheiße fand oder besser konnte. Nach Mr. Bean wollte Soja wissen, was ich von meinen Großeltern bekommen habe.

Ich erzählte von dem Gutschein und dass ich mir dafür zwei weitere Scrubs Staffeln gekauft hatte. 

„Cool“, meinte Gerrit direkt, als ob er sofort anfangen wollte die Folgen zu schauen. Bis Marina ihre Meinung dazu kund tat.

„Das läuft doch eh ständig auf ProSieben“, nörgelte sie. Außerdem seien sie alt und jeder würde die Folgen schon kennen.

„Egal“, meinte ich. „Ich kenne nicht alle Folgen und außerdem sind sie auch als Wiederholung noch super lustig.“

Ich war echt froh, als sie endlich nach Hause ging. Soja war inzwischen im Bett und ich saß mit meinem MacBook auf dem Bett, als Gerrit an die offene Tür klopfte und hereinkam.

„Hey“, schaute er zu mir. „Was ist? Schauen wir noch ne Runde Scrubs?“

Ich war echt überrascht. Zwar war er auch schon als wir uns kennenlernten sehr kommunikativ, aber in den letzten Tagen wurde da schon richtig was Freundschaftliches draus. „Klar“, war ich einverstanden. 

„Warte ich hol mein Kissen“, verschwand er kurz in seinem Zimmer. Allerdings brachte er nicht nur sein Kissen, sondern auch seine Bettdecke mit und machte es sich damit auf meinem Bett bequem. Dabei trug er nur seine Boxershorts und ein weißes T-Shirt, dass er immer zum Schlafen trug.

„Dein Fernseher ist echt cool“, urteilte Gerrit, der selbst keinen in seinem Zimmer hatte, sondern nur eine TV-Karte in seinem PC.

Ich legte die DVD ein, zog mir meinen Pyjama an und legte mich dann zu ihm ins Bett. So schauten wir eine Scrubs Folge nach der anderen. Dad und Helena kamen auch hoch und wünschten uns eine gute Nacht. Man sah ihnen richtig an, wie sie sich über das Bild freuten. Es war auch eine ganz besondere Nacht. Die Atmosphäre war irgendwie unbeschreiblich. Es fühlte sich richtig an. Er war mir überhaupt nicht mehr fremd, als ob wir schon Ewigkeiten gute Freunde wären. Dazu mein neues Zimmer und die Lichter. Von der Gemütlichkeit ist das eine Steigerung von 90% im Vergleich zu meinem alten. Irgendwann bemerkte ich, dass er eingeschlafen war. Ich schaute die Folge noch zu Ende und machte dann den Fernseher aus. Jetzt war es komplett dunkel im Zimmer und auch ich versuchte zu schlafen, was mir aber viel schwerer fiel. Gegen 5 Uhr bemerkte ich, dass Gerrit aufgewacht war und sich mit seinen Sachen leise aus meinem Zimmer schlich, um mich nicht zu wecken. Ich tat so, als ob ich noch schlafen würde. Als ich mein Bett, welches zum Glück ziemlich groß ist, wieder für mich allein hatte, konnte ich auch endlich richtig tief schlafen.

Guten Rutsch!

Am Silvestermorgen klopfte es um kurz vor 10 an meine Tür. 

„Ja“, rief ich.

Soja kam ins Zimmer. „Hast du noch geschlafen?“

„Ich rieb mir meine Augen. „Gibt’s schon Frühstück?“

Sie nickte, kam zu meinem Bett und zog mich an der Hand aus dem Bett. Im Schlafanzug nahm sie mich mit nach unten, wo der Rest schon am Tisch saß. 

„Guten Morgen“, wurde ich von allen angestarrt. „Auch schon ausgeschlafen, du Langschläfer?“, witzelte mein Vater.

„Geht so“, murmelte ich verschlafen und nahm mir ein Brötchen aus dem Korb und setzte mich neben Gerrit an den Tisch.

„Weißt du was?“, strahlte mich Soja an. „Montag bekomme ich eine Katze.“

„Wir bekommen eine Katze“, verbesserte Helena ihre aufgeregte Tochter.

Ich war überrascht, aber da ich Tiere mochte, fand ich die Neuigkeit ganz gut.

„Kommst du mit ins Tierheim?“, wollte sie wissen.

„Klar“, antwortete ich.

„Und du Gerrit?“, wollte Soja von ihrem älteren Bruder wissen.

„Ich weiß noch nicht wie lange ich Montag Schule habe“, zuckte er mit seinen Schultern. „Wir haben ja bestimmt gleich wieder 9 Stunden."

„Das weiß ich ja auch noch nicht“, hatte ich den ersten Schultag fast verdrängt.

Helena lenkte ein. „Wir fahren am Nachmittag, wenn alle zu Hause sind und Zeit haben.“

„Cool“, war Gerrit einverstanden und Soja strahlte über ihr süßes Gesicht.

„Ihr habt die Nacht wohl durchgemacht?“, wechselte mein Vater das Thema und schaute Gerrit und mich an. Wir schauten uns kurz an und nickten beide.

„Ich war irgendwann eingepennt“, erinnerte sich Gerrit. „Und als ich aufwachte warst du auch am pennen.“

„Ich hatte nur noch die Folge zu Ende geschaut und hab dann auch geschlafen. Hab nicht mal gehört, als du gegangen bist.“ Okay, es war gelogen, aber bot sich halt im Gespräch an.

„Ich war ja auch ganz leise“, grinste Gerrit. „War aber echt cool.“

Ich stimmte Gerrit zu. Helena strahlte meinen Dad an.

„Also wegen heute Abend? Wann gibt’s denn Essen, weil ich ja später los muss“, wollte Gerrit von seiner Mutter wissen, die fragend zu meinem Vater schaute.

„Also wenn wir zwischen 18 und 19 Uhr mit dem Fondue loslegen?“

„Besser 18 Uhr“, schlug Gerrit vor. „Um 20 Uhr soll ich schon bei Flo sein.“

Irgendwie war ich traurig, dass wir nicht alle zusammen feierten. 

„Ach so, kann Marina vielleicht mit uns Essen?“

Oh nein, dachte ich. Auch das noch. Diese Zicke hatte mir gerade noch gefehlt. Ausgerechnet mein Dad war sofort einverstanden. Bestimmt weil er für Gerrit ein cooler "Stiefvater" sein wollte...

 

Der Tag an sich war ziemlich langweilig. Ich telefonierte eine halbe Stunde lang mit Janina, die mir immer noch einreden wollte, dass ich auf Gerrit stand. Aber ich glaube ich konnte sie jetzt davon überzeugen, dass das nicht der Fall war. Ich fand ihn toll, als brüderlichen Freund. Mehr nicht. Dank der letzten Nacht war ich mir da komplett sicher. Und warum soll ich ihn nicht für ziemlich gutaussehend halten und seinen nackten Anblick genossen haben? Er ist ein Junge, ein ziemlich hübscher Junge. Und ich steh leider auch auf Jungs. Aber das muss doch nicht heißen, dass ich von jedem Jungen den ich mag, etwas will. Und wer weiß? Vielleicht würde ich mich niemals in einen Jungen verlieben und in der Schule ein süßes Mädchen kennenlernen. Als ich in Gedanken war, kam eine SMS von Lukas. „Guten Rutsch!“, wünschte er schon. Er war echt bemüht unsere „Freundschaft“ wiederherzustellen. „Dir auch und feier schön“, antwortete ich freundlich.

 

Wenig später kam Gerrit in mein Zimmer. „Hast du Bock noch kurz ’ne Runde Wii zu zocken?“

Im Wohnzimmer spielten wir alle zusammen wieder eine Runde Wii Sports. Während wir spielten, ging Gerrits Handy. Er verließ kurz den Raum und ließ uns alleine weiterspielen. Als er zurückkam, setzte er sich etwas enttäuscht in unseren Leder-Fernsehsessel. „Marina kommt nicht zum Essen“, verkündete er. „Wir treffen uns erst später alle bei Flo.“

 

Ich liebte Fondue und war heilfroh, dass wir diese Silvestertradition fortsetzen. Ich habe früher oft Ärger bekommen, wenn mir ein Stück Fleisch von der Gabel fiel. Mein Vater verstand da echt keinen Spaß, keine Ahnung warum. Heute ging alles gut. 

Nach dem Essen machten wir ein wenig Tischfeuerwerk und Soja wollte mit Gerrit und mir schon nach draußen Knallen gehen. Aber Gerrit musste sich fertig machen. So ging ich allein mit Soja in den Garten. Ich war froh, dass wir uns so gut verstanden. Während wir knallten, kam Gerrit aus dem Haus. Er war dick angezogen, es war ja auch arschkalt. „Dann knallt noch ordentlich!“ Er nahm Soja in den Arm und wünschte ihr einen guten Rutsch. „Viel Spaß euch“, richtete er auch noch ein paar Worte an mich und machte sich auf dem Weg zu der Party von Flo. 

 

Vor Mitternacht saßen wir zusammen im Wohnzimmer und schauten alle gebannt auf den Fernseher, wie in der ARD der Countdown herunter zählte. „Prost Neujahr“, stand erst Helena und dann alle anderen vom Sofa auf, als der Countdown abgelaufen waren und sofort die Raketen in die Luft schossen. Wie stießen mit einem Glas Sekt an, dabei mochte ich gar keinen Sekt. Nur Soja hatte natürlich Saft. Alle umarmten sich. War schon noch ein komisches Gefühl. Soja war die erste die dann nach draußen in den Garten stürmte. Dad und ich hatten richtig viele Knaller und Raketen besorgt. „Frohes Neues!“, riefen die Nachbarn zu uns über den Zaun und wir stellten uns zu ihnen. Auch sie hatten zwei jüngere Kinder. Rund 40 Minuten standen wir draußen und verpulverten unser Feuerwerk. Dann gingen wir noch mit zu Dagmar und Götz. Irgendwann wurden die Kinder und Soja ins Bett verfrachtet. Da ich kein Bock hatte allein bei den Erwachsenen rumzusitzen, ging ich auch mit rüber und setzte mich in mein Bett und verschickte noch ein paar Neujahresgrüße per SMS.

 

Kurz nach zwei hörte ich es an der Tür. Ich hatte mit Helena und Dad gerechnet, aber es war Gerrit, der wenig später und nicht gerade leise die Treppe hochstolperte. Ich war neugierig und ging auf den Flur und wartete auf ihn. Als er oben angekommen war, konnte ich sofort erkennen, dass er extrem betrunken war. Aber nicht nur das. Er wirkte auch deprimiert oder zumindest ziemlich angekotzt.

„Was ist los?“, wollte ich wissen.

„Nichts ist los“, antwortete er. „Ein frohes neues Jahr ist los“, fuhr er fort und legte dabei kumpelhaft seinen Arm um meine Schulter. 

„Wie viel hast du denn getrunken?“

„Noch nicht genug“, meinte er. Gerrit torkelte zurück zur Treppe, wo er seinen Rucksack abgestellt hatte. Aus diesem holte er ne Flasche Korn und ging damit in sein Zimmer. Ich folgte ihm.

„Sind unsere Eltern gar nicht da?“, wollte er wissen, wobei er das „Eltern“ demonstrativ ironisch betonte.

„Sie sind bei den Nachbarn“, antwortete ich. „Aber warum bist du so krass drauf?“

Gerrit hatte uns in der Zwischenzeit zwei Gläser mit Korn vorbereitet. „Sie hat Schluss gemacht“, erwähnte er beiläufig. „Hast du Cola oben?“

„Was?“

„Schon gut.“ Gerrit holte aus seinen Rucksack auch noch einen Rest Cola hervor, die für eine Mischung reichte. „Ist doch alles da.“

Er reichte mir ein Glas und wollte mit mir anstoßen. „Auf uns, Bruder!“

Ich trank mit ihm. Aber ich war total überrascht von der Neuigkeit und wollte unbedingt mehr wissen. „Marina hat Schluss gemacht? Warum?“

Er nickte nur. „Jap.“

„Aber warum so plötzlich?“

„Sie fickt schon seit ’ner Woche mit Dennis.“ Gerrit erhob gleichgültig grinsend sein Glas. „Heute meinten sie, es wäre mal an der Zeit mir davon zu erzählen…“

„Wie ätzend ist die denn drauf? Macht sie Silvester mit dir Schluss. So eine blöde...“

„Schlampe“, beendete Gerrit meine Gedanken.

Wir saßen inzwischen nebeneinander auf dem Fußboden in seinem Zimmer und mit dem Rücken an sein Bett gelehnt. 

„Das tut mir total leid für dich.“

Gerrit sagte nichts. 

„Und dieser Dennis? Ich dachte er sei ein Freund von dir.“

„Und Mitspieler“, war Gerrit echt angepisst und leerte mit einem Schluck sein Glas.

 

Aus dem Keller holten wir uns noch eine Flasche Korn, die wir zusammen lernten. Wir müssen beide ziemlich voll gewesen sein, als plötzlich Helena und Dad in der Tür standen. „Darüber werden wir uns morgen noch unterhalten“, meinte mein Dad. „Gute Nacht“, sagte Helena noch. Dann waren beide auch schon wieder verschwunden. Ich weiß gar nicht, ob Gerrit das noch mitbekam. Er hatte viel mehr intus als ich. Sein Kopf jedenfalls wanderte an meine Schulter und er war mehr oder weniger am pennen. Dieses Mal war ich es dann, der irgendwann in der Nacht in mein Zimmer wechselte, nachdem ich Gerrit noch erst davon überzeugen musste, sich auf sein Bett zu legen, wo er direkt weiterschlief.

 

Ich hoffte nur, dass sich meine Kopfschmerzen am nächsten Tag in Grenzen halten würden…

Ab ins neue Jahr - Januar 2010

„Dass 16-jährige Jungs hin und wieder auch mal Alkohol trinken ist mir völlig klar. Aber das ihr euch an unseren Vorräten aus dem Keller einfach so bedient, wird in diesem Haus nicht mehr vorkommen.“ 

Mein Vater war schon ziemlich sauer auf Gerrit und mich. Am Frühstückstisch mussten wir uns seine Standpauke anhören. Dabei waren die Kopfschmerzen doch schon Strafe genug. 

„Ich weiß gar nicht was du von mir willst? Du bist nicht mein Vater und kannst mir gar nichts verbieten!“ Wütend stand Gerrit vom Tisch auf und verschwand wieder nach oben auf sein Zimmer. Ich glaube wir waren alle ziemlich verdutzt von seiner Reaktion. 

„Er beruhigt sich schon wieder“, meinte Helena.

„Ich hab doch recht“, verstand mein Vater da keinen Spaß. „Oder?“

Er schaute mich prüfend an. Ich nickte. „Ja, tut mir leid. Wir hätten das echt nicht tun sollen, aber er war so fertig wegen Marina.“

„Was ist denn mit Marina?“ Helena wurde neugierig und ich ärgerte mich, dass mir das jetzt rausgerutscht war.

„Nichts“, versuchte ich einer Antwort zu entkommen. Aber der Blick von Dad genügte und ich erzählte ihnen davon, dass Marina gestern Nacht mit ihm Schluss gemacht hatte, aber nicht davon, dass sie ihn auch noch mit Dennis betrogen hatte.

„Aber ich hab nichts gesagt“, hoffte ich auf Helenas Schweigen.

„Der Arme“, fühlte sie mit ihrem Sohn. „Ausgerechnet auf der Silvesterfeier.“

„Das gibt ihm trotzdem nicht das Recht an unsere Vorräte zu gehen und mich so anzumotzen.“

„Ach Jonas“, wollte Helena keine große Sache daraus machen.

„Ich geh mal zu ihm hoch“, stand ich vom Tisch auf und klopfte wenig später an Gerrits Tür.

„Hey“, meinte ich.

„Hey“, schaute er zu mir hoch. Er saß wieder auf dem Fußboden vor seinem Bett.

Ich setze mich auf seinen Schreibtischstuhl gegenüber. „Also mein Dad meint das nicht so. Aber im Grunde hat er ja recht.“

„Ja“, nickte Gerrit. „Trotzdem hat er mir mal so gar nichts zu sagen. Oder würdest du dir was von meiner Mutter befehlen lassen?“

„Ich weiß nicht“, antwortete ich ehrlich. „Und jetzt?“

„Was und jetzt?“ Seine Stimme war leicht gereizt.

„Wie geht es weiter mit Dennis und Marina?“

„Mir egal“, erwiderte er trocken. 

 

Ich ließ Gerrit wieder allein. Trotzdem tat er mir echt leid. Diese dumme Kuh von Marina. Wie kann sie nur so dumm sein und einen so netten Typen wie Gerrit einfach so zu betrügen? 

 

Flüchtig bekam ich mit, dass Helena eine Weile in Gerrits Zimmer war und sie die Tür hinter sich geschlossen hatte. Ob sie über Marina sprachen? Ob Helena dicht hielt? Hoffentlich fühlte sich Gerrit nun nicht von mir hintergangen…

 

„Hallo Marvin! Hast du am Wochenende schon was vor? Würde mich freuen, wenn wir was zusammen machen könnten? LG Lukas“

Ich starrte auf mein Handy. Natürlich hatte ich Zeit. Ich kannte ja noch niemanden. Aber Lust hatte ich keine auf Lukas. Eigentlich hatte ich Angst davor, was mich erwarten würde. Vermutlich würde es total verkrampft werden. „Sorry, leider keine Zeit. Es ist das letzte Wochenende vor der Schule und wir haben noch viel zu tun.“

Und fertig war ich mit diesem Thema. Zumindest vorerst.

 

Der Neujahrestag verflog wie im Flug. Erst am Abend kamen wir wieder alle zusammen. Dad nahm Gerrit kurz bei Seite. Sie unterhielten sich leise und es wirkte versöhnlich.

Wie schon zu Weihnachten wurden wir mehr oder weniger dazu genötigt wieder alle zusammen das „Traumschiff“ zu gucken. Gerrit war dieses Mal viel ruhiger und ich meinte die Traurigkeit in seinen Augen erkannt zu haben. Auf jeden Fall hatte Helena mich wohl nicht verraten und Gerrit war nicht sauer auf mich, dass ich nicht dicht gehalten hatte. 

 

Am Samstag war ich mit Dad im Baumarkt und wir haben den ganzen Vormittag zusammen den Flur endlich fertig renoviert. Am Nachmittag bekam dann Gerrit von Niklas Besuch, mit dem er zusammen in einer Mannschaft spielte. Soja erzählte mir, dass sie unterwegs seien. Da ich mit Dad am Arbeiten war, hatte ich Niklas Besuch erst gar nicht mitbekommen und ihn nicht kennenlernen können. Aber gegen 18 Uhr kamen beide zurück. Ich war am Surfen im Internet, als sie an meine Tür klopften.

„Hey“, begann Gerrit uns gegenseitig vorzustellen. „Das ist Marvin, du weißt schon, der Sohn von dem neuem Typen meiner Mutter.“ Gerrit korrigierte sich schnell. „Also Freund, meinte ich.“ Seine schlechte Laune war offenbar verflogen. Zumindest für den Augenblick.

„Hi“, ging Niklas freundlich auf mich zu.

„Hey“, erwiderte ich.

„Darf ich vorstellen“, fuhr Gerrit fort. „Das ist Niklas, ein Freund und Mitspieler von mir.“

„Starkes Zimmer“, schaute sich Niklas interessiert um.

„Danke“, freute mich sein Urteil, weil ich mir größte Mühe gegeben hatte es richtig cool einzurichten. „Das Lauflicht ist geil.“

„Wir wollten gleich noch etwas Sport machen. Also Squash, Badminton oder so. Wenn du Bock hast…“

Beide schauten erwartungsfroh zu mir.

„Alter, keine Ausrede“, lachte Niklas. „Ich brauche eine neue Herausforderung. Gerrit ist kein Gegner mehr für mich.“

„Naja“, begann ich. „Bock hätte ich schon. Aber ich hab keinen Schläger.“

„Den kannst du dir ja dort leihen“, hatte Niklas schon recht.

„Okay“, war ich einverstanden. „Aber beschwer dich nicht, wenn ich mit dir fertig bin und dich abgefertigt habe“, grinste ich.

Niklas lachte. „Just bring it!“

 

Mit der S-Bahn fuhren wir in die - ja Sportarena - musste man schon fast sagen. Wir hatten uns für Badminton entschieden. Es machte echt Spaß. Niklas war super nett. Ich mochte ihn mehr als Flo, der zwar auch nett war, aber nicht ganz so auf meiner Wellenlänge lag wie Niklas.

Erst spielten wir uns locker zu dritt ein. „Ihr beide gegen mich?“, schlug Niklas vor. 

„Da hast du doch keine Chance“, meinte Gerrit. „Lass uns lieber Einzel spielen.“

„Wie du meinst“, war Niklas einverstanden. „Dann spielt ihr Brüder jetzt gegeneinander und ich knöpf mir dann den Sieger vor.“

„Wir sind keine Brüder“, antworteten Gerrit und ich fast gleichzeitig und mussten dabei lachen.

„Wie auch immer“, grinste Niklas. „Ich spiele gegen den Sieger.“

Wir spielten jeweils einen Satz. Zu meiner Überraschung konnte ich echt gut mithalten. Trotzdem gewann Gerrit mit 4 Punkten Vorsprung.

Danach lieferten sich Gerrit und Niklas eine wahre Schlacht, die Niklas knapp für sich entschied. Es machte Spaß ihnen zuzuschauen.

Niklas wollte dann auch noch einen Satz gegen mich spielen. Obwohl die Ballwechsel schon lange dauerten, machte er viel mehr Punkte und gewann locker gegen mich. 

„Wir haben noch ein wenig Zeit“, schaute Gerrit auf die Uhr. Also spielten wir noch einen Satz Niklas gegen Gerrit und mich, den wir dann auch gewannen. Wenigstens ein Erfolgserlebnis. Während es dem Ende zuging schweiften meine Gedanken irgendwie ab und ich achtete verstärkt auf die Hinterteile von Gerrit und Niklas und dachte daran, dass wir in Kürze alle zusammen unter der Dusche stehen würden. Ich wollte diesen Gedanken ausblenden, aber es wollte nicht so recht klappen.

„Wir können ja auch noch in den Whirlpool“, schlug Niklas vor, als wir fertig mit Spielen waren. „Ach nee“, hatte Gerrit zum Glück nicht so die rechte Meinung dazu. Außerdem war der Entspannungsbereich ziemlich teuer. So gingen wir direkt zurück in die Umkleidekabine. Wie ich es mir schon dachte, holten Niklas und Gerrit ihre Handtücher aus ihren Sporttaschen hervor. Jetzt musste ich tatsächlich mit den beiden Duschen gehen. Nachdem wir unsere Hallenschuhe ausgezogen hatten, dauerte es nicht lang und die beiden waren nackt und gingen zu den Duschen, gefolgt von mir. Gerrit bog vorher noch zu den Toiletten ab. Ich stand also neben Niklas. Ich versuchte schon jetzt mich abzulenken, um den Gedanken zu verdrängen, dass da gleich zwei süße Jungs - nackt - neben mir stehen würden. Ich ging im Kopf die Lyrics eines Songs durch, nur um nicht daran zu denken. Unter der Dusche waren noch zwei andere, die aber auch gleich gingen als Gerrit vom Klo zu uns kam und den Duschplatz ganz außen neben Niklas nahm. Niklas reichte ihm auch sein Duschgel, nachdem er mir es auch schon angeboten hatte. Daran hatte ich gar nicht gedacht was einzupacken. Ich musste mich echt so konzentrieren, dass ich jetzt ja keinen Ständer bekam. Ich beeilte mich und war dann auch der erste, der zurück in die Kabine ging, um mich schnell hinter meinem Handtuch zu verstecken und abzutrocknen. Währenddessen hatte ich tatsächlich eine ganz leichte Erregung bekommen, die ich aber gut unter dem Handtuch verbergen konnte. War wirklich nur ganz leicht. Als Gerrit und Niklas kamen, hatte ich schon meine Boxershorts wieder an und zog mir auch schnell mein T-Shirt über, bevor sie was merken konnten. Komisch, im Schwimmbad unter der Dusche war mir so was nie passiert, wenn ich mit meinen alten Freunden mal unterwegs war. Für Gerrit und Niklas war das vom Fußball wohl Routine. Sie hatten kein Problem damit nackt in der Umkleidekabine zu stehen und sich in aller Ruhe abzutrocknen. Ich saß auf der Bank und zog mir seine Socken an. Gerrits Hintern war fast auf meiner Augenhöhe. Er zog sogar erst sein T-Shirt an, bevor er seine Boxershorts wieder anzog. Es war gleichzeitig grausam und schön. Ich wollte nicht schauen, nicht auffallen, riskierte aber immer wieder heimliche Blicke auf die Beiden. 

An der S-Bahn-Station trennten sich unsere Wege schließlich. Gerrit und ich gingen noch zu McDonalds, bevor wir uns auf dem Weg nach Hause machten. Es war ein richtig toller Abend.

 

Erst abends im Bett hatte ich den Anblick der beiden wieder vor Augen. Ich hasste diese Gedanken. Warum konnte ich das nicht einfach abstellen? Ich war wirklich nicht verknallt oder so in Gerrit, aber ich fand es so geil, ihn nackt zu sehen…

Schulbeginn

Wir standen vor einem roten Backsteingebäude, welches viel mehr nach einem Schloss als nach einer Schule aussah, wäre da nicht der riesige Sportplatz davor, der gleichzeitig als Pausenhof diente. An den jeweiligen Enden des Hofes standen Fußballtore, ein Basketballkorb war vorhanden und viele Sitzbänke. Und drum herum standen ganz schön viele Bäume, die im Sommer den Hof bestimmt schön grün aussehen lassen würden. Die großen, runden Fenster und mehrere Balkone ließen das Gymnasium in einem völlig anderen Licht erscheinen. Für eine Schule echt ganz nett. 

Gerrit und ich waren früh dran, weil ich mich noch im Direktorat vorstellen musste. Ich bekam eine Hausordnung, meinen Stundenplan und alles Mögliche erklärt. Außerdem musste ich meine Wahlpflichtkurse wählen. Ich hatte mich für Medieninformatik und Latein entschieden. Auf Italienisch hatte ich noch weniger Lust. Wie wir uns schon dachten, kam ich nicht in die gleiche Klasse wie Gerrit, sondern in eine der drei Parallelklassen. Die Medienausrichtung der Schule sagte mir total zu. Es gab richtig viele Angebote, AGs, Projekte und Sportmannschaften. Die Stundenpläne waren aber ziemlich hart, wie ich fand. Es gab viele Doppelstunden. Montags hatte ich 9 Stunden, dienstags 7, mittwochs 8, donnerstags 7 und freitags entweder 5 oder 7, weil wir alle 14 Tage eine Doppelstunde Sport hatten. Sehr komisch finde ich, dass wir hier den Schulhof alle paar Wochen säubern müssen bis zur 11. Klasse. Darauf habe ich ja schon mal absolut keinen Bock. Genauso wie auf die 9 Stunden heute. Wir mussten also bis 16.10 Uhr bleiben. In den Oberstufen ging der Unterricht sogar teilweise bis 17.45 Uhr. Und da gab es noch Leute, die behaupteten, dass man es als Schüler gut hat? Mein Dad hat schließlich jeden Tag um 16.30 Uhr Feierabend und freitags schon um 12 - und er muss danach keine Hausaufgaben mehr machen.

 

Meine Klassenlehrerin Frau Ruschke erklärte mir den Weg zu Raum 82, wo wir gleich eine Doppelstunde Geschichte hatten. 

In dem Klassenraum waren schon zwei Mädels, als ich dazukam.

„Hey“, sagte ich und blieb in der Tür stehen.

Die Mädels schauten auf mich. Beide schauten sich kurz an und begrüßten mich dann synchron.

„Ich bin Marvin“, stellte ich mich vor. „Ich gehe ab heute in eure Klasse.“

„Cool“, meinte eines der Mädels. „Ich bin Johanna.“ Das andere Mädchen hieß Annika. Beide waren sehr nett und stellten mir ein paar Fragen. Als nach und nach andere Schüler dazukamen, stellten sie mich direkt vor. 

„Du kannst dich auf den Platz da setzen“, deuteten sie auf einen Tisch an der Fensterseite. „Der ist noch frei. Timo ist auch ganz cool.“

Wenig später kam genau dieser durch die Tür. Er schaute etwas stutzig und setzte sich dann zu mir. „Und ich dachte schon, ich müsste dieses Halbjahr alleine sitzen. Wer bist du denn?“, fragte er gleich.

„Marvin, der Neue“, meinte ich. 

„Ich bin Timo. Und schon Bock auf 9 Stunden?“

Ich schmunzelte. „Total.“

„Du hast Glück. Vor den Ferien saß Hauke noch auf deinem Platz, aber der ist nun weg.“

„Wieso ist er weg?“

„Ist von der Schule geflogen.“

„Oh“, meinte ich überrascht. Da kam auch schon Frau Schenk in den Klassenraum. Ich fragte mich, was man alles anstellen musste, um von einer Schule zu fliegen...

Sie begrüßte uns und erzählte kurz von ihren Feiertagen, während sie mich musterte und dann auch auf mich zu sprechen kam. 

„Wie ihr schon mitbekommen habt, haben wir einen neuen Schüler in der Klasse.“ Alle drehten sich zu mir um.

„Stell dich doch einmal kurz vor.“ Hätte nur noch gefehlt, dass ich dafür auch noch nach vorne gemusst hätte. Ich hasste es.

„Ja, also ich bin Marvin, bin 16 Jahre alt und komme aus der Nähe von Hamburg. Tja und nun bin ich hier.“

Frau Schenk hörte aufmerksam, aber mit einem seltsamen Lachen im Gesicht zu. „Du wirst sehen, du hast in der Regel ganz liebe Klassenkameraden, die dich bei der Eingewöhnung unterstützen werden.“

Während der Stunde stellte ich fest, dass sie ein völlig anderes Thema behandelten, als wir zum Schluss auf meiner alten Schule. Aber echt erleichtert war ich darüber, dass Lukas nicht in meine Klasse ging. Wir hatten gestern noch kurz bei Romeo geschrieben, wo ich ihm noch einmal versicherte, dass alles gut zwischen uns ist und wir uns gerne mal wieder Treffen könnten. Naja, dabei stellte sich leider heraus, dass er auch auf das Ring-Gymnasium ging. 

 

Um 9.30 Uhr war endlich Pause. Davor gab Frau Schenk mir noch den Hinweis, dass ich mich nicht unbedingt an Timo halten sollte. Er gab dann zu, öfters mal geschwänzt gehabt zu haben im letzten Halbjahr. Auch die Pausenzeiten waren ganz anders, als ich sie kannte. Wir hatten jetzt 25 Minuten und später noch mal eine halbe Stunde. Außerdem hatten wir heute in der 7. Stunde noch Sport. Wie gut, dass ich zur Sicherheit eine Sporthose eingepackt hatte.

In der Pause ging ich mit Timo auf den Hof. Schnell kamen noch Daniel, Jacob und Nils dazu. Sie waren eigentlich alle ganz nett und waren natürlich neugierig.

„Ja, krass“, meinte Jacob, als ich von unseren Familienverhältnissen erzählte. „Und jetzt wohnt ihr mit der Neuen von deinem Dad zusammen?“

„Ja“, nickte ich. „Zum Glück haben wir ein neues Haus, sonst hätte ich mich die ganze Zeit wie ein Besucher gefühlt.“

„Das ist ja wie bei Gerrit“, lachte Daniel.

Ich musste auch Lachen. „Gerrit ist mein Stiefbruder sozusagen.“

„Er hatte schon vor den Ferien davon erzählt, ist ja krass“, meinte Daniel.

„Woher kennt ihr euch?“, wollte ich wissen.

„Wir spielen zusammen beim TSB.“

Ich nickte. „Dann kennst du bestimmt auch Niklas.“

„Na klar“, nickte Daniel eifrig.

 

Auf dem Weg zurück in die Klassen sah ich Gerrit auf einen der Flure bei Marina stehen. Was hatten die beiden denn noch miteinander zu tun, wunderte ich mich? Beide bemerkten mich nicht. Hoffentlich lässt er sich nicht wieder von ihr um den Finger wickeln…

Frau Ruschke brauchte eine halbe Ewigkeit, bis sie mit ihrem Französischunterricht anfing. Aber das war mir durchaus recht. Auch sie forderte noch einmal von ihrer Klasse, dass mir alle beim Einleben helfen sollten. Alle die, die bis jetzt noch nicht davon wussten, dass ich der „Stiefbruder“ von Gerrit war, wussten es jetzt, denn Frau Ruschke meinte es allen erzählen zu müssen. Auf jeden Fall schien Gerrit ziemlich beliebt an der Schule zu sein, was mir sicher helfen würde.

Um 11.25 Uhr war wieder Pause, dieses Mal 30 Minuten lang. Als wir das Klassenzimmer verließen, standen Gerrit und Niklas auf dem Flur. Ganz offensichtlich hatten sie auf mich gewartet.

„Ah, der Neue!“, schrie Niklas, als er mich entdeckte.

„Hey, na wie geht’s?“, freute ich mich ihn zu sehen. Auch Daniel stand sofort bei uns und klatschte mit Gerrit und Niklas ab. „Sehen wir uns Dienstag beim Training?“, wollte er wissen. 

„Logo“, nickte Gerrit. „Und wie ist es bis jetzt so?“, wandte er sich an mich.

„Ach, also die Klasse scheint mir ganz nett zu sein.“

Daniel unterbrach mich direkt. „Das täuscht.“

Timo grinste nur.

„Auf jeden Fall bist du bei Daniel und Co. gut aufgehoben."

„Und wie lange hast du heute?“, wollte ich von Gerrit wissen.

„Auch 8 Stunden. Religion haben wir später alle zusammen.“

„Echt?“

Alle nickten. „Es gibt bei uns evangelischen und katholischen Religionsunterricht voneinander getrennt, dafür Klassenübergreifend“, erklärte Jacob.

„Ist wie beim Sport“, erzählte Daniel. „Der ist nach Geschlechtern getrennt. Wir haben zusammen mit den Jungs aus der D.“

„Also nicht mit euch?“

„Nee“, schüttelte Gerrit seinen Kopf. „Zum Glück nicht.“

„In der D laufen echt nur Spacken rum“, meinte Niklas lachend.

„Naja nicht nur“, relativierte Gerrit die Aussage seines Freundes. „Aber im Vergleich zu den anderen Klassen sind da schon viele komische Leute drin.“

Während die anderen Jungs auf dem Schulhof blieben, wollte ich mir noch eine Kleinigkeit vom Schulkiosk holen. Als ich in der Schlange stand, bemerkte ich ein paar Mädchen aus meiner Klasse, die tuschelten. Als ich bezahlt hatte und an ihnen vorbei musste, sprachen sie mich direkt an. „Hi Marvin!“

„Hey“, blieb ich bei ihnen stehen.

„Und wie gefällt es dir bei uns?“

„Ganz gut bis jetzt. Ich hatte echt Schiss vor dem ersten Tag, aber…“

„Aber wir sind ganz okay?“

„Ja“, nickte ich. 

„Spielst du auch Fußball?“, fragte eines der vier Mädels. Ich konnte mir ihre Namen leider noch nicht alle merken.

„Nee“, verneinte ich ihre Frage. „Bin nicht so der große Ballkünstler.“ Ich erblickte Timo, Daniel und Jacob, die auf mich warteten.

„Also, ich muss mal wieder…“, verabschiedete ich mich. Im Weggehen ärgerte ich mich über mich und was für einen Müll ich da redete. Wie hörte sich das denn bitte an? Als ob ich noch Termine hätte. Außerdem tuschelten die Mädels wieder. 

„Respekt, Alter“, klopfte mir Timo auf meine Schulter.

„Was denn?“

„Die stehen voll auf dich“, waren sich die Jungs einig

„Ach Quatsch“, lachte ich. „Blödsinn.“

„Also Melanie ist schon ganz heiß. Die solltest du dir warm halten“, riet mir Daniel.

„Dafür sind die anderen ziemlich nervig“, meinte Jacob. „Nett, aber nervig.“

„Melanie beobachtet dich“, grinste Timo. „Das hat sie in der Stunde auch schon die ganze Zeit.“

„Ich würd’ sie nehmen“, grinste Jacob.

 

Im Physiklabor saß ich mit den Jungs in einer Reihe. Ich war ziemlich froh, dass sie mich gleich so gut aufgenommen hatten. Wir saßen ganz hinten. Wie bei jedem neuen Lehrer musste ich mich auch dieses Mal wieder kurz vorstellen. Den Rest der Doppelstunde konnte ich mir ein besseres Bild von den anderen in der Klasse machen. Von den Jungs her waren da schon auch komische Leute dabei. Ich glaube, ich bin da direkt an die mir ähnlichsten Jungs geraten. Wie bei auch bei den Mädels gab es drei Gruppen: Die Angesagten, die Schüchternen und die Außenseiter. Naja, vielleicht täuschte der erste Eindruck auch.

 

Nach einer 10 minütigen Pause ging es zur ersten Sportstunde. Ich fand es immer ziemlich ätzend mitten im Unterricht Sport zu haben. Das war schon in meiner alten Schule so. Vor der Sporthalle warteten wir also auf Herrn Friedrich. Nach und nach kamen auch die Jungs aus der D dazu. Ich war gerade im Gespräch mit Daniel, als plötzlich aus dem Nichts Lukas vor mir stand… 

„Hi“, lächelte Lukas mich an.

Ich war echt geschockt. Zwar wusste ich, dass Lukas auch auf die Schule ging, aber irgendwie hatte ich das erfolgreich verdrängt und nun war er ausgerechnet in der Parallelklasse, mit der wir zusammen Sport hatten. Meine Gedanken rasten. Ob die anderen wussten, dass er auf Jungs stand? Es war mir so peinlich, dass er mich begrüßte.

„Hallo“, sagte ich leise und drehte mich dann wieder von ihm weg.

„Ihr kennt euch?“, wunderte sich Daniel prompt.

„Ja“, antwortete ich und überlegte nach einer schlüssigen Erklärung. „Er hat mir heute Morgen dabei geholfen die richtige Klasse zu finden.“

Lukas schaute mich ganz komisch an. Was hatte er erwartet? Hätte ich sagen sollen, dass wir uns schon einige Zeit aus einer schwulen Community her kannten? 

Herr Friedrich erlöste uns und ließ uns in die Sporthalle. Wir mussten uns alle in einer Umkleidekabine umziehen. In der Halle merkte ich, dass Lukas ein enges T-Shirt mit weitem V-Ausschnitt und extrem kurzen Ärmeln trug. Es sah definitiv schwul aus. Wir mussten uns ein paar Minuten lang einlaufen und dann haben wir Hockey gespielt. Das fand ich ziemlich cool, weil das wohl relativ selten vorkam. Die 45 Minuten gingen schnell vorbei. Hockey hätte ich gerne noch länger gespielt. Nach dem Sport wollte mich Herr Friedrich noch sprechen, während sich die anderen schon umziehen gehen durften. Er erklärte mir die Abläufe, wie das Auf- und Abbauen der Geräte geregelt war, wie sich der Sportunterricht gestaltete und das wir alle 14 Tage in der großen Halle unsere Doppelstunde hatten – und wies ausdrücklich darauf hin, dass unter der Dusche kein Quatsch gemacht wird und kein Wasser verschwendet werden sollte. Allerdings stellte ich fest, dass sich gar keiner geduscht hatte, als ich mich dann auch endlich umziehen durfte. Anscheinend wird hier nur nach den Doppelstunden geduscht. In meiner alten Schule wurde überhaupt nie geduscht. 

Vor der Halle hatten Jacob und Timo auf mich gewartet. Daniel war bereits weg. Er hatte wohl noch einen Termin. In einem ziemlich großen Raum, der auch gut gefüllt war, hatten wir dann Reli-Unterricht. Lukas saß neben einen Jungen, der durchschnittlich ausschaute. Eigentlich sogar ganz süß. Auf jeden Fall konnte man dem nicht ansehen, ob er auch schwul war oder eben nicht. Gerrit dagegen war wirklich total beliebt. Das merkte man sofort. Er war ja auch ein cooler Typ irgendwie. Die Doppelstunde war so unerträglich lang. Nach dem Sport hatte man auch so gar kein Bock mehr auf Unterricht. Ich ließ ein paar Mal meinen Blick durch den Raum schweifen, der eher an einen Hörsaal einer Universität erinnerte, wie ich fand. Es war mir auch ein Rätsel, warum man alle Klassen zusammen unterrichtete? Um 16.10 Uhr war dann endlich Schluss!

 

Vor dem Raum verabschiedete sich Jacob sofort. Timo und Bente standen noch bei mir. Bente war ziemlich nett. Von den Mädels mochte ich sie bislang am liebsten. 

Gerrit stieß zu uns. Vorher hatte er sich per Handshake von einem Mitschüler verabschiedet. „Hey“, klopfte er mir auf die Schulter. Irgendwie kam er mir teilweise wie ein ganz neuer Mensch vor. Er wirkte so, keine Ahnung… Auf jeden Fall fühlte ich mich eher wie ein kleiner Bruder, auf den er aufpasste, als wie ein gleichaltriger Mitschüler. „Wollen wir dann los?“

„Ja, ich hab schon richtig Hunger“, war ich einverstanden. Wir verabschiedeten uns von Bente und Timo. 

An den Fahrradständern fiel mir ein, dass wir ja noch ins Tierheim wollten.

„Die waren bestimmt schon los“, vermutete Gerrit. „Oder wir gehen morgen.“

Als wir so nebeneinander durch die Straßen fuhren, überraschte ich mich selbst mit meiner direkten Frage. „Ich hab dich mit Marina gesehen. Seid ihr wieder zusammen?“ 

„Quatsch“, meinte Gerrit. „Wir haben uns nur kurz unterhalten.“

„Hätte mich auch gewundert, immerhin hat sie dich betrogen.“ Während ich den Satz zu Ende sprach, bereute ich es schon und hätte mich auch noch fast mit meinem Rad gepackt. Scheiß Schnee! Gerrit ging auch gar nicht darauf ein und fuhr weiter.

 

„Ihr hattet Montag gesagt.“ Soja war sauer. Sie hatte sich so auf unseren Familienzuwachs gefreut, aber die Katze musste noch warten. Helena und mein Vater hatten sich dazu entschieden, erst am Freitag ins Tierheim zu fahren. Während Helena und Soja schon Mittag gegessen hatten, gab es für Gerrit, meinen Vater und mich erst am Abend unser eigentliches Mittagessen. Das würde wohl jetzt häufiger so sein. Beim Essen erzählte Dad, dass er ein paar richtig faule und unfähige Kollegen hatte. Er war richtig am lästern, was Gerrit und ich ziemlich witzig fanden.

 

Nach dem Essen saß ich an meinem Rechner. Ich hatte es mir schon gedacht. Lukas hatte mir eine Nachricht geschickt. 

„Sieht so aus, als ob wir jetzt zusammen Sport hätten? Hab mich gefreut, dich wiederzusehen, aber du hättest ruhig mit mir sprechen können. Wie war dein erster Schultag? Was machst du morgen nach der Schule?“

Da er auch gerade online war, antwortete ich direkt. „Hallo, ja sieht so aus. Schule war ganz okay. Meine Klasse gefällt mir ganz gut soweit. Aber der Stoff ist ein völlig anderer und die Tage ganz schön lang.“

Seine Frage, ob ich Zeit hätte, ließ ich absichtlich unbeantwortet. Ich hätte mir denken können, dass Lukas sich damit nicht zufrieden gab. Immerhin fragte er mich nicht mehr ständig nach MSN, was ich auch gar nicht hatte.

„Wir können morgen nach der Schule doch kurz was Essen fahren“, schlug Lukas vor.

Ich weiß nicht warum, aber ich gab nach und willigte ein. „Hmm, okay. Von mir aus. Aber nur kurz, habe zu Hause noch viel zu tun.“

„Alles klar“, freute sich Lukas, was ich zumindest anhand seiner vielen Smileys so deutete. „Um 14.35 Uhr vor dem Hof?“

 

Der zweite Schultag begann wie der erste. Ich musste mich wieder vorstellen. Ethik stand auf dem Stundenplan. Wer hatte sich das nur ausgedacht?

Heute bekam ich mit, dass Timo und Jacob zusammen Handball spielten und sie wollten, dass ich auch mal zum Training vorbeischauen komme. Ich wusste nur noch nicht so recht, ob Handball was für mich war? Ich hatte es bis jetzt nur in der Schule mal gespielt.

Nach der ersten großen Pause hatten wir Deutsch bei Frau Ruschke. Es war das erste Fach, wo ich sofort zu recht kam.

In der 30 Minuten-Pause froren wir uns alle den Arsch ab. Es war so verdammt kalt. Mit Bente, Janina und Annika standen ein paar Mädels bei uns. Melanie und ihre Freundinnen gingen nur vorbei und ich bildete mir auch schon ein, dass sie mir „schöne Augen“ im Vorbeigehen machte. Janina wollte wissen, ob ich noch eine Freundin in Hamburg habe. Als ich das verneinte, wollten sie mir nicht glauben. 

„Ehrlich nicht“, lachte ich.

„Kann ich mir gar nicht vorstellen, Marvin.“

„Och ja“, lachte Timo. „Der süße, arme kleine Marvin hatte keine Freundin.“

„So wie wir“, lachte Jacob. Gleichzeitig hakte sich Annika bei ihm ein. „Das kommt davon, weil ihr wegen dem Sport nie Zeit für uns habt.“

„Also für dich würde ich mir schon mal Zeit nehmen“, musterte Jacob das Mädchen.

Insgesamt waren alle sehr vertraut miteinander und Jacob und Timo wurden auch ständig befummelt von den Mädels. 

„Wart ihr denn mal zusammen?“, wollte ich wissen.

„Mehr oder weniger“, nickte Jacob. „Ist aber einfach zu stressig mit ihr.“

„Was?“, beschwerte sich Annika.

„Ach, ständig dieses Rumgenörgel.“

„Wann habe ich denn mal genörgelt?“

„Ständig“, erwiderte Jacob, aber mit einem frechen Grinsen. Ich glaube er meinte es nicht ganz so ernst.

„Du nörgelst doch immer“, drehte Annika den Spieß um.

„Bei den komischen Serien die du schaust…“

„Marvin würde bestimmt nicht nörgeln“, brachte Annika mich wieder ins Spiel.

„Der traut sich nur noch nicht“, lachte Timo.

„C’est parti, mon Kiki!“, kam Daniel dazu. Damit machte er uns auf die nächste Stunde aufmerksam. Prompt klingelte es zur Französischstunde. Das war heute die dritte Stunde mit Frau Ruschke am Stück.

In der Englisch- und Geografiestunde musste ich mich wieder vorstellen. Interessant fand ich, dass unsere Englischlehrerin gleichzeitig die Sportlehrerin der Mädels war.

Insgesamt wurde ich heute aber nicht mehr so wie ein Alien angestarrt.

 

Nach der Schule wartete ich auf Lukas. Ich hatte schon das Gefühl, er würde nicht mehr kommen. Hunderte Schüler hatten inzwischen das Gelände verlassen. 

„Ach, hi.“ Ein Junge sah mich so an, als ob er überlegte, ob er mich kannte. Überrascht und zitternd vor Kälte drehte ich mich zu ihm – und war total überrascht. Es war der Junge aus der U-Bahn. Er verließ mit ein paar anderen Jungs zu Fuß den Schulhof. „Hey“, lächelte ich etwas. Er ging aber weiter und war schon wieder in das Gespräch mit seinen Freunden vertieft. Ich schaute ihn kurz hinterher, als Lukas doch noch auftauchte.

„Sorry, ich hatte noch ein Gespräch mit Frau Städler.“

„Schon okay“, meinte ich. „Wollen wir los?“ Ich wollte nicht unbedingt mit ihm zusammen an der Schule gesehen werden. Wir hielten bei einem Burger King. 

„Ich hatte schon Angst, du würdest nichts mehr mit mir zu tun haben wollen. Normal bin ich nicht so direkt, aber ich finde dich einfach nett.“

Ich lauschte seinen Worten. Gleichzeitig war ich froh, dass die Tische um uns herum nicht besetzt waren.

„Ich bin ja auch nett“, grinste ich frech.

Er erwiderte mein Lachen. „Und die kurzen Hosen gestern beim Sport haben dir gut gestanden.“

„Ähm… ja“, nickte ich. 

„Jetzt fange ich schon wieder damit an. Aber du bist echt perfekt und ich freu mich halt einfach, dass wir befreundet sind.“

Ich schwieg und trank aus meiner Cola.

„Und du hast dich mit Timo angefreundet?“

„Ja, wir sitzen nebeneinander. Der Platz war frei. Aber Daniel und Jacob sind auch super.“

„Die reden doch nur über Sport?“

„Nee“, konnte ich das nicht bestätigen. „Die sind schon cool.“

„Du hattest auch nie erwähnt, dass du mit bei Gerrits Familie wohnst.“

„Wir wohnen nicht bei ihnen, sondern zusammen in einem neuen Haus.“

„Aber zusammen. Ist doch das gleiche“, meinte Lukas. „Ist er denn nett?“

„Gerrit? Er ist auch cool.“

„Gut aussehen tut er ja“, gab Lukas zu. „Aber er hat ja seine Freundin.“

„Hatte“, korrigierte ich.

„Wie auch immer“, futterte Lukas seine Pommes Frites auf. „Er steht auf Tussen. Aber es muss geil sein mit ihm unter einem Dach zu leben. Auch wenn ich immer dachte, er wäre ziemlich arrogant. Aber optisch fand ich ihn halt heiß.“

Ich ließ seine Worte so stehen.

„Aber du bist süßer…“

„Danke“, lächelte ich, dachte aber gleichzeitig, dass er ruhig mal über was anderes sprechen könnte.

Tatsächlich wechselten wir noch das Thema und Lukas wurde mir auch gleich wieder sympathischer. Am Ende willigte ich sogar ein, mit ihm heute Abend zusammen ins Kino zu gehen. Gerrit hatte eh Fußballtraining, da war zu Hause nicht viel los…

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