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Der letzte Krieger der Engel

Teil 1 - Prolog

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Informationen

 

Raphael saß an dem kleinen Tisch in der Bibliothek des Klosters. Die Bücher, die hier in den Regalen standen, sahen fast alle alt und verstaubt aus, so als hätte seit vielen Jahren niemand darin gelesen. Einige waren sogar schon so vergilbt, dass sie bei der kleinsten Berührung womöglich zu Staub zerfallen würden. Viele der Bücher hatten keinen Titel, bei anderen war der Titel verblasst und einige waren in fremden Sprachen geschrieben.

Außerdem herrschte in dem Raum ein heilloses Durcheinander. Denn nicht nur die Bücher waren verstaubt, sondern auch die Regale selbst und sogar der Fußboden. Fußspuren, die hinterlassen worden waren, wirkten wie seltsame Zeichen auf dem sonst einheitlich grauen Fußboden. In den Ecken waren ebenfalls einige Bücher aufgestapelt, da in den Regalen kein Platz mehr war, und Raphael las in einem dieser Bücher. Besser gesagt, er versuchte es.

Er konnte sich an diesem Abend nicht konzentrieren, doch das war in letzter Zeit häufiger der Fall gewesen. Vieles hatte sich verändert seit... Ja, seit wann eigentlich? Raphael dachte nach.

Schon als Kind war er in diesem Kloster gewesen. Hier hatte er fast alles gelernt, was er heute über Engel wusste. Engel. Als er noch kleiner war, waren häufig Engel zu Besuch gekommen. Manchmal hatte er selbst mit jungen Engeln gespielt und nie hatte er geglaubt, dass es irgendwann anders sein würde. Doch dann kamen Gerüchte auf. Es wurde gemunkelt, die Engel seien böse, sie würden die Seelen der Menschen stehlen, um so 1000 Jahre alt zu werden. Raphael hatte dem von Anfang an keinen Glauben geschenkt... und nun war er der Einzige, der es noch wagte, in einem Kloster zu leben. Früher hatte es viele Klöster gegeben und jeder, der den Glauben an die Engel zu seinem Lebensinhalt machen wollte, war in ein Kloster gegangen. Nun gab es fast nur noch dieses eine Kloster und seine Bewohner waren verhasst, genauso wie die Engel. Wurde heute ein Engel gefangen, gab es für ihn kein Entkommen mehr. Der Unglückliche musste auf dem Scheiterhaufen einen qualvollen Tod sterben. Ebenso erging es den wenigen, die einem Engel halfen, ihn versteckten oder einfach nur ansprachen.

Raphael schlug das Buch zu, ging langsam zu einem der Regale und stellte das Buch in die oberste Ablage. Es war eines der wenigen, bei denen man den Titel noch lesen konnte: »Die größten Heldentaten der Engel« Es war ein interessantes und gleichzeitig geheimnisvolles Buch. Raphael hatte nie gefragt, woher es stammte, doch im Laufe der Zeit mussten immer wieder neue Seiten dazu gekommen sein, denn die vordersten waren teilweise schon zerbröckelt, während die hintersten noch nicht einmal gelbe Ränder hatten.

Als Raphael die Bibliothek verließ, schloss er leise die Tür und lauschte. Bis auf den kleinen Lichtschein, der von der Kerze ausging, die er in der Hand hielt, war es vollkommen dunkel in dem großen Gemäuer und genauso still. Raphael atmete auf. Er hatte schon gedacht die beiden Quälgeister würden nie einschlafen, doch jetzt gaben sie keinen Laut mehr von sich. »Eigentlich sind die beiden überhaupt keine Quälgeister«, verbesserte Raphael seinen Gedanken noch einmal. Sie waren noch klein, erst zwei und fünf Jahre alt und schließlich hatte er sich freiwillig dazu entschlossen, Lukas und Tobias großzuziehen. Auf diese Weise gab es für ihn auch noch Hoffnung, dass die beiden in ein paar Jahren einmal das Kloster weiterführen würden. Doch zurzeit waren die beiden Jungen halt noch Kinder, die den ganzen Tag durch das alte Gemäuer rannten und Raphael mehrmals täglich zur Verzweiflung brachten.

Bei diesem Gedanken huschte ein Lächeln über das sonst so ernste Gesicht von Raphael.

Er ging zu der alten Treppe am anderen Ende der Halle. Es war - leider - die einzige richtige Treppe in dem Kloster. Um auf den Dachboden zu kommen, musste er jedes Mal eine waghalsige Klettertour unternehmen, denn die Leiter, die er hochsteigen musste, war sehr alt und noch viel wackeliger. Und unglücklicherweise war der Dachboden das Lieblingsversteck der beiden Jungen.

Plötzlich hörte er ein lautes Geräusch. Erschrocken drehte sich Raphael um und versuchte in der Dunkelheit etwas zu erkennen. Doch er konnte trotz der Hilfe seiner Kerze nicht mehr als fünf Meter weit blicken, da durch die wenigen Fenster selbst am Tag nur wenig Licht fiel. Nachts war es ohne Kerze unmöglich, etwas zu erkennen.

Das Geräusch wiederholte sich, diesmal war es noch lauter. Raphaels Gesichtszüge entspannten sich dennoch ein wenig. Erst jetzt hatte er bemerkt, woher das Geräusch kam - jemand klopfte an die Tür. Doch dieser Gedanke beruhigte Raphael kaum. Es war schon spät und er wusste nicht, wer zu dieser Zeit noch zu einem Kloster wollte, besonders jetzt wo niemand mehr etwas mit den Bewohnern eines Klosters zu tun haben wollte.

Vorsichtig ging Raphael zur Tür und entriegelte sie. Misstrauisch öffnete er sie einen Spalt breit. Draußen stand eine hoch gewachsene Gestalt, die sich immer wieder hastig umdrehte, so als ob sie Angst hätte, verfolgt zu werden. Die Haare des Mannes waren kurz und schienen klatschnass.

»Was wollt Ihr?«, fragte er durch den Türspalt. Der Mann drehte sich erschrocken zu Raphael um, denn er hatte soeben in die andere Richtung geschaut.

»Ich möchte euch um einen Gefallen bitten. Bitte, vertraut mir, ich will Euch nichts Böses.« Die Stimme des Mannes zitterte während er das sagte, so als ob er selbst Angst hatte, dass ihm etwas geschehen könnte.

Raphael erinnerte sich, dass er diese Stimme vor einiger Zeit schon einmal gehört hatte, doch er konnte sich nicht erinnern, wann er diesen Mann schon einmal gesehen hatte. Er öffnete die Tür nun ganz und betrachtete den Mann genauer. Als er auf seine verschränkten Arme blickte, erkannte er darin ein Bündel. Im ersten Moment war Raphael sich nicht sicher, was er davon halten sollte. Er schaute dem Mann genauer ins Gesicht und erschrak.

Er kannte diesen Mann tatsächlich.

»Ihr seid Elias, Lukas' Vater!«, stellte Raphael erstaunt fest. Lukas war einer der beiden Jungen, die Raphael bei sich aufgenommen hatte. Der Mann, der vor ihm stand, hatte ihn vor fast drei Jahren unter ähnlichen Umständen zu ihm gebracht. Elias drehte sich wieder verstohlen um und antwortete erst jetzt auf die Frage.

»Ja, aber...«, Elias sprach den Satz nicht weiter. Raphael wollte fragen, was er mit »aber« meinte, beließ es dann jedoch dabei. Zu viele Fragen würden bei diesem Mann vielleicht Unannehmlichkeiten bedeuten, auch wenn Raphael sich das im Moment nicht so richtig vorstellen konnte.

»Wollt Ihr nicht hereinkommen?« Raphael wusste, dass diese Frage keinen Zweck haben würde, denn schon beim letzten Mal hatte er den seltsamen Mann nicht dazu bewegen können, das Kloster zu betreten und genau wie jetzt hatte er vor irgendetwas Angst gehabt. »Es ist kalt draußen.«, versuchte Raphael es ein weiteres Mal. Wieder dauerte es eine Zeit lang, ehe Elias reagierte. Und was Raphael nicht für möglich gehalten hatte, geschah - Elias betrat zögernd das Kloster.

Raphael schloss die Tür hinter ihm und zündete dann mit seiner Kerze eine Öllampe an, die an der Wand hing. Jetzt konnte er auch das Bündel genauer betrachten, das Elias in der Hand hielt. Darin befand sich...

»Ein Kind?!«, stellte Raphael ein wenig erschrocken fest.

»Der Sohn eines guten Freundes.«, sagte Elias leise. Seine Gesichtszüge verfinsterten sich.

»Was ist geschehen?«, fragte Raphael.

Elias sah Raphael eine Weile in die Augen um sicher zu gehen, dass er ihm trauen konnte. Raphael war verwundert, denn er bemerkte, was der Blick des Mannes bedeutete.

»Er wurde bei einem Überfall getötet. Seine Mutter will ihn nicht.«

»Aber...« Raphael brachte den angefangenen Satz nicht zu Ende, denn in diesem Moment sah er neben Trauer, auch eine Art Hilflosigkeit in Elias' Augen. »Ihr wollt, dass ich ihn aufziehe, nicht wahr?« Elias nickte stumm.

Raphael sah sich Elias noch einmal genauer an. Seine Kleidung stammte nicht aus dieser Gegend und war auch ein wenig zu groß für ihn. Auf eine seltsame Art sah er darin komisch aus. Zwar passten die dunkle Hose und das graue Hemd zu ihm, doch Raphael wurde das Gefühl nicht los, dass Elias normalerweise nicht solche Kleider trug.

»Wollt ihr die Nacht hier verbringen? Es ist schließlich schon spät und-«

»Nein!«, unterbrach Elias ihn in einem leicht herrischen Ton. »Verzeiht mir.«, sagte er, nachdem er sich wieder gefangen hatte. »Ich bin nur etwas nervös.« Etwas? Raphael spann den Gedanken nicht weiter.

»Wollt ihr wenigstens Euren Sohn sehen?«

»Nein.«, sagte Elias. »Es ist besser, wenn ich ihn nicht sehe, oder besser gesagt, wenn er mich nicht sieht. Außerdem muss ich weiter.«

Raphaels Blick wurde immer misstrauischer, aber er nickte.

»Gut, wenn das Euer Wunsch ist.« Er nahm vorsichtig das Bündel aus Elias' Armen und besah sich das Kind einmal genauer. Es mochte etwa ein halbes Jahr alt sein und sein dunkles Haar verdeckte die geschlossenen Augen fast. Das Kind schlief ruhig und hatte keine Ahnung, dass es in diesem Moment in den Armen eines wildfremden Mannes lag.

»Wie heißt er?«

»Sein Name ist Ben.« Elias kramte zwei Briefe, einen weißen und einen gelben aus seiner Tasche und reichte sie Raphael. »Der weiße Brief ist für Euch, den gelben bitte ich Euch nicht zu lesen. Gebt ihn Lukas sobald er lesen kann. Es ist sehr wichtig. Und das ist als Entschädigung.« Elias holte nun einen kleinen Geldbeutel aus der Tasche. »Ich hoffe es ist genug.«

»Das ist nicht nötig.«, sagte Raphael, nachdem Elias ihm den kleinen Beutel gegeben hatte. »Wir brauchen das Geld nicht.« Raphael wollte Elias das Geld zurückgeben, doch Elias schlug ihm diesen Wunsch ab.

»Ich bestehe darauf. Bitte, nehmt das Geld.« Mit diesen Worten drehte er sich um, öffnete die Tür und trat hinaus. »Danke.«

Raphael wusste nicht recht wofür Elias sich bedankte, doch der Mann war ihm schon die ganze Zeit über sonderbar vorgekommen, also machte er sich darüber nicht noch weiter Gedanken. Er beobachtete Elias noch eine Weile, bis er im Dunkel verschwand. Da er noch einige Minuten in der Tür stehen blieb, sah er kurz darauf einen dunklen Schatten am Himmel, der so groß war, dass er bestimmt keinem Vogel gehörte.

***

Raphael ging mit seinem neuen Schützling die Treppe hinauf. Während er sich noch fragte, wo er den Kleinen unterbringen sollte, hörte er wie oben die Tür zu einem der Zimmer geöffnet wurde. Kurz darauf sah er einen kleinen blonden Kopf am Absatz der Treppe.

»Lukas, warum schläfst du denn noch nicht?«

»Will nicht.«, antwortete Lukas, der für seine zwei Jahre schon ziemlich frech war, wie Raphael fand. Dann zeigte er auf das Bündel in Raphaels Armen und legte den Kopf auf die Seite.

»Ein kleiner Junge. Willst du ihn sehen?« Lukas nickte heftig. »Aber danach musst du schlafen.« Wieder nickte der Kleine. Raphael wusste genau, wie er Lukas dazu bringen konnte, ohne zu murren ins Bett zu gehen. Man musste ihm nur eine kleine Freude bereiten.

Er ging mit Lukas in sein Zimmer. Lukas kletterte in sein Bett und schaute das Bündel erwartungsvoll an. Raphael setzte sich neben Lukas und legte das Kind in seinen Schoß.

»Klein.«, sagte Lukas schließlich, nachdem er sich das Baby verwundert angeschaut hatte.

»Er ist ja auch noch ein Baby.« Raphael fielen plötzlich die beiden Briefe ein, die Elias ihm gegeben hatte. Er stand auf und legte das Kind neben Lukas.

»Ich bin gleich wieder da. Und pass' auf, er ist kein Spielzeug.«, sagte er mit ermahnender Stimme zu Lukas. Dann ging er schnell die Treppe hinunter und nahm die Briefe von der Ablage neben der Tür. Er sah sich die beiden Briefe noch eine Weile genauer an, denn das merkwürdige Verhalten von Elias hatte ihn nachdenklich gemacht. Schließlich hielt er es doch für besser Lukas' Brief nicht zu öffnen und zurück zu dem kleinen Jungen zu gehen. Immerhin war es sein Brief.

Als er wieder in Lukas' Zimmer kam und die beiden Kinder erblickte, musste er lächeln. Der Kleine hatte versucht, das Baby auf den Arm zu nehmen, doch da es natürlich viel zu schwer für Lukas gewesen war, lagen nun beide auf dem Rücken. Das Baby war zwar aufgewacht, doch machte es keine Anstalten zu weinen. Es war eher so, als würde es über Lukas lachen.

Raphael öffnete den weißen Brief und las die paar Zeilen die darin standen. Es war nicht viel. Wie damals bei Lukas standen Name und Geburtsdatum darin. Der Geburtsort fehlte wieder. Raphael wunderte sich darüber nicht besonders. Heutzutage fragte schließlich niemand mehr, wo man geboren war. Es gab nur noch den Unterschied Engel oder nicht.

Lukas hatte sich zielstrebig den gelben Brief geschnappt und versuchte ihn zu öffnen.

»Das kannst du doch bestimmt nicht lesen.«

»Vorlesen.«, sagte der Kleine und streckte Raphael den Brief hin, doch der schüttelte nur den Kopf.

»Du musst noch ein wenig warten. Wenn du lesen kannst, musst du ihn dir selbst durchlesen.«

Lukas verzog das Gesicht, sprang dann aber auf und rannte zu einem kleinen Schrank am Fenster. Er zog an der untersten Schublade, doch sie ging nicht auf. Traurig drehte er sich zu Raphael um.

»Helfen.«, sagte er. Raphael stand auf und öffnete die Schublade für den Kleinen. Lukas legte den Brief dort hinein, dann rannte er wieder zurück, um mit dem Baby zu spielen.

»Er heißt Ben.«

»Ben.«, sagte Lukas nach einiger Zeit und lachte. Ben öffnete die Augen, schaute in Lukas' lachendes Gesicht und verzog den Mund ebenfalls zu einem Lächeln. Raphael beobachtete die beiden. Es kam ihm seltsam vor, dass Ben keine Angst zu haben schien, denn schließlich war keiner in der Nähe, den er kannte.

»Hier schlafen.«

Raphael sah Lukas verdutzt an.

»Ben, hier schlafen.«, sagte Lukas noch einmal.

»Wenn du das möchtest.«

»Ja.« Die Augen des Kleinen glänzten. Er schien jetzt schon einen Freund in Ben gefunden zu haben.

Raphael verließ das Zimmer und ließ die beiden Jungen im Zimmer zurück. Lukas schaute eine Weile zur Tür und klatschte in die Hände als er sah, dass Raphael mit dem kleinen Gitterbett zurückkam, in dem auch er bis vor wenigen Wochen geschlafen hatte.

»Du musst jetzt aber schlafen, schließlich hast du es mir versprochen.« Raphael nahm Ben und trug ihn zu dem Gitterbett, das er an der gegenüberliegenden Wand aufgestellt hatte. Lukas schaute ihm dabei neugierig zu. Als Raphael sich umdrehte und Lukas mit einem mahnenden Blick anschaute, kroch Lukas mit einem Kichern unter die Bettdecke.

»Ich schlafe.«, sagte er leise.

»Na dann ist ja gut.«, antwortete Raphael. Er löschte die Kerze die auf dem Schrank stand, in den Lukas den Brief gelegt hatte, vergewisserte sich noch einmal, dass Ben schlief und verließ dann das Zimmer. Bevor er die Tür schloss, drehte er sich noch einmal zu Lukas um.

»Keine ‘Gute Nacht'?«, fragte der Kleine traurig. Also musste Raphael noch einmal ins Zimmer zurück und hockte sich an Lukas' Bett.

»Das hätte ich ja beinahe vergessen.«, sagte er mit einem schuldbewussten Blick. »Gute Nacht, Lukas.«

»Gute Nacht.«, kam prompt die Antwort des Kleinen. Raphael stand wieder auf, verließ das Zimmer und schloss die Tür hinter sich.

Lukas setzte sich noch einmal auf. Das Zimmer war durch den vollen Mond hell erleuchtet, so dass er alles erkennen konnte. Langsam kroch der Kleine aus seinem Bett und ging zu Ben. Er schaute das Baby lange durch die Stäbe an und lächelte dann. »Engel.«, sagte er leise und ging wieder in sein Bett.

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