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Nicolas

Osterchallenge 2018

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Inhaltsverzeichnis

Heiligabend 2015

Die Luft brannte, als ich durch den „Spion“ in der Tür erkannte, wer so spät noch Einlass begehrte. Unwillkürlich zuckte ich zurück.

Was wollte DER denn hier?

Und vor allem: Wo kam der plötzlich her?

Er musste jedenfalls die Bewegung diesseits der Tür bemerkt haben und entgegen meinen Erwartungen, klopfte er nun vorsichtig und ließ ein leises „Herr Klein? Sind Sie zu Hause?“ vernehmen, „bitte lassen Sie mich herein.“

Das klang nun völlig anders, als ich es jemals erwartet hätte.

Wieder stellte sich mir die Frage. ‚Was will der Kerl von mir – von uns?‘

Als ich eben vom Bett aufgesprungen war, hatte ich mir meinen Morgenrock übergestreift und zugebunden, konnte ich ihm in diesem Aufzug öffnen? Sollte ich ihm überhaupt öffnen?

Noch einmal trat ich an den Spion und schaute in zwei schöne, blaue Augen. Es waren die gleichen Augen die ich schon kannte – unglaublich!

„Herr Klein? – bitte!“ drang es abermals von der anderen Seite herüber.

Hin und her gerissen verharrte ich wieder und versuchte meine Gedanken zu sortieren.

„Weris‘n da?“, nuschelte es aus dem Schlafzimmer.

Fast gleichzeitig hatte ich mich entschlossen, die Wohnungstür zu öffnen und drehte vorsichtig den Schlüssel, jederzeit bereit zu parieren, falls sich der unerwartete Besucher nun doch mit Gewalt Zutritt verschaffen wollte.

Doch nichts dergleichen geschah.

Ich öffnete die Tür.

„Guten Abend Herr Morlaix“, begrüßte ich Nicolas Vater.

Der blieb im Treppenhaus stehen und erwiderte den Gruß:

„Guten Abend Herr Klein und – frohe Weihnachten!“

Völlig verdattert stand ich ratlos in der Tür und wähnte mich in irgendeinem seltsamen, sicher jedoch falschen Film.

Der Anflug eines Lächelns huschte über sein Gesicht und seine blauen Augen strahlten sogar ein wenig.

„Ist mein Sohn auch da?“, wollte er wissen.

„Äh, ja – ich weiß aber nicht…“ unterbrach ich mich selbst.

„Kommen Sie erst mal herein!“

Herr Morlaix tat, wie ihm geheißen. Er zog sich sogar die Schuhe aus und stand dann etwas verloren im Flur.

Ich ging ins Schlafzimmer, um Nicolas zu informieren. Herr Morlaix war mir etwas aufdringlich gefolgt. Noch ehe sich Nicolas etwas träge herumgedreht hatte, sprach ihn schon sein Vater an:

„Hallo mein Sohn.“

„Wasch wills’n du hier?“, wollte er noch immer angeschickert wissen.

„Lass misch zufrieden, hau ab!“ Auch er konnte mit dem unerwarteten, freundlichen Auftreten seines Vaters nichts anfangen und nahm angesichts der Vorgeschichte eine ablehnende Haltung ein, zeigt jedoch keinerlei Furcht.

Herr Morlaix trat auf Nicolas‘ Seite des Bettes.

Ich spürte, wie sich mein Körper anspannte.

Doch Herr Morlaix ging langsam in die Hocke und sah seinen Sohn fast gütig an.

„Nicolas, komm doch wieder nach Hause!“, und ergänzte kaum hörbar, „es ist so einsam…“

Der angesprochene hob seinen Kopf.

„Jetzaufeinmal! Ha, dass isch nisch‘ lach.“

Wütend blitzte er seinen Vater an, dem plötzlich die Tränen in den Augen standen. Nicolas rollte sich auf die andere Seite des Bettes und schlüpfte unter der Decke hervor.

„Isch muss ma‘“, ließ er verlauten und wankte ins Bad. Herr Morlaix senkte etwas verschämt seinen Blick, als er der Heckansicht seines Juniors gewahr wurde.

Wie bestellt und nicht abgeholt warteten Herr Morlaix und ich auf die Rückkehr Nicolas‘, doch der dachte offensichtlich nicht daran, das Bad mittel- oder gar kurzfristig wieder verlassen zu wollen.

Seufzend erhob sich Herr Morlaix und sagte mit gebrochener Stimme:

„Wissen Sie Herr Klein, vor 15 Jahren….“, er schluckte, „…ist meine Frau gestorben.“

Ich nickte

„Ich weiß, Herr Morlaix, Nicolas hat es mir heute Abend erzählt. Es tut mir leid.“

Wieder einmal schauten mich diese schönen Augen an.

„Ihre Augen…“, entwich es mir unbeabsichtigt.

„Ja, die hat er von mir!“, erklärte er mit einem wehmütigen Schmunzeln.

Noch leiser ergänzte er:

„Alles andere hat er zum Glück von seiner Mutter. Die Locken, seine zarte Statur und vor allem seinen Charakter. Ich wünschte ich wäre ihm ein besserer Vater gewesen. Herr Klein, ich danke Ihnen für alles, was Sie für ihn getan haben. Vielleicht können wir irgendwie zu einem guten Umgang miteinander kommen. Bitte geben Sie meinem Sohn einen Kuss von mir. Ich geh‘ jetzt wohl besser.“

„Es würde mich freuen, wenn Sie vielleicht morgen …“, er sah auf seine Uhr, „also heute oder so zum Kaffee vorbei kommen möchten. Gute Nacht!“

Rasch war er in seine Schuhe geschlüpft und im Treppenhaus verschwunden.

Lange stand ich noch an der geöffneten Tür und starrte hinaus, bis das Licht erlosch. Plötzlich schmiegte sich jemand von hinten an meinen Rücken. Ich drehte mich um und nahm diesen jemand in meine Arme.

„Mensch Nicolas, du bist ja ganz durchgefroren! Komm wieder ins Bett!“

Doch er ließ mich nicht los. Also schnappte ich den langen Kerl mit seinem Fliegengewicht und trug ihn ins Schlafzimmer. Im Bett küsste ich ihn kräftig auf die Stirn, weshalb er mich fragend ansah.

„Den sollte ich dir im Auftrag deines alten Herrn geben. Außerdem lässt er fragen, ob wir ihn heute oder morgen besuchen möchten.“

Nicolas schaute mich sehr lange an. Es war leicht zu erkennen, wie er mit sich rang.

„Müssen wir das jetzt entscheiden?“, fragte er dann mit plötzlich wieder klarer Aussprache.

„Nein, natürlich nicht.“

„Dann lass uns jetzt schlafen!“

„Okay, träum was Schönes!“

„Du auch! Gute Nacht!“

 

Die Sonne weckte mich am anderen Morgen. Ich blinzelte ins Licht und konnte mich kaum bewegen, was daran lag, dass ein blonder Lockenkopf auf meiner Brust ruhte, sowie je ein Arm und ein Bein halb bis ganz über mich geschlungen war. Ich versuchte so flach und so ruhig wie möglich zu atmen, denn Nicolas schien noch tief und fest zu schlafen. Das war auch kein Wunder, denn er hatte noch etwas mehr Alkohol erwischt als ich.

Kurzzeitig erschienen mir die Ereignisse der Nacht wie ein Traum: Die plötzliche Wandlung von Nicolas‘ Vater war doch echt oder? Wenn wir seiner Einladung folgen würden, könnten wir das vielleicht herausfinden.

Unbewusst streichelte ich Nicolas durch seinen Wuschelkopf, wodurch er natürlich wach wurde. Das spürte ich, obwohl er versuchte sich nicht zu bewegen und anscheinend meine Streicheleinheiten genoss. Auch bemühte er sich durch ruhiges Atmen sich weiter schlafend zu stellen. Ich musste innerlich grinsen und stellte unvermittelt meine Streichtätigkeit ein. Wie zu erwarten, kam es sogleich zum Protest:

„Nicht aufhören! Weitermachen!“

„Aha, wie lange bist du denn schon wach, Schnarchnase?“, provozierte ich ihn.

Er hob den Kopf und grinste mich vorwitzig an. Das wiederum veranlasste mich eine gnadenlose Kitzelattacke zu starten. Nicolas quietschte auf und versuchte sich aus meinen Fängen herauszuwinden. Geschickt, wie er war, saß er plötzlich über mir.

(Anmerkung für’s Protokoll: Das konnte logischerweise nur gelingen, weil ich es zuließ.)

Frech lachte er mich an und seine blauen Augen leuchteten mit seiner roten Gesichtsfarbe um die Wette. Ursache waren nicht nur die Anstrengungen sich gegen meine Kitzelgriffe an alle möglichen und unmöglichen Stellen zu wehren, sondern wohl auch die neu entstehenden Bewegungen in den unteren Körperregionen.

 

Nach einer weiteren Stunde lagen wir schwer atmend jeder auf seinem Rücken und betrachteten das Weiß der Zimmerdecke, welches zu den Rändern und insbesondere zu den Ecken hin ins gräuliche ging.

„Wir sollten das Zimmer mal neu streichen“, bemerkten wir unisono und brachen in schallendes Gelächter aus.

Nachdem wir uns halbwegs beruhigt hatten, schwangen wir uns gemeinsam unter die Dusche. Dadurch waren wir zwar gleichzeitig fertig, aber freilich dauerte es insgesamt mindestens viermal so lange, als wenn jeder einzeln geduscht hätte.

Für’s Frühstück hatte ich extra Original französische Croissants und Baguette besorgt, die ganz einfach im Ofen fertig gebacken wurden und ganz vorzüglich schmeckten.

Etwas unvermittelt erkundigte ich mich bei Nicolas, wie er inzwischen über die Einladung seines Vaters dachte.

„Okay, Sebastian, lass uns hingehen!“, beschloss er und überraschte dabei mich mit sehr konkreten Vorstellungen:

„Ich denke wir sollten alle gemeinsam zum Grab meiner Mutter gehen, um auch ihr frohe Weihnachten zu wünschen, außerdem habe ich ihr dich noch gar nicht vorgestellt!“

Seine Augen, seine ganze Mimik verriet mir, dass ihm das außerordentlich wichtig und sein voller Ernst war. Ich kam zur ehrlichen Überzeugung, dass dies genau die richtige Idee war.

Nachdem wir den Tisch abgeräumt und das Geschirr abgewaschen hatten, angelte sich Nicolas das Telefon ohne den Körperkontakt zu mir zu unterbrechen und wählte die Nummer seines Vaters.

„Guten Morgen Papa! - Ja, haben wir, du auch? - Was, wieso nicht? - Ach Papa, du hast uns nur völlig überrascht! - Wir würden dich gerne besuchen kommen, unter der Bedingung, dass wir uns zuvor am Friedhof treffen. - Papa? - Ich möchte Maman nämlich Sebastian vorstellen! - Das freut mich sehr, dass du das gut findest. - Ist zwei Uhr okay? - Gut, dann bis nachher. - Salut Papa.“

Nicolas strahlte mich an:

„Er findet das eine gute Idee!“

Wir beschlossen zu Fuß zum Friedhof zu gehen und machten uns entsprechend zeitig auf den Weg. Nicolas steuerte direkt das Grab seiner Mutter an. Es lag unter einer Tanne, die der Höhe nach zu schließen etwa 15 Jahre alt war.

Als wir davor standen, sagte er kaum vernehmbar:

„Bonjour maman, c’est mon ami Sebastian. Ich hab ihn bei einer Dampflokfahrt kennengelernt. Seit ein paar Tagen wohne ich sogar bei ihm”, und noch leiser ergänzte er:

„Je l‘aime.“ Dabei griff er nach meiner Hand.

So standen wir eine Weile da und ich merkte, wie Nicolas mit den Tränen kämpfte.

„Hallo ihr beiden“, hörten wir plötzlich die ruhige Stimme von Nicolas‘ Vater neben uns. Er wollte uns wohl keinesfalls erschrecken. Trotzdem ließ Nicolas reflexartig meine Hand los und rückte einen Schritt weg.

„Du musst nicht erschrecken, Nicolas!“

Sanft legte er seinem Sohn eine Hand auf die Schulter. Ich konnte es immer noch nicht glauben, dass dies der Mann war, der seinen Sohn verprügelte und ihm kurz vor Weihnachten gar ein blaues Auge verpasst hatte, nur weil der schwul war.

Irgendwie traute ich dem Frieden nicht.

So standen wir noch eine Weile schweigend am Grab von Nicole Morlaix.

Es war unschwer zu erkennen, dass auch Nicolas Senior mit der Fassung rang. Schließlich nickte er mir wortlos zu. Ich griff vorsichtig nach Nicolas Juniors Hand.

„Wollen wir gehen?“, fragte ich so sanft wie möglich. Auch er nickte nur.

Nach einem tiefen Seufzer folgte er uns auf dem Weg zum Ausgang.

 

Herr Morlaix tischte uns einen sehr leckeren Käsekuchen auf, dessen Rezept kaum aus einem Kochbuch stammen konnte. Wie er uns alsbald verriet, war er sehr stolz darauf, dass er nach etlichen Versuchen endlich das Rezept seiner Frau nachbacken konnte. Auch Nicolas war von den Backkünsten seines Herrn Vaters sehr angetan; immerhin verdrückte er gerade das dritte Stück.

Leider kam das Gespräch nicht wesentlich über Smalltalk hinaus.

Aber gut. Ein Anfang war gemacht. Vielleicht würden wir eines Tages tatsächlich zu einem „guten Umgang“ gelangen können.

Nicolas Morlaix Senior war ernsthaft bemüht.

Nicolas Morlaix Junior hingegen schien mir eher auf der Bremse zu stehen.

Doch bei der Vorgeschichte war das wohl kaum verwunderlich.

Dreizehn Wochen später

Ostermontagmorgen, 7:30 Uhr, „Ausfahrt frei“, sagte ich, mein Heizer Ulli bestätigte „Ausfahrt frei“ und gleichzeitig ertönte der Abfahrtspfiff des Zugführers. Ich ließ einen kurzen Achtungspfiff durch die altehrwürdigen Bahnsteighallen ertönen. Der sonore Ton der Einheitspfeife verschaffte mir Respekt: Die zurückbleibenden Zaungäste traten noch einen Schritt weiter zurück, als sonst bei einem ICE. Ein Blick am Zug zurück bestätigte mir, dass alle Türen geschlossen waren, außer der des Zugführers, der sich hin und her schauend versicherte, dass keiner mehr auf oder abspringen würde. Nach Blickkontakt zu mir, hob er nochmals kurz den Arm und verschwand in seinem Wagen. Ich schob den Regler in Richtung meines Heizers und langsam wummernd und stampfend kam unsere Schnellzugdampflok 03 188 in Fahrt. Der aufgehenden Sonne entgegen führte unser Fahrweg am unteren Schlossgarten entlang Richtung Rosensteintunnel.

Wie in Zeitraffer liefen die letzten vier Monate meines Lebens vor meinem geistigen Auge ab. Ich hätte mein Glück laut in den Morgen brüllen können:


Völlig unverhofft hatte ich die Liebe meines Lebens gefunden, da war ich mir inzwischen ganz sicher! Dabei musste Nicolas zunächst richtig beharrlich um meine Gunst werben, weil ich dieses Glück einfach nicht fassen, nicht glauben konnte. Ein Lächeln schlich sich auf mein Gesicht, als ich daran dachte, wie wir am Faschingsdienstag ziemlich angesäuselt den Abend im Bett verbracht hatten, weil uns der Trubel zu viel geworden war. Ich runzelte die Stirn, als ich an den Schrecken dachte, den uns wieder einmal ein später Besucher um 11 Uhr in der Nacht eingejagt hatte, als dieser an unserer Tür klingelte. Nachdem ich mir rasch meine Schlabber-Trainingshose und ein T-Shirt übergestreift hatte, stolperte ich zur Haustür. Bevor ich öffnete fragte ich noch: „Wer stört?“


„Halt erwarten!“, riss mich Ulli aus meinen Gedanken. ‚Schei…‘, dachte ich noch, ‚konzentrier dich auf dein Geschäft‘, auch wenn ich das Signal längst wahrgenommen hatte. Ich zog den Regler ein. „Halt erwarten“, brummte ich zur Bestätigung. Mit dem Führerbremsventil (das heißt heute immer noch so!) ließ ich 1 Bar aus der Hauptluftleitung und betätigte beim Passieren des Vorsignals die Wachsamkeitstaste. Die Bremsung wirkte und wir blieben unterhalb der Bremskurve, die uns der PZB-Rechner vorgab. Ja, mit der Zugbeeinflussungsanlage „PZB 90“ und dem digitalen Zugfunk „GSM-R“ hat selbst auf so einer alten Dampflok die Elektronik Einzug gehalten!

Zwar war das Ausfahrsignal von Bad Cannstatt schon wieder auf Fahrt gesprungen, aber wir mussten hier weitere Fahrgäste aufnehmen.

Nach kurzem Aufenthalt pfiff Stefan, unser heutiger Zugführer, zur Abfahrt. Der Bahnsteig war diesmal auf Ullis Seite, weshalb er den Blick zurück warf und schließlich sagte: „Abfahren!“ Vor mir erstrahlte der grüne Kranz und ich antwortete „Abfahren!“.

Jetzt ließ ich unsere „alte Dame“ etwas forscher antreten, denn manchmal nimmt das Fahrplanbüro einfach die Regional-Express Zeiten und vergisst einen kleinen Dampfzuschlag, so dass wir auf einer Magistrale wie dieser schon dranbleiben müssen, um die Fahrzeit einigermaßen zu halten. Diesmal hatte unser Fahrplan recht großzügige Fahrzeiten, so dass wir unseren nächsten Halt, Esslingen, sogar zwei Minuten zu früh erreichten.

Wieder war der Bahnsteig auf Ullis Seite.

Langsam wurde ich hibbelig wie ein kleines Kind, denn beim nächsten Stop in Plochingen würde Nicolas zusteigen. Dort hatten wir zudem zehn Minuten Aufenthalt, damit uns der IRE nach Aulendorf überholen konnte.

Deshalb wurden wir nach Gleis 6 geleitet: Bahnsteig auf meiner Seite! Bremsen angelegt und nichts, wie runter von der Lok! Hatte ich IHN doch längst beim Einfahren erspäht. Er stürmte regelrecht auf mich zu und umarmte mich, als ob wir uns schon wochenlang nicht gesehen hätten, dabei hatte ich erst knapp 5 Stunden zuvor unsere Wohnung verlassen. Es machte uns nichts mehr aus, dass um uns herum viele Menschen standen. Die Reaktionen waren freilich sehr unterschiedlich: Vom wohlwollenden Lächeln über erstauntes Kopfschütteln, bis zu fast feindseligen oder angewiderten Blicken war alles geboten. Den allermeisten jedoch war es tatsächlich egal, was sie sahen.

„Guten Morgen, Kleiner!“, begrüßte ich ihn leise.

„Guten Morgen Sebi!“

Wir liefen zum ersten Wagen. Dort wartete schon grinsend und feixend seine „Truppe“.

„Guten Morgen allerseits!“, rief ich in die Runde, was fröhlich erwidert wurde.

„Und? Habt ihr das Tanzverbot am Freitag gut überstanden?“, wollte uns Ronald provozieren.

„Aber sicher doch“, antwortete Nicolas und ließ seine Augenbrauen verräterisch zucken.

Nach einer Denksekunde prusteten alle los.

„Was hast du bloß mit unserem Nico gemacht?“, fragte mich einer der Umstehenden, Charly war das glaube ich.

„Seit vier Monaten ist der wie ausgewechselt!“

„Wie meinst du das?“, wollte ich wissen.

„Na, so locker und schlagfertig hat der sich noch nie an unseren Gesprächen beteiligt! Und wie er von dir schwärmt…“

Letzteres ließ mich wohl leicht erröten und verschlug mir die Sprache. Es war mir fast unangenehm. Auch Nicolas‘ Gesichtsfarbe wechselte Richtung Feuerwehr, was einen weiteren Heiterkeitsausbruch der gesamten Runde zur Folge hatte.

„Er ist einfach ein total lieber Mensch!“, brachte ich schließlich leise hervor und setzte nach:

„Jetzt verzieht euch in euer Abteil und passt mir gut auf ihn auf!“

Damit war ich wohl über das Ziel hinaus geschossen, denn Nicolas wandte sich wortlos ab und verschwand im Wagen. Charly hatte mein hilfloses Gesicht bemerkt und raunte mir noch zu:

„ Keine Sorge, ich weiß was los ist, ich kenn‘ ihn schon seit dem Kindergarten! Lass mich nur machen!“

„Okay“, war alles, was ich in diesem Moment herausbrachte und trollte mich auf meine Lok.


Wieder fiel mir der Faschingsdienstag ein und dass es Paul I, unser Heizerstift war, der da nächtens noch geklingelt hatte! Ich hatte ihn herein gebeten, denn er war schon öfter zu Gast gewesen. Er hatte Licht gesehen und wollte sich nur vergewissern, dass alles in Ordnung gewesen war, nachdem ich – entgegen meinen Gepflogenheiten – am Samstag zuvor nicht zur vereinsinternen Faschingsfeier erschienen war.

Wer war….“, weiter kam Nicolas nicht, der plötzlich im Flur stand.

Ooh!“, war es Paul I bei Nicolas‘ Anblick entfahren.

Oops!“, kam dessen vielsagende Antwort.

Auch ich brachte nur ein bedingt intelligentes „Äääh...“ hervor. Als ich mich dann doch schneller berappelt hatte als die beiden anderen, erklärte ich Paul I die Situation:

Also – ähm – es ist tatsächlich das, nach was es aussieht! Ich bin schwul und das ist mein Freund!“

Nach einer kurzen, peinlichen Pause hatte Paul I nur gemeint:

Kein Problem, kommt mir bekannt vor! Es ist nur so überraschend für mich! Da hab‘ ich dich wohl völlig falsch eingeschätzt, also ich hätte dir das niemals zugetraut, ich meine das sieht man dir überhaupt nicht an!“, dabei kam er sichtlich ins Schwitzen und redete sich schier um Kopf und Kragen. Ich musste schmunzeln und erlöste den armen Kerl aus seiner sprachlichen Sackgasse:

Hey Paul, alles gut! Ich hätte es dir oder besser euch schon längst Mal sagen sollen, aber es hat sich nie ergeben und damit hausieren gehen wollte ich auch nicht. Es ist schön, wenn das deine Einstellung zu mir nicht ändert!“

Ich bin Nicolas!“, hatte sich dann selbiger noch vorgestellt, indem er Paul I aus einiger Entfernung die Hand entgegengestreckt und mit der anderen seine Blöße mit einem der T-Shirts bedeckte, welche da rein zufällig auf dem Boden herumlagen. Etwas zögernd hatte Paul ihm dann seinerseits die Hand gereicht.

Paul“, schob er noch nach.

Ich glaube schon, dass ich meine Einstellung zu dir ändern sollte“, wandte er sich wieder an mich.

Hä? Wieso das denn jetzt doch?“, fragte ich verunsichert.

Ich meine, du warst für mich immer unerreichbar, von daher ändert sich tatsächlich nichts! Aber weißt du…“, er holte tief Luft, „… ich war schon immer heimlich in dich verknallt!“, sprach‘s und rutschte am Türrahmen hinunter auf den Boden.


„Erde an Sebastian! Hallo! Abfahren!“

„ Abfahren“, knurrte ich schuldbewusst und schob den Regler zur Seite. Stampfend machte sich unsere „Null-drei“ auf den Weg Richtung Tübingen. Nächster Halt: Nürtingen, unser Heimatbahnhof. Dort sollte nochmals eine größere Anzahl Fahrgäste zusteigen, bevor wir in Reutlingen und Tübingen die letzten Fans einsammeln wollten.

Unser Ziel war an diesem Tag Hechingen, wo die „Eisenbahnfreunde Zollernbahn“ (EFZ) traditionell an Ostern ein kleines Dampfzugtreffen arrangierten.

Zweifellos war unsere 03 188 der Star dieser Veranstaltung, war sie hier doch zum ersten Mal seit ihrer Wiederinbetriebnahme dabei.

In Tübingen war ein längerer Aufenthalt eingeplant, denn unsere Dampflok hatte Durst. Die dortige Feuerwehr war gut gerüstet, um uns in einer viertel Stunde mit etwa 15 Kubikmeter Wasser zu versorgen.

Zeit für mich, weiter zu träumen:


Paul I saß auf dem Boden. „Ähm, ja!“, bestätigte er nochmals, nunmehr den Tränen nahe. Beherzt half ich ihm wieder auf die Beine, verfrachtete ihn in die Küche und setzte erst mal Wasser auf, um uns allen einen Tee zu kochen.

Nicolas hatte sich inzwischen besagtes T-Shirt übergestreift und eine der zahlreich herumliegenden Hosen angezogen – ich glaube es war auch meine...

Keiner hatte mehr ein Wort gesprochen, bis das Wasser brodelte, ich jedem eine große Tasse mit einem Beutel Kräutermischung hingestellt und mit dem Wasser aufgefüllt hatte.

Zucker?“, fragte ich in die Runde, obwohl ich von Nicolas schon wusste, dass er für so eine Tassen-Größe ebenso drei Löffel brauchte, wie ich. Beide nickten stumm.

Warum muss immer alles so kompliziert sein?“, entfuhr es Paul I lauter, als er vermutlich wollte. Gleichzeitig fuhr er sich wie wild durch die Haare und über‘s Gesicht. Verstohlen bemerkte ich zum ersten Mal, dass er ein sehr hübscher Bursche war. Im Grunde genau mein Typ… Gleich schalt ich mich innerlich für diesen Gedanken. Warum war mir das früher nie aufgefallen? Obwohl ich doch immer auf der Suche war…

Tja, warum?“, fragte jetzt auch ich, behielt aber meine übrigen Gedanken logischerweise für mich. Jeder fummelte inzwischen seinen Teebeutel mehr oder weniger umständlich aus der Tasse und löffelte eine mehr oder minder große Menge Zucker hinein, um diese dann gefühlte Stunden lang umzurühren.

Ich schüttelte mich und ergriff das Wort:

Also Paul, zunächst finde ich es toll, dass wir uns nicht mehr verstecken müssen. Ich wünsche dir ganz ehrlich, dass auch du bald einen Partner findest, der dich verdient. So wie du auf die Menschen zugehst, wird dir das sehr bald gelingen! Da bin ich mir ziemlich sicher!“

Ach ja? Glaubst du das echt?“, fragte er reichlich zynisch.

Ja allerdings!“, erklärte ich bestimmt.

Weißt du Sebastian, das ist nicht so einfach, wenn man nicht dem Mainstream entspricht und noch dazu so schüchtern ist wie ich!“

Hm, wem sagst du das?“, bestätigte ich und wiederholte gedankenverloren: „Wem sagst du das?“

Eine Dampflok entspricht nicht gerade dem Zeitgeist!“, stellte Paul I fest.

Naja“, entgegnete ich, „aber es gibt doch erstaunlich viele junge Leute, die sich davon begeistern lassen“, und deutete dabei auf Nicolas. „Ich bin überzeugt davon, dass dir da bald der richtige über den Weg läuft!“

Na gut, Sebastian, jedenfalls danke für den Tee! Macht’s gut! Sehen wir uns Samstag? Wir wollen die Bremse an der 03 nachstellen, die hat einen ganz schönen Verschleiß!“

Ja klar Paul! Das hab ich auf dem Schirm.“

Damit konnte ich mich endlich von diesen Träumereien lösen.


Die Feuerwehr war immer noch zugange und ich beschloss, nach Nicolas zu sehen, schließlich hatte ich noch eine Überraschung für ihn vorbereitet. Da kam er auch schon auffällig langsam auf mich zu. Als er mich erreichte, schaute er mich nur sehr ernst an, sagte aber nichts.

„Nicolas, was hast du?“, fragte ich verunsichert.

„Ach nichts.“

„Ja klar, ich glaub’s gleich! Mit einem Schlag hat sich deine Laune verschlechtert. Da würde es mich schon interessieren, wieso?“

„Ach Sebi, es ist so schwer. Als du uns vorhin ins Abteil geschickt hast, kam alles wieder hoch. Genauso hat es meine Mama immer formuliert. ‚Verzieht euch und passt mir gut auf ihn auf‘. Aber auf mich muss man schon lange nicht mehr aufpassen, hörst du?“

„Mensch Nicolas, ich wollte nur witzig sein, tut mir leid. Natürlich muss auf dich keiner mehr aufpassen.“

„Außer ich“, ergänzte ich lachend, worauf er mich anfunkelte, dann aber wenigstens lächelte.

„Was hältst du davon, wenn du ein Stück auf der Dampflok mitfährst?“, fragte ich ihn so beiläufig wie möglich. Er erstarrte.

„Wie jetzt?“, fragte er ungläubig

„Mit mir auf der Lok. Heute ist kein Azubi dabei, einen Lotsen brauch ich auch nicht. Also los, steig‘ auf!“, forderte ich ihn auf.

„Aber da braucht man doch eine besondere Erlaubnis“, warf er ein.

„Richtig. Alles hier“, klopfte ich auf meine linke Brusttasche.

Vorsichtig kletterte Nicolas auf den Führerstand und schaute fast ehrfürchtig auf die offene Feuertür.

„Achtung!“, rief Ulli und ließ mit einem ordentlichen Schwung eine volle Schaufelladung des schwarzen Goldes in der Feuerbüchse verschwinden. Das wiederholte er noch vier oder fünf mal, aufmerksam und staunend von Nicolas beobachtet. Ulli schloss krachend die Feuertür und beobachtete das Manometer. Schon bald bewegte sich der Zeiger von der 12 weg nach oben. Noch einmal legte Ulli ein paar Schaufeln Kohle nach. Dann zog er sich die Handschuhe aus und kramte hinter sich in seiner Ledertasche, die er in einem der Kästen auf dem Tender abgestellt hatte. Plötzlich hielt er einen Schokoladenweihnachtsmann in der Hand und überreichte ihn Nicolas mit einem breiten Grinsen im Gesicht.

„Hier, iss, bevor er wegschmilzt. Ich bin übrigens der Ulli.“

Nicolas grinste zurück: „Vielen Dank Ulli. Ich heiße Nicolas.“

„Weiß ich schon“, behauptete Ulli, wobei seine Mundwinkel inzwischen von einem Ohr zum anderen reichten. ‚Moment mal‘, dachte ich, ‚flirtet der etwa mit meinem Schatz?‘ Innerlich musste ich zwar lachen, trotzdem versuchte ich Ulli einen möglichst grimmigen Blick zuzuwerfen. Doch der zwinkerte nur ganz frech zurück.

Also echt…

Jetzt fehlt nur noch, dass er ihn nach seinem Sternzeichen fragt.

„Was bist du denn für ein Sternzeichen“, fragte Ulli.

Ich kniff meine Augen zusammen.

„Schütze“, antwortete Nicolas wahrheitsgemäß.

„Genug geflirtet“, brummte ich Ulli an.

„Schau du Mal nach deinem Feuer“

„Ja, ja. Ist ja gut“, gab er vermeintlich schmollend zurück.

Nicolas schaute etwas entgeistert zwischen uns hin und her. Er vermochte wohl die Stimmungslage nicht genau einzuschätzen. So schien er sichtlich erleichtert, als er uns sogleich wieder lachen hörte.

„10:05 Uhr. Es sollte gleich losgehen. Nicolas, am besten stellst du dich hinter mich.“

Schon sprang das Ausfahrsignal auf „frei langsam“, also grün und gelb. Ein Blick nach hinten bestätigte mir, dass alle Türen geschlossen waren. Stefan signalisierte mit einem langen Pfiff und grüner Lampe „Abfahren“.

Ich hatte die Steuerung auf 70% ausgelegt und schob den Regler bedächtig nach links. Mit kräftigen Auspuffschlägen setzte sich unser Zug in Bewegung. Bald konnte ich die Steuerung auf 25% einziehen.

Nicolas hatte seine Mütze tief über seine Ohren gezogen, denn nun pfiff der Wind ganz ordentlich durch den nach hinten offenen Führerstand. Da nützte bei kaltem Wetter auch die Strahlungswärme des Kessels nicht viel. Immerhin hat ja das Wasser im Kessel bei dem herrschenden Druck von 16 atü eine Temperatur von etwa 200 °C.

Nicolas‘ Augen strahlten noch mehr als sonst und ich wusste, dass mir meine Überraschung gelungen war.

Wie immer in solchen Situationen vollbrachte mein Herz wahre Freudensprünge.

Dreizehn Jahre später

‚Puh, was für eine Nacht!‘

Ich kann nicht mehr schlafen, stehe im Badezimmer und betrachte mein Spiegelbild, das mich reichlich ruiniert mit tiefen Augenringen anschaut. Habe ich überhaupt geschlafen? Gefühlt habe ich kein Auge zugetan, schon seit Wochen nicht.

Mühsam und lustlos zwinge ich mich unter die Dusche. Die Wirkung des Wassers auf Physis und Psyche ist marginal. Das habe ich nach den Ereignissen der letzten Monate auch nicht anders erwartet. Ich brauche eine Ewigkeit um mich abzutrocknen und stehe dann nochmal solange vor meinem Kleiderschrank.

Den schwarzen Anzug habe ich gestern Abend schon zum Auslüften auf die Terrasse gehängt. Den Rest heraus zu fischen ist doch eigentlich nicht schwer: Unterhose, ein paar schwarze Socken, ein kurzärmeliges, weißes Hemd. Doch bin ich hin und her gerissen, ob ich ein Unterhemd anziehen soll oder nicht. Es wird sehr heiß werden heute und alle werden und am Ende schwitzen. Ich entscheide mich für ein Unterhemd, damit das Hemd nicht gleich total nassgeschwitzt wird. Eigentlich mag ich mich gar nicht anziehen, sondern gleich wieder ins Bett. Das geht natürlich nicht, also lege ich ersatzweise die Klamotten auf’s Bett und gehe erst mal in die Küche. Vielleicht schafft es ja ein starker Kaffee, mich aus meiner Lethargie zu reißen.

Aber auch das gelingt nicht so recht. Immerhin verspüre ich einen leichten Appetit und stecke zwei Scheiben Weißbrot in den Toaster. Ungeduldig warte ich darauf, dass diese Kiste die Toasts wieder ausspuckt. Da ich derzeit nur in der Lage bin, eines nach dem anderen zu erledigen, vertreibe ich mir Zeit, indem ich dieses Gerät etwas näher inspiziere und entdecke drei zusätzliche Taster, die mir vorher noch nie aufgefallen sind. Bis dato habe ich halt immer nur dieses Rausspring-Dings runtergedrückt und gewartet. An diesen drei Tastern befinden sich seltsame Symbole, deren Bedeutungen sich mir nicht erschließen, eines sieht aus, wie das Frostzeichen auf dem Gefrierschrank. ‚Hä?‘ Da ich bei so etwas meine Füße, also Finger nicht stillhalten kann, drücke ich einfach auf den obersten Knopf und schwups, springen die Brotscheiben heraus. Ich beschließe, dass sie genug geröstet sind und beschmiere sie mit Butter und Honig. Wobei sich der Butter (ja, so sagt man halt bei uns dazu) zuerst unstreichbar gibt, dann aber urplötzlich im Toastbrot verschwunden ist. Es gelingt mir sogar, dieses Frühstück zu genießen.

Ich blinzle in die aufgehende Sonne.

‚Wie haben wir das immer genossen‘, schießt es mir in den Kopf und die Tränen in die Augen.

Vor einer Woche ist Nicolas eingeschlafen. Leukämie. Ein halbes Jahr hat er gekämpft, auf einen Knochenmarkspender gehofft. Selbstverständlich hatte ich mich testen lassen, aber ohne Übereinstimmung. In der uns verbleibenden Zeit haben wir uns über wirklich alles unterhalten und dabei noch intensiver zueinander gefunden als zuvor ohnehin schon.

Über unsere Familien, von denen inzwischen einzig Nicolas Großmutter übrig geblieben war oder unsere Hochzeit vor sieben Jahren, die Themen sind uns nie ausgegangen.

Wir haben gelacht, dass alles schallte und geheult wie die Schlosshunde.

Insbesondere die unverhofft doch möglich gewordene Adoption unseres Michels, dessen „Erziehung“ ein wahrer Kraftakt mit vielen Höhen und Tiefen war, beschäftigte uns immer wieder. Vor allem auch deshalb, weil er plötzlich mit 18 nach einem eher nichtigen Streit einfach abgehauen ist und seither nichts mehr von sich hat hören lassen.

Kurz darauf kam Nicolas' vernichtende Diagnose.

Ich bin ihm nicht mehr von der Seite gewichen, habe über seinen Schlaf gewacht, bis ich selbst weggepennt bin. Nicolas hat mir dann erzählt, wie er mir stundenlang beim Schlafen zugesehen hat. Obwohl es mir eigentlich total widerstrebt, bin ich innerlich verleitet festzustellen, dass wir in dieser Situation eine gute und schöne Zeit hatten. War es so doch auch möglich, dass wir uns gebührend verabschieden konnten. Seinen letzten Blick werde ich wohl nie mehr vergessen; und ich will es auch gar nicht: Unendlich traurig hat er mich mit seinen hellblauen Augen angeschaut, aus denen jedoch jeglicher Glanz gewichen war, trotzdem meine ich ein gewisses Leuchten - nach wie vor – und eine tiefe Dankbarkeit wahrgenommen zu haben. Sprechen ging nicht mehr. Als er dann seine Augen schloss, hat er sie nicht wieder geöffnet. Zwei Tage hat er noch gelebt, bevor auch sein Herz aufgehört hat zu schlagen. Selbstverständlich war ich die ganze Zeit bei ihm. Nachdem der Monitor nur noch die Nulllinie mit dem andauernden Piepton zeigte, küsste ich ihn noch einmal und bemerkte, wie ein Ruck durch seinen Körper ging. In dem Moment war ich mir ganz sicher, dass sich jetzt wohl seine Seele aus den sterblichen Überresten gelöst haben musste.

Wir hatten uns ausführlich über seine Trauerfeier unterhalten:

Dass er sich eine Feuerbestattung wünschte, war von vorneherein ebenso klar, wie dass deshalb nur der wirklich billigste Sarg in Frage kommen würde. Darauf bestand er beharrlich. ‚Was wohl die Leute dächten‘, war uns schon immer und so auch in diesem Fall egal. Blumen wollte er eigentlich keine, die Trauergäste sollten lieber an die ‚Stiftung des Fördervereins für krebskranke Kinder Tübingen‘ spenden. Schließlich hat er mir dann doch ein kleines Gesteck aus weißen Rosen mit einer einzelnen roten zugestanden.

Seine Auswahl dreier Musikstücke traf genau meinen Nerv und würde mich zumindest in einem Fall wohl ziemlich aus der Fassung bringen: Zweimal Ray Charles ‚What’d I say‘ und ‚I can’t stop loving you‘ und zum Schluss ‚Oh happy day‘.

 

Nun ist es unwiderruflich soweit: Um 14 Uhr ist die Trauerfeier in der kleinen Aussegnungshalle angesetzt. Trotz dass wir beide nicht aus der Kirche ausgetreten waren, sollte ein uns bekannter Trauerredner diese Veranstaltung bestreiten. Doch das Gespräch mit dem für uns zuständigen Pfarrer hat uns unsere Kirche von einer ungeahnten Offenheit und Toleranz gezeigt, so dass Pfarrer Beuerle, der vor allem Nicolas schon als Kind kannte nun diesen letzten Gottesdienst für ihn zelebrieren würde.

Alle sind sie gekommen. Ich bin überwältigt. Nach anfänglicher Scheu – ich weiß ja auch immer nicht, was ich da sagen soll – kommen doch sehr viele auf mich zu. Meistens umarmen sie mich wortlos und nicken mir zu. Am meisten tröstet mich, dass Paul offensichtlich nicht vorhat, mir von der Seite zu weichen, aber immer einen respektvollen Abstand wahrt. Nicolas' Großmutter kommt auf mich zu: „Sebastian, cheri, es tut mir so unendlich leid! Ihr wart so glücklich miteinander! Du hast ihm sein Lachen zurückgegeben!“, sagt sie und heult los. Ich nehme sie in meine Arme und heule mit. Als wir uns wieder lösen schaut sie mich an und nickt immer wieder.

Auch Nicolas‘ Truppe um Charly ist vollzählig vertreten und alle drücken mich herzlich, aber keiner bekommt einen Ton heraus.

Plötzlich steht Michel vor mir. Er sieht mich an und bevor wir uns in die Arme fallen, heulen wir gleichzeitig los.

Paul zupft mich vorsichtig am Ärmel und meint leise:

„Sebastian, lass uns reingehen.“

Ich seufze tief und folge Paul schweren Schrittes.

Er setzt sich an den Gang in die erste Reihe, Michel an seine Seite, dann ich. Rechts von mir nimmt Nicolas' Großmutter Platz.

Als alle sitzen erstirbt die leise Orgelmusik.

Nach einer Pause ertönt Ray Charles.

Vorne am Sarg ein kleiner Kranz von seiner Reise-Truppe und ein Gesteck von seiner Großmutter. Auf dem Sarg mein Rosengesteck. 5000 € für diese Holzkiste, fällt mir unvermittelt ein und einmal mehr wird mir klar, dass er da jetzt drinliegt.

Tränen steigen mir in die Augen.

Pfarrer Beuerle schaut mich mit einer Mischung aus wahrer Trauer und verbindlicher Zuversicht an.

„Lieber Sebastian, liebe Marie, lieber Michel, liebe Trauergemeinde. Vor sieben Jahren haben sich Nicolas und Sebastian das Ja-Wort gegeben. Bis dass der Tod sie scheiden würde. Das hat er jetzt getan. Warum? Immer wieder beschäftigt uns diese eine Frage, ohne dass wir je eine Antwort darauf finden. Ich sehe Nicolas noch immer vor mir, wie wir seine Konfirmation feiern, er mit seinen Kameraden auf der anschließenden Freizeit herumtobt. Er hat stets eine Fröhlichkeit und Leichtigkeit ausgestrahlt, mit der er alle anderen mitgerissen hat. Andererseits hielt er sich immer im Hintergrund und hat seine Umgebung genau beobachtet. Wenn jemand traurig war, konnte er das kaum ertragen und hat versucht den- oder diejenige behutsam aufzumuntern. Doch kurz darauf starb seine Mutter, worauf er sich mehr und mehr zurückzog. Seine Liebe zu alten Eisenbahnen hat ihm dann so leidlich über die Zeit geholfen. Seine Freunde haben ihn immer einfach mitgenommen und wurden dafür mit einem zwar stillen, aber immer freundlichen Nicolas belohnt.

Und dann, eines Tages, ich weiß es noch, wie heute, stand er plötzlich nach Jahren wieder vor mir und hat mich an- und eine wiedergewonnene Freude ausgestrahlt, dass einem ganz warm ums Herz wurde…“

Wie Pfarrer Beuerle so redet, dass er als Pfarrer jetzt unsere Geschichte erzählt, wirkt so unwirklich und doch so ehrlich. Längst habe ich einen Kloß im Hals und Tränen in den Augen. Ich erkenne meine Umgebung nur noch schemenhaft.

„… so haben wir zu Beginn ‚What‘d I say‘ gehört und nun folgt ‚I can’t stop loving you‘!“, beendet er seine beeindruckende und sehr persönliche Trauerrede.

Nach einer kurzen Pause beginnt Ray Charles zu singen.

Es war für uns das schönste Liebeslied aller Zeiten.

Mit meiner Beherrschung ist es vorbei, ich schlage meine Hände vor‘s Gesicht und beginne hemmungslos zu weinen. Das Lied ist längst zu Ende, aber ich kann nicht aufhören. Vereinzelte Schluchzer auch aus verschiedenen anderen Richtungen zerreißen die eingetretene Stille.

Pfarrer Beuerle findet nach einiger Zeit zu seiner Souveränität zurück und bringt diese Feier zu einem besinnlichen Ende.

Mit dem durchaus anachronistischen Schlusslied mischen sich, wie beabsichtigt, Trauer und Zuversicht zu einem Gänsehaut-Finale.

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