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Jazz'n'Boogie

Teil 3

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Inhaltsverzeichnis

Vorwort

Hier nun der letzte Teil der Geschichte. Viel Spaß beim Lesen.

Raphael

Am Internat wurden wir von Dr. Neubert höchstpersönlich empfangen. „Hallo Miguel, hallo Raphael, schön, dass du wieder da bist. Zu eurer Information: Die drei Gewalttäter haben dieses Institut bereits verlassen und ihre Zimmer geräumt. Karl-Friedrich von Seewein hat sich bereit erklärt, das Zimmer zu wechseln, so dass du, Raphael, in deinem bisherigen Zimmer bleiben kannst, vorerst alleine. Von Vorteil ist, dass dort die Wege zu den Sanitärräumen sehr kurz sind. Noch Fragen?“

„Im Augenblick nicht.“

In Absprache mit den Sanis wurde beschlossen, dass ich mein Zimmer auf eigenen Beinen aufsuchen sollte.

„Dann versuche ich mal, ob ich da ankomme.“ Vorsichtig stand ich auf und stieg aus dem Krankentransporter.

„Hilfst du ihm, Miguel?“, wollte unser Direx wissen, „Wo sind denn deine Sachen, Raphael?“

Miguel nickte.

„Ich reise mit kleinem Gepäck“, gab ich zur Antwort. Tatsächlich hatte mir Miguel nur frische Sachen zum Anziehen gebracht und gegen die Klamotten getauscht, mit denen ich ins Hospital eingeliefert worden war. Miguel hielt mir die schwere Eingangstür auf und ich betrat heimischen Boden, so fühlte es sich jedenfalls für mich an. Fast war mir zum Heulen zumute. Die Treppe stellte eine echte Herausforderung dar. Ganz langsam erklomm ich Stufe für Stufe, wie ein uralter Mann. Miguel konnte es wohl nicht mehr mit ansehen und gesellte sich an meine dem Geländer abgewandte Seite. So ging es gleich viel leichter, wenn auch nicht schneller. Wieder dachte ich, dass das der bloßen Anwesenheit von Miguel geschuldet war. Der Typ tat mir einfach gut. ‚In guten, wie in schlechten Zeiten‘, kam mir in den Sinn und ich schüttelte innerlich den Kopf über diesen Gedanken. In meinem Zimmer angekommen, fiel ich sofort auf mein Bett. Miguel machte sich zuerst an meinen Schuhen zu schaffen, um mir dann auch noch sämtliche Klamotten auszuziehen. Dann half er mir noch in meinen Pyjama und deckte mich zu. Es tat so gut, wieder im eigenen Schlafanzug im eigenen Bett zu liegen.

„Schlaf erstmal eine Runde“, hörte ich ihn noch sagen und schon war ich in Morpheus‘ Armen.

Als ich aufwachte, war es schon dunkel. Nur die kleine Schreibtischleuchte spendete ein wenig Licht.

„Miguel?“, frage ich in den Raum.

„Ich bin da, Rafi.“

„Ich muss dringend pinkeln, aber ich trau mich irgendwie nicht aufzustehen“, stellte ich resignierend fest.

„Kein Problem“, sagte er und kam an mein Bett, in der Hand so eine Pinkelflasche.

„Wo hast du die denn her?“, fragte ich überrascht.

„Von unserer Krankenstation hier. Ich dachte mir schon, dass so ein Ding vielleicht hilfreich sein könnte“, antwortete er ohne Häme. Wortlos schlug er meine Decke zurück und zog mir vorsichtig meine Pyjamahose nach unten. So als hätte er nie etwas anderes gemacht, half er mir, den Druck von meiner Blase zunehmen.

Nachdem er mich wieder angezogen und zugedeckt hatte, meinte er nur: „Bin gleich zurück“, und war mit der Urinflasche verschwunden. Ich bemerkte, dass ich ordentlich Appetit verspürte, scheute mich aber vor dem langen Weg in die Mensa. Das artikulierte ich auch, als Miguel wieder zurück war.

„Kannst du dich hinsetzen?“, fragte er sanft.

„Ich versuch‘s mal.“

Mein Freund half mir, mich in eine aufrechte Sitzposition zu ziehen und stopfte mir allerlei Kissen hinter den Rücken. So saß ich sehr bequem.

„Und jetzt?“

Schon kam Miguel mit einem Betttablett daher. So ein Ding, das links und rechts je zwei kurze Füße hatte, vollgeladen mit allerlei Köstlichkeiten. Er stellte es vor mich aufs Bett, über meine ausgestreckten Beine.

„Miggi, du bist ein Engel“, sagte ich leise und bekam feuchte Augen.

„Aber nein, Rafi. Das ist doch selbstverständlich, wenn man so zusammengehört, wie wir.“

„Ist es nicht“, widersprach ich ihm und zog seinen Kopf zu mir. Widerstandslos fanden sich unsere Lippen zu einem vorsichtigen, unendlich langen, zärtlichen Kuss. Ständig erwartete ich, dass die Kobolde wieder ihre Arbeit in meinem Kopf aufnehmen würden, aber nichts dergleichen geschah. Als wir uns wieder voneinander lösten, schauten wir uns lange in die Augen, dann hob Miguel den Deckel von dem Teller, der direkt vor mir stand und der feine Duft einer Kürbissuppe stieg mir in die Nase. So lecker, wie sie roch, schmeckte sie auch.

„Und du?“, wollte ich von ihm wissen.

Da lächelte er: „Hast du mal auf die Uhr gesehen? Es ist acht Uhr vorbei. Du hast fast acht Stunden gepennt. Ich habe die ganze Zeit immer zwischendurch was gefuttert, weil ich dich nicht alleine lassen wollte. Ich bin pappsatt.“

„Und du bist doch ein Engel. Der beste und liebste, den es gibt.“

Jetzt schaute Miguel verlegen auf seine Schuhe.

„Ach woher, Rafi. Komm, iss, bevor die Suppe kalt wird.“

Das tat ich jetzt auch. Wenn es echt schon acht Uhr war, dann hatte ich seit dem Frühstück im Krankenhaus nichts mehr gegessen. So fühlte es sich auch an.

Danach ging es mir gleich viel besser. Ich versuchte aufzustehen, was unfallfrei gelang. Ah, endlich hatte ich wieder meine warmen Hausschuhe an den Füßen. Nach ein paar Schritten durchs Zimmer unter Miguels wachen und kritischen Augen fasste ich einen Entschluss:

„Miguel, ich sollte dringend duschen, ich stinke, wie ein Iltis. Magst du mich begleiten?“

„Ja, logisch. Mir würde eine Dusche auch nicht schaden. Warte einen Moment, setz dich, ich hole mein Duschzeug.“

Brav tat ich, wie mir geheißen. Nach wenigen Minuten war Miguel zurück und suchte auch meine Duschutensilien zusammen. Dann schnappte er sich noch zwei Handtücher und bot mir seinen Arm an. Kurz wollte ich protestieren, doch konnte ich seine Hilfe inzwischen gut annehmen. So machten wir uns untergehakt, wie ein altes Ehepaar, auf den Weg zum Waschraum. Da es nun schon fast halb zehn war, war einiges los. So begegneten wir auch Fabian und KF, die sich sofort nach unserem Befinden erkundigten.

„Hey ihr zwei, geht es so einigermaßen?“, fragte Fabian, als er uns so daherschleichen sah.

„Naja, es war schon mal besser, aber es ist okay. Mit seiner Hilfe bin ich mir sicher, dass alles funktioniert“, antwortete ich mit einem Fingerzeig auf Miguel, der mich doch ziemlich festhalten musste. Doch das ließen wir uns nicht anmerken. Im Waschraum angekommen, fanden wir zum Glück zwei Duschplätze nebeneinander. Auf Miguel gestützt, konnte ich mich meines Schlafanzuges entledigen. An die Wand gelehnt ließ ich das Wasser auf mich herabprasseln.

„Ah, tut das gut.“

Miguel stand inzwischen neben mir unter dem Wasserstrahl. Er zog mich etwas zu sich und begann, mich einzuseifen.

„Entspann dich“, raunte er mir zu. So genoss ich seine Berührungen. Vorsichtig wusch er mir die Haare. Seine zärtlichen Berührungen verursachten sofort wieder dieses Kribbeln im ganzen Körper. Ich gab mich dem einfach hin. Dass eine Reaktion weiter unten für alle gut sichtbar war, blendete ich einfach aus, es war mir egal. Schließlich war alle Seife abgewaschen und wir trockneten uns ab. Nach einem ersten missglückten Eigenversuch überließ ich auch das meinem Freund, denn meine eigenen Bewegungen verursachten meist sofort wieder einen unangenehmen Druck in meinem Schädel. Positiver Nebeneffekt war, dass der Druck an anderer Stelle ebenso rasch nachließ. Jetzt musste ich mich allerdings erstmal auf die Bank setzen und konnte so wenigstens meinen Pyjama alleine anziehen.

Gemächlich machten wir uns auf den Rückweg, nachdem Miguel den anderen eine gute Nacht gewünscht hatte. Ich war dann doch froh, als ich wieder in meinem Bett lag, das mir Miguel zuvor einmal kräftig aufgeschüttelt hatte.

„Bleibst du bitte bei mir, Miggi?“, bat ich ihn.

„Klar, hatte ich sowieso vor. Ich habe Herr Neubert heute Mittag mit dem ‚vorläufig alleine‘ so interpretiert, dass das auf deine Ruhe abgestellt war. Dass eine gewisse Nachtwache Sinn machen würde, hat er nicht erwähnt. Ich hol‘ nur rasch mein Bettzeug.“

Miguel

Als ich wieder zurück in Raphaels Zimmer kam, schlief er bereits tief und fest. Ich machte mir mein Bett, sah nochmal nach meinem Freund, löschte das Licht und kaum, dass ich in den Federn lag, war ich ebenfalls binnen Sekunden im Land der Träume.

Am Samstagmorgen wurde ich relativ früh wach, allerdings genoss ich es, mich weiter in mein Bett zu kuscheln. Raphael atmete ruhig vor sich hin. Anscheinend schlief er noch ziemlich fest. Ich würde ihn sicher nicht wecken, jedenfalls nicht vor halb zehn, denn samstags gab es bis um zehn Frühstück. So tagträumte ich vor mich hin und landete alsbald in Raphaels und meiner Musikwelt. Zum Glück hatte ich mir den Wecker gestellt, sonst hätte ich doch noch das Frühstück verpennt. Raphael war immer noch nicht wach. So zog ich mich rasch an, schnappte mir das Betttablett und ging damit Richtung Speisesaal. Da war noch ordentlich Betrieb mit den ganzen Spätaufstehern. So konnte ich in aller Ruhe mein Tablett erneut aufmunitionieren, nachdem ich das Geschirr von gestern Abend abgeräumt hatte.

„Hättest du wohl bitte für Raphael und mich eine Thermoskanne mit Früchtetee?“, bat ich Inge, die heute Dienst hatte.

„Ja, sicher. Geh schon mal zur Kasse. Ich bring sie dir gleich“, bot sie mir an, hilfsbereit wie immer. „Wie geht es ihm denn?“, wollte sie wissen.

„Ich weiß es noch nicht. Er hat eben noch geschlafen, als ich zu euch gegangen bin“, antwortete ich wahrheitsgemäß.

„Richte ihm bitte schöne Grüße aus.“ Damit verabschiedete sie sich, nachdem sie mir die Thermoskanne aufs Tablett gestellt hatte.

Wieder zurück auf unserem Zimmer, fand ich Raphael zusammengesunken auf dem Rand seines Bettes sitzend vor.

„Guten Morgen, Rafi, alles in Ordnung?“

Mühsam hob er den Kopf.

„Ich weiß noch nicht so Recht“, murmelte er.

„Hilfst du mir bitte, ich muss aufs Klo.“

„Na dann komm!“, forderte ich ihn auf und bot ihm meinen Arm, den er dankbar ergriff. So wackelten wir wieder zusammen zu den Sanitärräumen. Fast machte er einen noch wackeligeren Eindruck auf mich als am Vorabend. Erst stellte er sich an ein Urinal, doch ich erkannte schnell, dass das keine so gute Idee war. Er hatte schon seine Schlafanzughose in den Knien, als er fast umgekippt wäre.

„Willst du dich nicht lieber auf eine Schüssel setzen?“, fragte ich leise. Worauf er nur nickte. So bugsierte ich ihn in eine der Kabinen, wo er sofort nach vorne gebeugt auf den Sitz sank. So konnte ich sein Gesicht nicht sehen.

„Besser, oder?“, fragte ich nach.

„Ja, so geht’s“, antwortete er.

Als er nach fünf Minuten immer noch keine Anstalten machte, wieder aufzustehen, ging ich vor ihm in die Hocke, um festzustellen, dass er kreidebleich war.

„Mir ist ganz schummerig“, meinte er und ergänzte resignierend: „Ich glaub‘, ich komm‘ hier nie wieder hoch.“

Kaum hatte er das gesagt, kippte er nach vorne. Ich konnte ihn gerade noch auffangen und ihn der Länge nach auf den Boden legen. Ganz offensichtlich war ihm der Kreislauf weggesackt. Ich zog ihm die Hose hoch, damit er nicht ganz mit dem blanken Hintern auf den Fliesen lag und hob seine Beine an. In dem Moment kam Kevin nichtsahnend zur Tür herein und erschrak heftig.

„Mann, was ist denn hier los?“

Ich wollte die Vorgänge schildern, als wieder Leben in Raphael kam.

„Wa … was ist passiert?“, wollte auch er jetzt wissen.

„Dein Kreislauf hat versagt“, stellte ich mit knappen Worten fest.

Inzwischen war er nicht mehr ganz so käseweiß, weshalb ich fragte: „Meinst du, dass du aufstehen kannst?“

„Warum nicht?“, fragte er zurück, sich seiner Situation anscheinend nicht ganz bewusst.

„Hilfst du uns bitte?“, wandte ich mich an Kevin. So hievten wir Raphael wieder in die Senkrechte.

„Okay?“, fragte ich knapp. Er nickte und so machten wir uns auf den Nachhauseweg.

„Soll ich mitkommen?“, bot Kevin an, was Raphael verneinte: „Danke, es geht schon.“

Tatsächlich hielt er sich nur sehr locker an meinem Arm fest. Im Zimmer angekommen, setzte er sich auf sein Bett und verkündete, Hunger zu haben. Erstaunt verfolgte ich, wie er sich selbst einige Kissen ins Kreuz stopfte und sich so wieder eine bequeme Sitzposition schaffte.

„Also gut“, kommentierte ich nur, entledigte mich meiner Hausschuhe und meiner Jeans, schnappte meine Bettdecke als Lehne und kroch zu Raphael, ihm gegenüber, unter die Decke. Dann angelte ich uns das Frühstückstablett und sah Raphaels Augen zum ersten Mal seit Tagen wieder strahlen.

„Oh, vielen Dank, Miggi. Guten Appetit“, sagte er, als wäre nichts geschehen. So vertilgten wir ratzeputz alles, was ich mitgebracht hatte. Gleichwohl behielt ich meinen Freund sehr genau im Auge.

Plötzlich sagte er: „Ich weiß auch nicht was mit mir los war. Jetzt fühle ich mich gerade wieder richtig wohl und gut.“

Meinen skeptischen Blick bemerkte er freilich sofort, lächelte und bekräftigte seine Aussage: „Miggi, ehrlich. Ich könnte Bäume ausreißen.“

„Moment, Moment. Nicht so schnell!“

Da lachte er lauthals heraus: „Ja, ich weiß schon, keine Sorge! Ruhe bis morgen Abend!“

Ich räumte das Tablett zur Seite, wie auch die vielen Kissen. Dann zog ich meinen Pulli aus und schlüpfte wieder zu Raphael unter die Decke. Ich nahm in vorsichtig in den Arm und er schmiegte sich an mich, schnurrend, wie ein Kater. Ich genoss es ebenfalls, seinen Körper endlich wieder an meinen gekuschelt zu spüren. Leise unterhielten wir uns über alle möglichen und unmöglichen Themen. Auch konnte er bereits wieder lachen, ohne dass dies Schmerzstiche in seinem Kopf auslöste. Er betonte immer wieder, wie froh er genau darüber war und überhaupt, dass er Freunde hatte, die ihm geholfen hätten, „möglicherweise sogar das Leben gerettet“, sagte er sehr nachdenklich. Dass sich seine Mutter so klar an unserer Seite positionierte, trieb ihm gleich wieder das Wasser in die Augen. Gegen halb zwei fragte er mich, ob wir nicht essen gehen wollten.

„Bist du dir sicher?“

Er dachte kurz nach und bejahte meine Nachfrage. Also zogen wir uns an und strebten der Futterkrippe entgegen. Sicherheitshalber hakte er sich wieder bei mir unter, doch meinte ich zu spüren, dass er das in erster Linie genoss und weniger, um sich festzuhalten. An der Theke fiel mir ein, dass ich das Tablett vergessen hatte und entschuldigte mich bei Inge dafür und versprach, das Teil heute Abend mitbringen zu wollen.

Sie winkte nur ab und begrüßte stattdessen meinen Freund: „Hallo Raphael, schön dich zu sehen. Mach bloß langsam, mit so einer Gehirnerschütterung ist nicht zu spaßen!“

„Danke, Inge, mach dir keinen Kopf, ich habe hier einen an meiner Seite, der da sehr genau aufpasst“, grinste er abwechselnd Inge und mich an.

„Für uns bitte zweimal das Züricher Geschnetzelte“, bestellte er wohl wissend, dass das auch meine Wahl war. Ich fischte uns noch zwei Wasserflaschen aus der Kühltheke und zwei kleine Salatteller. Raphael schien es wieder richtig zu schmecken, er aß sogar noch den Rest, den ich nicht mehr schaffte. Auf dem Rückweg hielt sich mein Freund wieder eng, aber locker an mir fest. Mal sehen, wie lange er das wohl noch machen würde, denn ernsthafte Hilfestellung brauchte er schon jetzt nicht mehr.

Ohne zu murren, zog er sich aus und legte sich wieder in sein Bett. Ich wollte mich grade verabschieden, um mir etwas zu lesen aus meinem Zimmer zu holen, als er mich mit seinem Dackelblick äußerst leidend ansah: „Kommst du nicht zu mir ins Bett? Mir ist kalt.“

„Na wenn man auch im Winter glaubt, unbedingt nackt schlafen zu müssen“, tat ich vorwurfsvoll, worauf er einen Schmollmund zog, bei dem ich nicht mehr an mich halten konnte und losprustete. Ich denke, es ist nicht schwer zu erraten, was ich dann tat.

Um 19 Uhr wollten wir zum Abendessen. Diesmal dachte ich daran, das Betttablett mitzunehmen. Tolles Wort, oder nicht? Elf Buchstaben und davon fünf „T‘s“.

Raphael

Nach dem buchstäblich schwindelerregenden (Fehl)start am Morgen, entwickelte sich dieser Samstag recht erfreulich. Immer wieder horchte ich ernsthaft in mich hinein, um festzustellen, dass das Einzige was juckte, die Platzwunde auf meiner Stirn war, außer dem, was wir lieber noch nicht beachteten.

Trotzdem – oder grade deswegen – blieb Miggi immer in meiner unmittelbaren Nähe, um über mich zu wachen. Auf dem Weg in die Kantine oder zu den Toiletten hielt ich mich immer – sicherheitshalber – an ihm fest. Ich spürte, dass er spürte, dass ich das zunehmend mehr aus Genussgründen tat, denn aus der Stützfunktion heraus. Ich denke, wir genossen es beide. Ich schaute mir meinen Freund immer wieder sehr genau an, besonders, wenn er es nicht zu merken schien und dachte jedes Mal: ,Was täte ich nur ohne ihn?‘

Allerdings wurde ich zunehmend ungeduldig. Ich wollte endlich wieder Klavier und Orgel spielen. Doch zwang ich mich, wie versprochen, auch an diesem dritten Adventssonntag noch im Bett zu bleiben. Zugegeben wurde dieser Zwang dadurch sehr erleichtert, dass mir mein Miggi Gesellschaft leistete. So nah waren wir uns körperlich noch nie. Doch es blieb beim sehr zärtlichen und entspannten Kuscheln. Gleichwohl legten wir uns einen strengen Übungsplan zurecht, der ab Montag nach dem Unterricht greifen sollte, schließlich hatten wir fast eine Woche verloren. Miguel führte zu diesem Zweck mehrere Telefonate mit Professor Kramer und Oliver Stotz. Auch wagte er, die sonntägliche Ruhe unseres Direktors zu stören, wofür er sich hundertmal entschuldigte, bis diesem anscheinend der Kragen platze und sich jede weitere Entschuldigung verbat, wofür sich Miguel erneut entschuldigte und damit beide laut zum Lachen brachte.

So begann die neue Woche mit den üblichen Routinen (auf den längeren Wegen hielt ich mich immer bei Miguel fest). Doch statt der Doppelstunde Sport, gab es noch vor dem Mittagessen die erste Übungseinheit im Musikkabinett der Schule, was um diese Uhrzeit noch keine Verlegung oder gar Absage für unsere Mitschüler zur Folge hatte. Das wurde erst für die ein oder andere Stunde an den folgenden Nachmittagen eingeplant. So wurde dadurch der Mittwochnachmittag frei, wenn wir unsererseits in der Kirche probten.

War ich während Mathe und Englisch am Montag noch ziemlich unkonzentriert und hibbelig, weil ich endlich wieder die Tasten unter meinen Fingern und die Pedale unter meinen Füßen spüren wollte, so konnte ich ab Dienstag auch dem Schulunterricht wieder hoch konzentriert folgen. Je besser es bei mir lief, desto entspannter konnte auch Miguel wieder lernen und Klavier spielen. Ich muss nicht erwähnen, dass wir ab Dienstag jeden Nachmittag und Abend mindestens fünf Stunden täglich in der Sankt-Nikolaus-Kirche verbrachten. Oft so anstrengend, dass wir uns schon fast an die Gurgeln gingen, was sich aber immer in der Nacht in einem intensiven Versöhnungskuscheln in Wohlgefallen auflöste. Bisweilen fehlte uns ein wenig der Schlaf, den wir uns dann aber eng aneinandergeschmiegt in den Folgenächten umso mehr gönnten.

Das Konzert war für Samstag um 17 Uhr angesetzt. So stieg schließlich in der Nacht von Freitag auf Samstag die Anspannung ins Unermessliche. Wir konnten zunächst kein Auge zu tun, bis wir uns anderweitig so intensiv, wie noch nie zuvor, abreagierten und schließlich völlig erschöpft, Arm in Arm, tief und fest einschliefen.

Als ich am Samstag gegen acht Uhr noch vor dem Wecker aufwachte, schaute ich in Miguels strahlende Augen. Wortlos fielen wir in einen intensiven Guten-Morgen-Kuss. Dann sprang er, wie er war, aus dem Bett und öffnete das Fenster. Er warf mir Morgenmantel und Badetuch zu und zog sich selbst den seinen über. Noch bevor uns die kalte Luft wieder ins Bett getrieben haben würde, standen wir schon im Waschraum unter der Dusche um die letzten Spuren der nächtlichen Leidenschaft zu beseitigen.

Es gelang uns gemäß unseres Zeitplans, pünktlich um neun Uhr in aller Ruhe zu frühstücken. Die ersten wünschten uns da schon „toi, toi, toi“. Um zwölf Uhr, nach der morgendlichen Advents-Andacht konnten wir uns zur Generalprobe an unsere Instrumente setzen. Oliver hatte zu diesem Zweck die Türen der Kirche abgesperrt. Nur Herr Kramer und er saßen inmitten des Hauptschiffes der Kirche als die einzigen Zuhörer. Fehlerfrei spulten wir unser Programm ab, bis sich gegen Ende aus unerfindlichen Gründen eines der Mikrofone aus der Befestigung löste und mit einem dumpfen Schlag auf die daruntergelegene Kirchenbank knallte. Wir erschraken alle vier ziemlich heftig, so dass wir das letzte Stück wiederholen mussten. Doch mit diesem Defekt konnte die Generalprobe als gelungen betrachtet werden, auch wenn der Techniker jetzt noch einmal gefordert war.

Mit Daniel, unserem Koch, war verabredet, dass wir um 14:30 Uhr sozusagen eine „Extrawurst“ bekamen, das heißt ein leicht bekömmliches und schmackhaftes Mittagessen außerhalb der offiziellen Essenszeiten. Wir genossen die Ruhe im Speisesaal. Lediglich Daniel setzte sich zu uns. Herr Kramer war bei Oliver Stotz zum Essen eingeladen.

Dieses Advents-Konzert war als Benefiz-Veranstaltung angelegt, bei dem die Besucher einen kleinen Obolus von 2 Euro bei Eintritt entrichten sollten und beim Verlassen der Kirche, nach eigenem Ermessen, für den guten Zweck spenden sollten. In diesem Fall sollte der Erlös an das in Gründung befindliche Kinderhospiz gehen. Die Erfahrung war, dass umso mehr gespendet wurde, je besser es den Zuhörern gefallen hatte. Völlig unklar war, wie groß das Publikumsinteresse sein würde, es gab ja keinen Vorverkauf.

Nach dem Mittagessen zogen wir uns um. Da wir das Internat repräsentieren würden, war die Kleiderordnung klar: Der blaue Blazer mit dem Internatswappen, weißes Hemd, schwarze Hose, schwarze Halbschuhe. Wir hatten lediglich die Wahl zwischen Krawatte oder Fliege. Wir waren uns einig, mit Fliege auftreten zu wollen.

Kurz nach 16 Uhr fanden wir uns in der Kirche Sankt Nikolaus ein. Ab etwa 16:30 Uhr begann sich das Gotteshaus zu füllen.

Um uns von unserem Lampenfieber etwas abzulenken, gesellten wir uns einfach zu den Helfern an der Hauptpforte. Sie hatten dort an zwei Tischen links und rechts nach dem Windfang, mit zwei kleinen Geldkassetten Position bezogen. So konnten wir etliche unserer Schulkameraden persönlich begrüßen. Auch fast das gesamte Lehrerkollegium, einschließlich Direktor, gab sich die Ehre.

Die ersten zwei Reihen hatten wir für wichtige Gäste reserviert, zum Beispiel für Herrn Dr. Neubert mit Gattin, Prof. Kramer, Oliver Stotz.

Miguel hatte seine Eltern eingeladen, die sich dieses Ereignis auf keinen Fall entgehen lassen wollten. Mir war es eine besondere Freude, dass Schwester Edeltraud, Sascha und Marcel sowie Dr. Steinle für diesen Abend frei bekommen hatten und wir sie zu ihren Plätzen in der ersten Reihe geleiten durften. Oliver fragte Schwester Edeltraud, ob sie das Konzert von der Orgelempore aus verfolgen wollte, wenn ja würde er sie nach seiner Begrüßungsansprache mit nach oben zu mir nehmen. Von diesem Angebot schien sie sehr angetan zu sein.

Für Aufsehen sorgte die Ankunft von Carsten und Andreas, die in ihrer Konzertgarderobe erschienen, begleitet von Max, Carstens Hündin. Auch sie fanden in der ersten Reihe Platz. Meine Mutter hingegen hatte abgesagt, denn am Vortag erst war mein Erzeuger aus den Staaten zurückgekommen.

Letztlich waren alle Plätze restlos belegt, selbst die 60 Klappstühle, die als Reserve vorgehalten wurden. Somit hatten wir ein Publikum von knapp 400 Personen.

Nachdem alle saßen und keine Stühle mehr gerückt wurden, ergriff Oliver ein Mikrofon und das Wort: „Guten Abend, liebe Gäste. Ich darf Sie alle hier in der Sankt-Nikolaus-Kirche im Rahmen unserer Adventskonzerte zu Gunsten eines Kinderhospizes herzlich willkommen heißen. Es freut mich ungemein, dass wir sozusagen ein ausverkauftes Haus haben. Nachdem David Cameron leider einen schweren Unfall hatte und vor drei Wochen sein Orgelkonzert hier absagen musste, haben sich spontan zwei Schüler des hiesigen Johann-Heinrich-Pestalozzi-Internats bereit erklärt, in die Bresche zu springen. Auch wenn sie es nicht gerne hören, darf ich sie zwei Ausnahmetalente nennen. Der eine bekommt seit zwölf Jahren Klavierunterricht, der andere lernt seit zehn Jahren Klavier und Orgel. Erst in diesem Schuljahr haben sie sich kennengelernt und spielen seit wenigen Wochen zusammen an diesen beiden wunderbaren Instrumenten. Das Programm entnehmen Sie bitte dem kleinen Faltblatt, das Sie beim Einlass vorhin erhalten haben. Für viele von Ihnen dürfte diese Kombination von Orgel und Klavier ungewöhnlich und neu sein. Auf Grund der Kürze der Zeit mussten die beiden auf ihre Repertoires zurückgreifen, weshalb das Programm vielleicht nicht ganz typisch für ein Adventskonzert ist. Lassen Sie sich gleichwohl von den beiden bezaubern und begeistern. Hier sind für Sie Raphael Hausner und Miguel Hernandez.“

Miguel und ich verbeugten uns einmal nach rechts und einmal nach links.

Den Applaus, der jetzt erschallte, verursachten freilich in allererster Linie unsere Schulkameraden. Oliver, Schwester Edeltraud und ich machten uns nun auf den Weg zur Orgel. Miguel brauchte sich nur umzudrehen und an seinem Flügel Platz zu nehmen.

Das erwähnte Programmheft las sich so:

1. Toccata und Fuge d-Moll BMV 565 von Johann Sebastian Bach arrangiert für Orgel und Klavier.

2. Variationen aus Beethovens fünfter Symphonie mit Klavier und Orgel.

3. Die Rhapsody in Blue von George Gershwin mit der Orgel in der Rolle des Orchesters.

4. Medley aus verschiedenen Weihnachtsmelodien.

Zum Auftakt erklang nicht etwa die Orgel, sondern Miguel brachte maximalen Einsatz am Klavier. Ich wiederholte dann diese ersten Takte auf der Orgel. Wie in einem Wettstreit ließen wir Orgel und Klavier mal abwechselnd, mal zusammen erklingen. Im Augenwinkel bemerkte ich Oliver, der begeistert beide Daumen nach oben signalisierte.

Als dieses Auftaktstück beendet war, schienen unsere Zuhörer verunsichert, ob sie nun applaudieren sollten oder erst zum Schluss. Erst als sich die ersten trauten zu klatschen, brandete begeisterter Applaus auf.

Kraftvoll setzte ich zur Schicksalssinfonie an. Hier begaben wir uns auf eine musikalische Gratwanderung, denn wir wollten mit unseren Improvisationen eine lockere Atmosphäre erzeugen, was uns wohl auch einigermaßen gelang, wenn wir die vereinzelten Lacher im Publikum als Maßstab nahmen. Der Applaus, der am Ende dieses Stücks einsetzte, war jedoch eher verhalten.

Ganz anders nach der Rhapsodie, mit der sich Miguel selbst übertraf. Daran hatte er offensichtlich besonders intensiv geübt. Ich merkte nicht nur im Vergleich zu unseren „Übungssitzungen“, wie fröhlich und locker er an verschiedenen Stellen echt improvisierte. In diesen Momenten war ich ihm wieder absolut nah. Mir schossen Tränen des Glücks in die Augen, die auch Oliver und Schwester Edeltraud noch bemerkten, als ich mich nach dem Schlussakkord zu ihnen wandte. Da hielt es Edeltraud nicht auf ihrem Stuhl, sie kam auf mich zu und herzte mich, was freilich dem Publikum im Kirchenschiff verborgen blieb.

Der Applaus schien kein Ende nehmen zu wollen. Trotzdem drehte ich mich wieder zum Spieltisch, denn mir war klar, dass Miguel in diesen Applaus hinein mit dem Medley beginnen würde und schon begann er mit „Ihr Kinderlein kommet“, was erwartbar mit einigen Lachern aus dem Publikum quittiert wurde. Ich fiel mit ein. In lockerer Folge spielten wir uns durch alle traditionellen und populären Weihnachtslieder und endeten – natürlich – mit „Stille Nacht, heilige Nacht“.

Nach einer kurzen Pause brach frenetisch zu nennender Applaus los „Da capo“ und „Zugabe“-Rufe hielten sich die Waage. Daran hatten wir im Vorfeld gar nicht gedacht. Ich versuchte mich auf Miguel zu konzentrieren, dann ahnte ich, was er spielen würde. Zum einen, weil wir es ohne Absprache in den letzten Tagen sehr oft zum Ende unserer Übungsrunden gespielt hatten, zum anderen, weil es unserer beider Gemütslage entsprach.

Und schon erklang vom Flügel die „Ode an die Freude“. Wieder warfen wir uns sozusagen musikalisch die Bälle zu und entwickelten die Europahymne zu einem Medley mit der Europafanfare. Inzwischen hatten wir diese Melodien vollkommen verinnerlicht und wechselten so mehrfach hin und her.

Mit einem eher leisen Ausklang setzte tosender Applaus ein. Ich beeilte mich, nach unten zu kommen und lief zu Miguel auf das Flügelpodest, wir fielen uns um den Hals und ohne zu überlegen drückte ich ihm einen Kuss auf die Wange mit dem Ergebnis, dass der Applaus nur noch stärker wurde. Wir verbeugten uns mindestens zehnmal.

Als der Beifall langsam abebbte und die ersten Besucher die Kirche verließen, nicht ohne etliche Scheine in die Körbchen zu legen, begaben auch wir uns zum Ausgang. Ausnahmslos alle strahlten uns regelrecht an und gratulierten uns zu diesem Konzert. Ich verspürte die euphorisierende Wirkung der Gunst des Publikums, was durchaus ein Suchtpotential darstellte.

Zu den letzten, die St. Nikolaus verließen, zählten Miguels Eltern und das Ehepaar Neubert. Unser Direx ergriff zuerst meine, weil ich ihm am nächsten stand, dann Miguels Hand und sagte: „Das war eine ganz hervorragende Vorstellung, die uns“, dabei deutete er zwischen seiner Frau und sich hin und her, „ganz außergewöhnlich gut gefallen hat. Eure Interpretationen waren erstklassig. Wenn ich da an deine Worte aus unserem ersten Gespräch denke, Raphael, ‚ich spiele etwas Klavier‘, dann war das wohl die Untertreibung des Jahrhunderts“, lachte er aus vollem Herzen. Die umstehenden fielen mit ein.

„Ihnen, Frau und Herr Hernandez, wünsche ich eine gesegnete Weihnacht und kommen Sie gut ins Neue Jahr. Euch Jungs, eine gute Nacht, wir sehen uns Montag noch einmal.“ Mit diesen Worten verließ uns unser Direktor.

Alvaro drückte seinen Sohn fest an sich, was diesen einigermaßen überraschte. Paola umarmte mich nicht weniger herzlich. Dann wurde getauscht und so wurde auch ich von Alvaro kurz gedrückt.

„Jungs, mit einem Satz: Das war große Klasse. Wie ich euch beide kenne, habt ihr jetzt Hunger. Hiermit lade ich euch und eure beiden Musiklehrer zum Essen beim hiesigen Italiener ein. Widerstand ist zwecklos“, scherzte er, worauf auch Herr Kramer und Oliver lächelnd zusagten.

Auch wenn er es diskret zu verdecken suchte, so erkannte ich doch den Hundert-Euro-Schein, den Alvaro in den Korb legte, den ihm die 14-jährige Sabine hinhielt. Sie hatte sich mit fünf weiteren jugendlichen Helfern aus der Kirchengemeinde an den Ausgängen positioniert, um die Spenden einzusammeln. Später verriet uns Oliver die erspielte Summe: Insgesamt waren incl. des „Eintrittsgeldes“ 10.283 Euro und 50 Cent zusammengekommen und damit über die Hälfte der Gesamtsumme aus den vier Adventskonzerten. Darauf waren wir dann schon ein bisschen stolz.

So machte sich unsere kleine Gruppe auf den kurzen Weg zur ‚Trattoria San Niccolò‘, wo man uns schon erwartete. Alvaro hatte im Vorfeld zwar reserviert, doch eilte uns der Erfolg des gelungenen Auftritts schon voraus. Wir wurden am Tisch vom Chef des Hauses persönlich begrüßt und auf das schöne Konzert angesprochen. Er hatte sich offensichtlich die zwei Stunden frei genommen, auch wenn genau zu dieser Zeit in seiner Gaststätte Hochbetrieb herrschte. Doch sein Team hatte ihn losgeschickt, als Weihnachtsgeschenk für ihren Chef gewissermaßen.

Das Essen schmeckte vorzüglich und es herrschte eine fast ausgelassen zu nennende Stimmung. Letzteres mag auch dem wirklich exzellenten Rotwein geschuldet sein, jedenfalls wurde sich angeregt unterhalten.

Eher beiläufig kam die Sprache auf den Tag der offenen Tür, den es gleich nach Schulbeginn am 10. Januar im neuen Jahr am JHP-Internat geben sollte, sowohl für die Angehörigen der „Insassen“ als auch für die Bevölkerung aus der Umgebung. Höhepunkt sollte ein Konzertabend in der Aula sein, bei dem auch wieder für den guten Zweck gesammelt werden sollte. Allerdings bereitete das Programm für diese Veranstaltung Herrn Walz noch erhebliches Kopfzerbrechen, denn im Schulorchester gab es etliche Ausfälle aus verschiedenen Gründen.

Herr Kramer erinnerte sich wohl plötzlich an unser „Entspannungsprogramm“ der letzten Wochen als er fragte: „Sagt mal Jungs, wie wäre es mit einem Ragtime und Boogie-Woogie Duett von euch an zwei Flügeln? Einfach so, wie ihr in den letzten Wochen die Instrumente im Musikkabinett traktiert habt?“

Sein verschmitztes Lächeln verriet, dass er zwar das ‚Traktieren‘ nicht ernst gemeint hatte, wohl aber seinen Vorschlag für das Klavier-Duett. Miguel schaute kurz zu mir, um sogleich zu antworten: „Wir haben tatsächlich schon darüber gesprochen, genau damit auch auftreten zu wollen, wussten aber bisher nicht recht, wann und wo. Daher würden wir das gerne machen.“

Damit sprach er mir aus der Seele. Ich weiß nicht wieso, aber wie aus heiterem Himmel fiel mir wieder mein Vater ein, der, würde er Wind von meinem musikalischen Engagement bekommen, mich sofort wieder vom JHP-Internat nehmen würde. Von meiner Liebe zu Miguel ganz abgesehen.

„Raphael“, sprach mich Alvaro an, als hätte er meine trüben Gedanken gelesen, „wir würden uns ehrlich freuen, wenn du Weihnachten mit uns verbringen würdest.“

Von dieser direkten und herzlichen Einladung war ich sehr gerührt, ohne noch weiter darüber zu grübeln antwortete ich: „Vielen Dank, Alvaro. Dieser Einladung würde ich mit großer Freude nachkommen.“

Dabei sah ich in Miguels strahlendes Gesicht. In Miguels Familie fühlte ich mich einfach wohl, akzeptiert und – ja – geborgen.

Im Gegensatz zu meiner eigenen Familie. Zwar wusste ich Mama theoretisch auf unserer Seite, doch hatte ich nicht die geringste Lust, die gute und liebevolle Stimmung im Hause Hernandez mit der ablehnenden, eisigen und bisweilen widerwärtigen Laune meines Herrn Vaters zu tauschen.

Gegen Mitternacht, Herr Kramer hatte dankenswerterweise im Internat Bescheid gegeben, verabschiedeten wir uns. Miguels Eltern fuhren direkt nach Hause, nachdem wir mehrfach versichert hatten, gerne noch ein wenig frische Luft schnappen zu wollen auf dem kurzen Weg zum Internat. Herr Kramer wollte uns begleiten, während Oliver ja nur einmal im Viereck laufen musste.

Überglücklich lag ich kurze Zeit später in meinem Bett und hielt einen ebenso glücklichen Miguel in meinen Armen. Tatsächlich darf ich behaupten, dass der Applaus des Publikums nicht nur euphorisierend, sondern ziemlich aphrodisierend wirkte.

Miguel

Als wir am Montag zum Unterricht erschienen, wurden wir mit „standing Ovations“ empfangen. Ich wusste gar nicht, wie mir geschah und wie ich reagieren sollte. Raphael erging es ebenso, so brachten wir nicht mehr als ein oft wiederholtes „Danke“ zustande.

Dass wir am 10. Januar ein Klavier-Duett spielen würden, war beschlossene Sache, weshalb wir in jeder freien Minute im Musikkabinett zu finden waren und an unserem Programm feilten. Herr Walz war über diesen Vorschlag seines Kollegen mehr als froh, denn aus dem Schulorchester war gerade durch die ständig notwendigen Umbesetzungen irgendwie die Luft raus. Da in der Aula nur Platz für etwa 250 Zuhörer war, wurden Voranmeldungen gegen zwei Euro pro Platz angenommen. Hierzu konnte der hiesige Bäcker gewonnen werden, dem vorab 50 Karten überlassen wurden. Die weitaus größere Zahl würde intern benötigt werden, bei der großen Zahl von Schülern und ihren Familien.

Es war schon einigermaßen erstaunlich: Kaum hatte sich die Idee dieses Klavierabends herumgesprochen, waren alle 250 Karten vergriffen. Und das nur durch mündliche Bekanntgabe in den Jahrgangsstufen und durch ein einziges Plakat im Schaufenster des Bäckers. So wurde beschlossen, einen weiteren Abend anzubieten, was aber erst 10 Tage später möglich war, einen Tag nach Raphaels Geburtstag übrigens. Im Nu verflog so die restliche Zeit bis Weihnachten und den gleichnamigen Ferien.

Am 21. Dezember holte uns Papa nach dem Mittagessen ab. Und es begann das schöne Weihnachtsritual im Hause Hernandez. Selbst mein Bruder trug mit Hilfsbereitschaft und ohne loses Mundwerk zur gelebten Harmonie bei. Ich merkte, wie dieses liebevolle Miteinander bei Raphael einerseits Wehmut auslöste, weil er das so überhaupt nicht von zu Hause kannte. Andererseits genoss er es in vollen Zügen, was mir einen noch ausgeglicheneren und noch schmusigeren Freund als sonst bescherte.

Zuerst vereinbarten wir, dass wir uns nichts schenken wollten, bis Raphael mit der Idee von Freundschaftsringen rausrückte. Da konnte ich nicht nein sagen. Also machten wir uns am 23. noch auf den Weg zum Juwelier. Zunächst war an den Exemplaren, die uns gezeigt wurden, immer eine Kleinigkeit auszusetzen oder sie gefielen zwar dem einen, dafür aber dem anderen nicht. Es war fast zum Haare ausraufen, bis unser Blick gleichzeitig auf einen eher schlichten, silbernen Ring mit einem kleinen Absatz rundherum, fiel.

„Das ist er“, stellten wir gleichzeitig fest. Wir hatten beide recht schlanke Hände mit relativ langen Fingern. Wir streckten beide dem Juwelier kommentarlos unsere jeweils linke Hand hin. Der grinste nur und zog eine weitere Schublade auf. Schnell waren Ringe in den passenden Größen gefunden, die sich darin nur minimal unterschieden.

Es sollte nun in jeden Ring der Vorname des anderen und das aktuelle Datum in Mikroschrift eingraviert werden. Darauf war man vorbereitet, so dass wir die Ringe eine Stunde später abholen sollten. Familie Hernandez war im Hause bekannt, so dass der Juwelier nur abwinkte, als Raphael schon vorab bezahlen wollte.

So drehten wir noch eine Runde auf dem Weihnachtsmarkt, wo man allerdings schon an etlichen Ständen mit dem Abbau beschäftigt war. So war die Stimmung eher hektisch als beschaulich. Naja, es war halt schon der 23ste.

Da entdeckte ich plötzlich an einem Stand mit hölzernem Christbaumschmuck einen kleinen, feingearbeiteten Konzertflügel und einen ebenso zierlichen, zweimanualigen Orgelspieltisch. Nun hatten wir doch noch etwas für meine Eltern gefunden. Für Manuel wollte ich noch die beiden letzten Star-Trek-Filme auf DVD besorgen, denn ich wusste sicher, dass die ihm noch in seiner Sammlung fehlten.

Nachdem wir unsere Ringe geholt und bezahlt hatten, machten wir uns auf den Heimweg zur Futterkrippe. Wir hatten verabredet, die Kosten genau zu teilen, denn die Gravur wurde nach der Anzahl der Zeichen berechnet.

Zuhause wurden wir schon erwartet, es gab eine Nudelsuppe mit Huhn. Genau richtig, um sich wieder aufzuwärmen.

„Nachher gibt es dann Kaffee und Käsekuchen“, verriet Mama, was Raphaels Augen noch mehr zum Leuchten brachte.

„Hast du den extra wegen mir gebacken?“, fragte nun Raphael ein wenig unsicher.

„Ja sicher, wenn wir schon so hohen Besuch haben“, machte sie meinen Freund völlig verlegen. Ich grinste, denn Mama wickelte Raphael komplett um den Finger.

„Na die anderen mögen den schon auch sehr gerne“, beruhigte sie ihn dann. „Also in zwei Stunden etwa!“

So zogen wir uns auf unser Zimmer zurück, denn wir wollten gleich die Geschenke hübsch verpacken. Dafür hatten wir ähnliche Vorstellungen. Raphaels Kreativität war fast noch ausgeprägter als meine. Mit kunstvoll gefaltetem Papier, zwei verschiedenen Bändern und zum Schluss noch einem Tannenzweig produzierten wir kleine Kunstwerke. Aus meinem reichhaltigen Fundus von Kunstkarten und Geschenkanhängern der verschiedenen Hilfsorganisationen, denen ich regelmäßig von meinem üppigen Taschengeld spendete, suchte ich drei passende Motive heraus. Einen Anhänger mit einem Teddy für meinen Bruder, einen von Kindern gemalten Engel und die Miniatur einer Winterlandschaft. ‚Für Manuel von Raphael und Miguel‘, ‚für die liebsten Eltern der Welt von Raphael und Miguel‘ und ‚für die verständnisvollsten Eltern der Welt von Miguel und Raphael‘. Als Raphael dieses letzte Schild schrieb, kullerten ihm wieder zwei Tränen über die Wangen, weshalb ich ihn sofort in den Arm nahm.

„Scht, alles wird gut, glaub mir“, versuchte ich ihn zu trösten, obwohl ich mir meiner Worte ganz und gar nicht sicher war.

„Ach Miguel“, seufzte er.

Es klopfte an der Tür. „Komm rein“, forderte ich den Störenfried auf. Da streckte Manuel seinen Kopf durch die Tür. Mit dem hätte ich nicht gerechnet, denn der polterte üblicherweise einfach herein.

„Oh, du bist es!“, entfuhr es mir also. Manuel grinste schief, doch sein Gesichtsausdruck wurde sofort wieder ernst, als er Raphaels Tränen bemerkte.

„Was ist passiert?“, fragte er besorgt. Worauf mein Freund ein Lächeln versuchte und sagte: „Hallo Manu, passt schon. Musste nur eben an Zuhause denken.“

Nach einem prüfenden Blick brachte mein Bruder sein eigentliches Anliegen vor: „Kaffee ist fertig!“ Was wiederum Rafis Gesicht endgültig aufhellte.

„Wir kommen!“, erklang unisono, was zu allgemeiner Heiterkeit führte.

Im Wohnzimmer war die Kaffeetafel liebevoll gedeckt.

„Also im Internat gibt es manchmal ja auch Kaffee und Kuchen. Die sind schon auch gut, zumal unsere Köche auch richtig gut backen können. Aber gegen deinen Käsekuchen, Sylvia, kommt keine Kuchen der Welt an, ehrlich“, lobte Raphael Mamas Kuchen in den höchsten Tönen. Dabei strahlte er mit den Kerzen des Adventskranzes um die Wette.

„Danke, Raphael. Es freut mich, wenn er dir schmeckt. Nimm noch ein Stück, bevor ihn die anderen hier wegfuttern.“

„Ich möchte aber auch noch ein Stück“, beschwerte sich Manuel.

„Ja, ja“, meinte Raphael beschwichtigend und alles lachte.

Mamas Rezept war einfach unschlagbar, so blieb nicht ein Krümel übrig, dabei aß Mama, wie immer, nur ein einziges, verhältnismäßig kleines Stück. Sie grinste in die Runde: „Dann reichen gegen später ja ein paar belegte Brote.“

„Ja, wahrscheinlich schon.“

Lediglich mein Bruder, die alte Fressmaschine, meldete vorsichtige Bedenken an, was aber nur schallendes Gelächter auslöste.

Der Tag klang gemütlich aus. Für neun Uhr am anderen Morgen verabredeten wir uns zum Frühstück.

Trotz der Kälte draußen, schlüpften wir hüllenlos unter meine große Decke. Raphael schmiegte sich eng an mich. Gegenseitig gaben wir uns nicht nur die notwendige Wärme, sondern vor allem eine große Sicherheit und Geborgenheit. Leise redeten wir noch recht lange über unsere Gefühle und unsere Situation. Dabei wurde uns klar, dass wir im Grunde in einer sehr privilegierten Position lebten. Auch wenn Raphaels Vater eine schwere Gegenposition vertrat, so würde er uns damit nichts mehr anhaben können. Freilich hätte er uns trennen und Raphael vom JHP-Internat nehmen können, doch unsere Verbundenheit war inzwischen so groß, dass wir das gute Jahr, bis Raphael achtzehn sein würde, zur Not getrennt überstehen würden. Über diese zwiespältigen Gedanken sind wir schließlich eingeschlafen.

Raphael

Gegen sieben Uhr wurde ich wach, weil es in unserem Bett plötzlich richtig eng war.

„Boa eh, Rafi, du erdrückst mich fast! Rück mal ein wenig!“, brummte Miguel.

„Dann fall ich aber aus dem Bett“, gab ich verschlafen zurück. Schlagartig öffnete ich meine Augen und realisierte, dass sich Miguels Bruder zwischen uns gequetscht hatte und sich ganz still verhielt. Und noch etwas spürte ich überdeutlich.

„Sag mal, spinnst du jetzt komplett?“, herrschte ihn sein Bruder an. „Sich einfach zwischen uns zu drängeln? Und wieso hast du nichts an?“

„Wieso? Habt ihr doch auch nicht“, erklärte er frech.

‚Na, wenn er meint‘, dachte ich hinterlistig und begann, ihn durchzukitzeln. Damit hatte er wohl nicht gerechnet. Und er war verdammt kitzelig, weshalb er laut losquietschte und gar nicht wusste, wie er sich gegen meine Kitzelattacken wehren sollte. So ohne Klamotten bot er ein noch leichteres Ziel. Das hatte er wohl nicht gut überlegt. Miguel lachte sich jedenfalls schier kaputt.

Sehr schnell bat Manuel um Frieden, zumal diese Aktion unser aller Blut in Wallung brachte. Doch das schien ihm überhaupt nicht peinlich zu sein, im Gegenteil. Als er eingesehen hatte, dass unser Bett für drei Personen doch etwas zu klein war, stand er seelenruhig auf und präsentierte sich in voller Größe und Schönheit. Mit einem „bis nachher“, verließ er, wie er war, unser Zimmer. Er schien sich dabei sehr sicher, dass ihm keiner seiner Eltern über den Weg laufen würde.

„Was ist denn in den gefahren?“, fragte ich erstaunt.

„Ich habe keinen blassen Schimmer“, stellte Miguel fest. „Der wird doch nicht etwa, rechtzeitig zu Heiligabend, wieder normal werden.“

„Naja, als normal würde ich diese Aktion jetzt nicht klassifizieren“, erwiderte ich.

„Stimmt. Komm, lass uns noch eine halbe Stunde schlafen“, schlug Miguel vor.

Nach dem Frühstück wurde das Wohnzimmer zum Sperrbiet erklärt. Nicht jedoch, bevor Miguel mit seinem Vater den Tannenbaum aufgestellt hatte. Das wurde irgendwie ein größeres Unterfangen, bis das Ding endlich zur Zufriedenheit Alvaros‘ stand. Da war er offensichtlich hochgradig pingelig.

Da wir ein paar Weihnachtslieder vortragen wollten, stellten wir schnell noch Miguels Keyboard schräg zum Klavier, bevor endgültig Betretungsverbot herrschte. Bis zum Mittagessen wollten uns Paola und Alvaro aus dem Weg haben. Daher zogen wir uns auf Miguels Zimmer zurück und beschlossen eine Partie Schach zu spielen. Noch so eine kleine Leidenschaft, die wir teilten. Besonders schön daran war, dass wir beide in etwa gleich stark spielten.

Wir waren ziemlich in unsere dritte Partie vertieft, als es klopfte. Gleichzeitig rief Manuel von draußen: „Es gibt Essen!“

„Wir kommen!“, antwortete Miguel und sah mich etwas verwundert an.

„Ich bin auch überrascht, dass er nicht wieder einfach reingeplatzt ist“, meinte ich schulterzuckend.

Diesmal war in der Küche gedeckt, da ja das Wohnzimmer noch nicht wieder betreten werden durfte. Die Spaghetti Carbonara schmeckten ganz vorzüglich, was allgemein besonders gelobt wurde.

„Raphael, auch Kaffee?“, fragte Paola.

„Ja, gerne!“

Kurz darauf hatte jeder eine dampfende Tasse vor sich. Ich schaufelte zwei Löffel Zucker in meinen Kaffee, wie auch Manuel.

Inzwischen war es zwei Uhr. Paola gab bekannt, dass es gegen fünf Uhr verschiedene Tapas geben würde, danach sollte Bescherung sein und um 22 Uhr würde, wer wollte, in die Christmette gehen. Wir verschwanden wieder in unserem Zimmer, wo wir zunächst die Partie Schach zu Ende spielten.

Kurz vor fünf Uhr entledigte sich Miguel plötzlich seiner Klamotten bis auf die Unterwäsche, was ich mit großen Augen beobachtet. Miguel grinste frech, lief ein wenig auf und ab, fischte sich ein weißes Hemd aus dem Schrank und zog es an. Ich grinste zurück: „Erst scharf machen und dann ist doch nix.“

Er lachte: „Das hab‘ ich schon bemerkt. Aber magst du dich nicht auch umziehen?“

Schon stand auch ich nur noch in Unterwäsche da und zog mir eine lange Unterhose drüber. „Willst du raus in den Schnee?“, spöttelte Miguel.

„Ne, aber meine hellgraue Hose ist alleine zu dünn, um nachher in die Christmette zu gehen.“

„Oh, du hast Recht, dann sollte ich da auch nachbessern“, gab er zu.

Miguel sah in der dunkelblauen Hose und dem weißen Hemd einfach hinreißend aus. Ihm schien meine Kombination aus grauer Hose und violettem Hemd ebenfalls zu gefallen.

„Moment noch!“, bat ich, nahm seine linke Hand und steckte ihm seinen Ring an den Finger mit den Worten: „Miguel ich liebe dich über alles und wünsche mir, dass das nie aufhört!“

Miguel sah mich verträumt an und antwortete: „Ich liebe dich auch über alles. Für immer!“, und steckte mir meinen Ring an den Finger.

Als wir in der Küche ankamen, verschlug es mir die Sprache und ich brachte nur ein staunendes „Ohhhh“ zustande. Auf der Anrichte war ein sehr reichhaltiges Tapas-Buffet aufgebaut. Die große Lampe über dem Tisch war ausgeschaltet, dafür brannten überall unzählige Kerzen. Auch die vier Kerzen auf dem Adventskranz waren noch einmal angezündet worden.

„Das ist wunderschön“, flüsterte ich meinem Freund mit glasigen Augen zu. Er nahm mich in den Arm und Paola gesellte sich auf die andere Seite und legte mir eine Hand auf die Schulter.

„Freut mich sehr, dass es dir gefällt“, betonte sie. „Kommt, greift zu!“

„Wer möchte einen Rotwein?“, fragte Alvaro. Alle nickten und so schenkte er einfach reihum ein. So ließen wir uns nacheinander mit unseren Tellern am Küchentisch nieder und genossen dieses feine Essen.

„Schöne Ringe übrigens“, lobte Paola beiläufig und lächelte uns glücklich zu. Von den Leckereien blieb nur deshalb etwas übrig, weil es wirklich viel war. Die wenigen Reste würden das Frühstück am nächsten Morgen bereichern.

Die nun folgende Aufräumaktion verlief etwas chaotisch, weshalb niemand bemerkte, dass Alvaro plötzlich fehlte. Ganz leise erklang ein Glöckchen, was alle aufhorchen ließ. Besonders Manuel wurde jetzt ganz zappelig. Es war schön zu sehen, dass er eben doch nicht der coole Macker mit der losen Schnauze war.

Paola nahm ihn einfach an der Hand und schob ihn ins Wohnzimmer. An dem mit roten Kugeln und Holzminiaturen, also Figuren, Sternen und allerlei kleinen Gegenständen geschmückten Baum, brannten echte Kerzen. Zusammen mit der Beleuchtung der kleinen Krippe tauchten sie das Wohnzimmer in ein wohliges Licht. Miguel nickte mir zu und setzte sich ans Klavier, während ich Miggis Keyboard einschaltete. Leise begann er zu spielen. Nach „Leise rieselt der Schnee“, in das ich mit dem Vibraphon einfiel, begann ich mit „Kling, Glöckchen, klingelingeling“.

So hangelten wir uns durch sämtliche traditionellen Weihnachtslieder. Wir spielten sie wieder völlig anders, als bei unserem Konzert. Als ich einmal aufsah, hatten Paola und Alvaro Manuel in ihre Mitte genommen. Ihre Augen glänzten ebenso, wie auch die meines Freundes. Auch ich spürte das Wasser in meinen Augen. Ich nickte ihm fast unmerklich zu, was er quittierte und wir begannen gleichzeitig mit „Stille Nacht“.

Das wiederholten wir und begannen zu singen. Auch Manuel hielt tapfer mit, er hatte inzwischen einen tollen Bariton, wie ich fand. Nach zwei Strophen war es aber mit der Textsicherheit nicht mehr weither, sodass Miggi und ich zu improvisieren begannen und einen Übergang zu „Oh, du fröhliche“ herstellten, bei dem wieder alle aus voller Kehle mitsangen. Damit ließen wir es dann bewenden und wurden mit heftigem Applaus und herzlichen Umarmungen belohnt.

„Manuel, du hast eine wunderschöne Baritonstimme“, schwärmte ich. Verlegen sah er zu Boden.

„Ja, das stimmt“, unterstrich Alvaro meine Aussage. Er hatte sich auf einen der Stühle gesetzt und zog seinen jüngsten einfach zu sich. Manuel sträubte sich überhaupt nicht, wie man es aus seinem bisherigen Verhalten hätte schließen können. Im Gegenteil, er setzte sich auf den Schoß seines Vaters und schmiegte sich an ihn. Alvaro schloss einfach seine Arme um Manuel.

„Dass ich das noch erleben darf!“, stichelte Miguel.

„Lass ihn doch“, beschwichtigte ich leise meinen Freund.

„Na, so, wie der sich in letzter Zeit mir gegenüber verhalten hat. Und sein loses Mundwerk uns gegenüber“, verteidigte er sich. „Früher hat er es immer so hingedreht, dass ich den Mecker bekommen habe, obwohl er meist der Verursacher von Streit oder Unsinn war. Da wird man sich wohl noch wundern dürfen.“

Dieser Satz kam wohl etwas schärfer, als er beabsichtigt hatte. So ging er rasch hinüber zu seinem Bruder und streichelte ihm über den Rücken.

„Aber es ist schön zu sehen, dass du nicht der Arsch bist, den du hier manchmal gegeben hast.“

Manuel erhob sich und umarmte einfach seinen überraschten Bruder, der ihm weiter über den Rücken streichelte. Er seufzte tief und bekannte mit leiser Stimme: „Es tut mir ehrlich leid, dass ich mich so idiotisch aufgeführt habe.“

„Manu“, begann Alvaro, „wir sind sehr froh über deine Selbsterkenntnis. Weißt du, Mama und ich sind oft schier verzweifelt. Dass wir euch meist eher strenge, als liebevolle Eltern waren, habe ich neulich schon deinem Bruder und seinem Freund gesagt. Insoweit sind wir nicht unschuldig.“

„Du nennst mich Manu? Papa, ich dachte du kannst die Abkürzungen unserer Namen nicht leiden?“, gab Manuel seiner Verwunderung Ausdruck.

Worauf Alvaro grinste: „Ach Manu, ich habe mich längst daran gewöhnt und ‚Miggi‘ ist ja deine Erfindung aus der Zeit, in der du das Sprechen gelernt hast. Das ist am Ende einfach eine liebevolle Erinnerung. Deine Freunde nennen dich ja sicher alle ‚Manu‘, oder nicht?“

Da hatte Manuel plötzlich Tränen in den Augen. Alle dachten aus Rührung, bis er leise sagte: „Ich habe keine Freunde.“

Betroffen schauten wir uns an.

„Hey Manu, wie kommst du denn darauf?“, reagierte Miguel am schnellsten. „Was ist mit Tim und mit Rudi? Oder Tommi?“

Inzwischen saß er tatsächlich auf dem Schoss seiner Mutter.

„Naja, mit denen verstehe ich mich ganz gut“, räumte er ein, „aber trotzdem.“

Wieder seufzte er tief und fuhr kaum hörbar fort: „Was wäre, wenn ich genauso wäre wie Miguel und Raphael?“

Ruckartig sah Miguel zu mir und ich konnte seine nicht gestellte Frage genau hören: ‚deshalb also die Aktion von heute Morgen?‘ Ich zuckte nur mit den Schultern.

„Was soll dann sein?“, gab Alvaro zurück.

„Dann gibt es halt keine Enkelkinder“, stellte Paola trocken fest und zog Manuel nur noch fester an sich.

„Ihr verstoßt mich nicht?“, fragte er nach.

„Manu, spinnst du? Wie kommst du denn auf diesen absurden Gedanken?“, wollte Alvaro jetzt wissen, „haben wir Miggi und Rafi vielleicht verstoßen?“

Jetzt grinsten alle, denn Alvaro hatte sämtliche Kosenamen verwendet, was für alle etwas völlig Neues war. Damit hatte er gleichzeitig klar gemacht, dass sich hier niemand seiner Orientierung schämen musste oder gar Repressalien zu befürchten hätte.

Trotzdem fragte Paola vorsichtig nach: „Manuel, ist es denn so? Du hast eben nur gefragt ‚was wäre, wenn?‘“

Jetzt schaute Manuel verunsichert drein. Nach einer Weile antwortete er dann: „Ich bin mir ehrlich gesagt nicht sicher. Kann ich da mal mit euch reden?“, wandte er sich an Miguel und mich.

„Jederzeit“, bestätigten wir ihm gleichzeitig.

„Vielleicht nicht grade heute Abend, meinst du nicht?“, relativierte ich unsere Aussage ein wenig. Jetzt grinste er breit und meinte nur: „Okay.“

„Moment noch, bitte“, schob Miguel nach und spurtete rasch nach oben, um unsere kleinen Geschenke zu holen und einfach zu den anderen unter den Baum zu legen. Schließlich gesellte ich mich zu meinem Freund und legte einen Arm um ihn.

Paola fragte Manuel, ob er denn nicht mal schauen wolle, was da unter dem Baum liegen würde. Das ließ sich Miggis Brüderchen nicht zweimal sagen und brachte nun ein Geschenk nach dem anderen an den Mann und gelegentlich auch an die Frau.

Tatsächlich hatten wir im Vorfeld vereinbart, uns „eigentlich nix“ schenken zu wollen, und wenn doch, dann eben nur eine Kleinigkeit. So trafen wir mit unserer Wahl sehr wohl den Nerv, sowohl bei Manuel, als auch bei Paola und Alvaro. Bei den beiden hatte ich fast den Eindruck, dass sie sich über die Anreden auf den Kärtchen fast noch mehr freuten.

Was dann kam, war allerdings der Hammer: Für Miguel und mich gab es „nur“ ein Kuvert. Zuerst dachten wir an Geld, das ja dauerklamme Teenager immer gebrauchen können. Wobei ich fairerweise sagen muss, dass es uns beiden sicherlich nicht am Taschengeld fehlte: Unsere Konten waren gut gefüllt. Als wir das Kuvert öffneten, fiel sofort Alvaros schöne Handschrift auf. Mit dieser Karte hatte er sich viel Arbeit gemacht, mit mehreren Farben hatte er einen „Gutschein“ kreiert, den man gar nicht sofort öffnen wollte, weil es darauf so viele Kleinigkeiten zu entdecken gab. Einzelne Noten und Klaviertasten, Orgelpfeifen, Violin- und Bassschlüssel - alles war kunstvoll angeordnet. Auch ein kleiner Regenbogen fehlte nicht. Als Miguel dann die Faltkarte ehrfurchtsvoll öffnete, blieb uns beiden die Spucke weg. ‚Gutschein für Miggi und Rafi für je eine komplette Konzertgarderobe‘ stand dort klar und deutlich und doch künstlerisch-spielerisch verziert geschrieben.

„Ihr seid ja verrückt!“, entfuhr es Miguel leise, was bei seinen Eltern jedoch nur das breitestmögliche Grinsen auslöste.

Diesmal erläuterte Paola den Hintergrund: „Auch wenn ihr es immer herunterspielt. Es ist wie es schon der Kantor vor eurem ersten Konzert gesagt hat: Ihr seid zwei Ausnahmetalente, die zusammen noch um ein Vielfaches stärker sind, als jeder für sich. Glaubt mir, ich weiß wovon ich rede. Für mich …“

„Uns!“, rief Alvaro dazwischen.

„… ist inzwischen klar, dass das an eurer besonderen Beziehung zueinander liegt. Wie auch immer. Wir trauen euch zu, dass ihr das eine oder andere Konzerthaus füllen werdet. Und dafür solltet ihr angemessen gekleidet sein. Eure Internatsuniform ist ja ganz nett, aber wenn ihr mal nicht für das Internat spielt, könnt ihr ruhig mit einem feineren Outfit auftreten. Gleich nach den Feiertagen haben wir einen Termin beim Herrenausstatter eures Vaters vereinbart. Dann werden wir mal schauen, was es da so gibt. Ihr könnt übrigens eure Münder wieder zu machen, sonst zieht’s“, scherzte sie.

Miguel war genauso geplättet wie ich. Dann fiel er seinem Vater um den Hals und ich Paola.

„Papa, ich weiß nicht, was ich sagen soll. Vielen, vielen Dank.“ Mehr brachte Miguel nicht heraus.

„Ich … ich kann nicht ausdrücken, wie ich euch danken soll“, stammelte ich und schob leise hinterher: „Ihr kümmert euch mehr um mich, als meine eigenen Eltern.“

Auch Manuel war sprachlos als er sein Kuvert öffnete. Er fand darin einen Gutschein für einen neuen Computer.

So viel dazu, sich nichts schenken zu wollen.

Inzwischen waren die Kerzen am Christbaum heruntergebrannt, was uns indirekt aufforderte, uns für den Kirchgang fertig zu machen. Einträchtig nebeneinander machten wir uns auf den Weg durch die einsamen und verschneiten Straßen. Wir hatten Manuel in die Mitte genommen, außen lief Paola an meiner Seite und Alvaro flankierte Miguel.

In der Kirche wurde es ziemlich voll. Überall sahen wir in lauter freundlich strahlende Gesichter. Am Eingang wurden alle persönlich von Pfarrer Beuerle begrüßt. Als ich ihm vorgestellt wurde, nickte er wissend. Er ergriff meine und Miguels Hand, um uns frohe Weihnachten und alles Gute zu wünschen. Allein diese Geste beeindruckte mich zutiefst. In diesem Weihnachts-Gottesdienst gab es in der Predigt Pfarrer Beuerles einige Anspielungen auf besondere Lebenssituationen mit einem Aufruf zu Toleranz und Akzeptanz.

Nachdenklich und noch mehr beeindruckt gingen wir nach Hause, Miguel und ich vorneweg, dahinter Manuel zwischen seinen Eltern.

Ich konnte mich nicht erinnern, jemals zuvor ein so schönes Weihnachten verbracht zu haben.

Am zweiten Weihnachtsfeiertag wurde es nochmal richtig spannend. Die Großeltern väterlicherseits und ein Onkel Miguels mit Familie hatten sich zum Weihnachtskaffee angekündigt.

Alvaro hatte uns vorsichtig gefragt, ob wir nicht nochmal unser Weihnachtskonzert spielen wollten. Das konnten wir unmöglich ablehnen. Miguel meinte dann nur etwas kryptisch: „Ja gerne, Papa, wenn ihr uns dafür den Rücken freihaltet.“

Ich muss gestehen, dass ich sehr aufgeregt war, als ich Oma Carmen und Opa Francisco vorgestellt wurde. Insbesondere Oma Carmen taxierte mich sehr genau, sie schien zu ahnen, dass da mehr war zwischen Miguel und mir. Miguels Onkel Diego und seine Tante Jimena machten einen sehr offenherzigen Eindruck auf mich. Ihre beiden Mädchen Ana und Chloe dagegen waren sehr scheu und versteckten sich anfangs hinter ihrer Mama. Gut, die beiden waren auch erst drei und fünf Jahre alt.

Es war eine sehr fröhliche Gesellschaft, die sich am Tisch munter unterhielt. Auch die beiden kleinen tauten zunehmend auf.

Miguel und ich setzten uns dann eher beiläufig ans Klavier und begannen ‚Ihr Kinderlein kommet‘ in Form eines Ragtime zu spielen. Langsam erstarben die Gespräche der Erwachsenen und wir spürten, dass man uns interessiert zuhörte.

Nach einer vierhändigen Überleitung setzte Miguel zu ‚Rudolph, the Red Nosed Reindeer‘ an und ich wechselte zum Keyboard. Wieder improvisierten wir völlig neu. Ich spielte ein wenig mit den gesampelten Instrumenten des Keyboards.

Alvaro hatte uns vorher gebeten wieder mit ‚Stille Nacht‘ und ‚Oh du fröhliche‘ so zu enden, dass alle mitsingen konnten. Doch schon bei ‚oh Tannenbaum‘ sangen die Mädchen voller Freude mit, was auch Manuel zum Mitsingen animierte. Sein klarer Bariton bescherte mir eine Gänsehaut.

Der Applaus zum Schluss brachte Miguel und mich zum Erschaudern. In der Euphorie gab er mir keinen ganz kurzen Kuss auf den Mund, was die Anwesenden zunächst erstarren ließ. ‚Scheiße‘, dachte ich noch, als Alvaro die angespannte Stimmung mit einem ruhigen Kommentar auf- und weiteren Applaus auslöste.

„Wie ihr seht: Musik verbindet“, war alles, was er sagte.

Dann verteilten sich die einzelnen Grüppchen zu mehr oder weniger wichtigen Gesprächen. Paola und Alvaro kamen sofort auf uns zu und brachten ihr Erstaunen darüber zum Ausdruck, wie toll und völlig anders wir wieder gespielt hatten.

Miguel und ich saßen dann eine Weile etwas abseits, als sich Oma Carmen zu uns setzte.

„Jungs, das war überragend gespielt. Eure Abstimmung ist phänomenal“, begann sie ein Gespräch.

Irgendwie brachte uns ein solches Lob noch immer in Verlegenheit. Diese wurde gleich noch viel größer, als Oma Carmen fortfuhr: „Ihr zwei seid mehr als nur einfache Freunde“, stellte sie fest. „Das habe ich schon bei unserer Ankunft gedacht.“

Mir wurde heiß und das Rot in meinem Gesicht strahlte mit dem Miguels um die Wette.

Oma Carmen lachte laut: „Ihr seid ja süß“, was die Situation weiter eskalierte.

„Ach Mama“, erbarmte sich Alvaro. „Lass die Jungs doch zu sich kommen!“, forderte er seine Mutter auf.

„Ja, die beiden sind ein Paar. Aber das ist auch für sie noch neu und nicht leicht.“

„Aber Alvaro, das ist doch heutzutage keine große Sache mehr“, wies sie ihren Sohn zurecht.

„Sollte man meinen“, antwortete Alvaro. „Raphael musste erst kürzlich erfahren, dass es eben nicht so ist.“

„Was? Wieso?“, wollte sie sofort wissen.

„Ich wurde zusammengeschlagen“, übernahm ich die Antwort als Betroffener.

Ungläubig sah Oma Carmen zwischen Alvaro, Miguel und mir hin und her.

„Daher auch diese Platzwunde über meinem Auge, außerdem Prellungen und eine Gehirnerschütterung“, erzählte ich nüchtern weiter.

„Die drei Schläger wurden postwendend der Schule verwiesen“, mischte sich jetzt auch Miguel in das Gespräch ein.

„Das ist ja furchtbar“, kommentierte Miguels Oma. „Ich finde jedenfalls, dass ihr ein schönes Paar seid. Und dann eure Harmonie, wenn ihr musiziert, ist einfach fantastisch. Ihr versteht es, die Menschen zu begeistern“, wechselte sie das Thema in eine erfreulichere Richtung.

„Vielen Dank, Oma, für deine Komplimente. Freut uns sehr, dich auf unserer Seite zu wissen“, sagte Miguel leise und umarmte sie.

Sie drückte ihren Enkel fest an sich. Dann schloss sie auch mich in ihre Arme.

„Es tut mir so leid, was dir widerfahren ist“, flüsterte sie mir zu. Dabei standen ihr Tränen in den Augen. „Ich wünsche euch von Herzen alles Gute und dass so etwas nie wieder passiert.“

„Danke, vielen Dank!“

Ich war überwältigt von so viel echter Herzlichkeit und Zugewandtheit. Miguel war hinter mich getreten und zog mich in seine Arme, so spürte ich, dass es ihm ebenso ging.

Die folgenden Tage „zwischen den Jahren“ brachten dann endlich ein wenig Ruhe, wobei wir dennoch selbstverständlich jeden Tag zusammen übten, um für die beiden Klavierabende gerüstet zu sein. Nicht nur Miguel hatte dafür immer wieder brillante, neue Ideen.

So kamen wir auf den Hummelflug von Nikolai Rimski-Korsakow, den jeder von uns schon gespielt hatte. Daraus entwickelten wir einen „Bumble-Boogie“ für zwei Klaviere, was Miguels Familie schon während unserer ersten Übungsversuche zu wahren Begeisterungsstürmen veranlasste.

Der Besuch bei Alvaros Schneider war einerseits noch einmal wie Weihnachten, andererseits auch einigermaßen kurios. Miguel und ich standen und liefen meist nur in Unterhosen herum, bis wir, nach unzähligen Anproben, schlussendlich mit vergleichsweise schlichten, aber schicken Anzügen ausgestattet waren. Meiner war anthrazit-, Miguels bordeauxfarben. Dabei stellte sich heraus, dass wir, trotz unterschiedlicher Gesamtgröße, exakt dieselben Hosengrößen hatten. Sowohl in der Weite als auch in der Länge. Das brachte uns auf die Idee, dass wir die Hosen auch tauschen könnten. Dann hätte fallweise Miguel eine schwarze Hose zu seinem roten Jackett und ich umgekehrt eine rote Hose zu meinem schwarzen Jackett. Unser Outfit ergänzte jeweils ein weißes Rüschen-Hemd und schwarze Lackschuhe. Miguel bekam eine schwarze Fliege, während meine in genau Miguels Bordeaux ausgewählt wurde. Am Ende waren wir sehr zufrieden mit unserer Wahl. Alvaro gefiel es ebenfalls sehr gut, Paola hingegen war richtig gehend begeistert.

Neben Klavier und Klamotten fanden wir auch die Zeit, um mit Manuel das vereinbarte Gespräch in konstruktiver und entspannter Atmosphäre führen. Der Kleine war sehr aufmerksam. Wir konnten ihm alles erklären, wenn auch seine oft direkten und konkreten Fragen zum Sex unter Männern für uns zuallermeist nur aus theoretischem Wissen, weniger aus praktischer Erfahrung zu beantworten waren. Ob er ebenfalls schwul sei, konnte er am Ende noch nicht sagen. Jedenfalls bedankte er sich herzlich für unsere Hilfestellung. Gleichwohl war sein Interesse, mit uns etwas intimer zu werden, deutlich zu spüren. Mal sehen, wo das noch hinführen würde.

Silvester wurde im Hause Hernandez eher ruhig begangen, selbst Manuel wollte lieber zuhause bleiben.

Nach einem ebenso ausgedehnten wie leckeren Fondue spielten wir gleich zwei Runden „Die Siedler von Catan“.

Am Neujahrstag unternahmen wir, nach einem gemütlichen Start, einen gemeinsamen Ausflug zur Drachenfelsruine, die etwa auf halbem Wege zum Internat lag. Nach einer Einkehr in ein gutes chinesisches Restaurant, brachten uns Paola, Alvaro und Manuel gegen Abend ins Internat zurück. Zwar müssten wir uns dort noch bis zum 6. Januar selbst versorgen, so aber konnten wir uns in aller Ruhe auf unsere Konzerte vorbereiten.

Miguel

Das klappte nicht ganz ohne Reibereien, so dass wir uns zeitweise aus dem Weg gingen. Offiziell waren wir ja noch auf getrennten Zimmern untergebracht. Doch, wenn wir nach einem Streit in getrennten Zimmern und Betten lagen, konnten wir nicht schlafen und begegneten uns jedes Mal auf dem Flur, jeder mit seinem Bettzeug bewaffnet, auf dem Weg zum jeweils anderen.

Manchmal übten wir auch getrennt, wenn sich unterschiedliche Defizite zeigten. Bei aller Begeisterung ergaben sich so zwangsläufig die nötigen Pausen für jeden.

Nach dem Dreikönigstag war es dann mit der Ruhe vorbei, als Schüler, wie Lehrer aus den Ferien kommend das Internat stürmten.

Den 8. und 9. Januar indes verbrachten die verschiedenen Klassen und Arbeitsgemeinschaften mehr oder weniger hektisch mit den abschließenden Vorbereitungen ihrer Projekte für den Tag der offenen Tür.

Für Raphael und mich waren diese beiden Tage eher ruhig. Wir halfen Herrn Maier bei der Bestuhlung der Aula, was dieser dankbar annahm. Schließlich wurden noch am 8. Januar die beiden Flügel in Position geschoben und tags darauf frisch gestimmt. Da der Tag der offenen Tür am 10. Januar bereits um 9:30 Uhr mit der Begrüßungsrede unseres Direktors beginnen sollte, wurde unsere Generalprobe auf den 9. abends angesetzt. Sie verlief nicht reibungslos, denn Raphael plagte eine unerklärliche Unruhe. So sah ich mich veranlasst, mich nachts abermals zu meinem Schatz zu schleichen, da wir andernfalls wohl beide kein Auge zubekommen hätten.

Am 10. Januar wurde ich um halb sieben wach. Raphael lag, wie üblich, halb auf mir mit dem Kopf auf meiner Brust. Den ruhigen Atembewegungen nach zu schließen, schlief er noch. Ich fühlte mich unendlich glücklich und konnte nicht anders, als ihm vorsichtig durch den Wuschelkopf zu streicheln. Nach einer Weile spürte ich, dass er aufwachte, doch rührte er sich nicht. Ich wusste auch warum und grinste innerlich. Er genoss meine Streicheinheiten. Deutlich spürte ich seine Körpermitte. Plötzlich ging seine rechte Hand sehr zielstrebig auf Wanderschaft. Ich stöhnte leise als sie ihr Ziel gefunden hatte. Er veränderte seine Position etwas, so dass auch ich freien Zugriff hatte. Dann drückte er mir seine Lippen auf die meinen. Das Kribbeln in meinem Körper verstärkte sich ins unermessliche. Gleichzeitig erreichten wir den Höhepunkt und Raphael fiel schwer atmend neben mir auf den Rücken. Mit seinen langen Armen angelte er sofort nach mir und zog mich auf sich.

„Guten Morgen, Miggi. Das war jetzt kurz, aber richtig schön“, hörte ich ihn sagen.

„Guten Morgen, Rafi. Ja, das finde ich auch.“

„So könnte ich noch stundenlang liegenbleiben“, schob ich hinterher und legte jetzt meinen Kopf auf seine Brust.

„Das glaub ich wohl“, bestätigte er. „Aber irgendwann wirst du mir zu schwer. Außerdem sollten wir wohl besser aufstehen. Vielleicht schaffen wir es noch vor dem Hauptansturm unter die Dusche.“

Schweren Herzens rutschte ich von meinem Schatz herunter und setzte mich an die Bettkannte. Raphael nutze das und schmiegte sich von hinten an mich.

„Hast du noch nicht genug?“, fragte ich ihn scherzhaft.

„Von dir kann man gar nicht genug bekommen“, stellte er verschmitzt fest.

Ich drehte mich zu ihm und reichte ihm ein Papiertaschentuch, damit er wenigstens die groben Spuren unserer Leidenschaft beseitigen konnte.

„Das eine Ding reicht aber nicht“, meckerte er. Also wischte ich ihm ebenfalls über den Bauch.

„Na los, dann komm unter die Dusche. Bis dahin reicht’s wohl, ohne dass gleich jeder sieht, was los ist“, forderte ich ihn auf, sich zu erheben.

Tatsächlich war schon einiges los auf den Gängen. Der ein oder andere grinste uns unverhohlen an. Ob die was bemerkt hatten? Auch im Speisesaal herrschte geordnetes Chaos. Kaum saßen wir an einem Vierertisch, stießen Fabian und KF zu uns.

„Guten Morgen allerseits“, grüßte KF als letzter und knallte sein Tablett heftiger als beabsichtigt auf den Tisch.

„‘tschuldigung“, knurrte er.

„Klappt‘s mit der Motorik heute noch nicht so richtig?“, frotzelte Fabian.

„Ne, irgendwie noch nicht so recht“, grummelte KF und schob entschuldigend hinterher: „Es war spät gestern.“

Alles lachte und wir tauschten uns über die verschiedenen Aktivitäten aus. So wollten KF, Fabian, Kevin und noch drei aus der Parallelklasse den Gästen ein paar physikalische Experimente vorführen. Da würden wir uns als Zuschauer dazugesellen, beschlossen Raphael und ich mit nonverbaler Abstimmung.

Meine Eltern hatten sich schon im Verlauf des Vormittags angekündigt, um sich in Ruhe alles ansehen zu können. Gegen halb zwei hatte Papa einen Tisch in unserem Stammlokal bestellt und Rafi und mich zum Mittagessen eingeladen. Zuvor wohnten wir alle vier den Physik-Vorführungen unserer Klassenkameraden bei. Kevin übernahm hierzu in launiger Art die Moderation. Schade, dass Manuel nicht dabei war, das hätte ihm sicher gefallen.

Nach dem Mittagessen unternahmen wir einen ausführlichen Spaziergang durch den Ort und um den See. Schließlich gönnten wir uns noch Kaffee und Kuchen. Als wir zurück im Internat waren, wurde bereits in der Mensa das abendliche Buffet aufgebaut, das es nach unserem Konzert geben sollte.

Zufällig oder nicht liefen wir Dr. Neubert über den Weg, der zuerst meine Eltern begrüßte, bevor er sich an Raphael wandte: „Raphael, es ist mir gelungen deine Eltern für heute Abend einzuladen. Wir sammeln ja für das Kinderhospiz und euer Benefizkonzert schien mir ein willkommener Anlass zu sein, auch deinem Vater einmal zu zeigen, was wir hier leisten.“

‚Oh, oh‘ fuhr es mir sofort in den Kopf und ein Blick zu Raphael bestätigte mir, dass das keine so gute Idee unseres Direktors war. Raphael wurde kreidebleich und war im nächsten Augenblick auf und davon.

‚Scheiße, Mann‘, war mein nächster Gedanke.

Meinen ersten Reflex, Raphael nachzulaufen, konnte ich mit viel Mühe unterdrücken.

Um mich herum sah ich nur ratlose Gesichter. Das Konzert sollte in einer Stunde beginnen. Es schien mir nun aussichtslos, Raphael dazu bewegen zu können mit mir, wie geplant aufzutreten.

„Was ist denn jetzt los?“, hörte ich Dr. Neubert hilflos fragen.

„Ich vermute, dass für Raphael eben eine Welt zusammengebrochen ist. Er geht davon aus, dass ihm sein Vater sofort jegliche künstlerische Betätigung verbieten und ihn augenblicklich von der Schule nehmen wird, ohne Rücksicht auf andere. Dieser Gedanke blockiert ihn völlig, so dass er nicht mehr in der Lage ist, klar zu denken oder gar Klavierzuspielen. Der Einzige, der vielleicht noch einen Zugang zu ihm finden könnte, ist der Kantor Oliver Stotz. Ich muss sofort zu ihm, entschuldigt mich“, erklärte ich hastig und stob davon.

Zum Glück war Oliver noch zu Hause, aber schon auf dem Sprung zu uns.

„Hallo Miguel, was gibt es denn so Wichtiges? Solltet ihr nicht in einer Stunde euer Konzert geben?“

„Doch, Oliver, aber genau das ist das Problem.“

In kurzen Sätzen erläuterte ich ihm, was vorgefallen war und bat ihn, mit Raphael zu sprechen.

„Ich muss jetzt unser Programm auf alle Fälle umstellen. Raphael wird keinesfalls von Anfang an mitspielen.“

„Okay, Miguel, wo ist er jetzt?“

„Ich vermute und hoffe, dass er sich in seinem Zimmer eingeschlossen hat. Wenn er aus dem Internat weggerannt ist, haben wir keine Chance“, stellte ich fest.

Zusammen mit Oliver eilte ich zurück in unsere Schule. Ich musste hoffen, dass Oliver Erfolg hatte. Ich versuchte, mich selbst zu beruhigen und ging auf mein Zimmer, um mich umzuziehen. Wir hatten im Vorfeld verabredet, dass wir unsere neue Konzertgarderobe anziehen wollten, auch wenn eigentlich die „Anstaltskleidung“ vorgesehen war.

Zum Glück waren auf den wenigen Plakaten unsere Namen nur sehr klein geschrieben. Seines Desinteresses an Kunst und Musik wegen, würde Raphaels Vater sie möglicherweise überlesen. Die Hauptaussage der Plakatierung war: „Jazz’n’Boogie – zwei Schüler an zwei Klavieren.“

Ich machte mich auf den Weg in den „Backstagebereich“ unserer Aula. Es ertönte die Durchsage Dr. Neuberts: „Verehrte Gäste, bitte begeben sie sich in die Aula und genießen einen unterhaltsamen Klavierabend!“

Wie ich es erwartete – von Raphael keine Spur.

Inzwischen stand unser Direktor auf der Bühne und begrüßte die Gäste, vorneweg unseren Landrat und unsere Bürgermeisterin. Er erläuterte nochmal den Benefizgedanken des heutigen Abends und wies auf das anschließende Buffet hin.

„Nun aber lassen sie sich verzaubern von vier Händen auf 176 Tasten!“

Ich eilte auf die Bühne und setzte mich an „meinen“ Flügel. Eigentlich wollten wir gemeinsam beginnen. Jetzt blieb mir nichts anderes übrig, als zunächst meine Solostücke zu spielen in der Hoffnung, dass es Oliver gelang, meinen Raphael doch noch auf die Bühne zu bewegen.

Ich begann mit einem typischen Boogie-Woogie, was mit einem eher höflichen Applaus bedacht wurde. Ich ergriff das Mikro und wandte mich an mein Publikum: „Einen schönen guten Abend verehrte Gäste, das erste Stück war der ‚Rhythm Boogie‘ von Albert Ammons, aus dessen Feder viele wegweisende Titel stammen, wie auch das nächste, das ich jetzt für Sie spielen möchte. Hier ist der ‚Boogie Woogie Blues‘.“

Meine Nervosität hatte sich etwas gelegt, auch wenn ich mit meinen Gedanken immer ein Stück weit bei Raphael war. Trotzdem versuchte ich jetzt durch Blicke und kleine Gesten mit meinem Publikum in Kontakt zu kommen. Tatsächlich gelang mir sowas wie ein nonverbaler Dialog und die Menschen machten es mir leicht und gingen mit. Als ich mich umsah – die Aula war nicht völlig dunkel – erkannte ich in der ersten Reihe meine Eltern, die mich aufmunternd ansahen. Neben Papa erkannte ich Sylvia, Raphaels Mutter, die mich ebenfalls anlächelte. Also musste der Mann neben ihr wohl Raphaels Vater sein. Er schaute eher unbeteiligt, dennoch nicht unfreundlich drein.

Ich beendete das Stück betont langsam. Jetzt klatschten die Zuhörer schon mit etwas Begeisterung. Ich merkte, wie ich mir mein Publikum eroberte.

Zeit, in die Offensive zu gehen. Ich nahm das Mikrophon: „Vielen Dank, sehr freundlich. Das folgende Stück hat Meade Lux Lewis 1927 komponiert. Er wohnte lange Zeit in Chicago an einer vielbefahrenen Eisenbahnstrecke. Das hat ihn wohl inspiriert, den Rhythmus eines schweren Dampfschnellzuges zu imitieren. Hören Sie nun den ‚Honky Tonk Train Blues‘“, sagte ich und grinste: „Das ist übrigens sehr schwer zu spielen.“ Das Publikum lachte.

„Echt“, betonte ich und die Leute lachten noch mehr.

Mit etwas Theatralik setzte ich ein und spielte mich mit meinem Lieblingsstück fast in einen Rausch. Bei besonders gelungenen Improvisationen bekam ich jetzt sogar „Szenenapplaus“. Dann bemerkte ich Raphael hinter dem Vorhang am Rande der Bühne. Er machte einen gefassten und zugleich entschlossenen Eindruck. Ich fokussierte mich auf ihn. Mit dem markanten Schluss setzte tosender Applaus ein. Ich strahlte ins Publikum, erhob und verbeugte mich.

Um die Stimmung mitzunehmen setzte ich mich sofort wieder und begann mit dem ‚Swanee River Boogie‘. Nach den ersten Takten trat auch Raphael ins Rampenlicht. Als wäre nichts geschehen ging er zum zweiten Flügel und lieferte sich mit mir ein musikalisches Ping-Pong-Spiel. Zunächst schaute er, wie ich zu Beginn, nur auf seine Tasten. Ich sah zu Raphaels Vater und registrierte ein ungläubiges Staunen. Irritiert wechselte sein Blick zwischen seiner Frau und seinem Sohn hin und her. Der verlor allmählich seine Befangenheit und lächelte mich an, vermied aber – noch – jeden Blick ins Publikum. Ich konzentrierte mich auf Raphael. Als er wieder mich vorgeben ließ, wechselte ich mit einer kurzen Überleitung zu ‚Blueberry Hill‘. Das Publikum applaudierte und Raphael strahlte jetzt so, wie ich ihn kannte und liebte.

Raphael

Als unser Direx meinen Vater erwähnte, den er angeblich für heute Abend her gelotst hatte, wurde mir schlagartig übel und ich rannte davon. Was hatte sich unser Direktor dabei gedacht? Damit würde alles schlagartig zerstört, mein Erzeuger würde einen Skandal ohne Gleichen verursachen und mich sofort von der Schule nehmen. Klavier und Orgel dürfte ich unter Androhung drakonischer Strafen nie wieder spielen. Das Schlimmste aber war, dass ich Miguel nie wieder sehen würde. Mit einem Schlag brach die Welt für mich zusammen. Ich verschanzte mich in meinem Zimmer, weder fähig einen klaren Gedanken fassen zu können, noch in der Lage zu sein, ein Klavierkonzert zu geben.

Meine Gedanken drehten sich im Kreis und ich fand keinen Ausweg. Keine Ahnung, wie lange das ging. Plötzlich klopfte es vorsichtig an der Tür. Ich sah mich nicht imstande zu antworten. Es klopfte kräftiger, gleichzeitig hörte ich Olivers Stimme: „Raphael, bitte mach auf!“

Eigentlich wollte ich schreien ‚lass mich in Ruhe‘, stattdessen schlurfte ich zur Tür, öffnete und schlich zurück auf mein Bett.

„Was willst du?“, wollte ich das so Offensichtliche wissen.

„Raphael“, rief er ärgerlich, „was meinst du wohl? Ich bitte dich, reiß dich zusammen! Du kannst jetzt Miguel nicht hängen lassen!“

„Mein Vater ist da!“, schoss ich in scharfem Ton zurück. „Damit ist jetzt sowieso alles aus!“, heulte ich los.

„Nein, Raphael. Wie kommst du denn darauf? Das ist jetzt die Chance, ihm zu zeigen, was du – was ihr – drauf habt! Ihr werdet auch heute Abend großen Erfolg haben, davon bin ich felsenfest überzeugt. Das kann dein Vater unmöglich ignorieren.“

„Wenn er mich sieht, wird er einen Skandal erster Klasse veranstalten!“

„So ein Quatsch, Raphael, komm zu dir!“, flehte Oliver. „Wie kommst du nur darauf? Pass auf: Du gehst jetzt da raus und spielst dir zusammen mit deinem Miguel den ganzen Frust von der Seele! Gib jetzt nicht kampflos auf! Zeigt der Welt da draußen, wer ihr seid! Ich denke, dass dann dein Vater als der Verlierer vom Platz geht, wenn du es unbedingt als einen Kampf gegen ihn sehen willst.“

Ich starrte Oliver ungläubig an. Da war was dran!

„Okeeee“, erwiderte ich langgezogen, während sich meine Gedanken überschlugen. Da fasste ich einen Entschluss. „Lass uns gehen“, forderte ich Oliver auf.

In Nullkommanichts hatte ich meinen schwarzen Anzug mit dem weißen Rüschenhemd und der weinroten Fliege angezogen. In Windeseile stürzte ich Richtung Aula, hielt einen Moment inne, um tief durchzuatmen und betrat die Bühne durch den Seiteneingang. Ich stellte mich Miguel gegenüber an den Vorhang, so dass er mich sehen konnte, nicht aber das Publikum. Bewundernd sah und hörte ich, wie er mit dem Publikum locker schäkerte und den ‚Honky Tonk Train Blues‘ intonierte.

Als er mich bemerkte, hellte sich seine Miene weiter auf. Ich konzentrierte mich auf ihn, denn klar war, dass er mich ohne große Vorreden einbinden wollte. Dann wusste ich, was er nahtlos weiterspielen würde, und das gefiel mir. Ich ließ ihn ein paar Takte vorgeben. ‚Augen zu und durch‘. Ich schlenderte zu dem freien Flügel vor mir und nahm auf der Klavierbank Platz. Miguel machte es mir extrem leicht, so setzte ich locker ein. Gut, den ‚Swanee River Boogie‘ konnten wir im Schlaf. Aber vor so einem Publikum, das ich vorerst nicht wagte anzusehen. Anscheinend mühelos wechselte Miggi zu ‚Blueberry Hill‘. Ich begann mich zu entspannen und meine Spielfreude kam unaufhaltsam hervor. Trotzdem war ich froh, dass Miguel Regie führte und ich nicht zu grübeln brauchte, was wir als nächstes spielen würden.

Die Menschen klatschten begeistert in die Hände.

Miguel schnappte sich das Mikrofon und ich hörte ihn sagen: „Vielen Dank! Danke!“

Die Leute waren nicht zu beruhigen. Die meisten Augen waren auf Miguel gerichtet, so dass ich einen ersten, vorsichtigen Blick aus den Augenwinkeln auf unser Publikum warf. Tatsächlich saß da mein Vater mit starrer Miene in der ersten Reihe. Immerhin klatschte er ebenfalls. Doch kannte ich ihn gut genug um zu wissen, dass ihm immer der Schein wichtiger war als das Sein. Aber gut: (Noch) kein Skandal.

Miguel witzelte weiter: „Die beiden Stücke eben haben Sie sicher erkannt. Ich hab’ nämlich vergessen, wie die heißen.“

Gelächter.

„Nein, Quatsch, das war der ‚Swanee River Boogie‘ von 1946, wiederum aus der Feder von Albert Ammons. Und dann das berühmte ‚Blueberry Hill‘, 1940 von Vincent Rose komponiert. Jetzt wollen wir in der Musikgeschichte etwas weiter zurück gehen zu Scott Joplin. Gleich werden Sie bekannte Melodien erkennen: Den ‚Magnetic Rag‘ von 1914, den ‚Maple Laef Rag‘ von 1899 und – natürlich – den ‚Entertainer‘ von 1902. Hier ist für Sie: Raphael Hausner.“

Unter dem begeisterten Applaus (vornehmlich unserer Klassenkameraden) konnte ich ein Lächeln nicht unterdrücken und setzte mich auf Miguels Seite, da diese etwas besser einsehbar war. Ich hüpfte ein wenig auf diesem Gestühl herum, hob den Finger, als ob mir grade erst einfiel, wie man den Sitz etwas tiefer einstellen konnte. Das brachte mir einige Lacher aus dem Auditorium. Zuerst begann ich schulmäßig, doch als ich in „meine“ Musik eingetaucht war, gelang es mir gut zu improvisieren. Übergangslos kam ich zum ‚Maple Leaf Rag‘ in dem ich ein paar fremde, aber populäre Melodien anspielte und dann jeweils so tat, als wäre ich darüber erschrocken. Das wurde mit ausgelassenem Applaus belohnt. Zum ‚Entertainer‘ würde sich dann zur Hälfte Miguel an den anderen Flügel gesellen. So geschah es auch und die Leute lachten, wahrscheinlich machte er irgendwelche Faxen.

Miguel

Als Raphael den ‚Entertainer‘ spielte, setzte ich mich an das zweite Instrument. Allerdings war der Sitz noch auf seine Körperlänge eingestellt, für mich also viel zu niedrig. Spontan spielte ich quasi UNTER der Tastatur, um zu merken, dass sich da ja keine Tasten befanden, also suchte ich übertrieben unter dem Flügel danach. Die Leute lachten, im Augenwinkel sah ich, dass selbst Herr Hausner schmunzelte. Dann fiel mir vermeintlich ein, dass ich ja den Sitz verstellen konnte und kurbelte mich nach oben.

Wir bauten zusammen und im Wechsel den ‚Entertainer‘ immer weiter aus. Schließlich arbeiteten wir uns zum ‚St. Louis Blues‘. Und es war wirklich Arbeit. Das hatten wir unzählige Male geübt. Doch dann variierten wir uns durch diesen Jazz-Standard, was immer wieder mit Zwischenapplaus belohnt wurde. Der Beifall zum Schluss wollte nicht enden.

Ich nahm das Mikro: „Ganz herzlichen Dank, meine Damen und Herren. Wann W.C. Handy diesen ‚St. Louis Blues‘ komponiert hat, ist nicht genau überliefert. Etwa 1912. Er ahnte damals sicher nicht, dass sich im Laufe der Jahre daraus ein Jazz-Standard entwickeln würde. Und nun, verehrte Gäste haben wir einen weiteren Jazz-Klassiker für Sie. Wenn Sie uns beide zufällig schon zum vierten Advent in der Sankt-Nikolaus-Kirche gehört haben, können Sie ja einen Vergleich anstellen. Genießen Sie mit uns die ‚Rhapsodie in Blue‘ von George Gershwin.“

Erst ein Raunen, dann kehrte Stille ein. Raphael nickte mir fast unmerklich zu und ich begann zu spielen. Diese Adaption für zwei Klaviere unterschied sich an vielen Stellen erheblich von unserem Arrangement für Orgel und Klavier. Letztlich war sie auf etwa elf Minuten gekürzt. Ich schloss meine Augen und konzentrierte mich voll und ganz auf Raphael. So brachten wir eine am Ende vergleichsweise leichte Version zustande, an deren Ende einige Sekunden Totenstille herrschte, bevor tosender Beifall einsetzte.

Wir standen auf und trafen uns in der Mitte der Bühne. Mit jeweils einem Arm auf der Schulter des anderen verbeugten wir uns zig Male.

Dann geschah etwas, was ich heute von mir aus nicht gewagt hätte, um Raphael nicht in Schwierigkeiten zu bringen: Mein Freund drückte mir einen – wenn auch flüchtigen – Kuss auf die Lippen. Unsere Klassenkameraden begannen zu johlen. Wieder verbeugten wir uns unzählige Male und die „Zugabe“-Rufe wurden immer lauter und mit rhythmischem Klatschen untermauert.

Ohne mich vorher mit Raphael abzustimmen griff ich wieder zum Mikrofon: „Herzlichen Dank. Während der Vorbereitung auf dieses Konzert gab es auch sehr anstrengende Phasen, in denen schon mal die Nerven mit uns durchgingen. Dann sind wir uns aus dem Weg gegangen. Wenn der eine vielleicht zum Schwimmen oder auch nur an die frische Luft gegangen ist, hatte der andere folglich das Musikkabinett für sich, um sich die Anspannung von der Seele zu spielen. Professor Kramer hat dann immer gefrotzelt, dass wir die Klaviere TRAKTIERT hätten.“

Gelächter.

„Jedenfalls hatten wir so auch einzeln Gelegenheit zu üben. Ich für meinen Teil habe das genutzt, um für Raphael ein Stück zu komponieren“, dabei schaute ich Raphael in die Augen, die zu glänzen begannen. Ich lächelte ihn liebevoll an.

„Jetzt also die Premiere für dich. ‚Roll em Rafi‘.“

Wieder ging ein Tuscheln durch die Reihen. Rasch setzte ich mich an meinen Flügel, bevor mich der Mut verlassen würde. Es begann als Blues und endete mit einem leichten Tempowechsel als sanfter Rock’n’Roll. Als ich meine Hände von der Tastatur hob, trat wieder eine kurze Stille ein und ich sah, wie Raphael ein paar Tränen über die Wangen rollten. Schnell trat er auf mich zu und umarmte mich für nicht wenige Sekunden.

„Danke, Miggi, Danke. Ich liebe dich!“, flüsterte er mir ins Ohr.

„Ich dich auch!“, antwortete ich leise.

Dieses Szenario wurde mit schier endlosem Beifall übertönt.

„Bumble Boogie“, raunte er mir zu und ohne weitere Ansagen setzten wir uns an unsere Instrumente und legten los.

Den ‚Hummelflug‘ von Nikolai Rimski-Korsakow hatten wir ja bei uns zuhause als ‚Bumble-Boogie‘ für zwei Klaviere entwickelt. Das bildete den strahlenden Abschluss für ein außergewöhnliches Klavierkonzert.

Unser Doktor Neubert ergriff sodann das Mikrofon und das Wort: „Ich denke, ich spreche im Namen aller, sehr geehrter Herr Landrat, Frau Bürgermeisterin, liebe Gäste, Eltern und Schüler. Vielen herzlichen Dank an euch beiden, Raphael und Miguel, für dieses tolle Konzert. Ihr habt uns heute Abend alle außerordentlich begeistert.“

Beifall erscholl.

„Nun weiß ich aber auch, dass jetzt alle einigermaßen hungrig sind und möchte Sie ein paar Türen weiter zu unserem kleinen Buffet einladen.“

Dann ging er auf unsere Eltern zu und bat sie, ihm zu folgen. Ein kluger Schachzug, denn ich wusste von Raphael, dass sich sein Vater derartigen, ‚offiziellen‘ Terminen nicht entziehen konnte. Das war ein Schwachpunkt, den unser Direx mit seiner enormen Menschenkenntnis sofort erkannt hatte. Und ebenso, dass sich meine Eltern über eine solche Einladung ehrlich freuten, wie wohl auch Rafis Mama.

Herr Neubert hatte sich wohl in den Kopf gesetzt, eine Familienzusammenführung zu arrangieren mit dem eindeutigen Ziel, mindestens die Fronten zu klären, bestenfalls meinen Vater an unsere Seite zu holen. Dabei war klar, dass Raphael und ich am Ende zusammenbleiben sollten. Entweder mit oder eben zur Not ohne Rafis Vater.

Raphael und ich entschuldigten uns für eine Viertelstunde und zogen uns auf Rafis Zimmer zurück. Wir brauchten einfach eine kurze Auszeit. Auf dem Zimmer nahm ich Rafi erstmal fest in den Arm, denn ich spürte, dass er genau das jetzt dringend nötig hatte.

„Und, was denkst du?“, fragte ich ihn nach einer Weile und er wusste exakt, was ich meinte.

„Die Ansichten meines Vaters sind mir mit dem heutigen Tag völlig gleichgültig. Klar würde ich mich freuen, wenn er mich, nein uns, so akzeptieren könnte, wie wir sind: Schwul mit einer ausgeprägten Liebe zur Musik. Und ich spüre auch deutlich, dass er uns jetzt nicht mehr trennen kann. Heute Abend wird er reserviert und unverbindlich bleiben. Er wird eine größere Spende für das Kinderhospiz springen lassen. Das ist für ihn eine Prestigeangelegenheit und in diesem Fall eine Art ‚Ablasshandel‘.“

„Das klingt aber hart!“

„Mag sein, aber für mich gibt es jetzt nur noch diese eine Möglichkeit: Entweder respektiert er uns oder er soll sich zum Teufel scheren. Lass uns runtergehen, Miggi. Ich denke, dass wir inzwischen schon vermisst werden“, grinste er mich an.

Ich stand schon an der Tür als von Rafi ein „Moment noch“ kam.

Ich drehte mich um, als er schon buchstäblich an meinen Lippen hing. Immer, wenn dieser Kerl mich küsste, kribbelte es überall. Ich drückte ihn sanft von mir weg.

„Rafi, wenn wir uns jetzt nicht augenblicklich auf den Weg machen, kann ich für nichts mehr garantieren“, seufzte ich leise.

Er lachte nur und zog mich hinaus auf den Flur. Kaum hatten wir den Speisesaal betreten, brandete Applaus auf, was in mir eine Gefühlsmischung aus Euphorie und Verlegenheit verursachte. Mit meiner linken ergriff ich Raphaels rechte Hand und hob sie leicht.

„Danke, vielen Dank!“, erwiderten Rafi und ich synchron den anhaltenden Applaus.

So steuerten wir auf den Tisch zu, an dem bereits unsere Eltern, Dr. Neubert mit seiner Frau und die Bürgermeisterin der Gemeinde mit ihrem Gatten auf uns warteten. Selbstverständlich saßen auch Oliver und Herr Kramer mit am Tisch.

Mama war aufgesprungen, um mich ebenso herzlich zu umarmen, genau wie Papa Raphael und mich drückte. Beide strahlten uns an.

„Euer Auftritt war einfach wunderbar!“, betonte Mama, was allenthalben mit heftigem Kopfnicken unterstrichen wurde.

Auch Raphaels Mutter nahm mich in den Arm wie natürlich auch ihren Sohn. Sein Vater zeigte sich reserviert, wie von Raphael erwartet. Dennoch ließ seine Mimik einen Hauch von Bewunderung erahnen. Immerhin stand er ebenfalls auf und klopfte Raphael sogar auf die Schulter. Für mich gab es allerdings nicht mehr als ein Kopfnicken.

Unser Direx legte uns minutenlang je einen Arm auf die Schultern und bedankte sich ebenso wortreich wie herzlich. Ich glaube, dass ich ihn noch nie zuvor so viel auf einmal habe reden hören; waren doch seine Ansprachen sonst eher kurz, prägnant und witzig. Schlussendlich stellte er uns seiner Gemahlin, sowie der Bürgermeisterin und deren Mann in gewohnt pointierter Art und Weise vor.

„So viel Musik macht hungrig“, stellte Raphael trocken fest. „Sie entschuldigen uns bitte noch einen Moment, damit wir noch was vom Buffet ergattern, bevor es leergefuttert ist.“

Wie auf ein Stichwort brachten Daniel und Inge zwei riesige Platten an den Tisch, auf denen die ganzen Leckereien kunstvoll angerichtet waren, was sofort von Dr. Neubert ehrlich gelobt wurde.

„Oh, Inge, Daniel. Herzlichen Dank!“, rief ich verzückt. „Da können wir uns den Gang zum Buffet sparen.“

„So war es gedacht, Miguel. Lasst es euch schmecken!“, forderte uns Daniel auf.

Inge stand inzwischen mit zwei Weinflaschen am Tisch und fragte grinsend: „Rot oder weiß?“

„Weiß, bitte.“

„Rot, bitte.“

Rafi und ich sahen uns an und lachten.

Raphael

„Ausnahmsweise mal nicht einer Meinung?“, neckte uns Alvaro.

Sein offener und herzlicher Umgang mit uns irritierte meinen Vater zusätzlich. Während Miguel und ich uns die Köstlichkeiten schmecken ließen, wurde am Tisch munter parliert.

Direktor Neubert ging schließlich ans Mikrofon: „Sehr geehrte Frau Bürgermeisterin Moser, liebe Gäste, Eltern, Schüler und Kollegen. Zum Abschluss unseres Tages der offenen Tür haben uns Miguel und Raphael mit ihrem perfekten und fröhlichen Vortrag durch die Welt des Jazz geführt, dafür noch einmal meine Anerkennung und meinen besonderen Dank!“

Tosender Applaus und Standing Ovations waren die Folge. Es dauerte eine ganze Weile, bis der Beifall wieder abebbte und unser Direx fortfahren konnte: „Doch es gibt Menschen, die nicht auf der Sonnenseite des Lebens stehen können wie wir. Junge Menschen, Kinder, die auf Grund schwerer Erkrankungen oder Unfälle unausweichlich den Tod vor Augen haben. Für diese Kinder und ihre Angehörigen wird es hier in der Gemeinde ein Kinderhospiz geben, wenn es uns gelingt, dafür den finanziellen Grundstein zu legen. Für diesen Zweck habe wir hier einige Spendenboxen aufgestellt und ich bitte Sie von ganzem Herzen, sich von der Musik unserer beiden jungen Künstler zu einer großzügigen Unterstützung animieren zu lassen. Vorne am Eingang sitzt unsere Frau Schmitt, die Ihnen gerne unsere Kontonummer mitteilt und ihre Zusagen einer größeren Summe annimmt, über die Ihnen unsere Stiftung eine Spendenbescheinigung ausstellen wird. Ab einer bestimmten Größenordnung Ihrer Zuwendung, werden Sie auf einer Bronzetafel im Foyer dieses Hospizes genannt. Im Namen der Kinder danke ich Ihnen für Ihre Unterstützung und wünsche Ihnen für heute noch einen gemütlichen Abend und einen guten Nachhauseweg. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.“

Für diese kurze Ansage erntete Dr. Neubert ebenfalls einen längeren Beifall. An unserem Tisch kam das Gespräch wieder in Gang. Bürgermeisterin Moser sprach ganz offen und unbefangen ihre Bewunderung darüber aus, dass ich und Miguel so offen mit unserer Zuneigung zueinander umgingen. Das sei an einer Schule leider immer noch sehr schwer und oft genug mit Mobbing gegen diejenigen verbunden, die den Mut hatten, sich zu outen. Häufig käme es auch zu Erpressungen und Gewalt gegen diejenigen, die sich im Verborgenen nicht trauten an die Öffentlichkeit zu gehen.

„Erst neulich gab es doch hier auch einen Fall oder Herr Doktor?“, wandte sie sich an unseren Schulleiter.

Sie schien nicht zu wissen, dass ich der Betroffene war, weshalb mir Herr Neubert einen Blick zu warf, statt ihr direkt zu antworten.

„Ja, das war ich. Mich hat man wegen meiner sexuellen Orientierung zusammengeschlagen“, stellte ich knapp und emotionslos fest.

Nicht nur Bürgermeisterin Moser schaute jetzt sehr betroffen drein, auch meinem Vater war anzumerken, dass er irgendwie nicht die ganze Geschichte kannte. Hatte Mama ihm denn nichts erzählt? Ein fragender Blick in ihre Richtung bestätigte mir das. Ja, natürlich nicht! Dann hätte sie alles erzählen müssen und wir hatten vereinbart, dass sie genau das nicht tun sollte. Was mir jetzt doch weh tat, war die Tatsache, dass mein Erzeuger auch jetzt faktisch keine emotionale Reaktion zeigte. Ich schüttelte leicht den Kopf und merkte, wie mir wieder einmal die Tränen in die Augen stiegen. Sofort legte mir Miguel behutsam seinen Arm über die Schultern und rückte ganz dicht an mich heran. Das löste am Tisch nun eine Beklommenheit aus, die ich nicht wollte.

Also stand ich auf und steuerte, dicht gefolgt von Miguel auf das alte Klavier zu, dass in der Ecke des Speisesaals seit Jahren sein Dasein fristete. Wir schoben es etwas in den Raum und demontierten die Front. Mir war klar, dass dieses Instrument schon länger nicht mehr gestimmt worden war. Also bot sich ein Stride-Piano Stück regelrecht an.

Ich schnappte mir einen Stuhl und begann mit ‚Honeysuckle Rose‘ von Fats Waller. Tatsächlich war das Teil gar nicht sooo verstimmt. Es klang zwar schräg, aber um noch einmal ein bisschen für Stimmung zu sorgen, genau richtig. Nahtlos spielte ich weiter zu ‚Ain’t she sweet‘. In meinem Frust vergaß ich fast die Welt um mich herum. Plötzlich saß Miguel neben mir, strahlte mich an und wir legten nochmal los und – Prof. Kramer würde sagen – malträtierten dieses arme, alte Klavier.

Im Nu hatte sich eine Menschentraube um uns gebildet, die sogar mitklatschte, wenn Miguel oder ich sie dazu animierte. Nach einer guten Viertelstunde fühlte ich mich wieder besser und wir beendet die Session mit einem Blues.

Fast, wie zu erwarten, forderten unsere Zuhörer eine Zugabe. Wir wählten noch einmal den ‚St. Louis Blues‘ und variierten ihn weiter zu einer swingenden Version vom Brahms‘ ‚Guten Abend, gute Nacht‘. Damit gelang es uns, ganz im Sinne unseres Rektors, den Abend zu beenden.

Wie nicht anders zu erwarten, geriet der Abschied von Miguels Eltern zu einer sehr herzlichen Angelegenheit, wohingegen sich der Abschied von meinen Eltern sehr frostig gestaltet. Sei’s drum, im Grunde, wie vorhergesehen. Traurig war ich trotzdem, weil ja immer ein Fünkchen Hoffnung mitschwingt.

In dieser Nacht kuschelte ich mich besonders dicht an meinen Miggi. Sofern das überhaupt möglich war. Er spürte sehr genau, was in mir vorging und es gelang ihm, mir eine besondere Nähe zu vermitteln.

Durch die Anwesenheit von Landrat und Bürgermeisterin, sah sich auch die Presse genötigt, über den Tag der offenen Tür am Johann-Heinrich-Pestalozzi-Internat und dem abschließenden Klavierkonzert zu berichten.

So war dann auch das Wiederholungskonzert am 20. Januar spätestens nach dem Zeitungsartikel ausverkauft. Inzwischen stellte sich allmählich die Routine des Schulalltags ein. Dass zwei Jungs händchenhaltend über den Schulhof schlenderten, war im JHP-Internat schon seit Carsten und Andreas keinen Aufreger mehr wert.

Mit der hochoffiziellen Genehmigung von Dr. Neubert durfte Miguel zu mir ins Zimmer ziehen. Fabian war darüber nicht sehr glücklich, denn alleine zu wohnen war für ihn ungewohnt und langweilig. Er hatte sich an Miguel gewöhnt, dass der schwul war, hatte ihn nie gestört.

Am 19. Januar war mein Geburtstag, an dem ich nach längerer Zeit wieder nach Hause kommen sollte. Allerdings hatte ich zur Bedingung gemacht, dass Miguel mich begleiten würde. Von meinem Vater bekam ich keine Antwort, wohl aber von meiner Mutter, die eines Abends anrief: „Hallo Raphael, wie geht es dir, mein Schatz?“

„Hallo Mama, danke, gut soweit. Hier hat sich so etwas wie der Alltag eingestellt.“

„Gut. Horch her! Dein Vater geht schon wieder auf Geschäftsreise, er wird an deinem Geburtstag nicht da sein. Würdet ihr am Samstag vorher mit der Bahn kommen? Ich hol euch dann am Bahnhof ab. Und Sonntagnachmittag bring ich euch dann mit dem Wagen wieder ins Internat, wenn es euch recht ist.“

„Lohnt sich das denn überhaupt?“

„Was heißt schon ‚lohnen‘? Gönn mir einfach die Freude deiner Anwesenheit an deinem Geburtstag, wie an den vergangenen 16 Malen auch.“

Ich lachte: „Okay Mama. Es war ja sowieso geplant. Aber Miguel kommt mit!“

„Ja, sicher. Kein Problem. Jetzt, wo dein Vater nicht da ist…“, sie beendete den Satz nicht. „Besorge dir einfach eine Mitfahrer-Fahrkarte. Ich bezahl sie selbstverständlich“, schob sie dann noch hinterher.

„Gut, mach ich. Dann bis Samstag. Ich geb‘ dir die Ankunftszeit noch durch. Gute Nacht, Mama.“

„Ja, mach das. Gute Nacht, mein Schatz, schlaf gut.“

Damit hatte sie aufgelegt.

Ich suchte mir im Netz eine Verbindung heraus, zu der wir nicht extra würden früher aufstehen müssen.

Halb elf mit einem ICE. Das war okay. Den erreichten wir mit dem Bus um 9:25 Uhr. So konnten wir gemütlich um 8:30 Uhr frühstücken und im ICE zu Mittag essen.

Wie ich Mama kannte, würde sie nach der Rückfahrt hier über Nacht in einem Hotel bleiben, um die gut vierhundert Kilometer nicht an einem Tag zweimal fahren zu müssen.

Da es noch nicht so spät war, beschloss ich, meine Mutter gleich nochmal anzurufen und ihr die Ankunftszeit um 14:56 Uhr zu avisieren.

Mit einer Sondergenehmigung durften Miguel und ich abends von 19:30 Uhr bis 21 Uhr das Musikkabinett für unsere Klavier-Übungsstunden nutzen. Das hatte den Vorteil, dass wir den Stundenplan unserer Mitschüler nicht durcheinanderbrachten. Zusätzlich besuchten wir nun gemeinsam meinen Klavierunterricht bei Prof. Kramer. Miguels Stunden bei Carsten fielen mit dem neuen Jahr leider weg, da sich Carsten fortan schwerpunktmäßig um sein Abitur kümmern musste.

Wir waren uns einig, dass wir nach dem Konzert am 20. Januar auch wieder an unserer Kombi ‚Klavier und Orgel‘ arbeiten wollten. Fast jeden Abend fiel einem von uns wieder etwas neues ein. So war das ‚Wiederholungskonzert‘ eigentlich ein völlig Neues. Allerdings meinte Herr Kramer, dass wir uns schon auf eine Wiederholung konzentrieren sollten. Also beließen wir es bei zwei Ergänzungen, eben ‚Honeysuckle Rose‘ von Fats Waller mit dem Übergang zu ‚Ain’t she sweet‘, wie ich es als späte Zugabe zum Abschluss des Benefiz-Gala-Buffets gespielt hatte. Diesmal gleich zu Beginn gemeinsam mit Miguel.

Am Samstagmorgen wurde ich noch vor sieben von Miggi geweckt, weil er mir mit einer Hand den ganzen Körper von oben bis unten entlangfuhr, mich dabei aber kaum berührte. Ich lag auf dem Rücken. Er begann damit in meinem Gesicht. Er versuchte es mit einem Abstand von einem Zentimeter, zwangsläufig gab es dabei öfters eine leichte Berührung, die mir jedes Mal einen Schauer durch den Körper jagte. Es war ein wunderschönes Gefühl. Dabei ruhig liegenzubleiben war fast unmöglich, denn die Anspannung steigerte sich ins unermessliche, je nachdem welche Stelle er flüchtig berührte. Unsere Decke war längst auf die Seite geschoben, so konnte er genau sehen, was er tat und wie ich reagierte. Inzwischen hatte er sich aufgesetzt. Kurz bevor es nicht mehr auszuhalten war strich er mit zehn Fingern von meinem Hals ab langsam nach unten, bis ihm quasi der Weg versperrt war. Ich schloss meine Augen wieder und war wie Wachs unter seinen Händen. Kurz darauf wurde ich heftigst geschüttelt, bäumte mich auf und sank völlig geschafft auf mein Kissen zurück.

„Boa, Miggi, was machst du mit mir?“

Als Antwort spürte ich seine Lippen auf den meinen, erst ganz vorsichtig, dann immer fordernder. Ich wünschte mir, dass das nie aufhören würde. Schließlich lag er komplett auf mir, es fühlte sich an, als wollte er meinen Körper mit seinem komplett umfließen. Leicht rieb er sich an mir. Ich merkte, wie er sich anspannte, bis sein Körper unkontrolliert zuckte und er endgültig auf mir zerfloss. Ich hielt ihn fest in meinen Armen, nachdem ich unsere Decke lose über uns geworfen hatte.

Nach einer längeren Zeit, in der wir unsere Situation unendlich genossen hatten, stützte er sich ab, damit wir uns ins Gesicht sehen konnten. Wir strahlten uns an. Dann rollte er sich von mir herunter und zog mich im Aufstehen mit.

„Lass uns duschen gehen!“

„Wenn es nur nicht immer so kleben würde“, beschwerte ich mich, worauf Miguel laut herausplatzte.

Er warf mir meinen Bademantel zu und schnappte sich seinen. Entsprechend ausgerüstet machten wir uns auf den kurzen Weg zum Waschraum. Wir waren noch alleine und verzogen uns in die hinterste Nische. Sich zu zweit unter einen Duschkopf zu stellen, ist in einem öffentlichen Baderaum keine gute Idee. Wir standen engumschlungen und ergötzten uns nicht nur an dem warmen Regen.

„Guten Morgen!“ hörten wir eine bekannte Stimme übertrieben laut rufen.

Es war zum Glück Fabian, der uns damit auseinanderstieben ließ. Er hatte uns wohl eine gewisse Zeit beobachtet, denn auch bei ihm war eine leichte Reaktion nicht ausgeblieben.

Er grinste uns an: „Jungs, Achtung es wird gleich voll hier.“

Damit drehten wir uns beide mit dem Hintern zu den hereineilenden Massen, jeder freilich unter einer eigenen Dusche. Es dauerte eine ganze Weile, bis Klein-Raphael wieder eine unverfängliche Größe hatte. So konnte ich mich wieder umdrehen und mich mit einem „Guten Morgen allerseits!“ weiter ablenken. Was durch einen Blick auf Miguel und auch Fabian in der übernächsten Nische fast wieder zunichte gemacht worden wäre. Da griff Miguel zum ultimativen Mittel und drehte seine Dusche schlagartig auf ‚kalt‘, was postwendend die gewünschte Wirkung zeitigte. Da er jetzt durch seine heftigen Bewegungen ziemlich herumspritzte, traf logischerweise auch mich und Fabian ein Schwall kaltes Wasser, was uns aufschreien ließ. Letztlich war aber die Situation dadurch völlig entschärft. Lachend trockneten wir uns ab.

„Fabi, Frühstück?“, fragte Miguel seinen Ex-Mitbewohner.

„Logo, bin gleich fertig“, gab er gut gelaunt zur Antwort.

Miguel und ich banden uns unsere Badetücher um die Hüften und stellten uns noch zum Rasieren und Zähneputzen an die Waschbecken. Zurück auf unserem Zimmer zogen wir uns schon reisefertig an. Unsere Rucksäcke hatten wir am Vorabend schon gepackt, so dass wir tatsächlich noch gemütlich mit unseren Freunden frühstücken konnten.

Bus und Zug waren pünktlich, so dass meine Mutter nicht extra auf uns warten musste. Als wir zuhause vorfuhren, staunte Miguel nicht schlecht. Ich hatte absichtlich nie etwas von unserer Villa erwähnt, denn dieser protzige Stil meines Vaters wurde mir seit einiger Zeit zu viel. Als Kind fand ich das noch toll, inzwischen war es mir eher peinlich. Zunehmend empfand ich dieses Angeber-Domizil nur noch als Wohnsitz meines Vaters und ging innerlich auf Distanz.

So traf mich dieses Wiedersehen mit unerfreulicher Wucht. Ich hatte nicht gedacht, dass man sich nach knapp vier Monaten dermaßen entfremden kann. Deshalb fand ich jetzt gegenüber Miguel keine passenden Worte und spürte deutlich, dass er völlig verunsichert war.

„Jungs, kommt erstmal rein“, bat meine Mutter. „Vielleicht bringt ihr eure Rucksäcke erstmal auf dein Zimmer, Raphael. Bitte kommt dann in die Küche zum Kaffee!“

„Okay, Mama, bis gleich.“

Miguel nickte nur, der arme war vollkommen sprachlos. Immerhin schien meine Mutter wie selbstverständlich davon auszugehen, dass mein Freund bei mir schlafen würde. Das bestätigte sich, als ich nach langer Zeit mein Zimmer wieder betrat. Auf meinem breiten Bett waren zwei Kopfkissen und zwei Decken hergerichtet. Ich musste mich dennoch erst einmal setzen. Wortlos zog ich Miguel auf meinen Schoss.

„Miggi, es tut mir leid, dass dich das alles hier schier erschlägt. Mir war dieser übertriebene Luxus tatsächlich nicht mehr bewusst. Vermutlich deshalb, weil ich es selbst seit einigen Jahren in erster Linie als Prunkbau meines Vaters angesehen habe. Irgendwie habe ich mich davon vollkommen distanziert. Das wurde mir vorher so richtig bewusst, als wir vorgefahren sind“, entschuldigte ich mich.

Miguel sah mich unsicher, aber auch etwas belustigt an.

„Aber dein Zimmer hier ist doch sehr gemütlich“, meinte er und schaute sich um.

Ich lachte auf: „Was denkst du, was das für ein Kampf war. Der Alte wollte auch hier alles voll Schickimicki-Möbel packen, bis wir uns darauf einigten, dass hier sowieso niemand reinschauen sollte, außer ich und Mama. Seither wird peinlichst darauf geachtet, dass ja kein Besucher diesen Saustall zu Gesicht bekommt.“

„Saustall?“, fragte Miggi ungläubig. „Hier ist doch alles schön aufgeräumt.“

„Das sagst du. Aber es geht nicht um die Ordnung. Die Möbel stellen den Saustall dar.“

Miggi schüttelte ungläubig seinen schwarzen Lockenkopf. Ich zog ihn weiter zu mir und küsste ihn einfach, als gäbe es kein Morgen.

„Rafi“, ächzte er atemlos und ich stellte fest: „Das Einzige, was wirklich zählt, ist, dass du hier bei mir bist und mit mir morgen Geburtstag feierst. Lass uns nach unten gehen, bevor Mama einen Suchtrupp losschickt. Nachher machen wir noch eine Schlossführung, wenn du möchtest.“

„Klar, es interessiert mich schon, wie du hier gelebt hast. Und jetzt, wo der erste Schock vorbei ist“, lachte er und zog mich mit sich einen Stock tiefer.

Mama hatte es geschafft, es in der Küche richtig gemütlich zu machen. Es brannten etliche Kerzen und das Licht war heruntergedimmt. Auch auf dem Tisch standen drei Kerzen in unterschiedlichen, metallenen Ständern.

„Wow, Mama“, rief ich erstaunt aus, „da hast du dir auch dein eigenes Reich geschaffen, oder?“, mutmaßte ich.

„Ja, schön, nicht wahr? Freut mich sehr, dass es dir gefällt. Es hat lange gedauert, bis ich deinen Vater so weit hatte, dass er sich hier in der Küche mit seinem nicht vorhandenen Geschmack heraushält. Entschuldige, Miguel, dass ich so von meinem Gatten spreche, aber ich denke, Raphael hat dir schon alles oder zumindest das meiste erzählt.“

„Mama, ich finde es toll, dass dir da ein Stück Emanzipation gelungen ist.“

„Trotzdem, Raphael, ich liebe diesen Mann. Auch wenn es für euch schwer vorstellbar ist: Er hat einen besonderen Charme und ist äußerst fürsorglich. Was euch betrifft fand ich es allerdings unmöglich, wie er sich dir gegenüber, Miguel, nach eurem famosen Konzert verhalten hat.“

Miguel sah zu Boden, weshalb ich ihn sofort in den Arm nahm und meiner Mutter beipflichtete: „Diese Ignoranz ist sehr schwer auszuhalten. Ich habe seinen Auftritt bei unserem Direktor, als er mich ins Internat brachte, noch deutlich in Erinnerung. Inzwischen denke ich, dass Doktor Neubert ihn aber sofort durchschaut hat. Aus meiner Sicht hat dieser alte Piesepampel eine gute Eigenschaft: Wenn überhaupt, ist er immerhin berechenbar.“

Mama nickte: „Da hast du Recht. Jetzt lasst euch erstmal Kaffee und Kuchen schmecken.“

Das ließen wir uns nicht zweimal sagen und fielen über die Berliner Pfannkuchen her, die Mama besorgt hatte.

„Ich möchte Miguel noch das Haus zeigen“, kündigte ich an und erhob mich.

„Okay, dann ab mit euch. Lasst einfach alles stehen.“

Miguel schaute etwas erstaunt, ob dieser Aufforderung. Das kannte er von zuhause so nicht, da hätte zumindest jeder selbst sein benutztes Geschirr in die Spülmaschine geräumt. So folgte er mir nun nach oben.

Miguel

Unter dem Dach gab es eine riesige Modelleisenbahnanlage, die sich Raphaels Vater dort aufgebaut hatte.

„Früher einmal durfte ich da mitbauen, aber nachdem ich ihm nichts, aber auch gar nichts Recht machen konnte, habe ich bald die Lust verloren und mich lieber der Musik zugewandt. Da konnte er mir wenigstens nicht dreinquatschen, weil er davon nichts versteht“, erklärte mir Raphael etwas geknickt.

Im darunter gelegenen zweiten Obergeschoss befand sich, ähnlich wie bei uns das elterliche Schlafzimmer mit einem angeschlossenen Bad, nur erheblich größer und luxuriöser. Darüber hinaus ein Arbeitszimmer für seine Mutter und ein weiteres Zimmer, das Rafi als „Rumpelkammer“ bezeichnete. Das war sein Kinderzimmer, als er noch sehr klein war.

Einen Stock tiefer waren sein aktuelles Zimmer und ein weiteres Bad untergebracht. Außerdem gab es zwei Gästezimmer, wobei in das größere von beiden nachträglich ein eigenes, kleines Badezimmer integriert war, wie in einem Hotel. Auch hier war alles sehr viel üppiger als bei mir zuhause.

Im Erdgeschoss schließlich lagen die Wohnküche, sowie das verhältnismäßig kleine Büro seines Vaters, in dem die Regale rundum mit tausenden Ordnern bis unter die Decke reichten. Dazwischen ein Gäste-WC. Und –

„Mama“, rief Raphael, „wieso ist der Salon abgeschlossen?“

„Naja, mein Sohn, da müsst ihr euch jetzt bis Morgen gedulden“, antwortete Sylvia verlegen und geheimnisvoll zugleich. Raphael schüttelte den Kopf.

„Das verstehe ich jetzt nicht, aber gut.“

Zu guter Letzt lotste er mich noch in den Keller, wo sich ein Waschraum, der Heizungskeller, ein Abstellraum und ein durchaus gemütlicher und ansehnlicher Partyraum befanden.

„Aber der dient auch nur Repräsentationszwecken. Ich durfte da nur ein einziges Mal eine Fete schmeißen“, erklärte mein Freund augenrollend.

Wieder im Parterre angekommen deutete Rafi durchs Küchenfenster in den tiefverschneiten Garten, dessen Grenze nicht erkennbar war.

„Und um die Protzerei auf die Spitze zu treiben“, meinte er ein wenig verächtlich, „steht draußen in der Garage noch ein Maybach.“

Dabei sah er mich kopfschüttelnd an und rief dann seiner Mutter zu: „Mama, wir sind dann oben.“

„Okay“, kam aus der Küche zurück, „um sieben gibt es dann Abendbrot.“

In seinem Zimmer setzte sich Rafi erstmal auf sein Bett und schaute resignierend zu mir: „Miggi, ob du es mir glaubst oder nicht, aber jetzt, wo ich dich bewusst herumgeführt habe, habe ich festgestellt, dass mir das alles zu viel ist. Ehrlich.“

Dabei schüttelte er seinen Kopf.

„Ich finde es im Internat hundertmal angenehmer und bei euch daheim tausend Mal schöner, persönlicher und gemütlicher.“

„Jetzt übertreib nicht, Rafi. Dir muss dieser Luxus nicht peinlich sein.“

„Ist er aber, echt jetzt!“ betonte er und zog mich zu sich.

„Da wir jetzt nicht einmal Klavierspielen können, weil der Salon abgesperrt ist, muss ich dich jetzt leider vernaschen“, erklärte er und küsste mich unvermittelt auf den Mund.

Die Zeit verlor komplett ihre Bedeutung und erst ein Klopfen an der Tür und die Aussage: „Essen ist fertig“ verdeutlichte uns, dass wohl zwei Stunden ins Land gegangen waren.

„Wir kommen, Mama“, hatte Rafi schnell geantwortet, bevor Sylvia hereingekommen wäre und eine oberpeinliche Situation geschaffen hätte.

Wir hatten wieder vergessen, die Tür abzuschließen. So rafften wir uns auf und saßen zwanzig Minuten später artig am Küchentisch. Ein wissendes Grinsen konnte Rafis Mutter nicht verbergen, was wiederum bei uns zu schuldbewusstem Erröten führte. Doch löste Sylvia die Situation auf, indem sie ein unverfängliches Gespräch begann, während dessen wir in aller Ruhe zu Abend aßen.

So wurde es plötzlich Mitternacht und Sylvia umarmte ihren Sohn, um ihm alles Gute zum Geburtstag zu wünschen. Dann öffnete sie eine Sektflasche und schenkte ein, während ich meinem Schatz mit einem innigen Kuss alles Liebe und Gute wünschte.

Nachdem wir angestoßen hatten, meinte Sylvia feierlich, da wir bis jetzt durchgehalten hätten, wolle sie das Geheimnis der verschlossenen Tür jetzt lüften.

So schritt sie voran und drehte den Schlüssel. Sie schob die Doppeltür auseinander und gab so den Blick in einen weiten Saal frei, der dem Titel ‚Salon‘ zweifellos gerecht wurde. Im Schummerlicht einer gedimmten Beleuchtung war zu erkennen, dass mitten im Raum ein Konzert-Flügel stand, auf dem ein Teller mit 17 brennenden Kerzen thronte. Wann hatte Sylvia Zeit gefunden, die Kerzen anzuzünden? Fassungslos starrte Raphael in den Salon, Tränen liefen ihm über die Wangen.

„Was, wie - seit wann haben wir einen Flügel?“ stammelte er.

Er hatte meine Hand ergriffen, die er nie wieder würde loslassen wollen. So fühlte es sich jedenfalls an.

„Das ist unser Geschenk an dich, mein Schatz. Dein Vater hat nach unserer Rückkehr von eurem Konzert im Internat alle Hebel in Bewegung gesetzt, damit dieser Steinway jetzt hier steht. Das hat er in seiner Art einfach entschieden. Warum sollte ich ihm da widersprechen?“

Raphael und ich umrundeten ehrfürchtig den nussbaumfarbenen Steinway.

Auf dem geschlossenen Instrument lag ein Brief mit der Aufschrift „Raphael“. Mein Freund setzte sich auf die breite, lederne Klavierbank. Da er mich offensichtlich noch immer nicht loslassen wollte, setzte ich mich neben ihn. Mit der anderen Hand drehte er unschlüssig den Brief hin und her.

„Das ist Vaters Handschrift“, erklärte er leise.

Dann übergab er mir das Kuvert mit den Worten: „Miggi, bitte mach du ihn auf.“

„Sicher?“

„Ja, ganz bestimmt.“

Jetzt ließ er widerwillig meine Hand los, denn es war ihm schon klar, dass ich diese Aufgabe nur mit beiden Händen würde erfüllen können. Also nahm ich den Umschlag aus schwerem und teurem Papier an mich. Vorsichtig fädelte ich meinen Daumen unter die eingeklappte, aber nicht zugeklebte Lasche und zog sie heraus. Ein Bogen desselben, edlen Papiers steckte zweimal sorgfältig gefaltet in der gefütterten Hülle. Ich zupfte ihn heraus und entfaltet ihn langsam.

„Bitte lies vor“, bat Rafi leise.

Nach einem kurzen Zögern tat ich, wie mir geheißen: “Mein lieber Sohn, zunächst gratuliere ich Dir zu Deinem Geburtstag und wünsche Dir alles Gute. Auch zu Deinem großen Erfolg mit dem Klavierabend in Deinem Internat. Ich muss Dir nicht sagen, dass ich davon sehr überrascht war. Du weißt, dass ich mit Kunst und Musik wenig anfangen kann, was schon Deine Mutter in früheren Jahren recht traurig gestimmt hat. Seit Du nicht mehr zu Hause wohnst, habe ich viel an Dich gedacht. Nach wie vor komme ich mit Deinem Lebensstil nicht zurecht, doch als Ihr Euch nach Eurem Konzert in die Arme gefallen seid und das den Beifallssturm noch verstärkt hat, wurde mir klar, dass sich die Welt, also auch meine Welt geändert hat. Du bist unser einziges Kind, das ich auf keinen Fall verlieren will. Mir ist inzwischen auch klar, dass es keinen Sinn macht, Dich unbedingt in die Firma zu verpflichten. Deine Talente und Dein Einsatzwillen liegen anderswo. Zweifellos in der Musik. Das bedauere ich einerseits, andererseits weiß ich damit Deine Mutter glücklich. Und natürlich Dich. Mir ist sehr wohl bewusst, dass Dein Erfolg auf der Bühne eine enorme Arbeitsleistung und Deinen unbedingten Fleiß voraussetzt. Diese Beharrlichkeit teilst Du mit mir. Insoweit erfüllt mich Dein Werdegang auch mit Stolz. Dieses Instrument soll Dich fortan auf Deinem Weg begleiten und Dir ein gutes Handwerkszeug sein. Mit respektvollen Grüßen, Dein Vater.“

Während ich diesen Brief mit der sehr schönen, aber doch nicht immer leicht zu entziffernden Schrift Herrn Hausners vorlas, hatte Raphael wieder zu schluchzen begonnen. Ich zog ihn eng an mich. Dass ich in diesen Zeilen nicht wirklich erwähnt wurde, machte mich traurig. Raphael neben mir wirkte eigenartig unentschlossen, wie er reagieren sollte, und traurig, obwohl er sich doch freuen könnte.

So fasste ich mir ein Herz und öffnete die Tastaturabdeckung. Raphael reagiert noch immer nicht. So begann ich leise zu spielen. Inzwischen war auch Sylvia an das Instrument getreten und klappte es auf. Damit kam der fantastische Klang richtig zur Geltung. Behutsam fantasierte ich mich zum obligatorischen „Happy Birthday“ – natürlich als Boogie-Woogie.

Vorsichtig grinste ich zu meinem Freund, der mir einfach, trotz der Bewegungen, den Kopf an die Schulter gelehnt hatte. So spielte ich einfach weiter. Immer etwas verhalten und leise. Der Stimmung angepasst. Dann hatte ich das Gefühl, dass wieder Leben in meinen Freund zu kommen schien; ich spürte, dass er gleich mitspielen wollte.

So wechselte ich zu unserem derzeitigen Lieblingsstück, dem ‚Maple Leaf Rag‘. Und Rafi setzte ein. Sylvia kam aus dem Staunen nicht heraus, wie wir uns, sozusagen, die Tasten um die Ohren hauten. Auch war die Freude in Rafis Gesicht zurückgekehrt. Ich weiß nicht, wie lange wir uns durch unser Repertoire gespielt hatten, jedenfalls schlossen wir ziemlich verschwitzt mit einem fulminanten Ending. Sylvia klatschte begeistert und bedachte uns verbal mit lauter Superlativen: „Jungs, das war wunderschön! Ihr seid phänomenal! Es ist unglaublich, wie ihr harmoniert. Besser geht es nicht.“

Zwischenzeitlich war es fast zwei Uhr. So langsam übermannte uns die Müdigkeit, waren wir doch inzwischen 19 Stunden auf den Beinen.

„Jungs, was haltet ihr von einem Brunch ab 11 Uhr?“

„Mama, das ist eine Superidee!“

„Also dann, schlaft schön, ihr beiden. Euer Konzert eben war superklasse!“, betonte Sylvia noch einmal.

Tatsächlich fielen wir glattweg ins Bett, gerade dass wir uns noch unserer Klamotten entledigen konnten. Klar, dass uns eine Zudecke genügte.

Raphael

Um neun Uhr wurde ich wach, weil mich Miggis Haarschopf in der Nase kitzelte. Er lag mit seinem Kopf ziemlich weit oben auf meiner Brust. Vorsichtig versuchte ich etwas höher zu rutschen, was aber nicht gelang, ohne Miguel zu wecken.

„Was’n los?“, grummelte er.

„Deine Haare kitzeln mich in der Nase.“

„Welche Haare?“, fragte er spitzbübisch und plötzlich ziemlich wach.

„Na die auf deinem Kopf!“, antwortete ich ihm gespielt entrüstet.

„Achso, ich dachte schon“, legte er noch einen drauf.

Das war zu viel. Ich begann ihn hemmungslos überall zu kitzeln, was in eine wilde Balgerei überging, zu deren Abschluss wir wieder einmal schwer nach Luft japsend, wie zwei Maikäfer, auf dem Rücken lagen. Zum Glück war der Weg ins Bad nur kurz über den Flur.

Da die Dusche ebenso großzügig dimensioniert war, wie das ganze Haus, konnten wir uns bequem zusammen darunter stellen. So gaben wir uns nicht nur dem Wasser, sondern auch noch einmal der Erotik hin – ‚Wat mut, dat mut‘. Schlussendlich gelang es uns, die Finger vom anderen zu lassen und uns gesittet, wenn auch unbekleidet, zurück in unser Zimmer zu begeben.

Pünktlich um elf standen wir in der Küche und stutzten: Dort war alles leer. Also gut, dann eben in den Salon. Für drei Leute zwar etwas überdimensioniert, aber, wenn es Mama gefiel, sollte es mir recht sein.

„Oh Mist!“, rief Miguel plötzlich.

„Was ist passiert?“, fragte ich erschrocken

„Unsere Ringe!“

Miguel brauchte den Satz nicht zu Ende sprechen, als ich schon verkündete: „Warte, ich hole sie“.

Schon spurtete ich die Treppe nach oben, als ich wieder in der Küche stand, war Miguel verschwunden. Komisch.

Ich schob die Doppel-Schiebetür auf und blieb wie angewurzelt stehen. Ein vielstimmiges ‚Happy Birthday‘ ertönte, begleitet von meinem Freund am Klavier. Ich war total geplättet, da saßen doch tatsächlich meine alten Schulfreunde: Jürgen (mein bester Freund seit Kindertagen), Hanna, Claudia, Mehmet, Hagen, Erika, Susi, Marvin, Gabriel (mit dem mich mein Vater im Bett erwischt hatte) und seltsamerweise Michael aus der Parallelklasse.

Jürgen kam als erster mit glasigen Augen auf mich zu, um mich mit einer Umarmung aus der Schockstarre zu befreien.

„Alles, alles Gute, alte Hütte“, flüsterte er mir ins Ohr.

„Danke, Jürgen“, sagte ich. „Diese Überraschung ist euch wahrlich gelungen.“

„Das musst du deiner Mama sagen, die hat uns alle aktiviert“, klärte er mich auf.

Dann hieß ich erstmal alle rundherum willkommen, bis weitere Details ans Licht kamen.

„Hallo Raphael“, begrüßte mich Gabriel. „Das ist Michael aus der Parallelklasse, mit dem ich seit zwei Monaten zusammen bin.“

„Oh, das freut mich für dich. Dann sind wir ja drei Erzengel!“, rief ich aus. „Also vier. Weil, das ist Miguel, meine bessere Hälfte.“

Dabei zog ich Miggi zu mir heran und steckte ihm vor aller Augen seinen Ring an den Finger.

Dann mischte sich Mama ein: „Entschuldige, Raphael, aber ich musste deinen Miggi einweihen, damit er dich entsprechend dirigieren konnte.“

Ich fuhr wieder herum und sah einem schuldbewusst dreinblickenden Miguel in die Augen, in denen ich sofort versinken wollte.

„Das hast du aber geschickt gemacht, ich hab nix geschnallt“, bemerkte ich anerkennend, worauf mir Miggi einfach einen Kuss gab.

„A table, les enfants!“, rief dann meine Mutter laut und gut gelaunt.

Diesem Aufruf wurde lachend und mit gespieltem Protest, dass wir keine Kinder mehr wären, Folge geleistet.

Meine Mutter hatte richtig aufgefahren: Rührei mit Speck (oder auch ohne), angebratene Tomaten, Heringssalat, Krabben-Cocktail, mehrere Sorten Wurst und Käse, verschiedene Marmeladen, Nutella, Honig und Spaghetti in einer speziellen Tomaten-Mayonnaise-Sauce. Dann noch einen leckeren Obstsalat. Es fehlte an nichts. Natürlich gab es viel zu erzählen, womit wir uns auf den aktuellen Stand brachten.

„Also, Mama, diese Überraschung ist dir wirklich gelungen!“, stellte ich mehr als einmal fest, wenn mir meine aktuelle Situation wieder durch den Kopf schwirrte.

Dann kamen meine Freunde um mich herum nicht aus dem Grinsen heraus.

Obwohl seit meinem Zwangsabschied noch nicht einmal ein halbes Jahr vergangen war, begannen viele der Geschichten mit ‚Wisst ihr noch, damals?‘

Die Streiche in der Schule nahmen einen breiten Raum ein. So wusste Marvin meiner staunenden Mutter zu erzählen, wie wir einmal eine Deutschstunde gesprengt hatten: Aus unerfindlichen Gründen hatte sich die Türklinke aus der Tür zu unserem Klassenzimmer gelöst, genauer gesagt, war eben die Sicherungsschraube herausgefallen. Wir ließen die Klinke einfach verschwinden und die Tür flog zu, kurz bevor der Lehrer das Zimmer betreten wollte. ‚Hallo, seid ihr da drin?‘ ‚Ja sicher.‘ ‚Dann macht mal auf.‘ ‚Hä? Kommen Sie doch einfach rein.‘ ‚Das geht nicht, die Klinke ist weg.‘ ‚Wie? Die Klinke ist weg.‘ In einem endlosen Dialog zwischen einem arglosen Lehrer und scheinbar erst ahnungslosen, dann verängstigten Schülern durch die geschlossene Tür ging die Schulstunde fast vorbei, bis der Lehrer endlich den Hausmeister alarmierte. Die Originalklinke würde wohl heute noch in der Brombeerhecke liegen.

Mama schüttelte ungläubig den Kopf, während sich alle anderen vor Lachen bogen.

Doch auch ernste und aktuelle Themen kamen auf den Tisch. Vor allem interessierte meine alten Klassenkameraden, wie es mir im Internat ergangen und wie ich mit Miguel zusammengekommen war. Unsere Geschichte, die Miguel und ich abwechselnd erzählten, konnten wir inzwischen ziemlich verdichtet und pointiert zum Besten geben. Sie löste Erstaunen, Freude, aber auch Betroffenheit aus.

Dass das im Grunde mein Coming-Out gegenüber den meisten der Anwesenden darstellte, war keine große Sache mehr.

Nicht nur Miguel wollte dann allerdings wissen, wie das mit Gabriel und mir genau gelaufen war.

Gabriel erzählte: „Wie es genau angefangen hatte, wissen wir gar nicht mehr so genau, oder Raphael?“

„Nein, irgendwie mit pubertären Spielereien.“

Gabriel fuhr fort: „Jedenfalls merkten wir nach einer Weile, dass wir uns beide überhaupt nicht für Mädchen interessierten. Das war insbesondere für Raphael ein Schock, denn er wusste, dass er damit zuhause gar nicht erst den Mund aufzumachen brauchte. Wie ich meine Eltern einzuschätzen hatte, wusste ich damals auch nicht ganz genau. Zwar fiel daheim nie eine abfällige Bemerkung, wenn das Thema Homosexualität irgendwie aufkam, trotzdem behielt ich es noch lange für mich, auch als ich mir selbst vollkommen klar war. Erst als uns Herr Hausner durch einen blöden Zufall in flagranti erwischte, weil er zwei Tage früher nach Hause kam, als geplant, war ich gezwungen, Farbe zu bekennen. Herr Hausner hatte eine Riesenterz bei mir zuhause veranstaltet, war damit aber bei meiner Familie einfach abgeblitzt. Ich hatte das zuerst nicht mitbekommen. Meine Eltern führten dann abends äußerst behutsam ein Gespräch mit mir. Ich dachte erst, dass es um die Schule ging. Jedenfalls vermittelten sie mir eine innige Geborgenheit, so dass ich plötzlich das Gefühl bekam, ihnen alles sagen zu können. Das tat ich dann und sie nahmen mich einfach ganz fest in ihre Arme. Schließlich heulte ich los, ob vor Erleichterung oder mehr vor Glück über diese Eltern, weiß ich nicht mehr. Doch dann kam der Schock. Sie berichteten mir vom Auftritt deines Vaters, Raphael, der mit seiner Ankündigung, dich von der Schule nehmen zu wollen, endete. Zuerst brach eine Welt für mich zusammen. Verschärft durch die Tatsache, dass wir keine Chance mehr hatten, miteinander zu sprechen. Doch je mehr ich über uns nachdachte, desto stärker wurde die Gewissheit, dass wir eine Art „Schicksalsgemeinschaft“ gewesen waren. Wir glaubten, dass nur wir beide so waren. Alle anderen unserer Klassenkameraden waren ja anscheinend in glücklichen Hetero-Beziehungen. Wir waren Freunde und mochten uns. Und mögen uns noch immer, hoffe ich, aber Liebe? Bitte verzeih mir, Raphael, Liebe war das nicht, oder?“

Ich zuckte mit den Schultern. „Wahrscheinlich hast du Recht“, merkte ich an.

Gabriel berichtete weiter: „Durch das Kurssystem sind ja die Jahrgangsstufen nicht mehr in feste Klassen aufgeteilt. Michael und ich sind zusammen in Mathe, Physik, Gemeinschaftskunde und Sport. Du warst fort und ich bemerkte bald, dass da zwischen Michael und mir irgendwas war. Zum ersten Mal in meinem Leben hatte ich Schmetterlinge im Bauch, wenn er in der Nähe war.“

Dabei tauschten die beiden einen liebevollen Blick.

„Genauso ging es mir auch“, bestätigte Michael.

„Da wir beide begeisterte Leichtathleten sind, gingen wir einfach nach einer gemeinsamen Sportstunde noch eine Runde laufen. Seit diesem Schuljahr sind unsere Sport-Doppelstunden so gelegt, dass jeder der will, danach noch weiter trainieren kann. Dafür mussten die Eltern extra unterschreiben, dass das nach der Zeit des Stundenplans auf eigene Gefahr geschieht. Naja, was soll ich sagen. Unter der anschließenden Dusche…“

„Stop“, kam von Susi und Claudia gleichzeitig. „Das will niemand wissen.“

Jetzt grinsten sich alle schwulen Jungs an und erwiderten gleichzeitig: „Doooch!“

Allerdings war klar, dass dieses Thema nicht weiter vertieft werden würde.

Miguel begann erneut vom Johann-Heinrich-Pestalozzi-Internat zu schwärmen, wie dort auf die besondere Förderung von Kunst und Musik, aber auch Sport wertgelegt wurde. Schnell wurde klar, dass das für uns die beste Grundlage darstellte, ganz im gegenteiligen Sinne dessen, was sich mein Vater gedacht hatte.

Dabei konnte es Mama nicht lassen, voller Stolz von unseren Konzerten zu erzählen. Diesmal war es mir tatsächlich nicht mehr ausschließlich unangenehm, sondern es machte sich ein wohliges Kribbeln, gemischt mit Aufregung breit, denn es war klar, worauf das hinauslaufen würde. Miguel grinste mich an.

„Gut, meine Freunde. Dann werden Miguel und ich euch jetzt, gewissermaßen als Generalprobe, unser Konzert vorspielen, das wir morgen an unserem Internat zu Gunsten eines Kinderhospizes vor 250 Gästen geben werden.“

Ein Raunen ging durch die kleine Gesellschaft.

Absichtlich, oder auch nicht, hatte mein Vater mein ‚altes‘ Klavier nicht wegnehmen lassen, so dass wir über zwei hervorragende Instrumente verfügten. Wie ich Mutter einschätzte, hatte sie gestern nochmal beide stimmen lassen.

„Übrigens war gestern der Klavierstimmer im Haus“, bestätigte sie prompt meine Vermutung, als hätte sie meine Gedanken gelesen.

Während am Tisch noch munter geplaudert wurde, schoben Miguel und ich das Klavier von der Wand in den Raum und stellten es so auf, dass wir uns bequem anschauen konnten. Dann demontierten wir die Front des Klaviers und öffneten den Flügel.

Ohne weitere Vorwarnung legten wir los und wollten uns diesmal an das Geübte halten, auch die Ansagen würden wir an den Stellen anbringen, wo wir sie später im Konzert auch machen würden.

Meine alten Schulfreunde bekamen immer größere Augen und klatschten ehrlich begeistert Beifall.

Plötzlich gab es einen lauten, scheppernden Knall, der alle zusammenfahren ließ. Da war beim Klavier eine Saite gerissen. Nachdem er sich von seinem Schreck erholt hatte, fummelte Miguel den gerissenen Stahl aus dem Instrument, damit wir noch zu Ende spielen konnten.

Wir freuten uns sehr über die Anerkennung aller Anwesenden. Auch waren wir mit unserer Generalprobe einigermaßen zufrieden. Im Anschluss brunchten wir einfach weiter, denn meine Mutter hatte wirklich für üppige Vorräte gesorgt.

Unnötig zu erwähnen, dass die Zeit wie im Fluge verging. Trotzdem war lange noch nicht alles erzählt. Wir versprachen uns, in Kontakt zu bleiben. Wie sich zeigte, hatte jeder inzwischen eine E-Mail-Adresse. Jürgen übernahm es, einen Verteiler einzurichten und regelmäßige Infos zu schicken.

Um drei Uhr verließ der letzte Gast das Haus, so dass wir zwar später als gedacht, jedoch immer noch einigermaßen rechtzeitig, Richtung Internat loskamen. Auf den Straßen war einiges los, doch gerieten wir in keinen Stau. Um acht Uhr abends erreichten wir unser Ziel.

„Jungs, wie sieht’s aus? Ich lade euch noch zum Essen ein, wenn ihr mögt.“

Ein kurzer Blick zu Miguel bestätigte mir, dass auch er zumindest einer Kleinigkeit nicht abgeneigt wäre. So beschlossen wir diesen schönen Tag bei unserem Lieblings-Italiener in der ‚Trattoria San Niccolò‘ gegenüber der Sankt-Nikolaus-Kirche.

„Mama, ich bin überwältigt von diesem Tag und natürlich von diesem großartigen Geschenk. Auch, wenn es mir ziemlich weh tut, dass Vater überhaupt keine Notiz von Miguel nimmt. Aber man kann wohl nicht immer alles haben“, stellte ich mit einer seltsamen Mischung aus Freude und Trauer fest.

Mama seufzte: „Ja, so ist das nun mal.“

Miguel wusste nicht, wo er hinschauen sollte, so ergriff ich seine Hand und streichelte darüber.

„Mama, du kannst ruhig gleich Quartier beziehen, Miguel und ich gehen noch die paar Schritte zu Fuß zum Internat.“

„Okay, wenn ihr meint. Dann schlaft nachher gut, gute Nacht ihr zwei.“

Sie umarmte mich und Miguel.

„Gute Nacht, Sylvia. Komm gut heim morgen“, wünschte ihr Miguel.

„Schlaf auch gut, Mama. Und ganz herzlichen Dank für alles“, doch sie winkte nur ab, stieg in ihr Auto und fuhr davon.

Ich hakte mich bei meinem Freund unter. So schlenderten wir gemütlich auf unsere Bildungsanstalt mit Übernachtung zu. Sehr rasch lagen wir im Bett, waren aber viel zu aufgedreht und unterhielten uns noch lange über diesen Besuch bei mir zuhause. Ein angenehmer Nebeneffekt war, dass das morgige Konzert etwas in den Hintergrund geriet und somit auch kein Lampenfieber aufkam.

Trotz allem Schönen war um sieben die Nacht rum. Der Wecker holte uns erbarmungslos aus unseren Träumen.

„Guten Morgen, Rafi“, kam es verhalten fröhlich von Miggi.

„Boa, nö. Guten Morgen“, antwortete ich gewohnt muffelig.

Miguel lachte nur und schob mich vorsichtig, aber nachdrücklich aus unserem Bett.

„Auf geht’s, alter Murrkopf!“

Da er mich dabei immer wieder küsste und streichelte, konnte ich ihm nicht wirklich böse sein, sondern grummelte eben vor mich hin. Nach der morgendlichen Dusche war ich einigermaßen frisch und ansprechbar.

Nach dem Frühstück gings zum Unterricht. Zwei Stunden Englisch, dann eine Doppelstunde Mathe. Vom Sport waren wir jetzt noch einmal befreit, was wir zum „Technik-Check“ nutzten, denn das Konzert sollte aufgezeichnet werden. Da sollten alle Mikros optimal positioniert und einreguliert sein. Auch die Positionen der Kameras wurden dabei optimiert und die beiden Instrumente noch einmal verschoben. Dies war gar nicht so einfach, weswegen wir nach dem Mittagessen das Programm einmal durchspielen sollten. Miggi schien die Ruhe weg zu haben, was zum Glück eine ansteckende Wirkung auf mich hatte. Diese ganzen Arbeiten zogen sich in die Länge. Schließlich durften wir nachmittags um vier endlich gehen.

Das nutzten wir für einen kurzen Spaziergang um den See. Danach ruhten wir uns eine halbe Stunde aus. Für 17:30 Uhr hatten uns unsere Köche Daniel und Patrick ein leichtes Abendessen zusammengestellt, das vorzüglich schmeckte.

Eine Stunde später standen wir noch einmal unter der Dusche, bevor wir uns unsere Anzüge anzogen, diesmal entschieden wir uns für den Hosentausch, so dass Miguel zu seinem bordeauxroten Jackett eine anthrazitfarbene Hose und eine Fliege in dieser Farbe trug und ich zum anthrazitfarbenen Jackett die bordeauxrote Hose.

Langsam stieg die Anspannung bei uns beiden. Alle Plätze waren vergeben. Ausverkauftes Haus sozusagen. Im Anschluss sollte ein abgespeckter, kleinerer Empfang stattfinden als beim ersten Konzert im Rahmen des Tages der offenen Tür. Promis waren heute keine angekündigt.

Punkt 20 Uhr eröffnete Dr. Neubert den Abend mit launigen Worten: „Gute Abend, verehrte Gäste. Es freut mich sehr, dass Sie dieser Einladung zu unserem Benefiz-Wiederholungs-Konzert zu Gunsten des Kinderhospizes gefolgt sind. Allerdings kenne ich die beiden Künstler inzwischen so gut, dass ich Ihnen versprechen kann, dass Sie heute nicht einfach nur eine Wiederholung hören werden, sondern in weiten Teilen eine Neufassung. Im Anschluss darf ich Sie nach nebenan bitten, wo unsere Köche ein kleines Buffet für Sie aufgebaut haben. Jetzt aber wünsche ich Ihnen viel Spaß und gute Unterhaltung mit Miguel Hernandez und Raphael Hausner!“

Unter dem Beifall der Menschen betraten wir die Bühne. Wir begannen mit ‚Honeysuckle Rose‘ von Fats Waller mit dem Übergang zu ‚Ain’t she sweet‘.

Schnell hatte sich unser, doch noch aufgekommenes Lampenfieber gelegt und fast schon routiniert absolvierten wir unser Programm. Mit entsprechenden Ansagen brachte Miguel unser Publikum zum Lachen, was ich dann mit entsprechender Mimik während des Spiels noch ausbaute.

Wir spielten den ‚St. Louis Blues‘ und ich begann vorsichtig zu improvisieren. Dabei schaute ich zu Miguel, der nur leicht grinste. Er bedeutete mir, dass er nun übernehmen wollte. So beendete ich meine Improvisation in dem ich zum Originalmotiv zurückkehrte.

Miguel stieg darauf ein und ich beschränkte mich auf eine lockere Begleitung, dabei machte ich ein betont gelangweiltes Gesicht und schlug immer wieder mit meiner zu einer Pistole geformten rechten Hand einen einzelnen hohen Ton an.

Das Publikum lachte. Und ich setzte ein breites Grinsen auf.

Plötzlich wechselte Miguel zu Scott Joplins ‚Maple Leaf Rag‘.

Ich musste mich ziemlich beherrschen, um nicht loszulachen. So tat ich erschreckt und ging zu Miguel auf seine Seite. Übertrieben unwissend blätterte ich auffällig in seinem kleinen Notizbüchlein, während er nur grinste und mit den Schultern zuckte.

Das Publikum hatte mir wohl schon die Rolle des Clowns zugebilligt, so konnte ich ungeniert mit meiner rechten Hand dazwischen trällern.

Miguel ließ sich nicht aus der Ruhe bringen, so wechselte ich nun mit meiner linken auf die tiefen Töne, mit meiner rechten streichelte ich dabei Miguel über den Kopf, was er nun mit gespielter Empörung quittierte. Dann setzte ich mich hinter ihn auf seine Bank und umfasste ihn mit meinen langen Armen. So spielten wir auf ungewöhnliche Weise vierhändig.

Ich begann mich auffällig an seinen Rücken zu kuscheln; er tat pikiert und so übertrieben wir die Situation, bis das Publikum zu johlen begann.

Ich wechselte wieder zu meinem Flügel und wir brannten ein regelrechtes Boogie-Woogie-Feuerwerk ab. Dem ‚Boogie Woogie Blues‘ von Albert Ammons folgte ein recht schwieriger Übergang. Den hatten wir ausführlich geprobt. So wirkte es völlig mühelos, wie wir Tempo und Rhythmus hin zum ‚Swanee River Boogie‘ variierten und weiter zum ‚Honky-Tonk-Train-Blues‘.

Dass wir den Nerv des Publikums trafen, war an dessen Reaktion deutlich zu merken. Die Leute gerieten förmlich aus dem Häuschen.

Und wir fühlten uns pudelwohl.

Immer wieder staunte ich aufs Neue, wie fast schon beängstigend perfekt sich Miguel und ich ergänzten. Wir verstanden uns blind. Ich weiß nicht, wie ich es beschreiben soll, doch wenn das mit der „gleichen Wellenlänge“ eine Bewandtnis hat, dann gilt zwischen Miguel und mir, dass diese Wellen aufs Millionstel genau übereinander passten. Diese Passgenauigkeit gilt am Klavier wie im übrigen Leben. Unvorstellbar, dass wir uns vor knapp einem halben Jahr noch ständig angegiftet hatten. In dieser tollen Atmosphäre des damaligen Abends wurde mir endgültig klar, dass ich mit diesem Mann bis ans Ende unserer Tage zusammen-bleiben wollte, um gemeinsam Klaviere zu traktieren.

Nachwort

Ich hoffe, dass euch auch dieser letzte Teil gefallen hat und freue mich wieder auf eure Rückmeldungen. Vielen Dank allen, die mich mit ihren Feedbacks zum Weiterschreiben animiert haben. Ein Schluss fällt mir immer schwer, denn einerseits braucht eine Geschichte hier bei Nickstories für mein Gefühlsleben immer ein „Happy End“, allerdings soll es nicht (zu) kitschig sein. Ob Raphael und Miguel tatsächlich bis an ihr Lebensende zusammenbleiben und ein erfolgreiches Klavierduo werden, weiß ich nicht. Was wir jedoch alle wissen ist, dass Beziehungen auch in die Brüche gehen können. Deshalb steht am Ende, was die beiden aus ihrer damaligen Sicht wünschen und planen. In eurer Fantasie wisst ihr am besten selbst, wie es mit den beiden weitergeht.

Ich danke Guido fürs Korrekturlesen und Thomas für die Überlassung seines Miguels aus „Mit anderen Augen“. Ich bin mir auch sicher, nicht der einzige zu sein, der immer noch auf eine Fortsetzung von „Mit anderen Augen“ hofft.

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