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Unten am Fluss

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Eigentlich soll es kalt sein. Also nicht kalt-kalt, sondern richtig kalt. Arschkalt. Der Boden ist steinhart gefroren, Gräser und Laub sind mit weißem Reif überzogen und mein Atem kondensiert in großen Wolken an der Luft. Aber warum friere ich nicht?

Ich sitze am Wasser, meine Jacke ist geöffnet und der Schal hängt mir locker vom Hals. Der Boden hier ist deutlich beschädigt, trotz der Kälte ziehen sich tiefe Reifenspuren durch die Erde, und da unten am Ufer ist das Gras großflächig platt gedrückt.

Weihnachten ist vorbei. Wenn ich das alles gewusst hätte, hätte ich das Fest sicher nicht so genossen. Jetzt schäme ich mich dafür, dass ich mit leuchtenden Augen vor dem reichlich geschmückten Baum gestanden, mit den Kindern Weihnachtslieder gesungen und die gemütliche Omi lächelnd für das vorzügliche Festessen gelobt habe. Nur vier Tage ist es her, dass ich...


„Ich will den Stern aufsetzen, ich! Magnus, ich will den Stern aufsetzen!“

„Nein, ich bin dran! Du hast ihn letztes Jahr aufgesetzt!“

„Gar nicht!“

„Doch!“

„Gar nicht!“

„Doch!“

„Hey, hey!“ Lachend schob ich die zankenden Zwillinge auseinander, die meinem Freund aufgeregt um die Beine rannten und versuchten, ihm den Stern für die Christbaumspitze aus der Hand zu reißen. „Was haltet ihr davon, wenn ihr ihn zusammen aufsetzt?“

Ich hob Torben auf meinen Arm, Magnus schnappte sich Dennis und drückte ihm den Stern in die Hand.

„Los, du auch“, forderte ich Torben auf. Die beiden Jungs brauchten eine ganze Weile, bis der Schmuck endlich ordentlich auf der Spitze des Baumes thronte.

„Ja!“, jubelten die Sechsjährigen und hüpften aufgeregt auf und ab.

„Und jetzt will ich das Lametta an den Baum machen“, verkündete Dennis und steuerte zielstrebig auf die Schachtel zu.

„Nichts da!“, ging Magnus dazwischen. „Hinterher sieht der Baum aus wie Kraut und Rüben. Geht mal lieber in die Küche und helft Oma beim Kekse backen.“

„Ja, Kekse!!!“ Und schon rauschten die zwei ab. Magnus seufzte.

„Die werden auch jedes Jahr nerviger“, stöhnte er und wischte sich mit dem Handrücken über die Stirn. „Meine Familie ist anstrengend!“

Ich stellte mich dicht hinter ihn und nahm ihn in den Arm, küsste seinen Hals und schmuste mich an seine Wange. „Du bist ein großartiger großer Bruder“, flüsterte ich ihm ins Ohr, knabberte an seinem Ohrläppchen.

„Ja, und ein gestresster dazu.“ Bestimmt drückte er mich von sich weg. „Kuscheln können wir später, Schatz, hilf mir lieber, den Baum zu schmücken. Es muss alles fertig sein, wenn meine Mutter nach Hause kommt.“

„Ist gut.“ Noch einen Kuss auf den wunderschönen Hals, dann ließ ich von ihm ab und half ihm beim Dekorieren. Ich kannte das alles gar nicht von meinem Elternhaus. Meine Mutter hatte jahrelang fertige Gestecke zur Dekoration gekauft, der große geschmückte Baum hatte immer nur bei meiner Großtante gestanden. „Ein Baum in der Wohnung“, so hatte meine Mutter jedes Jahr von neuem gesagt, „ist unglaublich unpraktisch. Man muss ihn irgendwo aufstellen, er muss geschmückt werden, dann wieder abgeschmückt, zerkleinert und entsorgt werden, dann nadelt er auch noch alles voll. Und das alles für nur 3 Tage Festlichkeiten?“ Deswegen war das alles bei Magnus’ Familie unglaublich spannend und neu für mich. Begeistert knabberte ich die frisch gebackenen Kekse seiner Großmutter, genoss den Duft von Weihnachten im ganzen Haus. Orangen, Nelken, Zimt, Tanne... Ich fühlte mich wie im Weihnachtsparadies.


Es riecht nach Kälte, mein Gesicht brennt. Als ich aufstehe und mir den Schmutz von der Hose klopfe, sehe ich, dass der harte Boden bizarre Muster in meine Hände gezeichnet hat. Aus der linken Jackentasche pflücke ich meine Handschuhe, aus der Rechten meine warme Wollmütze, und ziehe beides an. Meine eingepackten Hände verschwinden tief in den Jackentaschen, das gefrorene Gras knarzt unter meinen Füßen, als ich über die Wiese stapfe. Ein keuchender Jogger rauscht an mir vorbei über den gepflasterten Weg. Er trägt eine hautenge, schwarze Leggins, Laufschuhe, eine Windjacke und auf dem Kopf eine Mütze, seine Hände stecken in dunklen Handschuhen und aus der Tasche an seinem Gürtel hängt ein Stück Kopfhörerkabel. Manche brauchen wohl bei jedem Wetter ihren Sport.

Ich habe es nicht so eilig wie der Jogger. Gedankenverloren schiebe ich beim Laufen ein paar Steinchen zur Seite, schaue immer wieder aufs Wasser. Unfreundlich ruhig fließt der Fluss dahin, als wäre nie etwas gewesen.

Die Bäume am Weg sind kahl, haben ihre Blätter schon vor Wochen abgeworfen. Letzten Sommer noch bin ich oft hier gewesen. An der einen Hand meinen Freund, in der anderen ein Eis...


„Darf ich deins mal probieren?“ Grinsend hielt Moritz mir sein Eis unter die Nase. „Du darfst auch mal an meinem lecken.“

„Klar.“ Genüsslich fuhr meine Zunge über die kalte Köstlichkeit, ich leckte mir über die Lippen.

„Heiß.“ Das versaute Funkeln in seinen Augen stand ihm richtig gut, am liebsten hätte ich ihn auf der Stelle vernascht. Ich beugte mich vor, um ihn zu küssen, doch er fuhr herum. „Guck mal, Enten!“

Wie ein kleines Kind freute er sich beim Anblick der Tierchen, hüpfte über die Wiese zum Ufer und zerbröselte die Spitze seiner Eiswaffel, um sie den Vögeln zuzuwerfen. Ziemlich schnell lief ihm flüssiger, klebriger Eisbrei über die Hand, doch das schien ihn gar nicht zu stören. Er hockte im Gras und strahlte vor sich hin.

Bald hatte er seine ganze Waffel verfüttert. Sein Eis war auf seinen Magen, die Wiese und sein Gesicht verteilt. Sogar die Nasenspitze hatte er sich eingeschmiert, als er das Eis im Eiltempo aus der Waffel geleckt hatte.

„Du siehst lecker aus“, lachte ich und knuffte ihn in die Seite. Ich hatte mich neben ihn gesetzt und beobachtete ihn belustigt.

„Na und?“ Moritz knuffte mich zurück, beugte sich übers Wasser und wusch sich Gesicht und Hände im Fluss. „Besser?“

„Jetzt stinkst du bestimmt nach Fisch“, flachste ich, Moritz streckte mir die Zunge raus.

„Das ist Natur“, kicherte er. „Komm, ich will da hinten auf die Brücke.“

An der Hand zog er mich hinter sich her, lachend rannte ich bald neben ihm, Passanten drehten sich nach uns um. Außer Atem erreichten wir die Brücke, Moritz beugte sich übers Geländer.

„Das Wasser sieht von hier oben ganz anders aus“, murmelte er. Er bückte sich, um einen Stein vom Boden aufzuheben, den er mit Schwung in den Fluss warf.

„Bis da hinten!“, rief er. „Du bist dran. Mach’s besser!“


Ich sehe, wie mein Stein nur wenige Meter entfernt ins Wasser eintaucht. Immer größer werdende Kreise breiten sich aus und markieren die Eintrittstelle. Moritz geschlagen habe ich nie. Werfen war eben noch nie meine Stärke.

Das eiserne Geländer ist so kalt, dass mein linker Wollhandschuh daran kleben bleibt. Ich muss ein bisschen ziehen, um ihn lösen zu können. Mit dem Fuß schiebe ich Schnee von der Brücke. Ein großer Brocken platscht schwer herunter, bevor er vom Strom weggetrieben wird und schmilzt, viele feine Flocken schweben aufs Wasser zu, werden vom Wind davongetragen. Würde er mich doch auch tragen...

„Scheiße!!!“, brülle ich so laut ich kann, ich spüre die Blicke der wenigen Fußgänger in meiner Nähe. Ich beginne zu rennen.


„Schatz, willst du noch Klöße?“ Magnus hielt mir die Porzellanschüssel hin.

„Oh, nein, danke“, lehnte ich ab, strich über meinen gut gewölbten Bauch. „Noch ein Bissen, und ich platze!“

Alle lachten. Ein Gefühl von Gemeinschaft breitete sich in mir aus. Magnus’ Familie hatte mich so liebevoll in ihren Kreis aufgenommen, ich fühlte mich wie zu Hause. Sogar ein Weihnachtsgeschenk hatten sie für mich gehabt und damit genau meinen Nerv getroffen: Ein Buch von Stanislaw Lem.

„Für eine Nachspeise ist aber sicherlich noch Platz, oder?“ Magnus’ Oma stellte mir eine Dessertschüssel vor die Nase und legte einen Löffel daneben.

„Weihnachtspudding!“, juchzten die Zwillinge und fingen sofort an, Vanillepudding mit Apfel-Zimt-Kompott in sich reinzuschaufeln. Sogar Rosinen waren da drin! Das überzeugte meinen Magen, noch einen Platz für den Pudding frei zu räumen.

„Das war einfach wunderbar“, lobte ich die Frau mit den grauen Locken, sie strahlte. So eine Oma hatte ich mir immer gewünscht. „Nächstes Jahr komme ich wieder – nur des Essens wegen!“

„Du bist auch so jederzeit willkommen“, bot sie mir an. Das alles rührte mich sehr, mein Herz machte kleine Luftsprünge.

„Das ist wirklich sehr-“

„Schatz, klingelt da nicht dein Handy?“, unterbrach Magnus mich, ich horchte. Unter die gedämpften Klänge der Weihnachtsmusik im Hintergrund mischte sich elektronisch piepsend „Jingle Bells“ aus meiner Jacke. Ich entschuldigte mich, stand vom Tisch auf, suchte mein Handy heraus. Keine Nummer wurde übertragen.

„Schwaner, hallo?“


Die eisige Luft brennt in meiner Lunge. Es fühlt sich an, als würde ich von innen erfrieren. Mein kondensierender Atem vernebelt mir die Sicht, und trotzdem weiß ich genau, wo ich hier bin.

Ich torkle vorwärts, fühle das kalte, lackierte Holz, lasse mich auf die Bank sinken. Immer noch zieht der Fluss stetig an mir vorbei, doch jetzt sitze ich am anderen Ufer, die kaputte Wiese mit den stillen, erfrorenen Zeugen in der Erde liegt meterweit entfernt.

Die ganze Gegend hängt schwer voller Erinnerungen, und die Last scheint mich zu erdrücken. Mir ist heiß, meine Haut glüht, ich spüre mein Herz im Hals pochen. Ich kann hier nicht bleiben, doch meine Beine sind plötzlich bleischwer und lassen sich kaum mehr bewegen. Es gab eine Zeit, da habe ich mich auf dieser Bank halten lassen, von zwei warmen, weichen Händen...


Moritz streichelte mein Gesicht, legte eine Hand in meinen Nacken.

„War ein schöner Abend“, lächelte er. Einen herrlich sonnigen Märztag hatten wir zusammen verbracht, waren beim Italiener gewesen und hatten den Tag bei einem langen Spaziergang ausklingen lassen. Für ein erstes Date ausschweifend und wunderschön, ich fühlte mich, als würde ich Moritz schon ewig kennen.

„Ja, das find ich auch.“ Ich strich ihm durch die kurzen, dunklen Haare. Sie waren ganz weich, es kribbelte angenehm auf der Handfläche.

„Ich würde dich gern wieder sehen“, flüsterte er, und seine Stimme wurde ganz zerbrechlich dabei.

„Und ich würde dich gern küssen“, hauchte ich zurück, nur noch für ihn hörbar, schloss die Augen, spürte sehnsüchtiges Prickeln in den Lippen, und tausend Blitze durchzuckten mich, als unsere Münder sich zum Kuss vereinten...


‚Wir haben uns zu früh getrennt’, geht es mir durch den Kopf. Meine Füße malen lauter Kreise in den Schotter. ‚Wegen so einer Nichtigkeit. Ein Streit, und schon haben wir uns gehasst!’ Wütend stoße ich meine Fußspitze in den Boden, kleine Steinchen spritzen zu allen Seiten weg. Warum bin ich damals in Magnus’ Arme geflüchtet, anstatt mich um ihn zu bemühen?

„WARUM?!“

Nur eine Oma mit einem kleinen Wägelchen hört meinen Schrei, doch sie scheint davon nicht beeindruckt. Seelenruhig schlurft sie an mir vorbei, als wäre nichts gewesen, genau wie der Fluss. Er hat keine Ohren, und doch hat er alles gehört. Er hat keine Augen, und doch hat er alles gesehen. Er hat keine Lippen, und doch redet er ununterbrochen davon, was passiert ist, hält alle Erinnerungen aufrecht, damit niemand je vergisst.


„Phil? Hier ist Björn.“ Björn, mein bester Freund? Was wollte der von mir, am Abend des 2. Weihnachtstages? Zum „Frohes Fest!“ wünschen war es doch schon fast zu spät.

„Phil, du musst nach Hause kommen. Moritz ist von der Brücke gesprungen. Sie haben ihn aus dem Wasser geholt, aber es war zu spät... Phil... es tut mir so Leid!“

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