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Verstecktes Leben im Abseits - Tabuthema Homosexualität in der Männerdomäne Fußball

Kapitel 8 - Gefühle im Nachspiel

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Informationen

 

Ich kann nicht genau sagen, wann ich bemerkte, dass sich seine Blicke ein bisschen veränderten. Vielleicht waren sie auch von Anfang an anders gewesen und ich hatte zuvor einfach nicht gelernt, sie zu deuten. Doch irgendwann erkannte ich, dass Mathew mich anders ansah als zuvor; dass ich in den wunderbaren Augen etwas Verborgenes lesen konnte. Dann und wann lächelte er mich mit ihnen intensiv an, selbst wenn seine Lippen dies zu verheimlichen versuchten. Oder er hielt ganz einfach eine Sekunde zu lange meinen Blick, als dass ich es als einfache Coach-Spieler-Beziehung hätte abtun können. Ich bemerkte es immer deutlicher und dennoch beschloss ich, es nicht zu verstehen.

Unterbewusst führte es allerdings dazu, dass ich mit Miriam ein wenig anders umging, wenn Mathew dabei war. Ich küsste sie öfter, nahm sie inniger in den Arm, versuchte sozusagen alles, um ihm zu zeigen, wie glücklich ich doch mit meiner Freundin war. Seine Blicke aber hörten nicht auf. Und bald schon hatte ich das Gefühl, dass auch seine Berührungen sich verändert hatten.

Zunächst machte mir Mathews Verhalten Angst. Ich fragte mich, ob er dies machte, weil er irgendwie hinter mein nahezu perfekt gehütetes Geheimnis gekommen war. Wollte er mich aus der Reserve locken, um mich anschließend zu erpressen? Gefühlte Stunden und Tage machte ich mir darüber Gedanken, denn ich hatte im Internet mal von einem ähnlichen Fall gelesen. Andererseits konnte ich mir nicht vorstellen, dass ausgerechnet dieser so vertrauenswürdige Mann Pläne schmiedete, die das Leben eines Menschen zerstören konnten.

Doch was mochte dann sein Grund sein, sich mir gegenüber anders zu verhalten? Je mehr ich es beobachtete, desto bewusster wurde mir, dass es tatsächlich nur bei mir der Fall war. Nur mich sah er so an; ich erkannte es immer deutlicher, mit jedem Tag, jeder Begegnung.

Es war wirklich alles andere als offensichtlich, niemand sonst wäre wahrscheinlich auch nur misstrauisch geworden, doch für mich wurde es immer deutlicher. Wenn wir alleine waren, drückten seine Augen Zuneigung aus und er lächelte mich ganz warm an; erst wenn jemand in unserer Nähe war, wurde sein Gesicht wieder professionell distanziert. Auch seine Berührungen unterschieden sich, je nachdem, ob wir alleine waren oder nicht. Waren wir nur zu zweit, griff er öfter nach meinen Armen oder Beinen, um sie an den Geräten anders zu positionieren oder bestimmte Muskeln zu lockern. Dies tat er kaum bis gar nicht, sobald jemand dabei war; dann gab er lediglich Tipps oder Anweisungen.

Kurzzeitig vermutete ich natürlich, dass er es mit allen anderen ebenso hielt, doch irgendetwas unbenennbares zeigte mir mit der Zeit ganz deutlich, dass dem nicht so war. Ich war anders als die anderen; er nahm mich anders wahr. Doch ich wollte noch immer nicht wahrhaben, was mich für ihn so anders werden ließ.

Das, was am wenigsten zu der ganzen Situation passte, war die Freundschaft, die Mathew und Miriam mit der Zeit entwickelten. Sie unternahmen einige Male etwas miteinander, wenn wir trainierten und er frei hatte. Auch zu dritt oder fünft, zusammen mit Thomas und Cheila, waren wir anzutreffen, denn auch die drei hatten eine Wellenlänge zueinander gefunden. Mir schien es fast, als käme Mathew mit allen Personen gut zurecht, die mir etwas bedeuteten. Das war ein komisches Gefühl und es machte das alles nicht gerade einfacher.

Im Gegenteil, eigentlich wurde es in mir mit jedem Tag komplizierter. Lange wollte ich es mir zwar nicht eingestehen, aber mit jedem Moment, der verging, sehnte ich mich mehr nach Mathew. Bald schon galt der Großteil meiner Gedanken, wenn sie sich nicht gerade um Fußball drehten, ihm. Selbst wenn Miriam in meinen Armen lag, erwischte ich mich immer öfter dabei, wie ich mir wünschte, ihn an meiner Seite zu haben. Wenn ich dies bemerkte, verdrängte ich die Gedanken sofort wieder, verbot sie mir und lenkte mich irgendwie ab. Doch sie kamen wieder, immer stärker und immer intensiver.

Bald schon war der Drang, ihn zu berühren, fast unerträglich geworden, und ich wusste nicht, wie ich ihn unter Kontrolle bringen konnte. Ich durfte so nicht denken, nicht so fühlen. Es war gefährlich und fatal. Ich hatte viel zu viel zu verlieren, denn was konnte ich schon gewinnen? Was hätte mir seine Nähe geben können?

Ich redete immer wieder auf mich ein, innerlich, dann, wenn mich Fantasien plagten, die mir bisher unbekannt gewesen waren. Ich durfte nicht schwach werden! Auf gar keinen Fall!

Einer der bisher schlimmsten Tage war der unseres finalen Sieges in der Gruppenphase. Es war denkbar knapp gewesen, erst in der 87. Minute hatten wir es geschafft, in Führung zu gehen. Jubelnd und erleichtert fielen wir uns der Reihe nach um den Hals und wie alle anderen, presste auch Mathew mich an sich. Intensiver als je zuvor nahm ich seinen angenehmen Geruch wahr; mir war nicht bewusst gewesen, wie gut ich ihn schon kannte. Ich sog ihn in mir auf und spürte, wie es mir mit einem Mal gut ging. Richtig gut; für ein paar winzige Sekunden fühlte ich mich ganz leicht, als wären mir alle Laster von den Schultern gefallen. Erschrocken wich ich zurück, denn ich realisierte, dass ich ihn gerade nicht mehr loslassen wollte. Seinem fragenden Blick wich ich aus.

Schnell umarmte ich die anderen Coachs, noch hier und da ein paar Spieler; mit einem der gegnerischen Mannschaft verfiel ich in ein kurzes Gespräch, da wir vor ein, zwei Jahren im selben Verein gespielt hatten, doch das Murmeln in meinem Inneren wurde ich nicht los. Es war eine Stimme, die ich bereits als Jugendlicher in mir getragen, aber weitestgehend ignoriert hatte. Plötzlich war sie wieder da, lauter als je zuvor, aufdringlicher, zusammen mit einem Begehren, das ich so nicht kannte. Ich musste mich zwingen, nicht ständig in Mathews Richtung zu sehen.

Die Feier nach dem Spiel war für mich eine richtige Qual. Eigentlich wollte ich mit meinen Gedanken alleine sein, wusste aber gleichfalls, dass das nun überhaupt nicht gut für mich wäre. Stattdessen trank ich bewusst einen über den Durst, um die Stimme zu beruhigen. Anschließend wankte ich sturzbesoffen mit Miriam in unsere Suite, nur um dort über sie herzufallen. Freilich störte sie dies ganz und gar nicht.

Als ich etwas später mit hämmerndem Schädel aufwachte, war mir sofort bewusst, dass mein Verhalten ganz und gar nicht richtig gewesen war. Ich spürte Miriams Wärme neben und das bedrückende, schuldige Gefühl in mir. Und ich spürte noch etwas, weshalb ich es nicht schaffte, meine Augen wieder zu schließen: Ich spürte Sehnsucht. Fürchterliche, erschreckend deutliche Sehnsucht nach einem Mann, den ich erst ein paar Wochen kannte, der aber bereits meinen Verstand beherrschte wie niemand je zuvor. In dem Augenblick wäre es mir genug gewesen, einfach nur seine Hand an meiner zu spüren.

Ich kämpfte mit mir selbst und versuchte lange, wieder einzuschlafen. Doch je mehr ich mich dazu drängen wollte, desto stärker wurde diese Kraft in mir drin, die mich aus dem Bett trieb. Ich konnte irgendwann einfach nicht länger liegen bleiben.

Leise stand ich auf, zog mir Jogginghose und Pulli über und wollte das geräumige Hotelzimmer bereits verlassen, als Miriams schläfrige Stimme mich zurück rief. Verzweiflung und Schuld ergriff mich, als ich mich zu ihr hinab beugte und wusste, dass ich nun sofort wieder ins Bett zurückkehren sollte. Stattdessen log ich sie an, sagte, ich müsse ein wenig frische Luft tanken und würde deshalb draußen spazieren gehen. Sie gab mir den Hinweis, es würde doch regnen, entließ mich aber dennoch ohne Zögern mit einem sanften Kuss. Ich wusste genau, dass sie mir grenzenlos vertraute und dass ich kurz davor war, genau dieses Vertrauen zu missbrauchen. Doch das alles hielt mich nicht zurück. Ich konnte einfach nicht mehr.

Den Hotelflur ging ich sehr langsam und leise entlang. Bei jeder Tür hatte ich Angst, sie könnte aufspringen und ich könnte bei meiner nächtlichen Tour enttarnt werden. Zuvor hatte ich mich noch geärgert, dass unsere eigene Tür keinen Spion hatte, nun war ich froh darüber, dass es hier mit allen so gehalten worden war. Auch so fiel es mir schwer genug, zwei Stockwerke hinab zu fahren und dort den blaugestreiften Teppich zu betreten, der mich zu einem Zimmer am Ende des Gangs führen würde.

Ich versuchte nicht darüber nachzudenken, was ich hier tat. Es war so unheimlich unvernünftig und gefährlich und doch konnte ich nicht anders, als einen Fuß vor den anderen zu setzen. Meines Ziels war ich mir dabei vollkommen bewusst.

Doch was wollte ich machen, wenn ich erst einmal bei ihm wäre? Was würde es mir bringen? Würde ich mich nicht alleine durch mein Auftauchen verraten? Was, wenn ich all seine Blicke und Berührungen… wenn ich einfach jedes kleine Zeichen falsch gedeutet hatte? Oder er wollte mich doch enttarnen…

Während sich die Angst in mich fraß und ich mir all diese Fragen stellte, ging ich den Flur dennoch weiter entlang, das Ziel im Blick. Ich versuchte, mich krampfhaft daran zu erinnern, ob er mich wirklich so fest an sich gedrückt hatte, wie ich es in Erinnerung hatte, und ob seine Blicke auf der Feier tatsächlich über viele andere hinweg direkt in meine Augen gegangen waren. Eigentlich war ich mir sicher, doch gleichzeitig fürchtete ich, mich zu irren. Es wäre ein nicht auszumalender Fehler, wenn ich mich irren würde.

„Das bringt mich zu der Frage… haben Sie in der ganzen Zeit einen anderen schwulen Profispieler kennengelernt?“

„Nein, keinen einzigen.“

„Aber es wird sie bestimmt geben.“

„Mit Sicherheit. Aber jeder hat eine so perfekte Fassade um sich gebaut, dass man sich nicht erkennt. Als schwuler Spieler ist man mehr als jeder andere darauf bedacht, männlich und stark zu wirken, bloß nicht zu gefühlsbetont zu sein. Doch natürlich ist das kein Zeichen, denn Aggressivität im Spiel kann auch ganz andere Gründe haben…“

„Also bemerken Sie einander nicht?“

„Nein. Man ist immer so sehr auf seine Handlungen bedacht, darauf, bloß nicht aufzufallen, dass die Maske nie bröckelt und perfekt sitzt. Es würde an ein Wunder grenzen, wenn einer ohne einen fast schon bewussten Fehler entlarvt werden würde…“

„Aber Mathew hat Sie entlarvt.“

„Ja.“

„Wie ist das möglich?“

„Ich weiß es nicht, denn ich würde meine Hand dafür ins Feuer legen, dass ich keinen Fehler begangen habe und die Maske nicht bröckelte… und dennoch, irgendwie hat er es gespürt.“

„Und Sie wiederum haben das gespürt?“

„Ja, das und noch viel mehr… Und deshalb war ich zum ersten Mal bereit, einen Schritt in diese fremde Gefühlswelt zu wagen…“

Ich stand eine Weile untätig vor seiner Hotelzimmertür, auch wenn ich wusste, dass ich ein immer größeres Risiko einging, gesehen zu werden. Doch es fiel mir schwer, einfach so an die Tür zu klopfen und eine Sekunde lang überlegte ich natürlich, wieder zu verschwinden, doch in der nächsten fühlte ich mich schon nicht mehr fähig dazu. Ich wollte mit ihm reden, selbst wenn ich mir nicht sicher war, worüber. Ich wusste einfach, dass es sein musste.

Natürlich hatte ich mir im Versuch, nicht vollkommen unvernünftig zu handeln, eine Ausrede zurechtgelegt: Hin und wieder hatte ich nachts Wadenkrämpfe. Mir war ein paar Mal gesagt worden, in einem solchen Fall solle ich Vitamin- oder Magnesiumtabletten anfordern. Würde Mathew auch nur eine Sekunde lang komisch gucken, würde ich mein Auftauchen auf mein Bein schieben. Ich würde es hinbekommen, dies vorzutäuschen und er würde es mir glauben; das versuchte ich mir zumindest einzureden. Doch die Angst blieb, zusammen mit der Furcht, dass ich doch alles richtig gedeutet und er mich bereits durchschaut hatte. Wie sollte es dann bloß weitergehen?

Als ich endlich klopfte, hämmerte mein Herz fürchterlich. Ich spürte meine kalten Hände und meinen trockenen Hals. Mein Kopf dröhnte noch immer ein wenig und die Sehnsucht raubte mir einen Moment lang den Atem. Ich wollte ihn sehen, deshalb war ich hier. Ich wollte nicht nur reden. Ich wollte ihn berühren.

Es dauerte eine Weile, bis die Tür geöffnet wurde und Matthew wirkte mehr als nur ein kleines bisschen überrascht, mich zu sehen. Einen Moment lang erschien er sprachlos und ich hatte meine Lüge bereits auf den Lippen, als sich auf seine ein winziges Lächeln schlich. Er trat zur Seite und ließ mich ein. Zögernd ging ich dem nach und hielt die Luft an, als er die Tür hinter mir schloss. Dann passierte nichts. Ich weiß nicht, was ich erwartet hatte, doch im ersten Augenblick bewegte sich keiner auch nur einen Zentimeter.

Ich hätte einen Krampf gehabt, log ich nun doch, da mir die Stille unangenehm wurde. Ich sah ihn zögernd an und Mathews Lächeln verstärkte sich ein wenig, als er meinte, er würde ein entsprechendes Mittel holen; ich solle ihm folgen. Also betraten wir das nur spärlich erhellte Schlafzimmer. Die Bettdecke war zurückgeschlagen, er hatte sicher gerade eben noch dort gelegen. Mein Magen zog sich zusammen und ich zwang mich, nicht darüber nachzudenken, ob die Matratze wohl noch seine Wärme trug. Stattdessen richtete ich den Blick auf die leicht geöffnete Balkontüre, durch die ich den Regen hören konnte. Für einen kurzen Moment versank ich in dem beruhigenden Geräusch, so lange, bis mich eine Hand sanft am Arm berührte. Ich erschauderte und bezwang den Instinkt, zurückzuzucken. War ich nicht hergekommen, um etwas herauszufinden? Über mich und über ihn?

Zögernd sah ich ihn an und erkannte, dass sich sein Lächeln verändert hatte. Dass ich nicht vor ihm gewichen war, schien für ihn auf jegliche Unklarheit Antwort genug zu sein. Er warf den kleinen Pillenbehälter aufs Bett und trat ein Stück näher an mich heran, sodass er mich besser ansehen konnte. Mein Blick glitt hastig zur offenen Balkontür und ich erklärte ihm sinnloserweise, dass es regnete. Mit einem Mal war mir das alles furchtbar peinlich. Doch er lächelte nur weiter und nickte leicht. Wir sahen uns wieder an.

„Was willst du wirklich hier?“, fragte er leise und der kurze, darauf folgende Wortwechsel brannte sich Silbe für Silbe in mein Gedächtnis ein.

„Ich weiß es nicht.“ Ich sprach so leise, dass der Regen mich fast übertönte. „Ich will etwas wissen…“

„Ich auch.“

Er strich mir mit zwei Fingern über den Arm. Ich bekam darunter eine Gänsehaut.

„Und was?“

„Das, was du mehr als alles andere zu verstecken versuchst.“

Hier wurde ich nervös. Ich schluckte und wusste nicht, was ich erwidern sollte. Gleichzeitig ergriff mich plötzlich der Gedanke, was ich machen würde, wenn irgendjemand etwas von diesem Gespräch erfahren würde. Vielleicht wollte Mathew mich doch erpressen und ich war ihm ins Netz gegangen? Vermutlich konnte man mir bereits aus diesen wenigen Worten einen Strick drehen.

Schnell wich ich deshalb vor seiner Berührung zurück und erklärte, dass es ein Fehler gewesen war, herzukommen. Ich wollte mich umdrehen und weggehen, doch ich schaffte es nur ein paar kurze Schritte weit. Mathew hatte keine Anstalten gemacht, mich aufzuhalten. Vielleicht war genau das der Grund, weshalb ich blieb.

Ich richtete meinen Blick wieder dem Geräusch des Regens zu. In meinem Augenwinkel stand Mathew ruhig da. Er schien abzuwarten, was ich tun würde, und einen Moment lang fragte ich mich das selbst. Meine Sehnsucht nach ihm hatte mich hierher gebracht, doch noch war ich zu ängstlich, nach ihr zu handeln. Ich hatte nicht umsonst jahrelang eine Mauer aufgebaut; sie konnte nicht in einer einzigen Nacht vollends niedergerissen werden.

Statt dem Drang einer Berührung nachzugeben, löschte ich das Licht im Vorbeigehen zur Balkontür und zog den Vorhang etwas weiter zurück, sodass ich hinaustreten konnte. Sofort traf mich der Regen, als ich an das Geländer trat. Irrationalerweise musste ich plötzlich daran denken, wie ich als Jugendlicher einmal über Selbstmord nachgedacht hatte. Seither war mir ein solcher Gedanke nie wieder gekommen und auch jetzt konnte ich mir keinen einzigen Grund vorstellen, ihn zu begehen. Ich fürchtete den Tod vielleicht mehr denn je und trotzdem zog mich die schwarze Tiefe geradezu magisch an.

Ich hörte die leisen Schritte hinter mir, an der Tür blieben sie stehen. Er sagte meinen Namen und ich drehte mich langsam um. In der Dunkelheit konnte ich seine Umrisse höchstens erahnen, was mich beruhigte, konnte ich mir dadurch sicher sein, auch selbst von niemandem erkannt zu werden, der wohlmöglich mitten in dieser sternenlosen Nacht auf diesem Balkon zwei Gestalten stehen sah.

So plötzlich mich die Nervosität zuvor noch ergriffen hatte, so schnell war sie nun schon wieder aus mir gewichen. Ich richtete den Blick hinauf in den Himmel. Die Balkone waren versetzt und dicke Regentropfen trafen ohne Hindernis direkt auf mein Gesicht. Mir gefiel es in diesem Moment, denn sie durchnässten mich und schienen irgendetwas von mir zu waschen. Ich schloss die Augen und ließ meine Hände über das kalte Metallgeländer gleiten. Noch mehr nahm ich die einzelnen, schweren, kalten Tropfen auf mir wahr und ich genoss es, wie ein Bach von ihnen über mein Gesicht glitt. Ich atmete tief und roch den frischen Regen; noch nie hatte ich den Geruch so bewusst wahrgenommen. Überhaupt war ich noch nie freiwillig in den Regen hinaus getreten. Vielleicht hätte ich das schon viel früher einmal tun sollen, erkannte ich da.

Während ich meine Augen wieder öffnete und den Blick senkte, Mathew mit verschränkten Armen in der Tür erahnen konnte, fragte ich mich, was mich wirklich hierher getragen hatte. Ich war nie ein Risiko eingegangen, in den ganzen Jahren nicht. Ich hatte Karim, meine erste Liebe, sogar verprügelt und bloßgestellt, als ich noch nicht mal halb so erfolgreich gewesen war und bei weitem nicht so viel zu verlieren gehabt hatte. Dennoch war ich aus unerfindlichem Grund hier, obgleich alles vorbei sein würde, wenn auch nur ein falsches Wort dieses Zimmer verlassen würde. Es war ein unvorstellbares Risiko, das mir Angst machen sollte. Doch stattdessen war ich ruhig und entspannt wie selten zuvor.

Liebe macht einen unvernünftig, das erkannte ich in diesem Moment, und es ließ mich lächelnd einen Arm nach vorne strecken. „Komm her“, flüsterte ich sanft, und tatsächlich ergriff er sofort meine Hand. Ein atemberaubendes Gefühl floss durch mich hindurch, als er an mich heran trat, als unsere Körper sich berühren konnten und er seinen freien Arm um mich schlang. Kurz dachte ich, er würde mich küssen wollen, doch er lehnte sich mir bloß entgegen und aus einer winzigen Entfernung heraus sah ich, wie er die Augen schloss. Ich tat es ihm gleich, während ich seine Hand umklammerte wie ein Ertrinkender.

„Ich kann dir nichts sagen“, flüsterte ich dann, weil ich wusste, dass ich meine Farce noch nicht beenden konnte.

Von ihm kamen daraufhin nur zwei Worte: „Ich weiß.“.

Wir standen noch lange so da, ohne uns zu bewegen, ohne uns noch näher zu kommen oder voreinander zurückzuweichen. Durch den kalten Regen spürte ich seinen warmen Atem in meinem Gesicht und ich nahm das Wasser wahr, welches unsere verschlungenen Hände hinunter glitt. Mittlerweile musste wirklich jede Faser meines Körpers durchnässt sein, doch es störte mich nicht. Denn es tat so gut, ihn zu spüren und mich. Denn das tat ich. Ich nahm mich wahr, ihn und mich, zusammen, verboten, mitten im Regen. Ich spürte mein Herz und nahm wahr, dass die Einsamkeit aus ihm verschwunden war. Plötzlich fühlte ich mich vollkommen, fühlte mich gut und frei. Ich spürte jeden Millimeter von mir und ich mochte mich. Zum ersten Mal seit einer sehr langen Zeit mochte ich mich.

Es passierte nicht mehr als das auf dem kleinen Balkon. Irgendwann sagte ich, dass ich gehen müsse und Mathew nickte bloß. Drinnen gab er mir ein großes Handtuch zum Beseitigen des größten Schadens. Wir sprachen nicht mehr und er blieb im Schlafzimmer stehen, als ich ging. So sehr ich mich schon nach wenigen Schritten wieder zurück sehnte, war ich froh, diesen Abstand von ihm zu erhalten, denn jegliche Nähe hätte mich aufhalten können. So aber schaffte ich es, mit schnellen, bestimmten Schritten den Weg zu meinem eigenen Hotelzimmer zurückzugehen.

Ich wusste nicht, wie viel Zeit vergangen war, ich hoffte einfach, dass Miriam tief und fest schlief. Doch natürlich wachte sie auf, als ich zu ihr ins Bett kroch, nackt und jetzt frierend von der nassen Kälte. Sofort schob sie ihren warmen Körper an mich heran und ich küsste sie heiß und innig, erregt und voller Gedanken, die ich nicht haben durfte. Wir zerwühlten das Bett wie lange nicht mehr und so befriedigt ich mich anschließend körperlich fühlte, so schuldig war ich seelisch.

Ich hinterging sie und der Verrat saß tiefer als zuvor, wog schwerer als jeder Besuch im Sexkino. Es war nichts geschehen auf dem Balkon, wir hatten einander nicht einmal geküsst, sondern uns nur bei der Hand gehalten, und dennoch war Mathew mir näher gewesen als je ein anderer zuvor; näher als sie in all den Jahren. Außerdem hatte ich mich zum ersten Mal, seit ich denken konnte, nicht dreckig gefühlt.

Ich hatte unbeschreibbar tiefe Gefühle für diesen Mann entwickelt und eben diese ließen mich in der Nacht nicht einschlafen, da ich keinen blassen Schimmer hatte, wie ich ihm oder auch irgendjemandem sonst am nächsten Tag unter die Augen treten sollte. Ich hatte mich verändert, in nur einer einzigen Nacht, doch das durfte keiner merken.

„Und Sie hatten keine Angst mehr, dass er Sie verraten könnte?“

„Doch, natürlich, ein kleinwenig dieser Angst bleibt wohl immer in einem, wenn man sich schon so lange versteckt… Doch aus irgendeinem Grund war ich mir sicher, dass er nichts sagen würde.“

„Das kommt mir ziemlich leichtsinnig vor.“

„Das stimmt. Aber vielleicht musste ich auch einmal genau das sein…“

„Und wie war es, ihn am nächsten Tag wiederzusehen?“

„Überraschenderweise viel einfacher als erwartet, was aber vor allem Mathew zu verdanken ist. Er war unverändert, tat wirklich so, als sei nichts gewesen, schaute mich nicht länger an als sonst und zeigte mit keiner Geste, dass sich in der Nacht etwas verändert hatte…“

„Und damit kamen Sie klar?“

„Um ehrlich zu sein, es zog mich nur noch mehr in seine Richtung.“

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