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Kann Sehnsucht krank machen?

Sechster Teil

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Informationen

Vorwort

Hey liebe, treue Leser!

Ihr werdet es kaum glauben, aber mich gibt es noch ;-). Einige haben mich ja echt gepiesackt, die letzten fast 2 Jahre, und das zu Recht. Mein schlechtes Gewissen ist riesig, aber das ändert leider nichts an der Tatsache, dass persönliche und berufliche Gründe ein zeitnahes Weiterschreiben nicht möglich gemacht hätte. Das größte Chaos entstand aber Anfang diesen Jahres, als alle meine gesicherten Dateien und Entwürfe durch einen haarsträubenden Fehler meinerseits verschwanden. Ich hatte das „Glück“, bei diesem vorliegenden Teil fast bei Null noch einmal anfangen zu dürfen.

Das soll alles keine Ausrede sein – Euch vielmehr nur einen kleinen Einblick in die Unwägbarkeiten eines Hobbyautors geben. Eigentlich sollte das der letzte Teil sein, aber ein, zwei oder auch drei Teile folgen noch *fg*. Meine „kleinen“ Helden wollen halt einfach noch nicht das Wort „Ende“ sehen.

Ich wünsche Euch auf jeden Fall viel Spaß beim Lesen dieser Zeilen, auch wenn viele wahrscheinlich die Teile davor noch einmal lesen müssen, um den Einstieg zu bekommen.

Es tut mir leid und ich entschuldige mich für die längere Wartezeit.

Gruß

jR

 

Ich wollte nicht mit … ich wollte hier bleiben …

Genau das, was Dominik gerade machte, war eigentlich mir zugedacht – Raphael in meinen Armen halten. Nur mein Pa war unerbittlich. An der Tür standen die wandelnden Fleischberge und schauten uns aus kleinen Schweinsaugen an.

„Bewegt Euch“, fauchte mein Vater sie an, aber sie grinsten nur dümmlich. Er wusste jedoch genau, an wen er sich wenden musste.

„Madam, ich bin es nicht gewohnt, mich zu wiederholen“, sagte er gefährlich leise an die beiden Kerle vor ihm gewandt. Er erachtete es nicht mal als nötig, sich noch einmal umzudrehen. Da meine Augen nach wie vor auf meinen Kleinen gerichtet waren, konnte ich die kleine Handbewegung seiner Großmutter sehen. Raphael hatte seinen Kopf an der Schulter seines Bruders vergraben und seine Schultern zuckten unkontrolliert. Mein Vater war aber unerbittlich und ein paar Schritte weiter wurde mein Blickkontakt unterbrochen. Das Letzte, was ich aus diesem Raum mitnahm, war der Anblick seiner Großmutter – das hassverzerrte Gesicht führte mir augenblicklich die Aussichtslosigkeit der Lage vor Augen. Müde und resigniert trottete ich hinter meinem Vater her. In der Empfangshalle sah er sich kurz um.

„Tim?“, rief er nicht sehr laut, aber mein Zwilling kannte diesen Tonfall und er hätte Kilometer weit weg sein können, um auch dann alarmiert Sekunden später neben uns zu stehen. Svenja war an seiner Seite und sie wollte gerade den Mund aufmachen.

„Au“, mehr bekam sie nicht heraus, denn Tim hatte ihr leicht auf den Fuß getreten.

„Kümmere Dich um Jean, ich hol Inge und dann treffen wir uns am Auto“, sagte er zu meinem Zwilling und war auch schon verschwunden. An mir ging das alles vorüber. Ich befand mich in meiner kleinen eigenen Welt und hatte nur Raphael im Kopf.

‚Das konnte doch alles nicht wahr sein! Da hatte ich meinen Traum endlich gefunden, wir hatten uns nach einigen Anlaufschwierigkeiten fast zusammengerauft und dann dieser Absturz – so aus dem Nichts!‘

„Jean?“, fragte mich Tim vorsichtig. Wir standen mittlerweile draußen herum und warteten auf das Auto. Wie durch einen Schleier sah ich einen zutiefst beunruhigten Zwilling. Erst jetzt bekam ich mit, dass mir die Tränen über das Gesicht liefen.

„Sie hat mir gerade meinen Kleinen weggenommen!“, schluchzte ich leise auf. Tim musterte mich weiter, enthielt sich aber einer Antwort.

Das war alles unfassbar, nicht zu begreifen und ich tauchte in meine Traumwelt ab. War nicht ansprechbar, ließ mich aber willig überall hinführen. Ich bekam von den nächsten Stunden nichts mit, hatte nur Gedanken für Raphael – sein Anblick, wie er sich an seinen Bruder klammerte und seine zuckenden Schultern standen mir ständig vor Augen. Und immer wieder tauchte zwischen diesen Bildern das hassverzerrte Gesicht seiner Großmutter auf – dieser Hass, dieser Ekel, der aus ihrem Gesicht sprach, machte mich sprachlos. Und mit den Stunden die verrannen, gesellte sich zu meiner Sprachlosigkeit Wut. Ich wurde immer wütender, aber fühlte mich im selben Maße hilflos – wusste nicht, wie ich dieser Situation begegnen sollte.

Und dann hörte ich eine Stimme …

… so einfach aus dem Nichts …

„Und manchmal muss man auch um seine Liebe kämpfen!“

Das waren nicht meine Worte, aber ich hatte sie vor gar nicht so langer Zeit gehört. Ein neues Gesicht tauchte vor meinen Augen auf. Ein aristokratisches, leicht lächelndes Gesicht eines älteren Mannes, dessen strahlend grüne Augen kämpferisch blitzten …

… grüne Augen? Zusätzlich zu seinen Worten schwebte auch noch etwas anderes vor mir – nur konnte ich es nicht greifen. Aber seine Worte hörte ich sehr wohl und sie zeigten mir den Weg. Grimmig fasste ich einen Entschluss und fuhr aus meinem traumatischen Zustand hoch.

Wo war ich?

Ich lag in einem weichen, großen Bett. Jedoch das Zimmer kam mir fremd vor und ich war allein in dem Raum.

WO WAR ICH?

‚Herr Neumann, konzentrier Dich!‘, murmelte ich mir zu. Ich musste in diesem Hotel sein, aber ich war nicht in meinem Zimmer. Egal, das Grübeln brachte mich nicht weiter und so schwang ich mich aus dem Bett. Ich war noch komplett bekleidet, so dass ich mir die Mühe des Anziehens ersparen konnte. Draußen wurde es schon wieder langsam hell und ein Blick auf die Armbanduhr zeigte mir, dass es kurz vor 5 Uhr war.

Wie war der Spruch?

‚Morgenstund hat Gold im Mund.‘

Bitter lachte ich auf – mein Gold, sprich meinen Schatz hatte man mir genommen, aber nicht so… .

Ein wenig kaltes Wasser vertrieb die letzte Müdigkeit aus meinem Gehirn. Nur mit solch einem verknitterten Outfit konnte ich nicht vor die Tür gehen. Somit musste ich erst einmal herausbekommen, wo ich mich nun eigentlich wirklich befand. Der Flur draußen lag in einem Dämmerlicht, aber wenigstens konnte ich nun meine Zimmertür schräg gegenüber erkennen.

‚In welchem Zimmer hatte ich dann wohl die Nacht verbracht?‘, fuhr es mir durch den Kopf. Der Gedanke war jedoch nun so unnütz, dass ich ihn sofort beiseite schob und zu meinem Zimmer schlich. Ich hatte nicht vor, hier unnötig Aufmerksamkeit zu erregen. Vorsichtig öffnete ich die Tür.

‚Mist, das mit dem Umziehen wurde nix‘, wusste ich sofort, denn auf meinem Bett lag jemand. Unter normalen Umständen wäre ich dem Rätsel auf den Grund gegangen, aber jetzt störte es mich nur. Langsam schloss ich wieder die Tür und drehte mich um. Erschrocken zuckte ich zusammen, denn vor mir hatte sich jemand aufgebaut.

„Jean, was machst Du hier?“, fragte Tim mit müder Stimme.

„Dasselbe könnte ich auch Dich fragen“, konterte ich.

„Ich war nur einen Moment an der frischen Luft, damit ich den Kopf einigermaßen klar bekomme“, murmelte er und schob noch hinterher, „aber dafür bin ich wohl zu müde“. Bei diesen Worten drehte er sich zu dem Zimmer, aus dem ich vor ein paar Minuten gekommen war und öffnete die Tür. Verwundert folgte ich ihm, denn so ein, zwei Fragen kamen mir schon in den Sinn.

„Ich bin vorhin hier aufgewacht“, versuchte ich es mit einer Einleitung. Mein Zwilling sah mich prüfend an und nickte dann leicht mit seinem Kopf.

„Ja, ich hatte Dich in unser Zimmer und somit ins Bett verfrachtet, denn Du warst nicht ansprechbar“, kam seine Antwort.

„Das war wohl ein bisschen viel gestern Abend“, murmelte ich nervös.

„Ein BISSCHEN?“ Tims Stimme hatte sich unmerklich erhoben.

„Du standest total neben Dir. So habe ich Dich noch nie erlebt!“ Die offensichtliche Sorge, die aus seinen Worten mehr als herauszuhören war, machte mich sehr verlegen.

„Entschuldige…“, fing ich an, dann durchzuckte mich ein Gedanke.

„Du hast…, ne nicht wirklich, oder…“, stotterte ich wirr los. Wer konnte dieses Kauderwelsch verstehen?

„Ich konnte Dich doch nicht allein lassen“, antwortete mir mein Zwilling und schien nun seinerseits verlegen. Schweigend ließ ich mich auf dem Bett nieder.

„Du hattest 'ne echt grauenvolle Nacht“, eröffnete er mir dann nach ein paar Minuten. Okay mein Kopf brummte, ich fühlte mich wie ausgekotzt und sah auch bestimmt so aus – aber ließ das auf eine beschissene Nacht schließen? Fragend sah ich ihn an.

„Wenigstens weiß ich jetzt, dass man den Namen Raphael in verschiedenen Tonlagen aussprechen kann“, versuchte er, der Angelegenheit einen lustigen Anstrich zu geben. Nur ging der Schuss nach hinten los, denn bei der Nennung des Namens zuckte ich zusammen. Sofort war alles wieder da – schrecklicher denn je. In meinem Gesicht war wohl ein Großteil meiner Gefühle abzulesen.

„Entschuldige, das habe ich nicht gewollt“, hörte ich ihn deutlich vorsichtiger flüstern. Und ich hatte keine Lust, das mit ihm jetzt auszudiskutieren. Vielmehr hatte ich das Problem, dass ich meinen Zwilling loswerden musste, sonst endete mein Plan schon hier.

„Und nun?“

‚Mist, diese Frage war so unnötig wie ein Kropf. Irgendwie musste mir etwas einfallen.‘

„Jeaaann?“

Sein Tonfall wurde drängender und vor allem hörte er sich munterer an als vor ein paar Minuten.

‚Mir musste sofort etwas einfallen. Ich durfte und wollte ihn da nicht mit hineinziehen.‘ Zuerst versuchte ich es mal mit einem gelangweilten Gesicht.

„Ne, ne mein Lieber! Du brütest doch was aus!“

‚Es kotzte mich an. Dieser Junge konnte wie in einem offenen Buch in mir lesen.‘ Okay, dann musste ich eben in die Offensive gehen.

„Denkst Du denn, ich lass mir das gefallen?“, antwortete ich Tim, wobei mein Tonfall eine Spur zu scharf war.

„Du suchst Dir das falsche Opfer“, kam seine prompte Antwort. Ich verbiss mir eine weitere Äußerung und zuckte nur mit den Schultern.

„He Jean, was ist los? So habe ich Dich noch nie erlebt. Ein ständiges Auf und Ab und eigentlich dachte ich, ich kenne Dich – aber das hier…“, hörte ich ihn sagen und seine Schultern sackten resigniert herab.

„Ständiges Auf und Ab…“, murmelte ich vor mich hin. Das klang viel zu harmlos, das hier war eine einzige Achterbahnfahrt und das seit Wochen. Und seitdem ich mir mit sechs Jahren nach einer solchen wirklichen Fahrt auf der Kirmes die Seele aus dem Leib gekotzt hatte, wird man verstehen, wie „begeistert“ ich von dem Rauf und Runter meiner Gefühlswelt war. Tim hielt wohlweislich den Mund, denn in solchen Situationen durfte man nie weiter in mich dringen.

„Genau so geht es mir…“, fing ich stockend an.

„Dieser Junge hat mich von Beginn an fasziniert. Seine Mails waren am Anfang so nichtssagend, lustig aber irgendwie genau auf meiner Welle. Ich habe oft darüber nachgedacht, aber ich glaube, ich war von Anfang an in ihn verschossen. Meine Träume und Sehnsüchte ließen zu seinen Zeilen einen Jungen erstehen, der einfach mein Traum war und ich Blödmann fing an, diesen Traum zu leben. Dann kam das Bild von ihm…“ Ich fing an, wieder alles zu erleben und suchte nach Worten, um Tim nicht nur die Tatsachen sondern auch meine Gefühle zu schildern.

„Glaub es mir oder auch nicht, doch irgendetwas in mir wehrte sich, dieses Bild als Raphael zu akzeptieren. Ich blendete es einfach aus, nachdem wir uns über unsere Mails wieder ein bisschen berappelt hatten, kam der nächste Schock – das Treffen! Es war eine absolute Katastrophe. Den Rest konntest Du dann selbst sehr gut miterleben…“ Ich brach meine Überlegungen einfach ab, ich war nicht in der Lage, weiter darüber zu philosophieren. Mein Weg zu Raphael war bisher ein einziger Kampf gewesen – das sah ich jetzt ganz klar vor mir.

„Aber nachdem ich wusste, wie er wirklich aussah, war ich fast handlungsunfähig, denn die Erkenntnis, dass es meinen Traumboy wirklich gab, lähmte mich völlig. Wenn Ihr nicht gewesen wärt, dann würden wir Beide immer noch vor uns hin leiden und wahrscheinlich nie zueinander finden. Der Junge macht mich einfach wahnsinnig, in seiner Nähe bekomme ich kein klares Wort raus, mache alles falsch und möchte doch keine Minute ohne ihn sein…“

Meine Stimme war mehr als belegt geworden und mittlerweile lief auch die eine oder andere Träne über meine Wangen. Ich vermisste meinen Kleinen fürchterlich.

„Und nachdem wir all diese Hürden überwunden hatten. Wir endlich zueinander fanden, wir uns kennen lernen wollten, da wollen andere Personen über uns bestimmen. Mit welchem Recht, frage ich Dich!“ Die letzten Worte hatte ich Tim fast schreiend an den Kopf geworfen. Es war sooo ungerecht. Mein Zwilling ließ sich nicht aus der Ruhe bringen.

„Und was hast Du nun vor?“ Ein Satz und die ganze Sache war auf den Punkt gebracht.

‚Tja, was hatte ich vor – den puren Wahnsinn!‘

„Ich lasse Raphael nicht so einfach gehen!“, knurrte ich.

„Aha.“ Stoisch wartete Tim auf weitere Ausführungen.

„Ich geh zu ihm“, flüsterte ich leise aber entschlossen. Damit war es raus.

„Sie lassen Dich doch gar nicht an ihn ran“, kam nach einer Weile seine Antwort.

„Das werden wir ja sehen“, blaffte ich zurück.

„Okay, wann… ? Moment mal…, Du wolltest vorhin los, oder?“ Tim sah mich verblüfft an. Eine Antwort war nicht nötig, denn mein Gesicht musste ihm alles sagen. Müde fuhr er sich mit der Hand über seine Augen und ich hörte ihn leise.

„Oh man, Jean, weißt Du, was das für Ärger bringen könnte?“

„Deshalb solltest Du es auch gar nicht wissen“, versuchte ich, mich herauszuwinden. Tim schüttelte leicht mit dem Kopf, aber ich ignorierte es vollkommen.

„Du wirst jetzt zu Svenja gehen und Dich ein paar Stunden aufs Ohr hauen“, eröffnete ich ihm und versuchte, meiner Stimme einen befehlenden Unterton zu geben. Und was machte der Kerl?

Sein Kopfschütteln wurde heftiger und seine Miene trotzig. Diesen Ausdruck kannte ich zur Genüge. Wenn er nun auch noch einen Schmollmund zog, war mein Kampf verloren. Da, sein Kopf bewegte sich nicht mehr, sein Gesichtsausdruck wurde entschlossen.

„Papperlapapp!“, fiel er mir ins Wort. Okay, ich gab mich geschlagen, seiner letzten Waffe hatte es nicht mal bedurft. Und im Innersten gestand ich mir ein, dass ich unendlich froh war, das mich Tim begleiten wollte.

„Zuerst versuchen wir aber den konventionellen Weg“, brubbelte er vor sich hin. Fragend sah ich ihn an.

Wie aus dem Nichts zauberte er auf einmal sein Handy hervor. Irgendwie war ich in meiner Sorge um Raphael wie hypnotisiert – daran, ihn anzurufen, hatte ich überhaupt nicht gedacht. Seine Telefonnummer wusste ich aus dem Kopf, nur das, was ich an der anderen Seite der Leitung hörte, ergab keinen Sinn.

„Kein Anschluss unter dieser Nummer… Kein Anschluss unter dieser Nummer…!“ Verdutzt beendete ich das Gespräch, welches ja gar keins gewesen war und sah auf mein Display.

‚Na ja vielleicht hatte ich in meiner Hast doch die falsche Nummer gewählt‘, dachte ich mir. Sekunden später hörte ich dieselben Worte aus dem Hörer und ich war mir diesmal sicher, dass ich seine Nummer richtig eingegeben hatte.

‚Okay, dann versuchen wir es mal mit der Festnetznummer‘, versuchte ich mir Mut einzureden, aber so richtig wollte mir das nicht gelingen. Meine dunklen Vorahnungen wurden sofort bestätigt, denn anstatt seiner Stimme plärrte mir sofort ein Anrufbeantworter ins Ohr. Wütend schmiss ich mein Handy auf das Bett und sah Tim verzweifelt an.

„Dominik?“, fragte er mich. Ich schüttelte nur den Kopf, denn seine Nummer hatte ich nicht. Aber wohl Tim, denn er zückte wieder sein Handy und blätterte durch das Telefonbuch. Seine erwartungsvollen Gesichtszüge entglitten ihm verwundert. Irgendwie war es, als würde ich in einen Spiegel schauen, denn genauso muss ich wohl vor ein paar Minuten ausgesehen haben.

Entgeistert schaute er auf sein Handy und gab dann die Nummer noch einmal von Hand ein, das Ergebnis schien sich nicht viel von dem vorherigen zu unterscheiden.

„Die Nummer gibt es nicht“, grummelte er.

„Kommt mir bekannt vor“, antwortete ich ihm.

„Bei Raph dasselbe?“ Ich brauchte ihm keine Antwort zu geben, meine Miene sagte alles.

„Ok, ausschalten hätte ich ja verstanden, aber das hier?“ Tims Verwunderung schien in Ärger umzuschlagen und dieser schien seine letzten Zweifel wegzufegen. Er sprang auf und lief zur Tür. Dort drehte er sich kurz um und sah mich fragend an.

Dieser Aufforderung hätte es gar nicht bedurft und so schlichen wir uns aus dem Gästehaus. Es war noch früh am Morgen, eigentlich eher mitten in der Nacht, aber auf Grund der Jahreszeit war es draußen schon hell und angenehm warm. Schweigend standen wir dann an der Straße und keiner wusste, wie weiter. Okay, ich war ja schon einmal in Frankfurt unterwegs gewesen, aber jetzt war guter Rat teuer. Wo Raphael wohnte, wusste ich sehr wohl – aber wo waren wir jetzt, bitteschön? Da mein Vater mehr oder weniger die letzten Fahrten gemanagt hatte und wir nur brave Beifahrer gewesen waren, hatten wir beide keine Ahnung, wo wir uns befanden.

Wie gesagt, mein Hirn war aus Sorge um meinen Kleinen wohl etwas benebelt, okay, total benebelt und so konnte ich keinen klaren Gedanken fassen. Aber zum Glück hatte ich ja meine bessere Hälfte dabei und Tim schien genau zu wissen, was zu tun war. Er stiefelte einfach los. Die Richtung war mir nicht klar, jedoch was blieb mir anderes übrig, als ihm hinterher zu dackeln. Nach 10 Minuten, für mich sinnlosem Umherstolpern, wollte ich mich gerade beschweren, als mein Zwilling einen kleinen Freudenschrei ausstieß und das Tempo noch einmal anzog. Mit einem Grinsen blieb er an einer Tankstelle stehen.

Hm, falls er es noch nicht gemerkt haben sollte – wir waren zu Fuß unterwegs!

Mein Gesichtsausdruck flüsterte ihm wohl mehr als tausend Worte zu und er schüttelte nur leicht seinen Kopf. Bevor ich meine Gedanken formulieren konnte, stiefelte er in den Shop. Tim nahm sich einen Stadtplan und mir dämmerte es endlich. Als er in seine Jacke greifen wollte, um seine Brieftasche hervorzuholen, schaute er ziemlich bescheuert aus der Wäsche. Das entlockte mir nun ein Grinsen, wenn auch nur ein zombiehaftes. Ich wusste, wo seine Jacke und somit seine Brieftasche war – nämlich auf seinem Bett im Gästehaus.

„Scheiße!“

„Jean, kannst Du vielleicht…“, fuhr er nach seinem Ausbruch fort. Konnte man ein Zombielächeln noch steigern? Tims Blick glitt prüfend an mir entlang und nicht nur mein unnatürliches Lächeln war steigerungsfähig, auch sein bescheuerter Gesichtsausdruck ging in die nächst höhere Stufe. In meiner Hosentasche befand sich maximal ein 10 Cent Stück, mehr war von mir nicht zu holen.

„Fuck!“

„Entweder Ihr kauft was oder verschwindet schnellstmöglich“, keifte die Verkäuferin an der Kasse. Tim schluckte seine Erwiderung runter und versuchte, seinen höflichsten Ton auszugraben.

„Können Sie uns vielleicht…“, sprach er mit einem Lächeln die Frau an.

„Bin ich die Auskunft oder was. Schert Euch raus und macht die Tür von außen zu!“, meckerte sie weiter, um nach diesen Worten ihren enormen Riechkolben wieder hinter das „Abi“blatt mit den vier großen Buchstaben zu stecken. Tim schmiss ihr den Stadtplan auf die Theke und ließ sein falsches Lächeln fallen.

„Vielen Dank für ihre großzügige Hilfe und falls Sie es noch nicht bemerkt haben, das dort ist eine Automatiktür. DIE schafft das Schließen schon ganz alleine.“

Blitzschnell sank die übergroße Zeitung und das Gesicht der Frau war puterrot angelaufen.

„Legt den Plan sofort…“, hörte ich es in meinem Rücken schreien, den Rest verschluckte die besagte Tür, denn Tim hatte mich am Ellbogen gegriffen und hinter sich hergezerrt.

Okay wir hatten einen kleinen Sieg gegen die Erwachsenen errungen, nur unserem wirklichen Ziel brachte es uns keinen Schritt näher.

„Taxi“, hörte ich Tim nuscheln.

Pff, das machte ja nun gar keinen Sinn. Wir hatten noch nicht einmal Geld für einen Stadtplan, wie sollten wir da ein Taxi bezahlen. Mein Zwilling wütete jedoch wieder in meinen Kopf herum, denn der nächste Satz gab die Antwort auf meine Frage.

„Ich weiß auch, dass wir kein Taxi bezahlen können. Vielleicht ist der Fahrer aber so nett und sagt uns in etwa die Richtung“, brubbelte er.

Allerdings schienen wir uns hier am Arsch der Welt zu befinden. Die Straßen waren leer, keine Fußgänger unterwegs und Taxis waren auch nicht zu sehen. Sollte mein heroischer Rettungsversuch schon hier enden? Meine Stimmung konnte nun nicht weiter sinken, aber so langsam schlug das Ganze in Trotz um!

‚Warum verschwor sich nur alles gegen mich?‘, durchfuhr es mich. Mit diesen düsteren Gedanken bog ich um die nächste Ecke und ein kleines, fieses Grinsen eroberte mein Gesicht, als ich in 200 Metern Entfernung eine Bushaltestelle sah.

„Tim?“, grummelte ich zurück, denn dieser war in Gedanken versunken ein paar Schritte zurückgeblieben. Mein Zwilling sah auf, schloss auf und schaute in meine Richtung.

„Na ja, keine Ausweise dabei, da lohnt sich das Schwarzfahren garantiert“, sprach er das aus, was mir durch den Kopf ging. An der Haltestelle konsultierte ich den Fahrplan und da ich mich durch meine Sightseeingtour vor ein paar Wochen ganz gut auskannte, war ich schnell im Bilde, dass wir es doch relativ einfach hatten. Wir mussten nur einmal umsteigen. Auch wenn mir das kostenlose Fahren mit dem Bus nicht geheuer war, rückte dies vor meinen wirklichen Sorgen in den Hintergrund und zum Glück schienen die Kontrolleure am Sonntagmorgen lieber im Bett zu liegen.

Nun standen wir vor dem großen, schmiedeeisernen Tor und ich hatte nicht wirklich einen Plan. Tim sah mich auch erwartungsvoll an und ich zuckte als Antwort mit den Schultern. Daraufhin verdrehte er seine Augen und stiefelte zur rechten Seite, um wohl kräftig auf die Klingel zu drücken. Grinsend blieb ich stehen, denn ich wusste, was gleich folgen würde.

„Was ist das denn für ein Scheiß?“, hörte ich ihn genervt fragen. Sein Blick glitt suchend über das Tor und blieb dann bei mir hängen.

„Keine Klingel gefunden?“, fragte ich ihn süffisant.

„Tja, und nun?“, hörte ich ihn.

„Letztes Mal haben sie sich von alleine gemeldet“, erklärte ich ihm.

„Sieht nicht so aus, als ob sie uns diesmal bemerken.“

„Eher wohl – nicht bemerken wollen“, murmelte ich. Sehnsüchtig ließ ich meinen Blick durch das Tor zu der Villa streifen und straffte mich.

„Mir egal, ich komm da irgendwie rein“, knurrte ich trotzig. Verwundert zog Tim seine Augenbrauen hoch. Mit einer Kopfbewegung forderte ich ihn auf, mir zu folgen und stiefelte kurz entschlossen los. Einmal liefen wir um das ganze Grundstück herum, wobei wir nur die Vor- und Rückseite betrachten konnten, denn die Seiten waren ja von anderen Objekten begrenzt. Schnell hatte ich einen aberwitzigen Plan gemacht und Minuten später stand ich mit meinem Zwilling an der Rückseite des Anwesens. Hier war mir das Glück mal hold, denn in unmittelbarer Nähe der Mauer stand ein Baum. Leider waren die ersten Äste nicht alleine erreichbar. Tim bemerkte meine Blicke und seine Miene drückte mehr als Zweifel aus.

„Jean, ich weiß nicht, ob das so eine gute Idee ist“, flüsterte er leise.

„Ich muss Raphael sehen“, fegte ich sämtliche Einwände fort und stellte mich an den Baum.

„Hilf mir bitte“, flehte ich ihn heiser an. Wortlos verschränkte er die Hände ineinander und half mir mit der Räuberleiter, die ersten Äste zu erklimmen. Ruck zuck saß ich auf dem ersten Ast und hangelte mich zur Mauer.

„Jean, ich komm mit“, hörte ich von unten.

„Tim, ich will Dich nicht weiter mit hineinziehen“, entgegnete ich ihm.

„Du glaubst doch wohl nicht, dass ich Dich jetzt alleine lasse. Also quatsch keinen Blödsinn und hilf mir endlich hoch!“

Tim hatte leise gesprochen, aber ich wusste sofort, dass jede Diskussion zwecklos war. Somit legte ich mich flach auf den Ast und streckte ihm meine Hand entgegen. Es dauerte eine Weile, dann lagen wir beide schwer atmend hintereinander auf dem Ast. Ich kroch wieder vorsichtig in Richtung Mauer, Tim war mir auf den Fersen. Der Ast wurde immer dünner.

„Tim warte bitte bis ich drüben und unten bin. Ich glaube nicht, dass der Ast uns Beide aushält“, flüsterte ich ihm zu.

„Okay.“

Langsam glitt ich immer weiter. Aus dem Ast war eigentlich nur noch ein Zweig geworden und dieser bog sich verdächtig. Dann war endlich schräg unter mir die Mauer und ich schwang mich auf sie. Erstaunlicherweise war sie relativ breit, so dass ich meine Beine nach innen schwingen konnte und auf ihr sitzen blieb. Über meine Schulter schaute ich zu Tim zurück, der nun seinerseits langsam auf dem Ast in Richtung Mauer glitt.

„Ich geh schon mal vor“, rief ich ihm leise zu.

„Jean, warte“, hörte ich seine Antwort. Aber sie kam eine Zehntelsekunde zu spät, denn ich befand mich nach einem etwas unsanften Aufprall am Fuße der Mauer. Linker Hand war ein Strauch, hinter dem ich mich erst einmal in Sicherheit bringen wollte …

…ja wollte…

Zuerst hörte ich ein Knurren. Und dieses Knurren kam von dem Strauch. Eigentlich machte das ja keinen Sinn, aber ich erstarrte in meiner Bewegung. Hier stimmte etwas nicht und im nächsten Augenblick dachte ich nur an meinen Zwilling.

„Hau ab“, rief ich heiser nach schräg oben.

„Was ist…?“, hörte ich Tim besorgt fragen, aber ich unterbrach ihn abrupt.

„Sofort!“, zischte ich. Ein Rascheln über mir zeigte mir, dass mein Zwilling meinen Befehl gefolgt war. Während unseres kleinen Zwiegespräches hatte die Ursache des Knurrens auch Gestalt angenommen. Aus dem Gebüsch kam mir ein Ungetüm von Hund entgegen.

Groß und stämmig…

Schwarz/braun geflecktes Fell…

Hochgezogene Lefzen…

Speichel tropfte aus seinem Maul…

All meine Vorbehalte gegen Hunde waren sofort wieder da. In mir schrie alles, sofort wegzulaufen. Zum Glück war mir die Angst jedoch so in die Glieder gekrochen, dass ich zu keiner Bewegung fähig war. Ein zweites Geräusch in meinem Rücken gab mir dann den Rest. Ganz vorsichtig drehte ich meinen Kopf nach hinten und da stand ein zweiter Hund. Dieser war nicht so stämmig gebaut, hatte eine schmalere Schnauze – erschien mir jedoch noch eine Spur gefährlicher.

„Na Bürschchen, wie gefallen Dir meine Hunde“, hörte ich jemanden in einem tiefen Bariton fragen. Mein Blick wanderte in die Richtung der Stimme und ich sah einen dunkel gekleideten, sehr sportlich wirkenden Mann Mitte dreißig. Um seinen Mund lag ein leichtes Lächeln, aber seine Augen musterten mich eisig. Mir fiel gerade keine passende Erwiderung ein, denn „seine“ Hunde kamen immer näher!

„Aus“, bellte der Typ und der stämmige Hund setzte sich vor mich hin, ohne mich aus den Augen zu verlieren, der zweite trottete zu seinem Herrchen. Nur noch von einem Hund bewacht, wurde ich rebellisch.

„Ich will Raphael sprechen“, murmelte ich und versuchte meiner Stimme einen festen Klang zu geben.

„Ich glaube, Du bist in keiner sehr günstigen Position, um Forderungen zu stellen“, bekam ich als Antwort. Seine Stimme hatte fast einen freundlichen Klang.

„Bringen Sie mich sofort zu Raphael“, wurde ich nun lauter. Das hatte eine frappierende Wirkung. Der Hund vor mir erhob sich sofort und aus seinem Hecheln wurde wieder ein tiefes, bedrohliches Knurren und die Gesichtszüge des Mannes nahmen einen abweisenden Ausdruck an.

„Papiere“, bellte er nun fast mit harter Kommandostimme. Ich schüttelte nur den Kopf darauf.

„Junge, ich warne Dich nur ein Mal!“

„Hab keine bei“, antwortete ich ihm trotzig. Der Blick des Hundeführers glitt abschätzend an mir herunter.

„Bleib ruhig stehen, dann passiert Dir nichts“, forderte er mich kurz angebunden auf. Flink war er zu mir getreten und seine Hände glitten routiniert über meine Kleidung.

„Fast schon wieder clever“, murmelte er und schüttelte leicht amüsiert seinen Kopf.

„Okay, mitkommen!“, befahl er mir. Der Anblick der beiden blutgeifernden Hunde erstickte jeden Widerspruch bei mir im Keim. So trottete ich niedergeschlagen hinterher.

„Einfach toll, so sah also mein heroischer Rettungsversuch aus“, grummelte ich vor mich hin. Zum Glück konnte Tim wohl entwischen. Aber dieser Gedanke war nicht wirklich tröstlich, denn ich wollte zu meinem Kleinen. Mein Bewacher führte mich zu einem kleinen Häuschen in unmittelbarer Nähe des Tores. Dort schloss er eine Türe auf und schob mich in einen spartanisch eingerichteten Raum. Bevor ich etwas sagen konnte, schlug die Tür hinter mir zu und ich war allein. Ein kurzes Rütteln an der Tür zeigte mir, dass sie verschlossen war und auch das Fenster zeigte keine Griffe und Hebel zum Öffnen – somit Flucht unmöglich. Niedergeschlagen ließ ich mich auf den einzigen Stuhl in dem Raum nieder und verfiel ins Grübeln.

Ein Bild hatte sich in meinem überlasteten Gehirn regelrecht festgebrannt.

Nein, das stimmte nicht, es waren zwei Bilder – zwei Momentaufnahmen.

Wir standen uns in seinem Zimmer gegenüber, seine herrlichen Augen glitzerten so verliebt – alles schien richtig, wir waren endlich angekommen, nein wir waren zusammen…

…und nur Minuten später die ultimative Katastrophe!

Wir standen diesmal nicht weiter auseinander entfernt, aber die Mauer zwischen uns hätte nicht höher sein können. Raphael hatte seinen Kopf an der Schulter seines Bruders vergraben und war in dessen Armen nur noch ein Häufchen Unglück.

Mich übermannten die Bilder, mein Magen zog sich schmerzhaft zusammen und nur mit Mühe konnte ich die Tränen zurückhalten.

Auf einmal wurde die Tür aufgerissen.

„Mitkommen“, bellte eine fremde Stimme in den Raum. Ich stand auf und trat ins Freie. Draußen stand ein fremder Mann. Ohne mich zu beachten stiefelte er los und ein kurzer Wink mit der Hand forderte mich mürrisch auf, ihm zu folgen. Vorsichtig ließ ich meinen Blick wandern. Jeder Gedanke an Flucht wurde durch den Hundeführer, der am Tor in unserer unmittelbaren Umgebung stand, in das Reich der Fantasien geschickt. Außerdem wollte ich immer noch Raphael sehen, eher noch sprechen.

Wir näherten uns der Villa von hinten und gingen wohl durch so eine Art Boteneingang. Vor einer schweren Holztür blieben wir stehen und mein Begleiter klopfte zweimal an die Tür. Es war ein leises „ja“ zu hören und der Aufpasser öffnete mit Schwung die Tür. Da ich keine Anstalten machte, den Raum zu betreten, bekam ich einen unsanften Stoß in den Rücken und stolperte in den Raum. Dieser entpuppte sich als eine Art Salon.

In der Mitte stand ein Typ, an den ich nur eine unangenehme Erinnerung hatte. Es war der schmierige Kerl vom Abend zuvor, der uns schon beim Betreten der Villa abwimmeln wollte. Aus seinem Gesicht sprach jetzt soviel Arroganz und Feindseeligkeit, dass ich meine Felle im wahrsten Sinne des Wortes wegschwimmen sah.

„Dein Name“, bellte er.

„Den kennen Sie sehr wohl“, antwortete ich ihm.

„Werd nicht unverschämt, Bengel. Ich hab keine Ahnung, wer Du bist. Also Name“, keifte er. Dabei hatten sich seine Augen kurz zusammengezogen, so als würde ihm das hier einen tierischen Spaß machen.

Aber ich ging gar nicht darauf ein und konterte: „Ich will sofort Raphael sprechen!“

„Du stellst Forderungen?“, erboste er sich. Hielt der Trottel sich für den Nabel der Welt? Aus meiner Niedergeschlagenheit wurde Wut.

„Was verstehen Sie an den Worten ‚Ich will zu Raphael‘ nicht?“, erhob ich nun meine Stimme.

Höhnisch lachte der Typ auf und ein fieses Lächeln überzog sein Gesicht.

„Freundchen, Du verkennst ein wenig die Situation. Die Polizei wird schon Deinen Namen herausbekommen. Es wird Zeit, dass Dir mal jemand Manieren beibringt!“ Dabei bewegte er sich auf die Tür in meinem Rücken zu. Im Vorbeigehen meinte er zu dem Bodyguard: „Passen Sie auf, dass er nichts anfasst und übergeben Sie ihn dann der Polizei, wenn sie eingetroffen ist!“ Die Klinke schon in der Hand, wandte er mir noch einmal den Kopf zu und sein hämisches Grinsen wurde noch eine Spur breiter.

„Und einen Raphael gibt es hier nicht.“ Seine Worte waren nicht sehr laut gesprochen, aber bei mir schlugen sie wie eine Bombe ein.

„Wie bitte?“, hauchte ich fassungslos. Was war das denn nun?

„Hinsetzen!“, bellte der Typ hinter mir. Wie in Trance setzte ich mich auf einen Sessel und konnte diese Aussage immer noch nicht verarbeiten.

‚Wo war Raphael?‘ Dieser Gedanke wurde fast übermächtig. So absurd die Behauptung von dem schmierigen Typen auch klang, ich wusste sofort, dass sie wahr war.

Lautes Geschrei vor der Tür, was zu uns nur dumpf herüberkam, riss mich aus meinen Gedanken. Die eine Stimme kannte ich zur Genüge, nur hatte ich sie selten so laut erlebt.

„Vati“, rief ich laut. Draußen verstummten die Stimmen kurz, um danach umso lauter aufeinander loszugehen. Der Inhalt war leider nicht zu verstehen, aber ich hatte meinen Vater noch nie so brüllen hören. Ich sprang auf und wollte zur Tür, hatte die Rechnung aber nicht mit dem Bodyguard gemacht. Dieser schnappte sich meinen Arm und drehte den unsanft auf den Rücken. Der Schmerz ließ mich kurz aufkeuchen.

„Du bleibst hier“, mit diesen Worten schubste er mich wieder in den Sessel. Minuten später war es draußen bedeutend ruhiger geworden und mein Vater erschien nicht, wie von mir erwartet und erhofft, in der Tür. Bevor ich mir dazu richtig Gedanken machen konnte, schwang die Tür doch auf, aber dieser Schleimbeutel von vorhin stand im Türrahmen.

„So, Herr Tomas, wo ist nun der Übeltäter“, hörte ich aus dem Hintergrund höflich jemanden fragen.

„Hier, meine Herren, und befreien Sie uns bitte endlich von dem Unrat“, hörte ich diesen sagen und sein Ton ließ keinen Zweifel an seiner Anweisung. Hinter ihm betraten zwei Polizisten den Raum. Finster schauten sie zu mir herüber.

„Aufstehen!“

„Mitkommen!“ Diese Befehle kamen fast gleichzeitig. Da ich nicht sofort reagierte, kam der eine Polizist drohend auf mich zu.

„Wird’s bald, oder soll ich nachhelfen!“ Wie „Dein Freund und Helfer“ sahen die beiden Ordnungshüter nun gar nicht aus und somit reagierte ich auf ihre Anweisungen, wenn auch zögernd.

„Wo haben Sie Raphael hingebracht?“, hörte ich mich fragen. Herr Tomas beachtete mich gar nicht und wand sich wieder ab, um den Raum zu verlassen.

„Verdammt, antworten Sie mir endlich. WO ist RAPHAEL?“, brüllte ich ihm hinterher. Immer noch keine Reaktion, aber nicht mit mir. Ich flutschte unter dem Arm eines Polizisten durch, der nach mir greifen wollte und lief diesem Schleimbatzen hinterher. Kurz hinter der Tür nahm mein Glück dann ein jähes Ende und die Ordnungshüter bekamen mich zu fassen.

„Du bleibst schön hier“, hörte ich einen von ihnen knurren und sein Griff wurde um Einiges härter.

‚Hatten die einen Knall? Ich war doch extra HIERHER gekommen, um jemanden zu treffen!‘, durchfuhr es mich. Trotz allem hatte ich nach wie vor keine Antwort erhalten.

„Raphael?“, brüllte ich jetzt noch einmal hinterher. Und ich bekam eine Antwort …

…nur nicht die erhoffte.

Über uns hörten wir auf einmal eine unangenehme, weil schrille, Stimme.

„Tomas, was ist das für ein Geschrei in meinem Hause?“ Diese Frage ließ ihn sofort in seinem Schritte anhalten und sich der Stimme zuwenden.

„Nur eine kleine Unannehmlichkeit, Madame. Die Sache ist gleich erledigt“, säuselte er unterwürfig zu einer Art Balkon hinauf. Darauf wandte er sich uns zu und meinte erbost zu den Polizisten: „Würden Sie endlich Ihre Pflicht tun und das Haus mit diesem Unruhestifter verlassen!“

Daraufhin schoben mich die Ordnungshüter in Richtung Tür, aber ich hatte was ganz anderes im Kopf. Hier bot sich die Gelegenheit, endlich eine Antwort zu erhalten.

„Stopp“, rief ich laut und vernehmlich. Sie zögerten kurz, welches mir die Chance gab, mich dem Balkon zuzuwenden. Da stand die ältere Dame von gestern Abend und meine kleine Hoffnung schwand schon wieder. Trotz allem wollte ich einen Versuch wagen.

„Sehr geehrte Frau von Dahlen könnte ich bitte mit Raphael sprechen“, sprach ich sie höflich an. Ihr Blick wanderte über unsere kleine Gruppe und dann blieb dieser bei mir hängen.

„Was will er?“, fragte sie in Richtung von diesem Tomas, aber ihre Augen durchbohrten mich schier.

„Ich war gestern bei Raphael und würde mich gerne von ihm ordentlich verabschieden“, blieb ich weiter ausgesprochen höflich, nur innerlich brodelte ich wie ein Vulkan.

„Sagen Sie ihm, für ihn gibt es keinen Raphael und unsere Familie verbittet sich jedwede Kontaktaufnahme in schärfster Form“, hörte ich sie mit einer Stimme, die mich frösteln ließ. Und da floss die Lava über und ich explodierte.

„Und ich werde ihn DOCH finden!“, rief ich trotzig zu diesem Balkon hoch.

„Wie lange soll ich mir noch das schamlose Gerede anhören?“, keifte sie schrill zu uns herunter. Das Ergebnis war ein sehr schmerzhafter Stoß in meinen Rücken, so dass ich fast hinfiel. Jetzt konnten es meine Begleiter nicht schnell genug haben und innerhalb von Sekunden saß ich auf der Rücksitzbank eines Polizeiwagens.

Eigentlich hätte ich im Trübsinn verfallen müssen, aber mich hatte eine gewisse Hochstimmung ergriffen. Diese alte Zicke hatte etwas ausgesprochen, was meine vorherigen Zweifel vertrieben hatte. Vorher fing ich wirklich an zu zweifeln, ob es den Raphael, wie ich ihn gestern kennen gelernt hatte, tatsächlich gibt.

Aber Raphael soll es ja nur für mich nicht geben, also existierte er sehr wohl in dieser Familie und nichts würde mich aufhalten, ihn wieder zu sehen. Dies schwor ich mir hier in dem Polizeiauto.

Auf der Wache wurde ich abgeladen und rüde in ein kleines Zimmer gebracht. Etwas später tauchte ein älterer, dicklicher Beamter auf, der wohl einen väterlichen Eindruck vermitteln wollte – nur die Missbilligung, die zu offensichtlich in seinem Gesicht prangte, machte das alles zunichte.

„Dein Name“, fragte er mich. Ordnungsgemäß beantwortete ich diese Frage.

„Wohnhaft?“ Auch hier verweigerte ich mich nicht.

„Ziemlich weit von zu Hause weg“, kommentierte er meine Aussage vorwurfsvoll.

„Könnte ich bitte meine Eltern informieren, damit sie mich abholen“, fragte ich ihn unverbindlich.

„Zuerst wirst Du mir noch ein paar Fragen beantworten“, kam es brummig zurück.

‚Müsste ich nun nicht den Spruch bringen „Ohne meinem Anwalt sage ich nichts mehr!“?‘, durchfuhr es mich augenblicklich. Das war alles so unreal und gleichzeitig wieder so real, dass ich nicht wirklich weiter wusste. Nachdem er noch mein Alter und den Zweck meines Aufenthaltes hier erfragt hatte, schwieg ich jedoch.

„Ich würde doch erst einmal gerne mit meinen Eltern sprechen“, versuchte ich es ein zweites Mal.

„Mein Junge, ich glaube, Du verkennst hier die Situation“, antwortete mir das „Väterchen“ nun ziemlich grimmig. Die Maske des verständnisvollen Beamten hatte sich in Luft aufgelöst.

„Wir dulden es überhaupt nicht, wenn eine der ehrbarsten Familien und großzügigsten Personen unserer Stadt in dieser Weise belästigt werden. Bevor Du hier mit irgendjemandem Kontakt aufnimmst, gebe ich Dir ein wenig Zeit, über Dein Handeln nachzudenken und komme nachher noch einmal wieder!“ Kaum waren diese Worte gesprochen, war er auch schon verschwunden.

‚Was war das jetzt?‘ Ich kam mir vor wie in einem Film, aber einem ziemlich schlechten. Natürlich war es eine hirnrissige Idee, das Grundstück zu betreten, aber wo lag mein Verbrechen? Diese Frage zermürbte mich aber nicht so sehr wie der Gedanke daran, wie es meinem Freund jetzt ging! Bei dieser Familie musste ich das Schlimmste annehmen. Das führte mich jedoch zu der Überlegung, wen kannte ich von seiner Familie wirklich? Persönlich hatte ich nur seinen Bruder, der mich nicht mochte, und seine Großmutter, die mich hasste, kennengelernt.

‚Spitzenausgangssituation‘, stöhnte ich leise. Wenn der Rest der Familie nur halb so verquere Ansichten hatte, dann…

„Neeeiiiiiinnnn“, schrie ich in den leeren Raum. Was ging mich seine bescheuerte Familie an? Mein Glück war und hieß Raphael!

„Ruuuuummmmmmms“ Krachend flog die Tür auf.

„Da haben Sie Ihren missratenden Erben“, knurrte der ältere Beamte und trat ein wenig beiseite. Mein Vater erschien in der Tür und aus seinem Gesicht war nur Sorge herauszulesen. Er musste das Wichtigste für ihn auch aus meinen Zügen ablesen können, denn er wand sich ohne ein Wort des Vorwurfes an den Beamten.

„Mit welchen Recht und vor allem aus welchem Grund halten Sie meinen Sohn hier fest?“, erkundigte er sich aufgebracht.

„Hausfriedensbruch, Belästigung, Körperverletzung und Widerstand gegen die Staatsgewalt“, leierte er gelangweilt herunter.

„Wie bitte?“, entfuhr es meinen Vater. Ich war viel zu geschockt, um überhaupt was zu sagen.

„Diese Anzeige ist vorhin bei uns eingegangen. Zeugen sind auch vorhanden. Dürfte ich Sie nun bitten, die persönlichen Angaben Ihres Sohnes zu ergänzen und dann dürfen Sie uns wieder verlassen. Ihren Sohn werden wir erst einmal hierbehalten!“, schloss er süffisant seinen kleinen Vortrag.

„Jean?“, schaute mich mein Vater fragend an. Ich schüttelte nur den Kopf.

„Mehr als den ersten Schritt auf… dieses Anwesen zu machen …, zu mehr … bin ich gar nicht… gekommen“, stotterte ich.

„Irgendwie glaube ich meinem Sohn mehr als Ihnen“, wandte sich mein Pa an den Polizist.

„Tja, so ist das immer. Zum Schluss fallen die lieben Eltern aus allen Wolken, wenn sie hören, zu was die Kinder alles fähig sind. Die Zeugen, die zu den Taten Ihres Sohnes eine Aussage machen, sind über jeden Zweifel erhaben.“

„Diese Ansicht dürfen Sie ruhig exklusiv vertreten, aber Sie wollen mir doch nicht etwa vorhalten, dass bei meinen Sohn und mir Fluchtgefahr vorhanden ist, so dass Sie ihn mir nicht mitgeben wollen“, sagte mein Vater.

„Ihr Sohn bleibt solange in unserem Gewahrsam bis ich anders lautende Anweisungen bekomme, basta!“, gab der Beamte jetzt sehr unhöflich von sich.

„Sie haben ihn nun gesehen und ich fordere Sie auf, das Revier wieder zu verlassen.“

Mein Vater ließ noch einmal seinen Blick prüfend über mich gleiten und ich zuckte hilflos mit den Schultern. Dann schloss sich wieder die Tür hinter den beiden und ich war allein.

Diese Vorwürfe waren ja mehr als lächerlich, aber warum wurde so großes Geschütz gegen mich aufgefahren. Was hatte ich getan? Gleichzeitig wurde mir mit Schrecken bewusst, dass ich überhaupt keine Zeugen hatte und mein Wort gegen das Wort von Leuten stand, die über jeden Zweifel erhaben sind. Die Mauer zwischen mir und meinem Kleinen wurde immer höher und höher.

Ich weiß nicht, wie lange ich so grübelnd auf dem Stuhl gesessen habe. Meine Überlegungen wurden leise gestört.

„Jean?“, hörte ich jemanden zögernd fragen. Mein Blick fiel auf die Tür, in der ein besorgter Tim stand.

‚Wer sonst!‘, fuhr es mir durch den Kopf.

„Ich hab ihn nicht gefunden“, murmelte ich leise. Er erwiderte darauf nichts.

„Und sie tun alles, damit ich ihn nie wieder sehe“, sprach ich schon etwas lauter. Tim blieb immer noch stumm. Mein Blick suchte seinen und meine Augen bohrten sich in seine.

„Aber das werde ich nicht zulassen. Ich werde ihn finden!“, schrie ich ihn fast an.

„Ich weiß“, war alles, was er antwortete. Den Rest konnten wir gegenseitig in den Augen des anderen lesen.

„Komm, lass uns hier verschwinden“, forderte er mich dann nach einer Weile auf. Dieser Aufforderung konnte ich einfach nicht widerstehen. Schweigend verließen wir das Revier und auf dem Parkplatz wartete der Rest. Meine Mutter stürzte erst einmal auf mich zu und drückte mich fest an sich.

„Zerdrück unseren Schwerverbrecher nicht“, hörte ich meinen Vater. Sein Lachen, welches diese Worte begleitete, war aber ziemlich gequält.

„Vati!“, murmelte ich.

„Lasst uns bloß von hier verschwinden“, brummte er und schon saß er im Auto. In mir sperrte sich alles, einfach so aus Frankfurt loszufahren. Mein Zwilling zeigte nun wieder, wie gut er mich kannte. Sachte zog er mich zum Auto und flüsterte:

„Dad hat Recht. Zur Zeit können wir nichts machen. Den Rest erzähl ich Dir nachher.“ Widerwillig stieg ich in das Auto und ab ging es. Gestern war ich mit solch einem Hochgefühl hierher gekommen und jetzt…

Die Stimmung im Auto war niedergeschlagen und jeder hing seinen Gedanken nach. Meine waren nur bei einer Person. Irgendwann am späten Abend waren wir dann endlich zu Hause und Tim saß mit Svenja auf meinem Bett.

„Sie haben uns heute Mittag aus dem Hotel geworfen!“, fing Tim an zu erzählen. Erstaunt sah ich sie beide an.

„Wären wir nur eine Minute länger geblieben, hätten sie uns die Polizei auf den Hals gehetzt. Pa war gerade bei Dir und somit standen wir mit unseren Sachen auf dem Bürgersteig, als er kam…“

„Was für ein Mist läuft hier, Jean?“ Diese Frage kam von Svenja.

„Sie verleugnen Raphael. Wortwörtlich musste ich hören ‚Sagen Sie ihm, für ihn gibt es keinen Raphael‘ und man tut alles, um diese Worte auch in die Tat umzusetzen“, antwortete ich ihr. Die Augen von ihr waren immer größer geworden und das blanke Entsetzen stand in ihnen.

„Aber ich lasse mir das nicht gefallen. Und wenn ich ewig suche“, murmelte ich und meine Stimme war immer leiser geworden.

„Nur wie konntet Ihr mich so schnell da raus holen?“, formulierte ich die Frage, die mich schon die halbe Fahrt bewegt hatte.

„Ziemlich undurchsichtig. Dad hat dann zwei Stunden später einen Anruf erhalten, dass wir Dich endlich abholen sollten. Einfach so und ohne Begründung“, hörte ich meinen Zwilling.

„Das macht doch alles keinen Sinn“, antwortete ich darauf.

„Erst dichten Sie sich etwas zusammen, damit man mir alles Mögliche anhängen kann und dann komm ich so einfach frei?“

„Die Anzeige bleibt auch weiter bestehen und Dad musste sich dafür verbürgen, dass Du nicht stiften gehst, aber sie konnten Dich nicht länger da behalten. Dad meinte, dass da irgendwer noch die Finger im Spiel hat, aber das sei nur so ein Gefühl von ihm.“, schloss Tim seinen Bericht.

„Was machen wir nun?“, brachte Svenja die Sache auf den Punkt.

„Dein Dad hat gesagt, ich soll mal mit meinem reden, wegen der Anzeige. Du brauchst so oder so einen rechtlichen Beistand und es ist ja wohl besser, wenn es in der Familie bleibt“, grinste er mich an. Mein „Ersatz“ - Vater war Rechtsanwalt und zudem noch ein ziemlich guter.

„Okay und ich werd mir mal meinen Bruder schnappen und wir werden ein wenig googeln. Wenn er noch etwas besser kann, als Haare färben, dann ist es im Internet herumstöbern“, hörte ich von Svenja. Beide erhoben sich und machten Anstalten zu gehen. Tim zögerte kurz an der Tür.

„Jean?“, sprach er mich leise, fast alarmierend, an. Das riss mich aus meinen trüben Gedanken. Erst langsam sickerte zu mir durch, was die beiden gerade gesagt hatten.

„Ja, ja alles ok“, entfuhr es mir. Tims Augenbrauen wanderten nach oben und der Sinn meines Satzes erschloss sich mir.

„Na ja, es ist nicht ok, aber ich mach mir nur riesige Sorgen um Raphael. Es frisst mich fast auf und da bleibt keine Zeit zum Selbstmitleid“, murmelte ich. Dann saß ich alleine in meinem Zimmer und hing wieder meinen Gedanken nach.

‚Ich bräuchte irgendeinen Ansatzpunkt, wo ich mit der Suche anfangen könnte‘, grübelte ich. Zuerst nahm ich mir unsere sämtlichen Mails noch einmal vor und das Lesen dieser ließ mich wieder in eine Traumwelt abgleiten. Viel zu schnell war diese Ablenkung vorbei, aber Daten, die mich weiterbringen würden auf der Suche, hatte ich nicht gefunden. Und wie aus dem heiteren Himmel überfiel mich ein neuer Schock.

Ich hatte nicht einmal ein Bild von IHM.

Ich hatte nur meine Erinnerungen, an die ich mich klammern konnte.

Ein Geräusch an der Tür riss mich aus meiner Traumwelt. Mein Vater steckte den Kopf durch den Türspalt.

„Klaus würde Dich gerne heute noch sehen?!“, kam es leise von ihm und dabei sah er mich prüfend an.

„Er meint, solange Deine Erinnerungen noch frisch wären, könnte er mehr Einzelheiten zu Tage fördern. Fühlst Du Dich dazu in der Lage?“

„Nicht wirklich“, murmelte ich, schob jedoch hinterher „aber ich werd mich da schon durchbeißen.“

So befand ich mich Minuten später bei Tim und wir saßen zu dritt im Arbeitszimmer von seinem Pa. Zuerst einmal hielt er uns eine Standpauke, die sich gewaschen hatte. Vor allem Tim musste sich etwas anhören, so nach dem Motto ‚Jean war ja nicht richtig zurechnungsfähig und er in diesem Moment der Vernünftigere‘.

‚Tim und der Vernünftige von uns Beiden?‘ Diese Behauptung war so abwegig, dass wir beide verstohlen grinsen mussten. Klaus sah das sehr wohl.

„Okay, das Letzte nehm' ich zurück“, hörten wir ihn und er konnte nur mit Mühe ein Schmunzeln unterdrücken.

„Daaad“, entfuhr es Tim entrüstet.

„Ja, ja. Spaß beiseite und nun erzähl mal, mein Sohn“, dabei hatte er sein Wort an mich gerichtet. Wie schon mal angedeutet, genau das war ich für Tims Eltern, der zweite Sohn, so wie Tim bei uns der Zweite war. Somit erzählte ich erst einmal die ganze Geschichte. Klaus machte sich nebenher Stichpunkte, ließ aber auch noch ein Tonband mitlaufen. Dann durfte Tim seinen Part erzählen und danach gab es noch einige Fragen von meinem Ersatzvater.

„Hm“, war seine ganze abschließende Reaktion. Sein Gesichtsausdruck war nicht wirklich erfolgversprechend.

„Das Problem ist, dass hier Aussage gegen Aussage steht und zu Deinem Nachteil noch Zeugen aufgeführt werden“, eröffnete er uns schonungslos.

„Aber die dürfen doch nicht lügen“, entfuhr es mir entrüstet.

„Nein, das sollten sie nicht und ein Meineid wird hart bestraft, jedoch so blauäugig bin ich nicht“, brummte Klaus.

„Wir haben auf der einen Seite zwei Teenager und denen gegenüber stehen Erwachsene. Von denen verkörpern einige eine ziemliche Macht und leider wird um solche Macht manchmal das Recht herumgebogen!“ Aus meiner verwunderten Miene war langsam bei seinen Worten eine entsetzte geworden.

„Moment, bevor wir hier aber voreilige Schlüsse ziehen, muss ich erst einmal die Anzeige sehen“, versuchte er mich nun ein wenig zu beruhigen.

„Und ein Punkt stört mich. Erst versucht man einiges, um Dich dort festzuhalten und dann lässt man Dich so mir nichts dir nichts gehen?“, brachte Klaus auch schon meine Überlegung auf den Punkt.

„Also Jean, Kopf hoch und viel Erfolg bei Deiner Suche!“

„Danke Klaus“

„Und Du wirst ein wenig auf Jean aufpassen und bevor Euch wieder die Gäule durchgehen, redet mit uns!“, wandte sich Klaus noch abschließend an uns, wobei er seinen Sohn mit einem strengen Blick fixierte. Der war immer kleiner geworden und nickte nur als Zustimmung. Dann verließen wir fluchtartig den „Ort des Grauens“ und legten uns seufzend nebeneinander auf Tims großes Bett.

„Menno, nun hab ich den schwarzen Peter für den liebestollen, kleinen, schwulen Twin“, grummelte mein Tim und ein breites Grinsen zierte sein Face.

„Klein?“

„Liebestoll?“

„Na warte“, knurrte ich und stürzte mich auf ihn. Okay ich war kitzlig – er aber auch! So lagen wir Minuten später keuchend und immer noch lachend halb auf einander. Seine Nähe, seine strahlenden blauen Augen, sein verschmitztes Lächeln hätten mich früher um den Verstand gebracht. Gut, ich genoss seine Nähe und gewisse körperliche Reaktionen konnte ich nicht unterdrücken, nur…

…meine Sehnsucht bestand gerade nicht darin, Tim zu küssen, sondern…

…genau das HIER wollte ich mit meinem kleinen Schwarzhaarigen!

Mein Zwilling konnte mal wieder wie in einem offenen Buch meine Gedanken lesen.

„Er fehlt Dir sehr?“, hauchte er mir zu.

„Na ja, zur Not würde ich Dich auch vernaschen“, versuchte ich von meinen innersten Gefühlen abzulenken.

„Das habe ich sehr wohl gemerkt“, grinste er mich anzüglich an. Dann wurde er ernst.

„Jean, wir finden ihn, versprochen!“

Langsam rollte ich mich von ihm runter und legte mich neben ihn. Meine Augen waren geschlossen, damit ich mir das Bild von Raphael vorgaukeln konnte.

„Hoffentlich“, flüsterte ich heiser.


Die nächsten Tage flogen regelrecht an mir vorüber. Ich stand unter ständiger Anspannung, ob da nicht wieder ein neues Puzzleteil auftauchte und wir es vielleicht an der richtigen Stelle unterbringen konnten.

Jedoch je länger wir suchten und je tiefer wir gruben, desto weniger bekamen wir heraus. Wenn ich alle Daten verglich, die wir zusammengesammelt hatten, musste ich mir eingestehen, dass wir eigentlich NICHTS hatten. Die Familie „van Dahlen“ gab es sehr wohl, aber man kam an keine privaten Daten ran. Auf Gesellschaften und Benefizveranstaltungen tauchte immer nur seine Großmutter auf. Sogar Daten über seine Eltern fand ich nur spärlich – sie waren an der Spitze einiger Firmen, die sich wiederum sehr bedeckt hielten. Die Söhne Dominik und Raphael gab es offiziell gar nicht. Neben der Internetsuche, die hauptsächlich auf Svenjas und Felix' Schultern lag, machte ich etwas, was mir vor Wochen noch total abwegig erschienen wäre – ich telefonierte! Bald kam es mir so vor, als würde ich das Telefonbuch von Frankfurt hoch und runter telefonieren, aber die Informationen waren gleich NULL.

Auch wenn ich nicht aufgab, eine gewisse Verzweiflung machte sich in mir breit. An einem Mittwoch war ich dann soweit, meine letzte Trumpfkarte auszuspielen. Niedergeschlagen saßen wir zu viert bei Svenja.

„Die ist wie ein schwarzes Loch, diese Familie“, murmelte Felix resigniert. Ich betrachtete ihn gedankenverloren und kämpfte immer noch damit, ob ich ihnen meinen Entschluss mitteilen sollte. Felix bemerkte meinen Blick und grinste mich schief an. Ich hatte in diesen Tagen gemerkt, was für einen Freund ich da gewonnen hatte, konnte aber sehr wohl seine Sehnsucht spüren. Ohne, dass wir darüber gesprochen hatten, schien er zu verstehen, was mir Raphael bedeutete und tat alles, um mir zu helfen.

„Jean?“, hörte ich meinen Zwilling alarmierend.

Langsam ließ ich meinen Blick von Felix zu Tim wandern. Sein Blick ruhte forschend auf mir und seine Augen signalisierten, dass er wohl mal wieder wie in einem offenen Buch in meinem Gesicht lesen konnte. Seine Stimme hatte diesen gewissen Klang, der nun die anderen beiden auch aufs Programm brachte.

„Kleiner, Du brütest doch was aus“, kam es nun von Felix.

‚Oh Gott, konnte ich jemals wieder etwas geheim halten? War ich so durchschaubar?‘

„Schön, dass Ihr Schlaumeier das auch schon merkt“, hörte ich nun noch von dritter Stelle und verwundert sah ich Svenja an.

„Ach Jean, verkauf mich nicht für dumm. Wir reißen uns hier seit Tagen den Allerwertesten auf und von Dir höre ich nur immer ‚Ja, ja‘ oder ‚Mag sein‘. Du grübelst selbst über irgendeiner Sache…“, verzögerte sie unheilschwanger ihren Vortrag.

„…und es wäre schön, wenn Du uns an Deinen Gedanken teilhaben lässt“, schloss sie ihn dann.

„Du hast was vor!“, entfuhr es Tim. Mein Antwortlächeln war ziemlich gequält.

„Ja und nein“, murmelte ich.

„Ja?“, kam es alarmierend nun von Svenja.

„Nein“, hörte ich fragend meinen Zwilling.

„Okay, Ihr werdet ja eh keine Ruhe geben, also…“, fing ich zögernd an und schaute dann noch einmal unschlüssig in die Runde.

„..ich muss einfach noch einmal nach Frankfurt“, offenbarte ich ihnen.

„Und was soll das bringen? Willst Du wieder bei der Polizei landen? Du hast ja noch nicht einmal die letzte Anzeige richtig auf dem Tisch und schon willst Du wieder dorthin“, ereiferte sich Svenja.

„Aber versteh mich doch, Svenja, ich kann hier nicht rumsitzen und nach irgendwelchen Schnipseln im Internet suchen, als wäre Raphael irgend ein vermisster Mensch“, murmelte ich.

„Die warten doch nur darauf, dass Du ihnen einen neuen Grund auf dem Silbertablett präsentierst, um Dich endgültig aus dem Verkehr zu ziehen!“ So langsam ging mir Svenja auf den Nerv.

„Du willst mich nicht verstehen, oder?“, erhob ich meine Stimme. Sie unterbrach ihren besorgten Monolog und sah mich verdutzt an.

„Ich habe von Raphael nicht mal ein Bild, sein Gesicht schwindet zusehends vor meinen Augen – ich verliere ihn einfach“, versuchte ich es mit fester Stimme zu erklären, aber sie stand kurz vor dem Kippen.

„Je länger ich hier untätig herumsitze, desto größer wird meine Sorge um ihn, desto mehr Angst bekomme ich, dass ich ihn nie – hörst Du - NIE wieder sehe!“

„Okay wir fahren nach Frankfurt.“

„Nein Tim, das könnt Ihr nicht machen!“

„Ich werde nicht weiter mit ansehen, wie mein Zwilling langsam vor die Hunde geht. Und vielleicht gibt es ja eine kleine Chance, dort vor Ort etwas herauszubekommen.“ Svenja wollte nun erst richtig mit blitzenden Augen auf ihren Freund losgehen, da hörte ich wohl noch den Vernünftigsten in der Runde.

„Moment mal, bevor wir uns hier zerfleischen, sollten wir erst einmal hören, was Jean vorhat.“ Felix hatte zwar leise gesprochen, aber genau der Ton brachte uns wieder ein wenig zur Vernunft. Erwartungsvoll sahen sie mich an.

„Na ja, mir schweben da zwei Sachen vor“, fing ich langsam an.

„Zuerst einmal haben wir bei der ganzen Recherche immer wieder eine Firmenadresse gefunden, wo sich wohl ein großer Teil des Geschäftslebens der Familie abspielt. Ich möchte da einfach mal vorbeischauen und sehen, ob ich nicht irgendwie an seine Eltern herankomme“, erklärte ich ihnen den ersten Punkt. Sie sahen mich mehr oder minder skeptisch an. Somit schob ich schnell meinen zweiten Gedanken hinterher.

„Die andere Sache ist eigentlich ein Schuss ins Blaue. Ich möchte bei Maximilian noch einmal vorbeischauen.“

„Beim Senator“, murmelte Tim und seine Gedanken schienen zu wirbeln.

„Du meinst wegen der Namensgleichheit?“, fragte mich Svenja.

„Ich glaube, mein Zwilling spekuliert da nicht so sehr über den Nachnamen sondern den zweiten Vornamen von Raphael“, entfuhr es Tim auf einmal.

„Für mich sind das langsam zu viele Gemeinsamkeiten, als dass da einfach nichts sein soll“, gab ich das Resultat meiner Überlegungen preis.

„Wann fahren wir?“, fragte Tim.

„Am liebsten schon morgen“, antwortete ich. Svenja war noch lange nicht überzeugt, aber sie redete nun jedenfalls nicht mehr auf mich ein.

„Dann fahren wir alle zusammen“, schlug sie somit vor, um eine aufkommende Katastrophe gleich im Keim zu ersticken. Mein Gesicht drückte nun wahrlich keine Zustimmung aus, aber ich behielt meine Vorbehalte für mich, denn nachdem ich meinen Freunden meine Gedanken präsentiert hatte, konnte ich schlecht einfach so ihre Hilfe abschlagen. Die Hilfe kam, wie nicht anders zu erwarten, von meinem Zwilling.

„Ich glaube nicht, dass das so eine gute Idee ist“, murmelte Tim.

„Wo Euch Eure Versuche letztes Mal hingeführt haben, wissen wir nur zu gut“, ging Svenja nun gleich wieder zum Angriff über.

„Schwesterherz, stopp. Ich versuch es mal mit einem Vorschlag“, fiel Felix seiner Schwester ins Wort. Dann wandte er sich an Tim.

„Geht zu Deinem Vater und beratet Euch und fragt ihn einfach, mit wie vielen wir dorthin fahren sollen“, hörte ich ihn. Tims Gesichtsausdruck wurde abweisend.

„Tim, ihr werdet Beide diesmal nicht fahren, ohne Euch vorher mit dem Rechtsanwalt Deines Zwillings beraten zu haben“, entfuhr es Felix in einem scharfen Ton. Nur da kannte er meinen Tim schlecht – zu dem abweisenden Gesicht kam nun auch noch ein trotziger Ausdruck.

„Wer sagt das?“, zischte er.

„Timmy, nicht“, mischte ich mich ein.

„Du weißt ganz genau, was Dad sagen wird“, grummelte mein Zwilling.

„Nein, ich bin mir da nicht so sicher. Ich weiß nur eins! Ich will Raphael wiedersehen!“ Ich glaube, mein letzter Satz gab den Ausschlag und eine Stunde später saßen wir bei „unserem“ Dad in der Kanzlei.

„So Jungs, was brennt Euch auf der Seele“, fragte er uns, kaum dass wir saßen. Stockend eröffnete ich ihm meine Überlegungen. Klaus hatte sich in seinem Stuhl weit zurückgelehnt und musterte uns mit halbgeschlossenen Augen intensiv. Wir kannten den Blick zur Genüge und Tim rutschte demzufolge unruhig auf seinem Stuhl hin und her.

„Daaaaaaaad?“, stieß er dann auch genervt hervor, nachdem wir minutenlang geschwiegen hatten.

„Also von Dir kam der Vorschlag bestimmt nicht, mich zu konsultieren“, brachte er seinen Sohn mit einem Satz zum Schweigen. Aus Tims genervtem Gesichtsausdruck wurde ein unglücklicher.

„Ich finde es trotzdem schön, dass Ihr den Weg zu mir gefunden habt. Begeistert bin ich von der Idee nicht, das gebe ich zu, aber ich habe eigentlich auch keine Einwände“, eröffnete er uns.

„In den letzten Tagen habe ich ja selbst ein wenig nachgeforscht, aber wirklich etwas herausbekommen habe ich nicht. Der Anwalt der Familie, übrigens eine sehr bekannte und exklusive Kanzlei, blockt jede Frage von mir ab und die Anzeige habe ich immer noch nicht auf dem Tisch.“

„Also dürfen wir fahren?“, wollte ich mich noch einmal vergewissern.

„Ja, aber ich plädiere dafür, dass nur Ihr Beide nach Frankfurt fahrt. Hier hast Du Geld, Jean, damit Ihr Euch die Bahnfahrkarte kaufen könnt“, beantwortete er meine Frage.

„Warum nur wir Beide?“

„Ihr wollt doch den älteren Herrn nicht verschrecken“, lächelte mir Klaus zu. Ich stand von meinem Stuhl auf und wollte gerade das Zimmer verlassen, als mein Blick auf Tim fiel. Dieser saß zusammengesunken auf seinem Stuhl und starrte seinen Vater traurig an.

„Tim, kommst Du?“, versuchte ich ihn aus seiner Erstarrung zu lösen.

„Dad?“, flüsterte er. Er war total durcheinander, so hatte ich ihn noch nicht oft gesehen.

„Ja, mein Sohn“, hörte ich Klaus.

„Warum…, warum sagst Du so was?“, murmelte Tim verzweifelt. Klaus sah seinen Sohn lange an und seufzte dann.

„Weil es stimmt!“, antwortete Klaus und schob hinterher „oder…“ Tim zuckte unter den Worten zusammen. Ich musste einfach für meinen Zwilling in die Bresche springen.

„Aber wir sind doch hier und haben Dich gefragt“, versuchte ich Tim zu verteidigen.

„Darum geht es nicht, Jean“, brummte Klaus. Dann wanderte sein Blick wieder zu Tim.

„Es geht darum, dass mein Sohn irgendwann im letzten Jahr sein Vertrauen in seine Eltern verloren hat. Ich bin mir sehr wohl bewusst, dass Ihr beide nun erwachsen werdet und manchmal eine eigene Lösung eines Problems finden müsst, aber solch eine Missachtung von uns in der letzten Zeit haben Deine Mutter und ich nicht verdient.“

Tim schrumpfte in seinem Stuhl immer weiter zusammen.

„Haben wir Dir irgendwann mal unseren Rat aufgezwungen? Mir ist auch klar, von wem Du diese Vorstellungen übernommen hast beziehungsweise wer Dich beeinflusst hat. Was mich traurig macht, ist, dass Du, nachdem Du diese unsägliche Freundschaft beendet hast, nicht wieder den Weg zu uns zurückgefunden hast!“

„Dad“, schluchzte Tim.

„Wir sind nicht Deine Feinde, mein Sohn, und mein Vertrauen ist grenzenlos, so dass ich Dich ohne Angst mit Jean nach Frankfurt lasse. Ich weiß, dass Du auf Deinen Zwilling aufpasst. Ich bin verdammt froh, dass Ihr Euch wieder gefunden habt, denn der andere Weg hätte im Chaos geendet. Und nun geht und bitte denke einmal über meine Worte nach.“ Mit diesen Worten wandte er sich wieder seinen Akten zu und schien uns nicht mehr zu bemerken. Tim saß regungslos auf seinem Stuhl und sein schlechtes Gewissen stand ihm auf die Stirn geschrieben.

„Komm Timmy“, murmelte ich ihm zu und er sah mich traurig an. Mühsam erhob er sich und mit einem:

„Bye Dad“, verschwand er in der Tür. Zweifelnd sah ich seinen Vater an. Dieser hatte sehr wohl den Abgang von Tim beobachtet.

„Red mit ihm“, kam er mir zuvor und somit stiefelte ich Tim schweigend hinterher.

Zuerst kam ich aber gar nicht dazu, denn die anderen beiden warteten natürlich ungeduldig auf das Resultat unserer Besprechung. Svenja war überhaupt nicht begeistert und wollte die Lösung gerade anzweifeln, als sie den Stimmungsumschwung von Tim bemerkte. Dieser ließ sich noch ein, zwei Fragen gefallen, war dann aber sehr schnell in Richtung Heimat verschwunden.

„Was hat er denn?“, fragte mich Svenja natürlich sofort im Anschluss.

„Ich habe keine rechte Ahnung, aber Klaus hat seinem Sohn vorhin ziemlich den Kopf gewaschen. Bevor ich aber hier irgendetwas mutmaße, muss ich mit Tim erst einmal reden“, versuchte ich Svenja zu beruhigen.

„Okay“, warf Felix ein und hakte seine Schwester unter.

„Komm, wir gehen nach Hause. Ich hab da noch eine klitzekleine Spur gefunden, die ich gerne überprüfen möchte“, brubbelte er und nach der Verabschiedung machte ich mich auch auf den Heimweg. Eine halbe Stunde später zappelte mein Handy in der Hose. Tim teilte mir mit, dass wir uns morgen um 8 Uhr bei ihm treffen sollten, um nach Frankfurt zu fahren. Laut seiner Recherche fuhr unser Zug um 8:43 Uhr. Auf meine Nachfrage, ob wir den Abend zusammen verbringen wollten, antwortete er nur:

„Bitte gib mir den Abend zum Nachdenken.“

Alles schrie in mir, dass mich mein Zwilling brauchte, aber ich akzeptierte seine Entscheidung und verbrachte eine sehr unruhige Nacht. Zum Einschlafen versuchte ich mir ein Bild von Raphael vor mein inneres Auge zu rufen, aber mehr als etwas Verschwommenes kam nicht zustande und je mehr ich mich anstrengte, desto mehr verschwand es im Nebel. Ich war wirklich drauf und dran, meinen Kleinen zu verlieren.


Nun saßen wir schon eine Stunde im Zug und schwiegen uns an. Die Stimmung war mehr als ungemütlich und Tim machte einen sehr mürrischen Eindruck. Geschlafen hatten wir wohl beide schlecht.

„Tim?“, fing ich vorsichtig an.

„Nein“, knurrte er.

„Ich bin nicht Dein Feind“, grummelte ich zurück. Tim zuckte zusammen und sah mich mit großen Augen an.

„Du jetzt auch noch?“

„Was soll der Scheiß – red mit mir!“, fuhr ich ihn an. Manchmal musste man meinen Zwilling vor den Kopf stoßen. Prompt zog er eine Flunsch und starrte mich trotzig an. Dieser Anblick hatte sonst einen frappierenden Einfluss auf mich, aber hier ging es diesmal nicht um mich, sondern um Tim. Deshalb starrte ich genauso trotzig zurück. Tim resignierte.

„Du hast es doch gestern gehört…“, murmelte er.

„Ich bin bei meinen Eltern unten durch“, flüsterte er heiser und ich hörte aus seiner Stimme, wie sehr ihm das zu schaffen machte.

„Nur warum?“ Diese Frage brannte mir seit gestern unter den Nägeln.

„Corinna!“, stieß er angeekelt hervor. Geahnt hatte ich es ja schon, aber nun hatte ich Gewissheit. Dieses Weib hatte mehr Porzellan zerschlagen als der sprichwörtliche Elefant. Ich ging nicht darauf ein, denn Tim stand kurz davor zu explodieren, was dann auch einen Moment später geschah.

Es war noch schlimmer, als ich befürchtet hatte. Tim hatte wohl in der Nacht ein paar sehr unangenehme Erkenntnisse gewonnen. Corinna hatte nach und nach einen Keil nicht nur zwischen mich und ihn sondern auch zwischen ihn und seine Eltern getrieben. Das geschah immer wieder unter dem Mantel, dass er doch nun alt genug sei und selbst entscheiden könne. Und da seine Eltern immer ablehnender auf seine Freundin reagierten, sah er die Einflüsterungen von Corinna bestätigt. Das gipfelte sogar in ein paar handfesten Streits zwischen seinem Vater und ihm. Das war mir nun gänzlich neu, denn Klaus hat sich immer mit uns zusammengesetzt und Probleme ruhig und sachlich ausdiskutiert.

„Nach dem Ende dieser Freundschaft dachte ich, es wäre alles wieder im Lot, aber ich habe meine Eltern wohl mehr verletzt, als ich angenommen hatte“, murmelte er niedergeschlagen

„Verdammte Scheiße“, entfuhr es mir und meine Reaktion war wohl nicht die, die Tim erwartet hatte, denn sein Gesicht war ein einziges Fragezeichen.

„Ich bin ein riesiger Trottel!“, meckerte ich weiter.

„Anstatt mich im Selbstmitleid zu suhlen, hätte ich Dir die Leviten lesen müssen.“

„Ich bin ein verdammt guter Freund“, brummte ich höhnisch vor mich hin.

„Ja, das bist Du“, kam die nicht unbedingt erwartete Antwort. Mein Blick fiel auf einen verlegen lächelnden Tim.

„Wir waren Beide ziemliche Idioten und jeder hat ein wenig zu sehr nur an sich gedacht, aber…“, bei den Worten kam er ziemlich dicht an mich ran – eigentlich zu dicht, viel zu dicht.

„…ich habe meinen Zwilling wieder gefunden und werd ihn kaum wieder hergeben“, flüsterte er ganz leise und seine herrlich blauen Augen glänzten. Verdammt, wenn nicht gleich was passieren würde, musste ich ihn einfach küssen.

„Seid Ihr schwul oder was?“, krakeelte es von der Tür. Ertappt fuhren wir auseinander.

„Jo, Süßer, willste mitmachen?“, flötete Tim lüstern in die Richtung. Der junge Mann, Mitte zwanzig, lief rot an und schmiss die Abteiltür von außen wieder zu. Mich hatte dieser Zwischenfall nicht wirklich erreicht, denn mein verträumter Blick ruhte weiter auf meinem Zwilling.

‚Wie einfach und schön würde es sein, diesen Jungen da als Boyfriend zu haben‘, durchfuhr es mich. Fast gleichzeitig überlief es mich siedend heiß.

‚Verdammt, würde das nie aufhören! Würde ich Tim immer und immer wieder hinterher trauern?‘

„Jean entschuldige, ich wollte das nicht“, hörte ich Tim zerknirscht murmeln. Seine Stimme brachte mich wieder aus meiner Gedankenwelt in die Wirklichkeit zurück.

„Entschuldigung dafür, dass ich Dich liebe?“, flüsterte ich.

„Na ja, ich mache es Dir ja auch nicht leicht. Erst der… Kuss in Mainz nun… das hier“, stotterte Tim verlegen.

„Ich hab Dir gesagt, ich werde Dich nie aufhören zu lieben, muss mich aber mit der Situation abfinden. Eine Zeit lang ist das ziemlich gut gelungen, da ich dachte, meinen Schatz gefunden zu haben, aber von Minute zu Minute kommt mir die Lage hoffnungsloser vor…“, murmelte ich leise.

„…und je hoffnungsloser es wird, desto größer wird wieder die Sehnsucht nach…“, verschluckte ich erstickt die letzten Worte.

„Wir finden Deinen Raphael!“, schleuderte mir Tim entschlossen entgegen und ein Teil seiner Überzeugung ging auf mich über.

„Das rede ich mir ja auch ständig ein. Vielleicht erreichen wir heute wirklich etwas.“

So versanken wir wieder in unsere Gedanken.

„Jean?“, hörte ich ihn fragen.

„Ja“

„Glaubst Du, meine Eltern können mir verzeihen?“, fragte er zögernd.

„Was glaubst Du?“, kam meine Gegenfrage. Nervös zuckte er mit seinen Schultern.

„Tim, Du weißt die Antwort, aber ich werde sie für Dich aussprechen – das haben sie schon längst getan. Du musst ihnen nur zeigen, was sie Dir wirklich bedeuten.“

„Danke.“

Ich sah seine Zerrissenheit. Auf der einen Seite war die Freude darüber, dass er doch kein so schlechter Sohn war, sehr wohl zu sehen – anderseits würde genau dieses Zeigen seiner Liebe zu seinen Eltern ihn noch eine gewisse Überwindung kosten. Um ihn auf andere Gedanken zu bringen, fiel mir spontan was ein. Nun ja, sooo spontan war das auch nicht.

„Tim?“, fragte ich leicht lauernd.

„Jaaaa“, kam es genauso lauernd zurück. Er hatte den Unterton sofort herausgehört.

„Wie fandest Du den Kuss?“, grinste ich ihn anzüglich an. Schlagartig wurde mein Zwilling knallrot.

„So guuut“, feixte ich und steigerte noch den Farbton.

„Nun ja …“, ging Tim in die Offensive und sein Tonfall ließ mich nun nervös werden.

„Weißt Du, ich wollte meinen kleinen, hilflosen Twin ein wenig aufmuntern…“, nuschelte er vor sich hin.

„Du saßt da so traurig rum und da kam mir spontan die Idee, als ich Dich in meinen Armen hielt und …“, nun fing er wieder an herumzudrucksen. Seine Blicke zuckten auch nervös durch das Abteil.

„Jaaa“, flüsterte ich und war nun wirklich auf die Antwort gespannt.

„… ich wollte das schon ne Weile wissen“, stieß er rasend schnell heraus und verhaspelte sich fast dabei.

„Was wissen?“, bohrte ich nach. Nee, so schnell ließ ich meinen Tim nicht vom Haken. Und er wand sich regelrecht unter meinen Blicken.

„Wie das so ist…“, flüsterte er ganz, ganz leise.

„Was ist?“, fragte ich fast automatisch.

„Einen Mann, ähm … Jungen, nee warte … Dich zu küssen“, stotterte er und schlug die Augen nieder.

„Oh“, entfuhr es mir, denn zu mehr war ich dann doch nicht fähig. Alles in mir schrie nun:

‚Stell sie, DIE FRAGE!‘

„Und wie war es?“ Tim schaute zu mir auf und ich werde diesen Blick in meinem Leben nie vergessen. So schüchtern, so unsicher, von Zweifel durchsetzt, aber auch strahlend, fast liebevoll – ein Blick, der mir soviel Hoffnung gab, aber auch großen seelischen Schmerz brachte.

Und das zweite Mal innerhalb weniger Minuten musste ich mich meiner Sehnsucht stellen, die ich dachte, besiegt zu haben.

Verdammt, wie sollte ich damit umgehen? Ich wollte nicht noch einmal all das durchleben. Diese aufkeimende Hoffnung, dieses ‚Vielleicht doch‘, unter gewissen Umständen möglich, das Bangen, das Aufsaugen jeder noch so nichts sagenden Geste und der immer wieder darauf folgende Absturz.

„Bitte Tim, tue es nicht“, flehte ich atemlos und niedergeschlagen. Tim sah mich eine Weile an und sein Blick wurde weicher und eine gewisse Traurigkeit war drin zu erkennen. Vorsichtig nahm er mein Gesicht zwischen seine Hände.

„Mein kleiner Jean, nein, ich kann Dir nicht dieser Freund sein – auch wenn es höchstwahrscheinlich die Ideallösung wäre. Dieser Kuss hat mich mehr durcheinander gebracht als Dein Geständnis über Deine Liebe zu mir. Er war einfach fantastisch. Ich hatte vorher nie wirklich an so was gedacht, aber die Lust auf mehr war einfach wie aus dem Nichts da. In den Tagen danach habe ich mir immer wieder die Frage gestellt ‚Bin ich schwul?‘ Aber ich musste mir eingestehen, ich liebte Dich zwar wie einen Bruder, aber ich begehrte Dich nicht wirklich körperlich. Mein Interesse an gewissen Dingen wurde durch diesen Kuss zwar geweckt, aber ein Partner in einer Beziehung werde ich Dir nie sein können“, gestand mir mein Zwilling. Dabei hatte sich eine Träne aus seinem rechten Auge gelöst und war langsam seine Wange hinabgewandert.

„He Tim, es ist ok“, schniefte ich.

„Ich kann mich nicht so einfach von meinem Traumboy lösen und wenn er mir dann gesteht, dass der erste und letzte Kuss, den wir je getauscht haben, fantastisch für ihn war, dann hilft mir das nicht gerade, meine Hoffnungen zu begraben. Ich brauche halt noch ein wenig Zeit, um das zu verarbeiten, aber ich werde immer mal wieder solche Rückfälle haben, sorry“, beichtete ich ihm.

„Das bekommen wir auch noch hin“, schniefte nun seinerseits Tim. Sekunden später blitzte mir schon wieder der Schalk aus seinen Augen entgegen und seine Mundwinkel wanderten verräterisch nach oben.

„Und wie war ich?“, neckte er mich. Ich wusste sofort, worauf er anspielte, stellte mich aber dumm.

„Wobei?“

Tim verzog seinen süßen Schmollmund zu einem Kuss und hauchte mir den rüber.

„Na jaaaaa, eigentlich müssten wir stundenlang üben, damit Du uns bei Svenja nicht blamierst“, grinste ich ihn an.

„Du Arsch.“

„Knackarsch, bitte.“

„Wenn Du meinst.“ Das brach endgültig den Bann und wir gackerten los.

„Als ob Du die Megaerfahrung hast. Ich hatte ja eine Zeit lang Damenbekanntschaft“, warf mir Tim an den Kopf, wobei Dame nicht wirklich damenhaft ausgesprochen war.

‚Na warte Freundchen, Dir zeig ich es‘, durchfuhr es mich.

„Felix“, hauchte ich ihm lüstern zu.

„Den knöpf ich mir vor. Meinen kleinen Twin verführen“, grummelte er und seine Augen blitzten eifersüchtig auf. Ich ließ Tim ein wenig in seinem eigenen Saft schmoren und sich die „abscheulichsten“ Sachen vorstellen, denn ich lächelte nur still vor mich hin. Dafür kannte ich ihn nun wirklich genug, um die nächsten Minuten und Fragen nicht regelrecht zu erahnen.

„Du Jean.“

‚Ha, da fing es schon an.‘

„Habt ihr wirklich?“

„Hast Du mit Corinna?“, kam postwendend meine Gegenfrage. Und wieder lief mein Zwilling rot an.

„Aber das ist doch…“, fing er an, verschluckte den Rest jedoch, denn die Unsinnigkeit seiner Bemerkung wurde ihm sofort bewusst.

„Okay, Du wolltest es wissen und Du bist fast die einzige Person, der ich so was erzählen würde. Ja, ich war mit Felix im Bett“, setzte ich zu einer Erklärung an, um eine kleine, dramatische Pause zu machen. Tims Gesicht war eins für Götter, denn es schwankte zwischen Neugierde, Eifersucht und Lüsternheit. Trotz seines Heterogeständnisses schien ihn die ganze Sache anzumachen.

„Er war mein erster Boy, wir haben geknutscht. Das kann er übrigens himmlisch“, zog ich meinen Zwilling auf, was mir eine lange Zunge einbrachte.

„Dann hat er mir einen runtergeholt und ich ihm nachher einen unter der Dusche“, nuschelte ich dann unverständlich vor mich hin.

„Und…“, bohrte der Quälgeist weiter.

„Nix und, und!“, grummelte ich.

„Ihr habt also nicht gepoppt“, brachte Tim es grinsend auf den Punkt.

„Nein“, stieß ich genervt hervor.

„Und was heißt hier eigentlich ‚bist fast die einzige Person‘?“, hörte ich ihn nun grummeln.

„Na ja, meinem nächsten Boyfriend werde ich das wohl auch beichten und ich hoffe inständig, dass das mein Kleiner ist“, flüsterte ich.

„Tja, dann bin ich eindeutig der Erfahrenere von uns Beiden“, feixte Tim.

„Okay, bietest Du Dich gerade als Übungsobjekt an?“, hauchte ich lüstern in seine Richtung.

„Ähm.“

„Zur Not nehm ich auch so was wie Dich“, setzte ich noch einen drauf.

„Ich steh auf keine Blondinen“, kam postwendend der Konter.

„Na ja, die Frage ist ja auch, ob Du es überhaupt bringst“, neckte ich ihn weiter.

„Kommt auf Deine Reize an“, grinste er frech.

„Mal schauen“, murmelte ich und setzte mich auf seine Oberschenkel. Ich rutschte ganz nah an ihn ran und sah ihm tief in die Augen. Tims Blick wurde eine Spur nervöser, jedoch auch ungläubig. Dann war ich auf seinen Schenkeln so weit nach vorne gerutscht, dass mein Hinterteil auf einer sehr delikaten Stelle von ihm ruhte. Sanft fing ich mit meinem Becken an zu kreisen. Dabei wanderte meine rechte Hand über seinen Hals zu seinen Haaren und meine Finger drehten verspielt ein paar Strähnchen. Seine Wangen liefen leicht rosa an und ich merkte deutlich, dass ihn das nicht kalt ließ. Was ich als ein Experiment begonnen hatte, schien mich nun zu überwältigen. Ich nahm mein kleines bisschen noch vorhandene Vernunft zusammen und stand zögernd wieder auf. Tims Blick war gierig geworden, sein süßer Mund leicht geöffnet – nur widerwillig löste ich mich davon und drehte mich schnell um. Mein Blut war sehr stark in Wallung gekommen und mein bestes Stück pochte schmerzhaft in meiner Hose.

„Verdammt, bist Du gut“, stöhnte Tim.

„Ich hätte nicht aufhören können. Wahnsinn“, flüsterte er in meinem Rücken.

„Ich auch nicht, aber es wäre verdammt falsch gewesen!“, murmelte ich benommen.

„Lass uns bitte nie wieder Experimente dieser Art versuchen, es kann nur in die Hose gehen“, versuchte ich, meine Erregung unter Kontrolle zu bekommen.

„Ich dachte ja eigentlich, dass ich das nicht könnte, aber …“, hörte ich ihn leise.

„Es war verdammt geil. Da werde ich in Zukunft noch mehr auf Dich aufpassen müssen, damit Du nicht an den Falschen gerätst“, schloss er seine Überlegungen. Langsam drehte ich mich um und sah einen leicht lächelnden Tim. So ganz glücklich war ich mit seiner Aussage nicht und reichlich durcheinander setzte ich mich zögernd auf meinen Platz. Mein Zwilling merkte das sofort.

„He Jean, ich habe es doch darauf angelegt. Entschuldige, ich werd in Zukunft mehr drauf achten“, wandte er sich zerknirscht an mich.

„Na ja, ich glaube, wir wollten Beide etwas wissen, wobei wir dieses Spiel nie zu Ende spielen sollten“, antwortete ich ihm. Etwas verlegen musterten wir uns. Ich glaube, wir waren in unserer tiefen Freundschaft nun doch an die Grenze gestoßen, die wir nie überschreiten sollten.

„Man, lass uns nur schnellstens Deinen Raph finden, sonst macht mich Dein Blick noch total konfus und meine Hormone fressen mich auf“, murmelte Tim leise.

„Lieber heut als morgen“, seufzte ich als Antwort. Den Rest der Fahrt verbrachten wir mehr oder minder mit Schweigen. Jeder von uns hatte wohl genügend zu verdauen.

Kurz nach 14 Uhr standen wir dann in Frankfurt vor einem Büroturm. Es war ein imposantes Gebäude und war mitten in Mainhatten untergebracht. Wir hatten ja nicht wirklich viel über die Familie van Dahlen herausbekommen, aber so ein paar Schnipsel waren es doch. Dieses Gebäude, auch wenn nur ein kleines unscheinbares Schild auf eine Firma van Dahlen Corp. verwies, gehörte der Firmengruppe und das Unternehmen nahm selbst die oberen sechs Stockwerke des Towers ein.

Tim brubbelte irgendetwas von „Frechheit siegt“ und stiefelte an mir vorbei hinein in den Glaspalast. Geradezu stand eine riesige Rezeption, hinter der sich drei Leute tummelten. Linker Hand waren eine paar Fahrstühle zu sehen. Davor war eine Glasscheibe in der Darstellung dieses Büroturmes aufgebaut. Dorthin schlenderte ich mit meinem Zwilling. Gründlich studierten wir diese Glasscheibe, denn sie zeigte uns, welche Firmen in welcher Etage zu finden waren. Leider konnten wir die Gruppe „van Dahlen“ da nicht ausmachen. Tim zog mich in den Aufzug, der gerade im Erdgeschoss hielt und drückte entschlossen den obersten Knopf auf der Etagenleiste. Nun schoss die Kabine mit einer affenartigen Geschwindigkeit nach oben. Sekunden später öffneten sich wieder die Fahrstuhltüren und wir standen in der nächsten Empfangshalle. An der etwas kleineren Rezeption war nicht solch hohe Betriebsamkeit wie unten und so wurde eine der beiden Angestellten dahinter sofort auf uns aufmerksam.

„Meine Herren, Sie wünschen“, wurden wir unverbindlich gefragt. Ich suchte mein Glück in der Offensive.

„Einen schönen Guten Tag. Ich würde gern Herrn oder Frau van Dahlen sprechen“, antwortete ich mit fester Stimme. Ein kleines amüsiertes Lächeln flog über die Lippen der Dame und sie schien ein, zwei Sachen auf ihrem Monitor zu überprüfen.

„Und wie war Ihr Name bitte?“

„Jean Neumann“ Mir war, als würde ihr Blick ganz kurz erstarren, aber das hätte auch eine Täuschung sein können.

„Es tut mir leid, Herr Neumann, aber Angehörige der Familie van Dahlen sind nicht im Hause.“ Der Ton war freundlich geblieben, aber es war deutlich herauszuhören, dass die Unterredung damit beendet war. Trotz allem ergab der Empfang hier immer noch keinen Sinn. In dem Moment öffnete sich im Rücken der Rezeption eine Fahrstuhltür und drei junge Männer traten in die Halle. Nachdem sich die Tür wieder geschlossen hatte, war sie in der Täfelung der Wand nicht mehr zu erkennen.

„Können Sie mir eventuell sagen, ob ein Mitglied der Familie heute noch zu sprechen ist“, fragte ich weiter höflich, denn so schnell wollte ich hier nicht aufgeben. Jetzt mischte sich der ältere Herr an der Rezeption ein.

„Es tut mir leid, junger Mann, aber ohne vorherigen Termin haben Sie keine Möglichkeit, an die Familie van Dahlen heranzutreten. Auf Wiedersehen.“ Tim erkannte die Aussichtslosigkeit unseres Unterfangens hier eine Sekunde früher und zog mich wieder zu den zugänglichen Fahrstühlen. Schweigend fuhren wir nach unten.

„Moment mal“, zischte er mir zu und verschwand nach draußen. Mit einem schiefen Lächeln kam er zurück.

„So eine blöde Geheimniskrämerei“, schimpfte er unterdrückt. Fragend sah ich ihn an.

„In welchen Stockwerk waren wir eben?“, fragte er mich. Ich warf einen Blick auf das Glasmodell.

„Im 24.?!“

„Richtig, nur hat dieser Tower mind. 30, soweit ich das eben draußen schnell nachzählen konnte“, grummelte er.

„Und in die oberen Etagen kommt man mit dem 08/15 Fahrstuhl nicht – nur über diese geheimnisvolle Transportmöglichkeit da oben“, erklärte er mir weiter.

„Man, wie kann man denn so paranoid sein“, stöhne ich verzweifelt auf.

„Ja, das war denn hier doch wohl ein Schuss in den Ofen“, gab mir Tim Recht. Mein Blick war bei seinen Worten durch die Halle gewandert und blieb an dem Eingangsportal hängen. Durch dieses trat gerade eine Frau Ende dreißig, begleitet von ein paar sehr unscheinbaren Herren. Mir blieb die Spucke weg. Die Frau war eine Schönheit, aber was mich fast aus den Schuhen holte, war die unglaubliche Ähnlichkeit mit Raphael.

„Tim“, keuchte ich. Dieser sah mich sofort alarmiert an. Dann folgte er meinem Blick und kiekste überrascht auf.

„Los komm“, knurrte er und nahm mich an die Hand. Leider hatte die Frau einen sehr zügigen Schritt drauf und strebte dem hinteren Bereich der Halle zu. Wir versuchten im Laufschritt den Abstand zu verkürzen. Kurz bevor sie die Wand erreicht hatte, glitt diese auf einmal beiseite und zeigte uns eine sehr luxuriöse Fahrstuhlkabine. Bevor sie darin verschwand, rief ich noch:

„Frau van Dahlen“ Ich sah ein kurzes Zögern bei der Frau, aber dann wurde mir die Sicht von zwei der unscheinbaren Herren genommen.

„Verschwindet“, zischte mir der eine zu und sein Gesichtsausdruck war eindeutig. Was kümmerte mich das Geschwätz von dem Blödmann und somit umkurvte ich ihn, aber als ich die Wand wieder in meinem Blickfeld hatte, war genau nur diese zu sehen.

„Verdammter Mist“, explodierte ich. Aber so schnell gab ich nicht auf. Mit einem vernichtenden Blick auf die beiden Störenfriede stiefelte ich wieder zurück zu dem anderen Fahrstuhl. Tim hatte Mühe, mir zu folgen. Diesmal konnte die Fahrt nach oben gar nicht schnell genug gehen. Kaum glitten die Fahrstuhltüren auseinander, stürzte ich mich auch schon auf die Rezeption.

„Würden Sie mich bitte Frau van Dahlen melden“, überfiel ich die Dame, deren Blick Hilfe suchend nach rechts wanderte.

„Junger Mann, ich glaube, Sie haben den Sinn des Wortes Termin vorhin nicht so richtig verstanden“, hörte ich den älteren Mann höflich aber sehr abweisend antworten.

„Mir ist Ihr beknackter Termin scheißegal. Ich will unverzüglich Frau van Dahlen sprechen“, rief ich aufgebracht. Die Augen des Mannes blitzten kurz verächtlich auf und dann verzog sich sein Mund zu einem fiesen Grinsen.

„Herr Neumann, ich muss Sie bitten, unverzüglich dieses Gebäude zu verlassen“, ertönte es leise und sehr eisig in meinem Rücken. Wie von einer Tarantel gestochen, fuhr ich auf dem Absatz herum. Dort stand ein Mann, Typ Buchhalter, mit einer kleinen goldenen Nickelbrille und kleinen stechend-blau-grauen Augen, begleitet von den zwei Saubermännern aus der Halle 24 Etagen unter uns.

„Was soll der Scheiß? Warum kann ich nicht nur mal fünf Minuten mit der Frau reden?“, schrie ich aufgebracht, meine Stimme stand kurz vor dem Kippen. Wieso wurde diese Mauer zu meinem Kleinen immer höher?

„Bitte gehen Sie“, wiederholte der Typ seine erste Aussage und schob ein „Sofort!“ hinterher. Wenigstens Tim behielt die Übersicht und zog mich mit sich in den Fahrstuhl, Minuten später befanden wir uns auf dem Gehweg.

„Das war 100% seine Mutter“, murmelte ich niedergeschlagen.

„Ja, aber wir kommen einfach nicht heran“, antwortete Tim mir ziemlich sauer.

„Los, auf zum Senator. Irgendeiner muss uns doch weiterhelfen können“, forderte mich Tim auf. Eine halbe Stunde später durchquerten wir den Eingangsbereich des Seniorenstifts. An der Rezeption saß heute wieder der Hausdrache und musterte uns missmutig.

„Wir wollen nur kurz den Senator besuchen“, wandte ich mich vertraut an sie und wollte schon in den Gang zur Terrasse abbiegen.

„Moment“, kam es von ihr zurück.

„Ich war doch schon zweimal hier und möchte gern Herrn van Dahlen besuchen“, gab ich ihr eine Erklärung. Nichts ließ erkennen, dass sie wusste, wer ich war.

„Herr van Dahlen ist krank und darf zur Zeit keinen Besuch empfangen“, gab sie uns unverbindlich zu verstehen.

„Was?“, schrie ich auf.

„Wir haben nur eine Frage“, versuchte Tim noch einmal sein Glück.

„Nein!“

„Verdammt ist denn die ganze Welt gegen mich“, fluchte ich laut herum.

„Junger Mann, mäßigen Sie Ihre Stimme“, wies sie mich scharf zurecht.

„Na, diesen jungen Mann kenne ich doch“, hörte ich leise in meinem Rücken. Blitzschnell drehte ich mich um und sah dort lächelnd den Konsul stehen.

„Und was treibt Dich denn hierher, Jean“, fragte er mich ziemlich vertraut.

„Ich wollte den Senator sprechen, muss aber erfahren, dass er krank ist und keinen Besuch empfangen kann“, murmelte ich niedergeschlagen.

„Krank?“, fragte er verwundert und ließ seinen Blick zum Hausdrachen schweifen.

„Ja“, antwortete sie mürrisch.

„Kann es sein, dass Sie hier ein klein wenig Ihr Aufgabengebiet verkennen“, fragte der Konsul weiterhin liebenswürdig.

„Ich habe meine Anweisungen, Herr Johansen“, stieß sie hervor. Gleichzeitig biss sie sich auf die Lippen, so als wäre das nicht für die Öffentlichkeit bestimmt gewesen.

„Sie überschreiten Ihre Kompetenzen und das wird definitiv ein Nachspiel haben“, stellte der Konsul auf einmal laut und mit herrischer Stimme klar. Tim zog verwundert die Augenbrauen hoch, über die Macht, die der Konsul auf einmal ausstrahlte. Die Frau hinter der Rezeption schrumpfte unter seinen Blicken.

„Kommt mal bitte mit“, wandte sich Herr Johansen nun wieder an uns und war der nette Großvater in Person.

„Über die Konsequenzen mache ich mir keine Sorgen, wenn ich den richtigen Leuten diesen Vorgang hier melde“, hörten wir den Drachen in unserem Rücken zynisch rufen. Da hatte wohl jemand seinen Mut wiedergefunden.

„Wenn Sie sich da mal nicht irren, meine Liebe“, warf der Konsul ihr noch über seine Schulter zu.

„Und wer ist Dein Begleiter“, fragte mich der Konsul, als wir dann alleine den Flur entlang schlenderten.

„Tim Lindner“, stellte sich mein Zwilling selbst vor.

„Also der sprichwörtliche Zwilling“, überraschte uns Herr Johansen. Unsere verwunderten Blicke waren wohl Fragen genug, so schob er noch hinterher.

„Ich konnte schon immer gut zuhören“, meinte er und lächelte verschmitzt. Dann hatten wir die Terrasse erreicht und in seiner üblichen Ecke saß der Senator. Als sein Blick auf uns fiel, huschte ein Lächeln über seine Lippen.

„Stell Dir mal vor Senatorchen, Du bist krank“, schrie der Konsul ihn an, als wir in Hörreichweite waren.

„Ich bin blank?“, rief dieser fragend zurück.

„Nein, krank und taub“, schrie Herr Johansen.

„Ich bin doch nicht laut“, rief der Senator aufgebracht. Tims Gesichtsausdruck wurde während des Schlagabtausches immer verdutzter und fragender. Ich konnte mir kaum das Lachen verkneifen und zwinkerte ihm zu.

„Und, dass Sie krank sind lieber Konsul, das tut mir leid“, schob der Senator noch schreiend hinterher. Dann hatten wir endgültig seinen Platz erreicht und der Senator wandte sich an mich.

„Schön, dass Du mich mal wieder besuchst, Jean“, begrüßte er mich in einem leisen Tonfall.

„Guten Tag, Maximilian“, begrüßte ich ihn kieksend, denn Tims Gesicht war einfach herrlich.

„Und wen hast Du da mitgebracht?“, fragte mich Max.

„Tim“

„Ach, Deinen Zwilling“, murmelte er und musterte Tim gründlich.

„Wie mir scheint, hat Dir Jean nicht alles über uns erzählt“, grinste er dann meinen Twin an.

„Muss wohl was vergessen haben“, gackerte ich leise vor mich hin. Vorwurfsvoll sah mich Tim an, als er aber seinen Blick über drei lachende Gesichter streifen ließ, schüttelte er nur grinsend sein hübsches Köpfchen und setzte sich hin. Zuerst war er nun erstmal Zielscheibe der beiden alten Herren und die Befragung hatte es in sich. Anderseits fing Tim dann an, allzu freizügig über mein „Anderssein“ zu berichten und ich musste ihm mal kräftig vors Schienbein latschen. Zum Glück verstand er den Wink sofort und bekam gerade noch so seine Kurve. Ich hatte Max ja nach wie vor noch nicht gestanden, dass ich schwul war und konnte nicht einschätzen, wie er reagierte. Da ich ja heute mehr oder weniger einen Überfall auf ihn vorhatte, fand ich den Augenblick für so ein Geständnis gerade nicht so passend. Je länger die beiden nun Tim in die Mangel nahmen, desto unruhiger rutschte ich auf meinem Stuhl hin und her.

„Aber ich glaube, Jean ist heute nicht hergekommen, um uns Tim vorzustellen“, unterbrach der Konsul das Verhör. Zwei Augenpaare richteten sich auf mich und sahen mich auffordernd an.

„Ja…, ähm, nein…“, stotterte ich los.

„Wir sind auf der Suche nach Raphael“, half mir Tim weiter.

„Aha, und was hat das mit mir zu tun“, fragte der Senator vorsichtig.

„Nun ja, Sie sind sozusagen unsere letzte Hoffnung und es gibt so ein paar Gemeinsamkeiten zwischen Ihnen und Raphael“, fuhr Tim fort. Mein Blick ruhte auf Max, dessen Gesichtszüge wurden immer neutraler und die Augen hörten auf zu leuchten. Da konnte ich mich nicht mehr zurückhalten und platzte heraus.

„Bist Du Raphaels Großvater?“ Flehend, sein Gesicht nach einer kleinen, positiven Reaktion absuchend, starrte ich ihn an. Das einzige, was ich nun neben dem sehr frostigen Gesichtsausdruck in seinen Augen lesen konnte, war Schmerz.

„Friedrich“, wandte er sich tonlos an den Konsul. Dieser sprang augenblicklich auf.

„Jean, Tim lasst uns bitte gehen“, forderte er uns leise aber bestimmt auf. Verstört sah ich ihn an.

„Warum antwortest Du mir nicht auf meine Frage?“, schrie ich Max nun fast hysterisch an. Meine letzte Hoffnung schien hier gerade den Bach herunter zu gehen und ich bekam nicht einmal eine vernünftige Antwort.

„Nein, ich bin nicht sein Großvater“, antwortete er mir leise und sein Blick wurde leer. Aber so schnell gab ich mich nicht geschlagen.

„Warum lügst Du mich an?“, schluchzte ich. Tim hatte meinen Arm gegriffen und zog mich mit sich fort.

„Warum?“ Seine herrlichen grünen Augen, die nun so schmerzerfüllt und leer in die Weite schauten, brannten sich in mein Gehirn – sie ließen meinen Verlust noch viel schmerzhafter erscheinen.

‚Raphael, wo bist Du?‘, hämmerte es in meinem Gehirn und ich sah keinen Weg mehr, meinen Kleinen zu finden. Die Mutlosigkeit übermannte mich und ich ließ mich von Tim widerstandslos führen. Dieser hatte uns mittlerweile wieder in den Zug verfrachtet.

„Jetzt weiß ich nicht mehr weiter“, gestand ich ihm leise.

„Wir werden nicht aufhören!“, sagte er entschlossen.

„Die Mauer wird immer größer und höher und ich entferne mich immer weiter von Raphael“, murmelte ich.

„Hör auf Jean“, knurrte er mich an.

„Was denkst Du, ist Max Raphaels Großvater?“, fragte ich ihn.

„Als er ‚Nein‘ sagte, schien er ehrlich zu sein“, eröffnete er mir.

„Aber seine Augen…, diese Augen sind der Wahnsinn“, flüsterte Tim vor sich hin.

„Was meinst Du?“

„In seinen Augen war Schmerz, großer Schmerz…“, antwortete er mir. Also hatte er es auch gesehen.

„Anderseits habe ich noch nie solche Augen gesehen, solch ein Grün, solch ein Strahlen“, war Tim ganz in Gedanken.

„Raphael“, hauchte ich tonlos.

„Was?“, schreckte Tim auf.

„Es sind seine Augen!“

„Wie bitte?“

„Ich hab Dir doch erzählt, dass Raphaels Augen auch grün sind“, murmelte ich.

„Ich hab sie nie gesehen. Genau so?“, fragte er neugierig. Traurig nickte ich.

„Wow.“ Seine Begeisterung ließ meinen Schmerz nur noch stärker werden.

„Und Jean, ich wiederhole mich. Wir werden jetzt nicht aufgeben und finden ihn!“

Den Abend und die Nacht verbrachte ich bei Tim. Er versuchte, mich ein wenig aufzubauen, aber so richtig wollte das nicht klappen. Svenja forderte natürlich ihr Recht, aber das Erzählen überließ ich meinem Zwilling. Die ganze Reise und die negativen Resultate hatten durchschlagenden Erfolg, ich schlief zehn Stunden am Stück durch. Munter, aber nicht gerade lebensfroh stand ich am frühen Vormittag auf und bahnte mir den Weg in die Küche.

„Morgen Jean“, begrüßte mich Tims Mutter.

„Morgen“, gähnte ich ihr entgegen.

„Du sollst nachher mal bei Klaus vorbeischauen“, eröffnete sie mir.

„Okay.“

Auf den Weg zu Klaus musste ich mich alleine machen, denn Tim war ausgeflogen. Laut seiner Mutter war er wohl mit Svenja unterwegs. In der Kanzlei musste ich nur kurz warten und saß Minuten später Klaus gegenüber. Dieser wollte natürlich auch einen ausführlichen Bericht unseres Misserfolges haben und so schilderte ich ihm unseren Besuch mit knappen Worten.

„Jean, ich hab Dich nicht deswegen hierher gebeten“, eröffnete er mir dann.

„Warum dann?“, fragte ich einsilbig. Wortlos schob mir Klaus zwei Umschläge zu. Mein Hals wurde sofort staubtrocken und ich hatte Probleme beim Schlucken. Der eine Umschlag sah amtlich aus, was wohl an dem Gerichtsstempel lag, der oben in der Ecke prangte. Seltsamerweise flößte mir der andere weiße neutrale Umschlag mehr Angst ein. Darauf konnte ich nur „Jean Neumann“ lesen, sonst nichts weiter. Zuerst öffnete ich den Umschlag vom Gericht und reichte das Schreiben fassungslos zu Klaus weiter. Schon bei den ersten Worten lief dieser rot an.

„Solch ein Blödsinn“, brach es dann aus ihm heraus.

„Das zerreiß ich in der Luft. Darauf kannst Du einen lassen!“ So wütend hatte ich ihn noch nie erlebt.

Was in dem gerichtlichen Schreiben stand? Mir wurde mit sofortiger Wirkung untersagt, mich einem Familienmitglied der Familie van Dahlen mehr als 200 Meter zu nähern.

„Noch leben wir in einem Rechtsstaat“, grummelte er weiter und schnappte sich sein Telefon. Ich hörte ihm schon gar nicht mehr richtig zu. Eigentlich war mir die Verfügung scheißegal, denn das einzige Familienmitglied, an welchem ich Interesse hatte, war unerreichbar für mich. Vielmehr hing mein Blick an dem weißen Briefumschlag und mit zittrigen Fingern nahm ich diesen an mich. Das Öffnen wollte mir nicht recht gelingen und so hielt ich bald einen zerrissenen Umschlag in der Hand, aus dem mir ein einzelnes Blatt entgegensegelte. Nervös faltete ich es auseinander. Es enthielt nur ein paar Zeilen, die all meine Träume zu Alpträumen werden ließ.

Hallo Jean!

Das mit uns war nur ein großes Missverständnis. Ich glaube, Du hast mich da in etwas hineingezogen, was ich nie gewollt habe. Es ist zu Handlungen gekommen, die mich jetzt zutiefst abstoßen. Wir sind einfach zu unterschiedlich und leben in zu verschiedenen Welten, als dass wir uns je verstehen könnten.

Somit möchte ich Dir mitteilen, dass unsere Verbindung ab sofort nicht mehr existiert und habe kein Verlangen, Dich wieder zu sehen.

Gruss

Raphael

PS: Und damit Du es in Deinem Jargon auch kapierst: Dein Kleeblatt ist beschissen und der Abend in der asiatischen Newcomer Herberge im 4. Stock in Deinem Kaff war das Letzte.

Fassungslos schaute ich auf diese Zeilen.

Patsch, fast überirdisch laut knallte ein Tropfen Wasser auf den Bogen. Kurze Zeit später folgte der nächste. Dann schnallte ich, dass meine Tränen seine letzten Zeilen an mich durchnässten.

„Jean?“, hörte ich Klaus.

„Aus“, flennte ich, warf den Brief auf den Schreibtisch und stürzte hinaus. Ich rannte scheinbar ziellos durch die Straßen. Immer wieder hämmerte es durch meinen Schädel

‚Das konnte nicht wahr sein.‘

Wie hätte ich mich so täuschen können in einem Menschen? Dann hatte ich mein Ziel erreicht und fand mich auf meinem Hügel an der Elbe wieder. Dort saß ich, hatte meine Knie umschlungen und heulte wie ein Schlosshund. Erst haben sie mir Raphael genommen und nun hat er mir meine Liebe genommen. Ich konnte es einfach nicht kapieren. Das ergab keinen Sinn!

„Jean?“, hörte ich. Meine Einsamkeit war vorbei, denn Tim hatte mich gefunden.

„Das glaubst Du doch nicht wirklich“, fragte er mich aufgebracht. Ich schaute ihn mit meinen tränenverschmierten Augen an. Tim stand vor mir und wedelte zornig mit einem Fetzen Papier.

„Es steht doch schwarz auf weiß“, schluchzte ich entmutigt.

„Jean!“, schrie mich Tim fast an. Verzweifelt legte ich meinen Kopf auf die Knie.

„Sie lügen Dich an. Hör auf, DAS zu glauben!“ Unsicher sah ich ihn wieder an. Für mich ergab es ja auch keinen Sinn, aber es waren einfach zu viele Rückschläge in letzter Zeit.

„Hast Du Dir das PS mal richtig durchgelesen?“, fragte er mich lauernd. Erfolglos versuchte ich, mir den Passus ins Gedächtnis zu rufen, aber es gelang mir nicht. Resigniert schüttelte ich den Kopf. Tim setzte sich neben mich und legte den Wisch auf meine Knie. Er hatte es so gefaltet, dass ich nur das PS lesen konnte.

Das war totaler Mist. Verwirrt sah ich ihn an.

„Außer dem Kleeblatt, sagt mir das andere absolut nix“, gestand ich ihm.

„Das dachte ich mir“, murmelte er abwesend.

„Will er Dir damit was sagen?“, fragte mein Zwilling mich. Meine Gedanken fingen an zu rotieren. Nur es war so zusammenhangslos – mir wollte einfach gar nichts dazu einfallen.

„Komm, lass uns gehen und herausbekommen, was es bedeutet!“, forderte mich Tim auf. Ich schöpfte ein wenig Mut und Hoffnung. Die nächsten Tage zerbrachen sich vier Köpfe den selbigen über dieses komische PS, nur kamen wir keinen Schritt weiter. Klaus versuchte, den Gerichtsbeschluss rückgängig zu machen, stand aber auf ziemlich verlorenen Posten. Aber da kannten sie meinen Ersatzvater schlecht. Er ließ sämtliche andere Arbeit liegen und fing an, sich in den Fall zu verbeißen. Tim, der sich mittlerweile mit seinen Eltern versöhnt hatte, grinste diabolisch, als er mir mitteilte, dass der Frankfurter Filz wohl bald mächtig Feuer fangen würde.

Nach zwei Wochen waren wir immer noch nicht weiter. Das betraf seinen blöden Brief, aber auch in der Suche gerieten wir immer weiter in die Sackgasse. Felix schien einmal eine Spur zu haben, aber auf mein Nachbohren ein paar Tage später, meinte er nur ‚Fehlschlag‘. So saß ich an einem Freitag mit Tim in unserer Küche und hing meinen trüben Gedanken nach.

„Jean, Besuch“, rief mir meine Mutter von der Tür zu.

„Svenja, wir sind in der Küche“, antwortete ich ihr. Mit meinen Fingern trommelte ich ungeduldig auf der Tischplatte und beobachtete Tim beim Kippeln. In meinem Rücken schwang die Küchentür auf und mein Zwilling fiel vor Schreck beinahe um. Fast gleichzeitig legte sich eine große schwarze Hundeschnauze auf meinen Oberschenkel.

„Hondo“, rief ich überrascht aus.

„Dominik“, keuchte Tim auf. Mein Herz wummerte mit einem Mal und blitzschnell drehte ich mich erwartungsvoll um. Das Gesicht von Dominik zerstörte meine Hoffnungen mit einem Schlag. Er sah müde, niedergeschlagen, traurig, verzweifelt – er sah einfach schlecht aus. Er angelte sich einen leeren Stuhl und ließ sich nieder.

„Hallo“, brachte er gequält heraus.

„Wo ist Raphael?“, fragte ich ihn scharf. Dominik zuckte zusammen und sah mich abwesend an.

„Sie haben ihn mir schon vor Wochen weggenommen“, murmelte er.

„Waaaaas?“, schrien Tim und ich fast gleichzeitig.

„Zwei Tage nach seinem Geburtstag war er einfach verschwunden“, flüsterte er verstört.

„Kein Wort, kein Brief, keine SMS, er ist einfach verschwunden …“, hörten wir ihn und weiter folgte dann noch „…und seitdem suche ich ihn…“.

Gedankenverloren streichelte ich Hondos Kopf. Irgendwas passte hier nicht. Ich war noch durch das Auftauchen der beiden viel zu geschockt, als das greifen zu können.

„Hier ist er wohl auch nicht“, fragte er mit einem kleinen Schimmer Hoffnung in den Augen, aber unsere Gesichter sprachen Bände.

„Verdammt“, entfuhr es ihm. Zögernd stand er wieder auf und sein Blick wanderte suchend zur Tür.

„Ich dürfte gar nicht hier sein, aber ich wollte nichts unversucht lassen.“ Diese Worte lösten irgendwie meine Denkblockade.

„Moment!“ Dominik blieb wartend stehen.

„Was heißt das ‚Ich dürfte gar nicht hier sein‘?“, fragte ich ihn.

„Du hast keine Ahnung von unser Familie und zu was sie fähig ist“, murmelte er nicht fragend, es war eher eine Feststellung.

„Ein wenig schon“, erwiderte ich scharf. Daraufhin sah mich Dominik fragend an.

„Ich habe eine Anzeige wegen verschiedener Sachen, die ich NICHT begangen habe, von DEINER Familie am Hals. Des Weiteren darf ich mich Dir eigentlich gar nicht nähern“, fuhr ich ihn an. Da die Fragezeichen in seinem Gesicht immer größer wurden, ließ sich Tim zu einer Erklärung herab, die aber auch nicht gerade zartfühlend war. Niedergeschlagen sank Dominik danach wieder auf dem Küchenstuhl zusammen.

„Ja, das passt“, bestätigte er Tims Ausführungen.

Und dann fing er an zu erzählen und breitete vor uns ein Bild des Grauens aus. Das unbestrittene Oberhaupt der Familie war seine Großmutter. Sie bestimmte über alles und das war wortwörtlich zu verstehen. Raphael und er wurden sehr hart und ohne Liebe erzogen. Der Kontakt zu den Eltern war nur sporadisch, da alles von der Großmutter kontrolliert wurde. Der Tag der beiden Brüder bestand hauptsächlich aus Lernen, damit sie für die zukünftigen Aufgaben vorbereitet seien. Dieses triste Leben schweißte die Beiden enger zusammen, als es unter Geschwistern üblich war. Dominik gab unumwunden zu, dass Raphael der Stern am van Dahlen Himmel war. Er vereinte alle Fähigkeiten, die nötig waren und noch viel mehr. Leider verwehrte ihm seine Blindheit, das zu werden, was ihm bestimmt war – ein Herrscher über ein riesiges Imperium und das ließ die Großmutter sie jeden Tag aufs Neue spüren. Aber diese Blindheit führte auch dazu, dass Raphael einen gewissen Kontakt zu den Eltern, vor allem zu seiner Mutter aufrechterhalten konnte. Und somit wurden seine Eltern und Dominik zu Bewahrern seines großen Geheimnisses. Außer den Dreien wusste keiner in der Familie, dass Raphael schwul war. Aus all den Worten war herauszuhören, wie abgöttisch Dominik seinen kleinen Bruder liebte und wie schwer ihn nun dieser Verlust traf.

„Meine Großmutter hat mir unter Androhung von Enterbung und Verstoßung aus der Familie verboten, jemals wieder mit solchem Abschaum wie Dir Kontakt aufzunehmen oder sogar nach Raphael zu suchen. Ich habe gebettelt, geweint, habe versucht, unsere Eltern zu erreichen, aber nichts habe ich rausbekommen. Mir ist der Großteil meiner Familie scheißegal, ich will meinen Bruder wieder“, schloss Dominik seinen Vortrag.

„Er ist mein Leben“, flüsterte er ganz zum Schluss sehr leise. Mir war bei der Schilderung hundeelend geworden. Wie hatte es Raphael nur geschafft, in dieser Umgebung so feinfühlig zu bleiben? Wie war er in der Lage gewesen, sein wahres Ich nicht zu verleugnen? Viele Andeutungen aus seinen Mails ergaben jetzt erst richtig einen Sinn. Und ich sah Dominik nun mit anderen Augen. Er war nicht mehr der unsympathische Kerl, der mir unnütz mein Liebesleben erschwerte. Nein, er war der Beschützer meines Kleinen und zur Zeit verdammt unglücklich.

„Verdammt, wenn Du nicht mal eine Ahnung hast, wo Raphael stecken könnte, wie sollen wir ihn da je finden“, entfuhr es Tim genervt. Dominik sah uns erstaunt an und auf eine abwehrenden Geste von mir hin, fing Tim an, ihm unsere Odyssee zu erzählen. Seltsamerweise ließ er die Geschichte mit Maximilian weg.

„Das hast Du für meinen kleinen Bruder alles getan?“, wollte Dominik noch einmal wissen.

„Ich würde noch ganz andere Sachen machen, um ihn endlich wieder in meine Arme schließen zu können“, antwortete ich ihm mit fester Stimme.

„Tim, kann ich mir Deinen Zwilling mal ausleihen?“, kam auf einmal eine total unerwartete Frage von ihm.

„He?“, war die nicht so geistreiche Erwiderung von uns beiden.

„Na ja, das war so ein wenig die verklausulierte Aufforderung, dass ich mich mal gerne alleine mit Jean unterhalten würde“, schob er mit einem verlegenen Lächeln eine Erklärung hinterher.

„Klar“, kam Tims Antwort.

„Jean?“, wandte sich Dominik fragend an mich. Unschlüssig zuckte ich mit den Schultern. Ich hatte keine Ahnung, was das nun sollte.

„Wollen wir ein wenig spazieren gehen?“, schlug Dominik vor.

„Okay“, stimmte ich zu und schnappte mir die Leine von Hondo. Dieser trottete folgsam hinter mir her und Sekunden später schlenderten wir den Gehweg entlang.

„Komisch“, hörte ich Dominik neben mir und sah ihn irritiert den Kopf schütteln.

„Was denn?“, fragte ich neugierig.

„Hondo folgt Dir anstandslos“

„Ja und?“

„Seitdem Raphael weg ist, hatte ich sehr große Probleme mit ihm. Er fraß kaum was, war meistens sehr aufsässig. Aber ich habe das alles hingenommen, denn er ist meine einzige verbliebene Verbindung zu meinem Bruder.“ Darauf wusste ich nichts zu erwidern. Schweigend gingen wir weiter.

„Jean, ich muss mich bei Dir entschuldigen“, fing Dominik wieder leise an. Verwundert schaute ich zu ihm rüber, denn mit so etwas hatte ich nicht gerechnet.

„Von Anfang an hab ich Dir Steine in den Weg gelegt und Dir das Leben schwer gemacht. Du hast Dich so einfach in das Leben meines Bruders geschlichen und ich war…“, hier zögerte er leicht „…nein ich bin sehr eifersüchtig auf Dich. Auf einmal gab es nicht nur mich in seinem Leben, nein er redete fast nur noch von Jean.“ Mir fehlten einfach die Worte, um irgendetwas sinnvolles darauf zu antworten.

„Okay, ich hätte Dich ja schlecht machen können, denn immerhin war ich auf dem ersten Treffen und musste ihm ja Dein Aussehen beschreiben. Aber ich habe Raphael noch nie angelogen, denn meine Ehrlichkeit ihm gegenüber war mein kostbarstes Gut. Wie Du wohl auch so langsam mitbekommen hast, liebe ich meinen Bruder abgöttisch und würde für sein Glück alles tun. Deshalb habe ich gerade noch rechtzeitig verstanden, was Du ihm bedeutest und musste mit ansehen, wie schlecht es ihm ging, als es mit Euch auf der Kippe gestanden hat.“

„Bitte verzeih mir“, flüsterte er heiser nach einem kurzen Schweigen.

„Dominik, da gibt es nicht viel zu verzeihen. Ich habe Dich vom ersten Tag an nicht gemocht“, gestand ich ihm aufrichtig. Er verzog gequält das Gesicht.

„Du hast Dich von Anfang an zwischen uns gestellt, warst unhöflich, aber…“ hier machte ich nun eine kleine Pause „…Du hast mir meinen Raphael gebracht, als es fast vorbei war. Du hast eigentlich unsere Liebe gerettet, deshalb habe ich Dir nichts zu verzeihen, eher müsste ich Dich um Entschuldigung bitten“, gab ich aufrichtig zu.

„Lass es uns vergessen und von vorn anfangen“, schlug Dominik mir vor.

„Gerne“, antwortete ich ihm und schlug in die dargebotene Hand ein.

„Wo könnte Raphael nur sein?“, murmelte ich dann wieder niedergeschlagen.

„Wenn ich das nur wüsste!“

„Und der bescheuerte Brief machte auch kein Sinn“, fuhr ich leise in Gedanken versunken fort.

„Was für ein Brief?“, hörte ich Dominik fragen.

„Na der Brief von Deinem Bruder“, kam meine Antwort.

„Du hast Post von ihm bekommen“, klang seine Stimme alarmierend. Verwundert sah ich ihn an und da fiel mir ein, dass Tim auch davon nicht berichtet hatte.

„Komm mit“, murmelte ich und lief mit ihm zurück nach Hause. Minuten später hockten wir zu dritt in der Küche und Dominik las wieder und wieder die Zeilen.

„Hm.“

Na, das war ja eine umfassende Erklärung, fand ich und rutschte wie auf Kohlen auf meinem Stuhl hin und her.

„Los, sag schon“, platzte es aus mir raus.

„Also, der erste Teil ist definitiv von unserer Großmutter. Das ist genau der Ton, den sie so virtuos beherrscht. Aber das PS…“, angestrengt runzelte er die Stirn.

„Das ist nicht von ihr, aber das ist auch nicht die Sprache von Raph. Das passt einfach nicht, außerdem geben die Worte gar keinen Sinn“

„Wie meinst Du das?“, fragte ich ihn.

„Das Kleeblatt von Dir war sein Heiligtum. Er nahm es nie ab und oft sah ich ihn in Gedanken versunken einfach die Finger um das Amulett geschlungen“, offenbarte er uns. Diese Worte ließen mich schlucken.

„Und das zweite ist genauso widersprüchlich. Raph hasst asiatisches Essen und fast kommt mir das wie eine Aufzählung vor“, murmelte er weiter. Fragend sah er mich an.

„Könnte das ein Code sein?“

„Das haben wir auch schon vermutet, aber leider sind wir noch nicht dahinter gestiegen“, gestand ich ihm. Meine Stimme hatte jedoch einen sehr zittrigen Klang, denn die Überlegungen von Dominik hatten mich stark berührt. Dieser legte das jedoch falsch aus.

„Jean, vergiss den Brief. Das ist schlichtweg erstunken und erlogen. Mein Bruder hat Dich wahnsinnig geliebt und würde Dir nie so was schreiben.“

„Yes“, hörte ich Tim und dieser grinste mich triumphierend an.

„Irgend einen Anteil muss er ja daran haben“, warf ich traurig ein.

„Mein Bruder denkt manchmal ziemlich komplex und verschlungen. Habt Ihr Euch irgendein Erkennungszeichen oder so ausgedacht?“, bohrte Dominik weiter.

„Nein“, murmelte ich.

„Verdammt Jean, da muss aber irgendetwas sein. So einen Blödsinn schreibt Raphael sonst nicht“, fuhr Dominik auf. Sein Ton gefiel mir nicht. Alles in mir begehrte dagegen auf.

„Glaubst Du denn, ich zerbreche mir nicht schon seit Tagen den Kopf, was er damit sagen will“, antwortete ich ihm sauer.

„Jean, Dominik hat es…“, versuchte mein Zwilling mich wieder zu beruhigen.

„Nein, lasst mich doch einfach zufrieden. Habt Ihr überhaupt eine Ahnung, wie viel Zeit ich mit meinem Kleinen alleine hatte? Null! Habt Ihr verstanden – einfach NULL! Immer waren irgendwelche Leute um uns rum, erst hier bei mir zu Hause…“, redete ich mich nun so richtig in Rage und starrte dabei Tim zornig an „…dann auf seinem Geburtstag. Und als wir dann endlich mal zwei Minuten für uns hatten, hat man ihn mir weggenommen. Wir hatten doch gar keine Zeit, Geheimnisse auszutauschen…“ Beide waren sie still geworden.

„…wir hatten ja nicht mal Zeit, uns richtig kennenzulernen…“, übermannte mich meine Verzweiflung.

„…und was ist mir außer diesem Blatt Papier denn von Raphael geblieben?“

„Nichts!“ Ich konnte es nicht mehr hören, ich wollte keinen sehen und so stürzte ich aus der Küche. Im Flur rannte ich fast Svenja um.

„Jean?“

„Lass mich“, fauchte ich sie an und stürmte aus dem Haus. Mir war auch klar, dass dieses verdammte PS irgendetwas bedeutete, nur was? Diese endlose Suche und das intensive Grübeln raubten mir den letzten Nerv und wirklich näher kam ich Raphael nicht. Ich brauchte seine letzten Zeilen an mich nicht mehr zu lesen, denn die paar Sätze hatten sich in meinem Gehirn festgebrannt.

‚PS: Und damit Du es in Deinem Jargon auch kapierst: Dein Kleeblatt ist beschissen und der Abend in der asiatischen Newcomer Herberge im 4. Stock in Deinem Kaff war das Letzte.‘

Wir hatten in Magdeburg keine asiatische Herberge, erst recht keine Neue, wenn Newcomer neu heißen sollte. Aus dem Augenwinkel nahm ich eine Litfasssäule wahr. Mein Blick huschte nur kurz über die Fülle von farbenfrohen Plakaten und blieb einen Augenblick an dem Größten hängen. Ein paar Schritte weiter wurde mir schwindlig, ein fast überirdischer Geistesblitz erhellte mein trübes Hirn. Ungläubig sah ich zurück.

‚Sollte es sooo einfach sein?‘ Benommen starrte ich das Plakat an. Meine Beine übernahmen automatisch ihren Dienst und führten mich in einen Mediamarkt um die Ecke. In fliehender Hast glitten meine Finger über die verschiedenen Musik-CDs, ich konnte das Gesuchte nicht finden. Hilfe suchend sah ich mich um, bis mein Blick auf die Charts fiel. Mit zittrigen Fingern griff ich mir das gesuchte und ging zu einem CD Player. Den ersten Song kannte ich, aber der Text ergab zu meinem Erlebten keinen Sinn. Vor meinen geistigen Augen tauchte die Zahl 4 auf – mit den entsprechenden Tasten spulte ich auf den 4. Song vor. Leise erklang aus dem Kopfhörer:

Zum ersten Mal alleine

in unserem Versteck.

Auch diese Sätze hatten keinen Sinn. Weiter ging es

Ich seh' noch unsere

Namen an der Wand

und wisch' sie wieder weg.

Verdammt, sollte das wieder nur eine Sackgasse sein? Und dann passierte es!

Ich wollt' dir alles anvertrau'n,

warum bist du abgehau'n?

Komm zurück, nimm mich mit.

Dies passte nun sehr wohl auf unsere Situation und die nächsten Zeilen machten mich wahnsinnig.

Komm' und rette mich,

ich verbrenne innerlich.

Komm' und rette mich,

ich schaff's nich' ohne dich.

Der Hilfeschrei meines Lieblings traf mich bis ins Mark, meine Tränen ergossen sich nur so aus meinen Augen und ich sog das Lied in mich auf. Wie unter Schock nahm ich die CD und bezahlte sie an der Kasse, der letzte Satz des Liedes hallte in mir nach

komm und rette mich, ich schaff's nich' ohne dich rette mich rette mich.

(*„Rette mich“ von Tokio Hotel, auszugsweise)

Raphael war irgendwo da draußen und wartete auf mich! Total aufgelöst betrat ich eine halbe Stunde später wieder unsere Küche, die nun gut gefüllt war. Tim zog scharf die Luft ein, als er mich sah. Abwehrend hob ich meine Hände, bevor sie mich mit Fragen bestürmen konnten. Fast mechanisch legte ich die CD in den Player und spielte ihnen den Song vor. Dabei setzte ich mich ganz alleine in eine Ecke, Hondo kam zu mir und legte seinen Kopf in meinen Schoß. Gedankenverloren streichelte ich sein weiches Fell und gab mich nochmals diesem Lied hin. Wieder konnte ich meine Tränen nicht zurückhalten, die Botschaft, die dieser Song enthielt war einfach zu überwältigend.

„Scheiße“, war dann auch die Reaktion von Tim, der wohl am schnellsten erkannte, um was es hier ging.

„Das war es also, was er wollte“, murmelte Dominik niedergeschlagen.

„Entschuldigt mich, ich möchte gern alleine sein“, flüsterte ich heiser. Die CD nahm ich jedoch mit und auch Hondo folgte mir auf den Fersen. Das Lied lief den ganzen Abend in einer Endlosschleife und ich ergab mich den wenigen Erinnerungen, die ich an Raphael hatte. Das schwarze Ungetüm neben mir auf meinem Bett war schon lange kein Angstfaktor mehr, eher wurde es an diesem Abend ein seelischer Rettungsanker.

‚Verdammt, Raphael – wo bist Du?‘, mit diesen Gedanken schlief ich dann endlich am frühen Morgen ein.

„Komm Schlafmütze, raus aus den Federn“, holte mich nur ein paar Augenblicke später Tims Stimme zurück in die traurige Gegenwart. Mühsam öffnete ich meine Augen und sah einen fröhlichen Tim vor meinem Bett stehen. Die Sonne schien hell in das Zimmer.

„Verschon mich mit Deinem Glück“, murmelte ich müde.

„Lass Dich nicht gehen. Jetzt ist Dominik da und irgendeinen Weg zu Deinem Schatz werden wir zusammen finden“, kam es von ihm leise aber bestimmt.

„Oh, Dominik“, entfuhr es mir und mir wurde bewusst, dass ich diesen ja total vergessen hatte.

„Wo…“, fing ich zögernd an.

„Ich hab ihn erst einmal bei uns untergebracht. Eigentlich wollte er ja wieder aufbrechen, aber ich habe ihm klar gemacht, dass nur eine gemeinsame Suche erfolgreich sein könnte“, führte er mal wieder meine Gedanken fort.

„Danke“, murmelte ich.

„Kaffee steht unten in der Küche“, erklärte er mir und wandte sich zum Gehen. Als er sah, dass ich mich wieder resigniert in mein Kissen sinken lassen wollte, umspielte ein fieses Grinsen seinen Mund und er flötete mir noch ein:

„Ich geb' Dir fünf Minuten“ Und schwupps war er verschwunden. So quälte ich mich mehr schlecht als recht ins Bad, um mit ein wenig kaltem Wasser ein paar Lebensgeister zu erwecken. Hondo war auch nicht mehr in meinem Zimmer, wahrscheinlich hatten sich meine Eltern um ihn gekümmert. Als Antwort kam er mir schwanzwedelnd entgegen, als ich die Treppe zur Küche hinunterstiefelte. Neben dem Kaffee und Tim fand ich auch Dominik in der Küche vor. Ihre Stimmung passte nicht ganz zu meinem Seelenleben, denn sie waren lustig und strahlten einen gewissen Tatendrang aus. Schweigend nahm ich mir einen Kaffee und schlürfte mürrisch an dem heißen Getränk.

„Jean, Du hast mich gestern unbewusst auf eine Idee gebracht, etwas was ich Dir gerne geben würde“, wandte sich Dominik an mich.

„Hm“, war meine einsilbige Antwort, aber mehr wollte ich auch nicht von mir geben.

„Hier, das ist von mir für Dich und auch als kleines Wiedergutmachungsgeschenk zu sehen“, murmelte er. Ich verdrehte ein wenig die Augen.

„Das hatten wir doch gestern schon, Du bist mir nichts schuldig“, grummelte ich.

„Papperlapapp, quatsch nicht, nimm es einfach“, war seine Antwort und er schob mir ein kleines Päckchen herüber. Meine Neugierde gewann dann doch die Oberhand und ich öffnete das Geschenk. Mir schien aus dem Geschenkpapier der Rücken eines Bilderrahmens entgegen. Mit einem großen Klos im Hals drehte ich den Rahmen um und mir lächelte mein Kleiner entgegen. Mit zittriger Stimme hauchte ich ein „Danke“ zu Dominik ohne meine Augen von dem Bild zu lösen. Das Porträt von Raphael war einfach der Wahnsinn. Seine kurzen schwarzen Haare standen wirr vom Kopf ab, als wäre er gerade aus dem Bett gefallen. Keine Brille verdeckte seine Augen und so strahlten sie mir in einem satten, fröhlichen Grün entgegen. Sein Mund war zu einem frechen Lachen verzogen, und die Stupsnase etwas kraus gezogen. Das Bild kam so natürlich, so plastisch herüber, dass ich am liebsten meine Lippen auf seine gedrückt hätte.

„Es ist eine meiner schönsten Erinnerungen an meinen Bruder“, murmelte Dominik bewegt.

„Es ist unglaublich“, flüsterte ich heiser.

„Mein Hobby ist das Fotografieren und bevorzugtes Objekt ist mein kleiner Bruder. Du weißt ja, dass er nicht unbedingt hässlich ist“, erklärte Dominik mir mit einem kleinen Lächeln.

„Leider kann er meinem Hobby nicht viel abgewinnen und lässt sich nicht so gerne knipsen. Das ist auch verständlich, weil er die Resultate ja nicht sehen kann. Aber ab und an gelingt mir doch ein Schnappschuss von ihm. Das hier ist ein paar Tage vor seinem 18. Geburtstag entstanden, also ziemlich aktuell. Tim hat mir, nach hartnäckigen Nachfragen von mir gestern, gebeichtet, dass Du nicht einmal ein Bild von Raphael hast.“

Ich konnte meine Augen nicht von dem Bild lösen und saugte jede noch so kleine Einzelheit auf. Seine kleinen Grübchen in den Wangen, welche auf sein Lachen zurückzuführen waren. Eine kleine, fast unsichtbare Narbe, die seine linke Augenbraue teilte, sah ich genauso, wie die Andeutung von ein paar Spuren von Sommersprossen auf seiner Nase. Raphael zeigte sich hier in einer Art und Weise, wie ich ihn bisher kaum erleben durfte. Diesen Boy musste man einfach lieben.

„Du kannst gar nicht erahnen, was mir das hier bedeutet“, murmelte ich bewegt. Meine Finger strichen dabei leicht über Raphaels Gesicht.

„Sag mal Dominik, was kannst Du eigentlich über Deine Geschichte beziehungsweise über Eure Familienmitglieder erzählen?“, hörte ich Tim fragen. Irgendwie wusste ich mal wieder sofort, worauf er anspielte.

„Leider nicht so viel“, gab Dominik zu. Wir sahen ihn erstaunt an, denn das passte nun nicht zu der Aussage von gestern, dass sie von morgens bis abends auf ihr zukünftiges Leben vorbereitet wurden.

„Das hat zwei Gründe. Zum einen habe ich kein sehr gutes Namens- und Personengedächtnis, und…“, hier brach er ab und sah uns verlegen an.

„Ja?“, hakte Tim nach.

„Ich hatte heute morgen einen sehr unschönen Telefonanruf“, druckste er herum.

„Der betraf mich?“, mutmaßte ich.

„Ja, ich solle sofort jeden Kontakt mit Dir abbrechen, wenn ich Raph noch einmal wieder sehen möchte“, flüsterte er heiser.

„Und nun ziehen wir wieder alle den Schwanz ein und fügen uns“, kam es ätzend von mir. Dominik fuhr auf und sah mich zornig an.

„Ich weiß auch nicht, was ich machen soll. Schau Dir das Bild doch an, dass ist MEIN BRUDER und der ist ein verdammt wichtiger Bestandteil in meinem Leben. Ich vermisse ihn fürchterlich und möchte mir gar nicht ausmalen, wie es ihm geht. In einer fremden Umgebung, ohne seine Familie, ohne seinen Hund – er ist wahrlich nicht hilflos und ein sehr helles Köpfchen, aber…“, schrie er mich fast an, um dann zum Schluss verzweifelt abzubrechen.

„Ihr seid meine beste Option, denn Ihr seid die einzigen, die nach ihm suchen. Deshalb bin ich geblieben und habe Euch einiges von unserer Familie erzählt, eigentlich mehr als es gut tut. Nun war die Drohung heute Morgen von Seiten meiner Familie unmissverständlich.“

„Verdammt, ich weiß wirklich nicht, wie das weitergehen soll“, stieß Dominik verzweifelt aus.

„Vielleicht kenne ich einen Weg“, hörten wir auf einmal eine tiefe Stimme von der Tür. Unsere Köpfe flogen herum.

„Herr Konsul“, stieß ich überrascht hervor. Dahinter konnte ich meinen Vater sehen, der wohl den neuen Besucher in Empfang genommen hatte.

„Ich glaube, Ihr solltet Euch an Friedrich gewöhnen“, lächelte er uns entgegen.

„Wer sind Sie?“, hörte ich Dominik verwundert fragen.

„Nein Jean, lass uns nicht alles zweimal machen“, unterbrach der Konsul mich, da ich gerade zu einer Erklärung angesetzt hatte.

„Habt Ihr Lust, mich alle mal für ein paar Stunden zu begleiten?“, fragte er spitzbübisch in die Runde. Da von meinem Vater kein Einwand kam, schien das ja schon von der Seite geklärt zu sein.

„Wenn es mich meinem Bruder näher bringt“, hörte ich Dominik sehr leise murmeln.

„Oh, ich glaub schon“, antwortete Friedrich und widerlegte nun alle Annahmen, dass er schwerhörig wäre. Er wandte sich an Tim und überraschte uns mit der nächsten Ankündigung.

„Könntest Du Deine Freundin anrufen und sie fragen, ob Sie und Ihr Bruder uns nicht auch begleiten wollen. Und falls ja, sage Ihr einfach, Ihr Bruder solle alles mitbringen!“

Ich verstand nur böhmische Dörfer, aber Tim hatte schon sein Handy gezückt und Sekunden später war alles übermittelt. Fast genauso schnell klingelte es bei uns an der Tür und beide standen davor. Felix war mit einer großen Tasche bewaffnet und grinste in sich hinein. Diese Geheimniskrämerei ging mir echt auf den Keks und so langsam wurde ich wütend. Der Konsul, der kaum ein Auge von mir ließ, bemerkte das sehr wohl.

„Jean, bitte versprich mir jetzt eins. Höre die nächsten zwei bis drei Stunden nur zu und fälle danach Deine Entscheidung. Du wirst einiges zu hören bekommen und auch verkraften müssen, aber bitte lass dem keine Kurzschlusshandlung folgen“, wandte er sich sehr ernst an mich. Neugierig, aber auch ziemlich nervös geworden, gab ich wortlos nickend mein Einverständnis.

Draußen stand ein Van mit ausreichend Platz für alle. Der Konsul hatte noch zwei Herren in seiner Begleitung, die auf der Stirn ein regelrechtes „Bodyguard“ tätowiert hatten. Die Fahrt brachte uns ein kleines Stück aus Magdeburg heraus und der Van bog dann in eine Auffahrt eines herrschaftlichen Landhauses ein. Kaum waren wir ausgestiegen, lotste uns der Konsul durch das Haus zu einer großen Terrasse. In der Tür blieb ich so abrupt stehen, dass Tim ungebremst in mich hineinknallte. Im schattigen Bereich der Terrasse stand jemand, den ich sehr wohl kannte.

„Du kämpfst wirklich wie ein Löwe?“, wandte sich der Senator mit ernster Stimme an mich und an Dominik gerichtet, meinte er:

„Und weißt Du, wer ich bin?“

„Herr Senator“, brach Tim mit seinem Ausruf die Erstarrung, die sich meiner bemächtigt hatte.

„Was sollen wir hier? Mit Lügnern will ich nichts zu tun haben!“, brach es aus mir heraus.

„Moment!“, unterbrach mich Dominik.

„Ich kann Sie nicht richtig einordnen, aber die Ähnlichkeit ist zu frappierend und irgendwo klingelt es ganz hinten bei mir im Hirn“, fuhr er einen Augenblick später fort.

„Jean, nur zuhören“, hörte ich den Konsul leise hinter mir. Der Senator lächelte uns unverbindlich zu und führte uns zu unseren Plätzen. Er wirkte etwas gebeugt, so als wenn ihn eine Last hinunterdrücken würde, aber trotzdem voller Elan.

„In Ordnung. Mikael bringen Sie unseren Gästen eine kleine Erfrischung zum Trinken.“ Der Angesprochene trat aus dem Schatten, um unsere Wünsche aufzunehmen, aber das Erscheinen ließ mich dann wieder aufstöhnen.

„Mikael, was machst Du hier“, hörte ich Dominik scharf fragen. Sein Gesicht wurde abweisend, fast feindselig. Vor uns stand der Hundeführer von ihrem Anwesen, welcher mich mit seinen beiden Vierbeinern hopsgenommen hatte.

„Bitte, lasst uns für diesen Tag alle Vorurteile vergessen und einfach nur reden und zuhören. Mikael ist ein äußerst loyaler Mitarbeiter von mir, aber dazu kommen wir später“, ließ Maximilian von sich hören und die Autorität, mit der er dies vortrug, ließ eine Macht erkennen, die er mal gewohnt war, einzusetzen. Schweigend warteten wir, bis jeder sein Gewünschtes hatte.

„So, junger Mann, nun erleuchten Sie uns mal“, wandte sich Maximilan auf einmal an Felix.

„Nennen Sie mich bitte Felix“, murmelte er verlegen.

„Okay, wenn Du zu mir Max sagst“, lächelte dieser ihm aufmunternd zu. Felix öffnete seine Tasche und holte einen dicken Umschlag heraus. Nervös sah er mich an und nahm dann die Unterlagen mit zittrigen Fingern aus dem Umschlag.

‚Was wurde hier gespielt?‘ Unruhig kaute ich auf meiner Unterlippe.

„Jean, ich hatte vor etwa 14 Tagen etwas herausgefunden. Es war nur eine kleine Spur, aber sie entwickelte sich. Dann sind vor gut einer Woche Leute elektronisch an mich herangetreten. Ich nehme an, das waren Sie, ääähm, Du?“, fing Felix an zu erklären. Mir ging nur eins im Kopf herum.

„Wo ist Raphael?“, fuhr ich ihn scharf an. Felix hob abwehrend seine Hände.

„Nein, nein, so ist das nicht. Ich hatte was aus der Vergangenheit ausgegraben“, verteidigte Felix sich.

„Es waren diverse Zeitungsartikel und dieses Foto hier, welche mich stutzig werden ließen“, erklärte er weiter und schob ein Foto über den Tisch. Ich zog scharf die Luft ein. Aber von jemand ganz anderen kam ein viel deutlichere Reaktion.

„Grandpa“, entfuhr es Dominik geschockt. Es war keins der üblichen grobkörnigen Tagesblätterfotos, nein es schien aus einer Illustrierten zu sein. Uns lächelte ein sehr attraktiver Mann entgegen. Nur was mich so aus der Fassung brachte, war die unheimliche Ähnlichkeit mit Raphael – so würde mein Kleiner bestimmt später mal aussehen.

„Ja, das war mein Sohn“, hörten wir jemand sehr traurig sagen.

„Wie?“, entfuhr es Dominik.

„Was?“, kam es von mir.

„Jonathan Raphael van Dahlen“, erklärte uns Maximilian.

Dann bist Du mein…“

„Urgroßvater, ja mein Junge“, setzte der Senator den Satz fort. Wir anderen waren mucksmäuschenstill geworden.

„Du bist also das Oberhaupt unser kranken Familie“, spie Dominik angewidert aus. Max zuckte zurück.

„Schon lange nicht mehr, mein Urenkel“, murmelte er dann niedergeschlagen.

„Fahr fort“, forderte Max Felix mit einer müden Handbewegung auf.

„Nun ja, dieses Foto habe ich mit viel Glück in einem Managermagazin drüben aus den Staaten gefunden. Überschrift ‚Reich, erfolgreich, unbekannt?‘ Aufmerksam bin ich nur geworden, weil dieser Name van Dahlen in dem Jahr gleich zweimal in diesem renommierten Blatt auftauchte. Der zweite Artikel war ein …“, Felix brach in seiner Erklärung ab.

„Nur weiter junger Mann, diese Familie ist so geheimnisvoll, da müssen wir ja irgendwo anfangen, um ein wenig Licht ins Dunkel zu bringen.“

„Ähm, das zweite war ein Nachruf auf eben diesen Jonathan van Dahlen. Die deutschen Zeitungen hielten sich ziemlich bedeckt, aber in ein paar englischen und auch schwedischen Zeitungen konnte ich von einem tödlichen Verkehrunfall lesen. Dabei kam …“

„Raphael“, stieß Dominik gepresst hervor. Verwundert sahen wir ihn an.

„Mein Bruder hat sein Augenlicht bei einem Autounfall verloren“, murmelte er zerstreut.

„Waaas?“, entfuhr es mir nun entsetzt.

„Ja, einer der schwärzesten Tage in unserer Familiengeschichte. Die aufstrebende Gegenwart und die verheißungsvolle Zukunft wurden in ein und demselben Augenblick zerstört“, sagte Maximilian und der Schmerz in seiner Stimme war für jeden greifbar.

„Danke Felix für Deine Mühen und Deine Hartnäckigkeit. Ohne diesen kleinen Wirbelwind hier“, übernahm der Senator nun die Gesprächsführung und sah mich dabei unergründlich an, „hätte ich wohl mein zugegebenermaßen luxuriöses aber über alle Maßen langweiliges Leben weitergeführt. Ich hatte mich meinem Schicksal gefügt… eigentlich schon seit seinem Tod…“, wurde Maximilian immer leiser, um zum Schluss in Gedanken versunken ganz zu verstummen.

„Max, Du weißt, das es nicht ganz so ist. Du hast nie aufgegeben, aber die Umstände waren einfach zu schlecht“, hörte ich den Konsul energisch sagen.

„Ach Friedrich, ich hätte viel früher handeln müssen“, führte Max das Zwiegespräch fort und unsere Köpfe pendelten zwischen den beiden Gesprächspartnern hin und her.

„Hör auf, sofort“, entfuhr es dem Konsul scharf.

„Du hast das, was möglich war, getan und außerdem ist es Vergangenheit – gib der Zukunft eine Chance“, redete er dem Senator weiter ins Gewissen. Dessen Blick wanderte über uns, blieb eine Weile bei Dominik hängen und verweilte dann versonnen bei mir.

„Okay“, hörten wir ihn dann sagen und seine ganze Gestalt hatte sich gestrafft und seine Stimme strahlte auf einmal ein Selbstbewusstsein aus, das diese Person in einem ganz anderen Licht erscheinen ließ.

„Jetzt werde ich Euch ein wenig mit Familiengeschichte langweilen müssen, aber das ist wichtig, um ein kleinen Einblick in die verworrene Familienwelt der van Dahlen zu bekommen. Unsere Familie ist eine uralte Kaufmanns- und Seefahrerfamilie aus den Anfangszeiten der Hanse. Die Wurzeln mögen im skandinavischen Raum zu suchen sein, aber so endgültig konnte ich das nicht klären. Auf jeden Fall war unser Ausgangspunkt im 16. Jahrhundert Hamburg und bis in die späten 60er Jahre des 20. Jahrhunderts residierten wir auch da. Ich habe dann die Anfänge in Frankfurt gesetzt, die aus geschäftlichen aber auch gesellschaftlichen Überlegungen resultierten. Mein Titel Senator trage ich nicht ganz zu unrecht, denn ich war einer dieser Herren in Hamburg, lang ist es her. Nach dem 2. Weltkrieg, der unseren geschäftlichen Verbindungen sehr geschadet hatte, habe ich versucht, wieder an unsere erfolgreiche Zeit vor allem im 19. Jahrhundert anzuknüpfen. Durch die allgemeine Aufbruchstimmung ist mir das auch teilweise gelungen …“

„Pff, alter Pessimist“, grummelte der Konsul, griente dabei aber wie ein Honigkuchenpferd.

„Ach, bevor ich das vergesse, dieser Herr Konsuuul trägt die Bezeichnung auch zu recht, ist also ein Berufspolitiker und man sollte ihm kein Wort glauben!“, kam die Retourkutsche von Maximilian und der Konsul verdrehte nur genervt die Augen. Dieser kleine Schlagabtausch lockerte die Anspannung etwas und neugierig folgten wir den weiteren Worten.

„Wo war ich? Ach ja, also wir partizipierten auch an dem allgemeinen Aufschwung Deutschlands, sogar soweit, dass man mir politische Ämter antrug, die ich auch zwei Amtsperioden ausübte. Leider konnte ich unser Kerngeschäft ‚Reederei‘ nie wieder zu der Blüte erheben, welche sie mal eingenommen hatte. Wir machten unser Geld, um es mal umgangssprachlich auszudrücken, in Rohstoffen und Handel. Wie schon angedeutet, verlagerte ich den Hauptwohnsitz von Hamburg nach Frankfurt, was damals zu viel bösem Blut geführt hat. Wir waren schon immer eine Familie, die es nicht so sehr an die Öffentlichkeit gedrängt hat, aber die Reaktionen genau dieser zu meinem wohlüberlegten Schritt waren so unter der Gürtellinie, dass wir uns noch mehr zurückzogen. Somit, lieber Felix, ist es kein Wunder, dass Deine Recherchen nicht soviel gebracht haben. Mein Entschluss war in die Zukunft gerichtet, denn es zeichnete sich ab, dass das zukünftige Geld im Aktienmarkt lag und mein Sohn entpuppte sich als ein Naturtalent für dieses Geschäft. Auch wenn wir oft aneinander geraten waren und uns über Kleinigkeiten stritten, liebte ich ihn sehr und war mächtig stolz auf sein Handeln und Auftreten. Leider habe ich ihm das nie in dieser Deutlichkeit gesagt und dann nahm mir ein Ereignis, das die ganze Familie van Dahlen schockte und an den Rand des Abgrundes brachte, die Chance dazu. Ich hatte die Leitung der Familie und der geschäftlichen Aktivitäten erst vor ein paar Jahren in seine Hände gelegt, wo beides hervorragend aufgehoben war. Hierzu muss ich noch kurz was erklären.“, sagte Maximilian und fuhr dann mit ruhiger, fast emotionsloser Stimme fort:

“Aus so einer langen Familiengeschichte entwickelten sich zum Beispiel auch ein paar Traditionen. Eine der wichtigsten war und ist die Erbfolge in der Familie. Durch sogenanntes Gewohnheitsrecht ist es praktisch Fakt, dass das Familienoberhaupt und somit auch die Leitung aller geschäftlicher Aktivitäten in der Hand eines männlichen Nachkommens liegt“, schloss der Senator seinen Vortrag und ließ dabei eine Bombe platzen – nur, dass uns die Auswirkungen dieser noch gar nicht so bewusst waren.

Unsere Svenja lief auch prompt etwas rosa an und brubbelte was von „Gleichberechtigung“. Ich war in Gedanken versunken. Mich beeindruckte die Familiengeschichte sehr, denn ich war ja ein Fan von historischen Romanen. Mein Kleiner war also der Spross eines uralten Hanseclans, das flößte mir dann doch etwas Respekt ein. Aber an dieser ganzen Geschichte passte irgendetwas nicht. Mir lag es quasi auf der Zunge, nur ausspucken konnte ich es nicht. Den Finger in diese Wunde legte jemand ganz anderes.

„Also bist Du doch dieses obskure Oberhaupt“, kam es angeekelt von Dominik. Die Reaktion von Maximilian passte nun gar nicht, er lächelte.

„Nein, rückwärts funktioniert das nicht mehr.“

„Aber …“, fing Dominik auf einmal an zu stottern.

„Interessant, nicht wahr?“, kam die Antwort auf die unausgesprochene Frage Dominiks. So wirklich folgen konnte ich dem Zwiegespräch nicht mehr. Nach den Mienen von Svenja, Tim und Felix zu schließen, war ich da nicht ganz alleine.

„Dann stimmt was nicht“, flüsterte Dominik leise und ziemlich geschockt.

„Das kannst Du laut sagen“, knurrte Maximilian und seine Augen blitzten angriffslustig auf.

„Hallo?“, streute ich mal in die Runde, um sie wieder auf uns aufmerksam zu machen.

„Weißt Du Jean, die lautlose Verständigung zwischen Tim und Dir, die Ihr Beide so virtuos beherrscht, können wir in der eigenen Familie auch ganz gut“, grinste mich der Senator spöttisch an. Etwas ernster fuhr er dann fort.

„Meinem Urenkel ist gerade die Unstimmigkeit aus unserer Tradition und der praktizierten Wirklichkeit aufgefallen, denn das derzeitige Oberhaupt ist Frau Elisabeth van Dahlen, eine angeheiratete Adlige eines verarmten schottischen Bergvolkes“, spie Max aus und verzog das Gesicht angewidert.

„Von Anfang an ist sie ein Dorn im Fleische der Familie, aber zurück zur Erbfolge. Eigentlich ist die Sache noch um einiges komplizierter. Die Nachfolge kann nur an einen männlichen Erben in gerader Linie nach unten übergeben werden. Hat das Oberhaupt seine Geschäfte an den „Thronfolger“ übergeben, steht ihm nur noch eine beratende Funktion zu. Daraus resultiert aber auch eine weitere geschichtliche Entwicklung, nämlich dass genau diese Übergabe erst sehr spät stattfand. Ich war eine der rühmlichen Ausnahmen, der es ohne Zwang schon vorher gemacht hat. Und das Resultat dieser späten Übergaben war ein weiteres ungeschriebenes Gesetz – wenn der Nachfolger die Geschäfte übernahm, musste er wiederum seine Nachfolge geregelt haben!“ Auch diese letzte Bemerkung hing irgendwie unheilschwanger in der Luft. Mir war gleich klar, dass der Senator nicht umsonst an genau der Stelle eine Pause machte. Während der Erklärung war mein Blick auf Dominik gerichtet und seine Augen wurden immer größer, zum Schluss spiegelte sein Gesicht blankes Entsetzen wieder.

„Die…, die nächsten männlichen…“, Dominik hatte große Mühe, den Satz klar und deutlich herauszubekommen und so hörte ich dann auch nur noch.

„Raph und ich.“

Maximilian nickte leicht mit dem Kopf.

„Ja, mein Sohn hatte Euch Beide zu seinen potentiellen Nachfolgern bestimmt, weil er selbst nur eine Tochter als Kind hatte“, hörte ich dann den Senator die Tatsache aussprechen, die Dominik jegliche Fassung gekostet hatte.

„Zu dem Zeitpunkt meiner Übergabe an ihn, war noch keiner von Euch Beiden auf der Welt, so dass wir hier schon wieder mit den Traditionen brechen mussten, aber sobald Du da warst, trat genau diese Tradition in Kraft. Weil nun nach deutschem Recht eine gewisse geschäftliche Unfähigkeit bis zum 18. Lebensjahr gilt, hat mein Sohn einen kleinen Umweg genommen, um diese Nachfolge im Sinne der Familie zu regeln. Tja und dann geschah es“, sprach Max und hatte nun arge Mühe, normal weiter zusprechen.

„Ich hatte mit Jonathan einen fürchterlichen Streit, zwei Tage vorher, weil ich mit einer Maßnahme von ihm überhaupt nicht einverstanden war und dann war es nicht mehr zu korrigieren. Der schwelende Streit in der Familie entflammte und ich zog mich aus allen Bereichen zurück. So wie ich Deine Reaktion, lieber Dominik, am Anfang einzuschätzen weiß, wurden sämtliche Informationen von mir vernichtet und sämtliche Kontakte unterbunden. Da man mir alles, meine Wurzeln, Familie und Geschäft genommen hatte, stürzte ich mich in ein geschäftliches Abenteuer, zu dem mich mein guter und alter Freund Friedrich überredet hatte, um den Schmerz zu vergessen. Aber das war ein Trugschluss, denn…“, sagte der Senator und fixierte dann Dominik, als er fortfuhr, „ich habe die Verbindung nie ganz verloren und immer die Entwicklung MEINER Familie verfolgt. Des Weiteren hatte ich die notwendigen Mittel und Wege, um die benötigten Informationen zu beschaffen. Somit weiß ich, WIE Ihr und vor allem WER Euch erzogen hat und das steht im Widerspruch zu unserer Familiengeschichte – leider waren mir komplett die Hände gebunden. Dies hat sich jedoch nun etwas geändert“, schloss er süffisant seinen Vortrag.

„Ich will nicht das Oberhaupt sein“, stieß Dominik gereizt hervor.

„Ob Du willst oder nicht, steht hier überhaupt nicht zu Debatte!“, erwiderte der Senator kühl. Dominik antwortete mit einem wütenden Blick.

„Die Frage ist vielmehr, ob Du kannst“, fuhr Maximilian um einiges wärmer fort. Dominiks Miene wandelte sich ins Niedergeschlagene.

„Wenn Du so gute Kontakte zu unser Familie weiterhin hattest, weißt Du zu gut, wer es kann und wer gegen SIE ankommen könnte“, murmelte er leise.

„Ja“ Und auch bei mir fiel der Groschen.

„Raphael ist blind“, griff ich in das Gespräch ein.

„Als ob ich das vergessen könnte“, knurrte Max giftig zurück. Mein Einwand hatte auch meinen Zwilling aus der Erstarrung gerissen. Wir waren alle fasziniert dem Austausch der beiden gefolgt.

„Ich hätte da mal eine Frage?“, warf Tim ein. Mehrere Augenpaare richteten sich auf ihn.

„Ein kleiner Satz geht mir nicht aus dem Sinn beziehungsweise fangen wir anders an, wenn die Nachfolge geregelt war, wieso ist das Oberhaupt der Familie nun Dominiks und Raphaels Großmutter?“

„Das ist die Frage, die alles auf den Punkt bringt“, war die geheimnisvolle Antwort des Senators. Da auch Dominik genauso neugierig Maximilian ansah, schien er die Antwort ebenso nicht zu wissen.

„Man, Senatorchen, Dein ewiger Hang zum Theater – mach es nicht so spannend“, grummelte der Konsul, wobei er das Grinsen nicht wirklich unterdrücken konnte. Der Senator grinste wie ein Lausbub zurück, wurde danach aber sofort wieder ernst.

„Das führt mich wieder zu dem Streit mit meinem Sohn zurück. Er hatte zur Erbnachfolge bei seiner Übernahme eine Stiftung ins Leben gerufen, die bei seinem Ableben die Geschäfte solange führen sollte bis ein männlicher Nachkomme in gerader Linie diese wieder übernehmen könnte. Das war aber nicht der Streitpunkt. Jonathan war seiner Frau hoffnungslos verfallen, so rational wie er an der Börse war, so irrrational war sein Verhältnis zu dieser Dame. Die Familie war von Anfang an gegen eine Verbindung mit ihr, aber…“, hier machte er eine kleine Pause und lächelte Dominik wieder kurz zu. „Du kennst den Dickkopf Deines Bruders, den hat er 1:1 von seinem Großvater übernommen, somit standen wir auf verlorenen Posten. Tja und die uneingeschränkte Leitung dieser Stiftung hat er nicht Deinen Eltern sondern seiner Frau übertragen. Nach dem Tode ihres Mannes hat sie sich zur uneingeschränkten Herrscherin der Familie van Dahlen aufgeschwungen und jedes Aufbegehren, auch Deiner Eltern, im Keime erstickt.“ Jetzt verzog sich sein Gesicht, zu dem Ekel gesellte sich auch noch Hass.

„In den ersten Jahren hat sie noch sehr gut von den Erfolgen und dem Ruf ihres Mannes leben können, aber dann nahm die Geschäftswelt immer mehr wahr, was sie war – eine Null. Sie kompensierte das mit einem gehobenen gesellschaftlichen Auftreten und verschleuderte UNSER Geld in rauen Mengen. Zum Glück hatte meine Enkelin, Deine Mutter, den Geschäftssinn ihres Vaters geerbt und konnte den langsam schleichenden Niedergang der Firma abbremsen, aufzuhalten ist er jedoch nicht. Und je mehr der Dame der Sinn für die Realität verloren ging, desto herrschsüchtiger wurde sie. Sie fing sogar an, MIR in den letzten Jahren zu drohen, dieses NICHTS aus Schottland“, sprach Maximilian und in den letzten Worten lag der ganze Stolz dieser alten Familie.

„Und wann sollte der männliche Nachkomme die Geschäfte übernehmen“, bohrte mein kleiner Twin weiter.

„Tz, tz, tz, Jean, Dein Zwilling ist aber nervig wie die Pest. Ich lasse mich hier über die Familie aus, baue einen großen Spannungsbogen, und was macht dieser vorlaute Bengel“, knurrte der Senator mich mürrisch über den Tisch an. Tim lief wegen der Kritik rosa an, aber ich grinste Max nur schief an.

„Mikael?“, fragte Maximilian über seine Schulter und wie aus dem Nichts reichte dieser ihm ein paar Seiten Papier. Max blätterte kurz und legte uns dann ein Blatt auf den Tisch.

„Ich red mir doch nicht den Mund fusslig. Lest selbst“, murrte er weiter und zeigte mit einem diabolischen Grinsen auf einen Paragraphen auf diesem Blatt. Gespannt beugten wir uns vor und ich las:

Da eine Führung der Geschäfte und der Familie zu diesem Zeitpunkt nicht auf eine Person festgelegt werden kann, wird folgendes verfügt. Nach der Vollendung des 18. Lebensjahres beider Anspruchberechtigten, in diesem Falle Dominik Jonathan van Dahlen und Raphael Maximilian van Dahlen, handeln Beide gleichberechtigt und führen zu gleichen Teilen alle geschäftlichen Bereiche. Sollte einer der Beiden auf seine Rechte und Pflichten verzichten, kann dieses nur zu Gunsten des anderen der beiden Anspruchsberechtigten geschehen. Eine Vormundschaft durch die Stiftung entfällt ab dem Zeitpunkt des Satzes zwei und sie hat den Anspruchsberechtigten wieder als das Instrument zu dienen, als das sie gedacht war. Sie wurde gegründet, um die gemeinnützigen Interessen der Familie van Dahlen zu wahren.

Ich gebe es zu, ich habe diesen Paragraphen mehrmals gelesen und war fast genauso schlau wie vorher.

„Und?“, sah ich einem lächelnden Seantor heimtückisch fragen.

„Tja, etwas komisch niedergeschrieben, aber eigentlich sonnenklar“, hörte ich auf einmal Felix sich zu Wort melden.

„Erleuchte uns“, knurrte mein Zwilling, dem das Ganze wohl auch nicht so klar war.

„Dominik und Raphael sind jeweils zu 50% das Oberhaupt der Familie!“, kam es triumphierend von Felix und den Zwillingen klappte der Unterkiefer ins Bodenlose.

„Ja, seit knapp drei Wochen ist die Stiftung nur noch Makulatur“, schob der Senator noch hinterher. Nicht, dass dieser Satz mich die Sache besser verstehen ließ, aber dass hier irgendetwas geschehen war, leuchtet sogar mir ein.

„Und warum ist Raphael dann verschwunden und es wird so ein Zirkus veranstaltet?“, fragte Svenja.

„Nun, die Frage ist einfach zu beantworten, sie besteht aus dem kleinen Wörtchen ‚Macht‘“, beantwortete Maximilian diese Frage.

„Tut mir leid, wenn ich der ganzen Sache nicht ganz folgen kann, aber wie soll uns das zu Raphael führen“, stieß ich dann gefrustet hervor.

„Ich weiß Deine Sorge für meinen Urenkel zu schätzen und die hat uns ja auch erst zusammen geführt, aber mein lieber Jean, dieses kleine Wörtchen Macht ist genau der Grund, warum das hier alles passiert ist!“, erklärte mir der Senator ruhig.

„Meine Schwiegertochter hat mit dem 18. Geburtstag von Raphael jeglichen Macht- und Rechtsanspruch in der Familie faktisch per Nachfolgeregelung verloren und ist sich dessen sehr wohl bewusst. Somit setzt sie alle Mittel, der sie habhaft werden kann, ein, um diesen Umstand zu verbergen und was noch viel schlimmer ist – sie setzt kriminelle Energie ein, um DEN Aufhänger dieser Regelung, nämlich Raphael Maximilian van Dahlen verschwinden zu lassen.“

Diese Aussage verstand ich nun wiederum sofort.

„Was hat Sie getan?“, fragte ich ängstlich.

„Das weiß ich leider auch nicht“, antwortete Maximilian traurig und schob dann ein energisches „noch nicht“ hinterher.

In der nächsten halben Stunde erklärte uns der Senator nun, was er so alles auf die Beine gestellt hatte. Ich musste zugeben, die Maßnahmen waren nicht von Pappe und er hatte fast unbegrenzte Mittel, um etwas zu bewerkstelligen. Geld schien in dieser Familie noch nie ein Problem gewesen zu sein. Maximilian hatte eine umfassende Suche eingeleitet, die leider bisher noch keine Ergebnisse erbracht hatte. So ganz nebenbei erfuhr Dominik nun, dass der „Hundeführer“ Mikael, der auch der Ausbilder von Hondo war und verschiedene Pflichten um die beiden Jungs wahrgenommen hatte, die Informationsquelle für Maximilian war und von Anfang an für den Senator gearbeitet hatte. Gegen seine Schwiegertochter war er die ganzen Jahre nicht vorgegangen, weil sie durch die Stiftung die uneingeschränkte Macht über die Familie hatte und ein eventueller Gerichtsstreit höchstwahrscheinlich nicht zum Erfolg durch Maximilian geführt hätte. Unabhängig davon, wäre ihm auch nie eingefallen, gegen seine Familie einen Prozess zu führen. Er kannte zu gut den Zeitpunkt, an dem sich alles ändern würde – der 18. Geburtstag von meinem Kleinen. Das brachte nun wieder Dominik auf den Plan.

„Das löst aber immer noch nicht ein wichtiges Problem“, eröffnete er uns nachdenklich.

„Ja?“, erwiderte der Senator.

„Na ja, wie schon angedeutet, ich fühle mich nicht dazu in der Lage, solch ein Imperium, familiär wie geschäftlich zu führen und mein Bruder ist blind“, teilte uns Dominik seine Zweifel mit.

„Ja, das hatten wir schon festgestellt und nun will ich Dir mal meine Meinung dazu sagen“, fing Maximilian ruhig an.

„Erst einmal wurdet Ihr komplett falsch erzogen und die Schwerpunkte Eurer Bildung wurden verkehrt gesetzt. Du bist an der Tatsache nicht schuld, dass Du Dich für die Leitung unfähig hältst. Jahrelang wurden Zweifel an Euren Fähigkeiten gestreut und Euer selbständiges Denken klein gehalten. Dein einziger Fehler, wenn es denn einer war, ist, dass Du Dich zu schnell mit dieser Situation abgefunden hast. Du bist im Grunde genommen viel stärker als man Dir ein Leben lang eingeflüstert hat. Das sind aber Dinge, die man abändern und korrigieren könnte. Jedoch gesellt sich zu dem allen ein wichtiger menschlicher Faktor, der für alle hier selbstverständlich ist, aber dieser wurde gnadenlos ausgereizt – Deine fast bedingungslose Liebe zu Deinem Bruder. Wobei wir bei Raphael wären. Ich möchte Dich nicht verletzen mit dem Folgenden, aber ich habe die Familie nun über Jahre von außen studiert und alle möglichen und unmöglichen Quellen angezapft. Dein Bruder ist der Superstar. Er gleicht seinem Großvater in so vielen Dingen, dass mir der Verlust meines Sohnes jedes Mal schmerzhaft bewusst wurde. Er hat all die Fähigkeiten und Fertigkeiten von Jonathan und noch einiges mehr. Er hat einen stärkeren Willen als mein Sohn, denn wer in dieser feindlichen Umgebung seine Feinfühligkeit behalten und sogar noch ausbauen kann, muss über eine fast unmenschliche Kraft verfügen. Leider gibt es neben dieser strahlenden Seite der Medaille auch ein dunklere nicht so schöne. Dazu gehört, dass mein Urenkel blind ist.“

Schweigen breitete sich aus und mir wurde zum wiederholten Male in den letzten Wochen bewusst, wie wenig ich Raphael kannte. Natürlich hatte ich schon ein paar Facetten von ihm kennen gelernt, aber in meiner Erinnerung war es ein teils lustiger teils sehr nachdenklicher und auch zerrissener Junge, der sich nie als dieser Machtmensch offenbarte, der er wohl doch war. Ich war geschockt – war das der Junge, den ich liebte?

„Ich würde gern nach hause“, kam dann auch die logische Reaktion von mir. Überrascht sah mich Tim an und wie nicht anders zu erwarten, erkannte er mein Problem. Auch der Senator musterte mich intensiv.

„Erschreckend, oder“, fragte er mich mit warmer verständnisvoller Stimme.

„Bitte seid mir nicht bös, das muss ich erst einmal verarbeiten und was viel schlimmer ist, verstehen“, murmelte ich niedergeschlagen. Vor meinem inneren Auge sah ich meine Liebe zu dem schwarzhaarigen Beau regelrecht in ein Nichts aufgehen. In den hier dargestellten Raphael hatte ich mich nicht verliebt, so faszinierend diese Familiengeschichte auch war, wenn sie der Bestandteil meines Leben werden sollte, war ich darauf nicht vorbereitet und vor allen nicht bereit dazu. Zögernd stand ich auf und schlurfte ins Haus zurück. Im Gehen murmelte ich dem Senator und Konsul noch einen Abschiedsgruß zu und stand dann einige Zeit am Auto. Geschlossen kamen die anderen ein paar Minuten später nach, auch Dominik war mit dabei. Schweigend ging es zurück nach hause. Und dort tat ich etwas, was ich das letzte dreiviertel Jahr zur Perfektion getrieben hatte – ich vergrub mich in mein Zimmer. Zum hundertsten Male las ich alle seine Mails, nahm sein Bild mit ins Bett. Jedes Pixel von diesem Foto erkundete ich und blieb doch immer wieder an diesen Augen hängen. Raphael war einfach der Wahnsinn, oder doch nicht?

Leise klopfte es an der Tür. Ich reagierte nicht, denn ich wollte allein sein. Aber bei diesem Jungen, der nun das Zimmer betrat, hatte ich einfach keine Chance. Er wusste zu gut, wann er stören konnte und wann nicht. Auch wenn ich äußerlich abweisend erschien und am liebsten alleine gewesen wäre, sehnte ich mich nach Tim, um mit ihm darüber zu reden.

„Was denkst Du?“

„Du hast es doch auch gehört…“, fing ich leise an.

„… er ist der SUPERSTAR, das eigentliche Oberhaupt dieser bigotten Familie!“

„Hm“

„Okay in ein paar Situationen habe ich schon eine gewisse Autorität verspürt, aber mir kam das natürlich vor. So wie mir sein ganzes Auftreten mir gegenüber nicht gekünstelt vorkam.“

„Hm“

„Sehr aussagekräftig“, grummelte ich mit meinem Zwilling.

„Seit wann lässt Du Dir denn das Bild einer Person von fremden Dritten aufzwingen?“, fragte mich Tim süffisant.

„Tim, WAS kenne ich denn von Raphael?“

„Mittlerweile glaube ich, mehr als all die anderen!“, kam postwendend seine Antwort und ich gaffte ihn erstaunt an.

„Wie hast Du Dir denn Dein Bild von Raphael geschaffen und damit meine ich nicht Deine Traumgestalt sondern den Menschen mit all seinen Stärken und Schwächen?“

„Größtenteils durch die Mails.“

„Und hattest Du je den Eindruck, dass er Dich belügt, abgesehen von seinem wahren Äußeren und die Aktion mit seinem Bruder. Ich meine hier mehr seine Gefühle, Hoffnungen, Ängste…?“

„NEIN“, stieß ich entsetzt hervor.

„Und nun wirfst Du das alles über Bord, nur weil ein älterer Herr, der sein Lebenswerk vor die Hunde gehen sieht und Raphael nur aus Berichten Dritter kennt, uns seine Schlussfolgerungen erzählt?“

„Dieser ältere Herr ist sein Urgroßvater“, warf ich kritisch ein.

„Na und, das ändert nichts an dem Inhalt meiner Aussage!“

„Jean, stoße die ausgestreckte helfende Hand seines Urgroßvaters nicht weg. Sie ist die beste, weil mittlerweile einzige Chance, Raphael wiederzufinden. Lass uns Deinen Schatz erst einmal finden und dann kläre DAS HIER….“, dabei tippte mir mein Zwilling an meine Stirn „nur mit ihm alleine!“

Am Abend ließ uns der Senator telefonisch wissen, dass er die nächsten zwei Tage weg war, aber dann sein Quartier wieder in dem Landhaus einrichten würde. Tims klare Worte hatten meine Überlegungen ein wenig in eine andere Richtung gezwängt, nämlich wieder zurück zu der intensiven Suche nach Raphael. Uns war aber klar, der eigentliche Durchbruch konnte uns nur mit Maximilian gelingen. Und wie sollte es anders sein, ich wälzte schon wieder ein neues Problem.

Und welches?

Ausgangspunkt war Maximilian und das Problem?

Das waren Raphael und ich, oder mehr was uns miteinander verband. Bisher war das Gespräch noch nie darauf gekommen, dass ich ihn liebte und dies mein eigentlicher Antrieb der ganzen Suche war. Und diese Ungewissheit, ob der Senator es nun wusste oder nicht, nagte an mir. Gewissheit würde mir nur eins geben…

…so bestieg ich am dritten Tag nach unserem Wiedersehen mein Fahrrad und radelte zu dem Landhaus. Die Fahrt zog sich ewig hin und ich grübelte die ganze Zeit, wie ich es sagen sollte und malte mir aus, wie die Reaktion aussah. Durch diese Grübeleien nicht gerade optimistisch gestimmt, klingelte ich dann an der Tür. Mikael öffnete mir die Tür und mit einem freundlichen Lächeln bat er mich hinein. Diesmal fand ich den Senator in einer Art Bibliothek über ein Notebook gebeugt. Überrascht, dass Maximilian solche Art Technik benutzte, blieb ich in der Tür stehen. Dieser sah auf und lächelte mich an.

„Wie hätte ich Dir denn sonst eine Mail schreiben sollen? Denkst Du, ich lasse mich mit dem Rollstuhl ins Internetcafe schieben“, grinste er mir spitzbübisch entgegen. Unwillkürlich musste ich lachen und der Senator gestaltete mir den Einstieg zu unserem Gespräch etwas leichter.

„Oh, Guten Tag erst einmal, Herr Neumann“, kam noch einer hinterher.

„Mahlzeit Herr Ex-Senator“, flutschte mir so über die Lippen. Maximilian stutzte kurz und lachte dann schallend los.

„Und was verschafft mir die Ehre Deines Besuches?“

„Wie schaut es aus?“ Das war eigentlich nicht mein Anliegen, aber vielleicht gab es ja etwas Neues zu der Suche. Max musterte mich kurz aber intensiv.

„Nun ja, ich hab da eine Spur, eher nur den Hauch dessen ausmachen können, die uns eventuell weiter bringt. Aber schau mich bitte nicht so hoffnungsvoll an, erst wenn ich was Handfestes habe, werde ich mehr sagen…“, seufzte er. Mich überraschte, wie viel Kummer ich in seinen Augen sehen konnte.

„Aber wir werden ihn finden, das verspreche ich Dir, auch wenn es das Letzte ist, was ich machen werde!“

„Maximilian, ich wollte…“, fing ich zögernd an.

„Moment, ich muss erst einmal etwas klarstellen. Dein plötzlicher Aufbruch letztens hat mich mehr ins Grübeln gebracht, als ich angenommen hätte. Ich glaube mittlerweile, dass ich Dir ein Bild von unserer Familie gezeichnet habe, das nur abstoßend sein kann. Es ist einfach alles Negative hochgekommen, was so in den letzten Jahrzehnten passiert ist. Eigentlich genießt die Familie van Dahlen einen untadligen Ruf und…“, mitten im Satz brach der Senator ab. Seine Augen waren die ganze Zeit auf mich gerichtet und mein Gesicht hatte wohl mal wieder gesprochen.

„…hm, deshalb scheinst Du aber gar nicht hier zu sein?“

„Teils ja, teils nein, mich hat der Vortrag vor drei Tagen wirklich echt geschockt, aber auch fasziniert. Ich lese gern historische Romane und hier breitete sich vor mir wirkliche Geschichte aus. Anderseits wurde vor mir ein Bild entworfen von Personen, die ich anders in Erinnerung hatte, aber das ist nicht der eigentliche Grund meines heutigen Kommens“, gab ich schlussendlich zu. Maximilian sah mich neugierig an. Nun saß ich in der Zwickmühle, denn mir fiel einfach kein passender Beginn ein. So versuchte ich es mit einer Frage.

„Hast Du Dich nie gefragt, warum ich einem fremden Jungen hinterherlaufe?“ Zugeben war die Frage so provokant und für sich selbstredend, dass ich unsere Liebe auch gleich hätte beichten können.

„Interessanter Gesprächsansatz“, kam auch postwendend die Antwort und Max lächelte mich an.

„Und?“, bohrte ich nach.

„Mein lieber Jean, für wie alt hältst Du mich?“, kam eine unerwartete Gegenfrage. Mir stand sofort seine Mailaddy Max1926 vor dem geistigen Auge.

„So um die 80.“

„Doch heller als ich gedacht hätte“, nuschelte er in seinen nichtvorhandenen Bart und grinste sich eins.

„In Ordnung. Da Du mich ja so erwartungsvoll anstrahlst, anderseits aber auch Angst zu haben scheinst, wie ich reagieren könnte, wenn ich DAS rausfinde, möchte ich Dir einen kleinen weiteren Einblick in die Person Maximilian van Dahlen geben. Ich habe mir all die Jahre ein gewisses Maß an Menschenkenntnis zugelegt, die mich bisher zum Glück in den wenigsten Fällen betrogen hat. Als wir uns das erste Mal gesehen haben, warst Du auf der Suche. Okay, das hattest Du mir ja auch mehr oder minder gesagt, dass Du einen Raphael van Dahlen suchst, aber in Wirklichkeit warst Du auf der Suche nach Deinem Glück.“

Ich sog überrascht die Luft ein. Maximilian nickte leicht und lächelte dann spitzbübisch.

„Du hast Dir zwar alle Mühe gegeben, den wirklichen Umstand Deiner Suche zu verbergen und bist um gewisse Tatsachen so herumgeschifft, dass Deine Geschichte Löcher wie ein Schweizer Käse hatte, aber das interessierte mich eigentlich überhaupt nicht. Ich war von Dir fasziniert, von Deinem Mut, einfach loszustiefeln, um jemanden total fremden zu suchen. Und dieser Fremde war zudem noch ein Mensch, der mir sehr am Herzen liegt.“ Nach diesen Worten hielt er inne und schien in Gedanken versunken. Gerade, als ich nachhaken wollte, sprach er weiter.

„Das zweite Mal warst Du nicht mehr auf der Suche, nein Du warst auf einmal jemand ganz anderes. Du warst einfach nur das pure Glück und aus Deinen Worten, aber noch vielmehr aus Deinen Augen war eine Wärme für meinen Urenkel herauszulesen, die mich sehr berührte. Du sahst in Raphael einen ganz anderen Menschen, als mir durch Dritte immer wieder suggeriert wurde. Mein größtes Problem war und ist, ich kenne meinen Urenkel nicht persönlich und somit kenne ich auch nicht seine Gedanken, Gefühle und Wünsche. Dass er jedoch ein besonderer Mensch ist, habe ich schon etwas vor Dir festgestellt. Und nun kommen wir zum eigentlichen Problem, nicht?“, erhob er ein wenig die Stimme, seine Augen glitzerten jedoch spöttisch. Gebannt war ich seinen Ausführungen gefolgt und war jetzt nicht wirklich in der Lage, auf diese Frage zu reagieren.

„Wenn Du Dich erinnern magst, hatte ich vor ein paar Tagen etwas von der dunklen Seite der Medaille gesprochen. Damit meinte ich nicht nur das Schlechte, sondern auch die Welt, die im Verborgenen liegt und über die Stillschweigen bewahrt wird. Um Dir die schwere Aufgabe des Geständnisses abzunehmen, muss ich Dir leider mitteilen, dass einigen männlichen Vorfahren der van Dahlenfamilie schon immer homophile Neigungen nachgesagt und manchmal auch nur angedichtet wurden.“

„Was?“, entfuhr es mir.

„Ja, ich weiß, dass Raphael schwul ist und mir flößt es größten Respekt ein, wie er bisher damit umgegangen beziehungsweise wie er es einem gewissen Teil der Familie vorenthalten konnte. Wie Dir eventuell nicht bekannt ist, hat seine Großmutter es wirklich erst an seinem 18. Geburtstag erfahren und wie es zu dieser Person passt, hat es sie nicht entsetzt, dass er schwul ist, sondern dass er es nicht für sich behalten konnte und somit ihrem Ansehen schadet.“

„Oh je, dann war alles meine Schuld“, murmelte ich verzweifelt.

„Nein, das würde ich nicht sagen. Ich glaube vielmehr, dass Raphael für sich einen Entschluss gefasst hat und der hieß Jean“.

„Wie bitte?“ Ich rutschte gerade von einem Schweißausbruch in den nächsten.

„Ich möchte Dich nicht wieder mit dem ganzen Familienblabla konfrontieren, also nur abgekürzt. Nennen wir die Besonderheit bei einigen männlichen Sprösslingen der Familie das van Dahlen Gen. Eigentlich hat es jeder, nur bei einigen kommt es zum Ausbruch. Es beinhaltet Durchsetzungsvermögen, Überzeugungskraft, Großzügigkeit, Feinfühligkeit aber auch Geschäftstüchtigkeit, einen gewissen Teil Arroganz und Härte – dieses Gen hat uns groß und reich gemacht. Diese angeheiratete Schottin, die sich Oberhaupt schimpft, hatte es bisher nur mit der positiven Seite dieses Genes zu tun gehabt, denn ihr Mann liebte sie abgöttisch. Sie hat somit keine Ahnung, womit sie sich anlegt. Und bei Raphael kommt dieses Gen immer mehr zum Vorschein, wobei er zusätzlich noch eine unglaubliche natürliche Ausstrahlung hat, wenn er will. Keine Angst, ich schildere Dir hier keinen Übermenschen, denn mein Urenkel ist neben diesem vor allem ein sehr zerrissener Junge, dem eigentlich klar war, dass er seine wirkliche Liebe nie finden geschweige denn leben durfte.“

„Und dann kamst DU!“

„Waaaas???“

„Ja, Jean, Du hast wahrscheinlich mehr Schutzmauern eingerissen als Dir bewusst war. Und als Urgroßvater sag ich nur – und das ist gut so! Keiner hat MEHR das Recht, SEIN Leben zu leben, als meine Urenkel und an erster Stelle Raphael. Seine Welt ist schon dunkel genug, so dass Du für ihn wie eine Sonne bist.“

„Wie kannst Du das wissen? Du hast mit ihm nie drüber gesprochen!“

„Weil Raphael mir sehr ähnlich ist“, hörte ich den Senator sehr leise sagen.

‚Moment, soll das das heißen, was ich da raushöre?‘

„Bist Du auch schwul?“, rutschte mir dann auch folgerichtig heraus. Die Antwort war ein geheimnisvolles Lächeln.

„Nein“, kam es dann nach einer längeren Pause.

„Aber ich bin dem männlichen Geschlecht nicht abgeneigt, vor allen wenn es so hübsch ist“, flötete er dann anzüglich in meine Richtung. Mund offen stehen lassen und rot werden, waren meine sofortigen Reaktionen. Und das Schlimmste war, ich war sprachlos – so sprachlos wie bei meinem Kleinen.

„Hm, scheine wohl den selben Geschmack wie mein Urenkel zu haben“, schob er dann noch hinterher. Oh je, das wurde ja immer schlimmer und ich steigerte meine Gesichtsfarbe nochmals.

„Aber Du scheinst nicht auf ältere Männer zu stehen?“, hörte ich ihn fragen. Meine fassungslose Miene gab dann den Ausschlag und Max konnte sich nun das Lachen nicht mehr verbeißen.

„Keine Sorge, ich fall nicht über Dich her. In meiner Jugend und auch noch als junger Mann hatte ich eine große Liebe, die leider nie erfüllt wurde. Das lag zum einen daran, dass die Nazizeit nicht gerade freundlich zu Schwulen war und ich zum anderen einfach nicht den Mut hatte, meine Liebe zu gestehen. Ich habe mich dann für meine Frau entschieden und bin mit ihr sehr glücklich geworden. Anderseits kann ich meinen Urenkel jedoch sehr wohl verstehen, was er an Dir findet.“

Und schon wieder flirtete Max mit mir herum. Hatte ich nun gerade meine Gesichtsfärbung etwas heruntergeschraubt, lief ich schon wieder rosa an.

„Na ja und Raphael ist ja auch nicht gerade der Hässlichste“, griente er mich an.

„Oh ja“, rutschte es mir doch wirklich raus und verlegen lächelte ich zurück.

„Ihr seid ein verdammt hübsches Paar!“ Dieses Kompliment machte mich noch verlegener. Aber ein anderer Gedanke geisterte nun wieder durch mein strapaziertes Gehirn, nachdem meine Liebe zu Raph ja auf solch offene Ohren stieß. Das Resultat war – ich seufzte.

„Spuck es aus“, kam die Aufforderung.

„Ich weiß nicht, ob ich der Richtige für Raphael bin.“

„Warum?“, fragte der Senator verwundert.

„So wie Du ihn mir geschildert hast, glaube ich nicht, dass ich mit seiner Welt klarkomme“, gestand ich ehrlich. Maximilian musterte mich lange und nachdenklich.

„Bleib der, der Du bist. Lass Dich von dieser Welt nicht verbiegen und schenke meinem Urenkel lieber das, was er sich so sehr wünscht – Deine aufrichtige Liebe. Was er bisher kennen lernen durfte, waren Speichellecker sowie Lug und Trug, jeder nur auf seinen Vorteil bedacht – die sogenannte Gesellschaft.“

„Mehr Schein als Sein“, murmelte ich leise vor mich hin, denn mir fielen die Worte von Raphael an seinem Geburtstag ein. Der Senator hob verwundert die Augenbraue.

„Seine Worte bei unserem letzten Treffen“, erklärte ich ihm.

„Oh je, der Junge ist noch besser als vermutet. Leider wurde er in diese Gesellschaft hineingezogen – es gibt auch einen anderen Kreis, der ihm aber bisher vorenthalten wurde, keine Dummquatscher und Schmarotzer. Glaube mir, Ihr werdet Euren Weg zusammen gehen, aber gerade jetzt und in näherer Zukunft musst Du sein seelischer Rettungsanker sein. Er hat einen harten Kampf vor sich und braucht Dich und Deine Liebe umso mehr.“

‚Soweit waren wir ja noch lange nicht. Wir hatten uns doch gerade erst gefunden und waren dabei, uns kennenzulernen. Konnte ich mit so einer Verantwortung leben?‘ Ich war total durch den Wind.

„Egal, zuerst einmal müssen wir Deinen Schatz finden und dann müsst Ihr Euch finden – den Rest bringt die Zukunft“, schloss Maximilian unser Zwiegespräch, denn meine Selbstzweifel waren wohl gut zu erkennen. Ich hatte nun wieder soviel zu verarbeiten, dass ein rechtes Gespräch nicht mehr aufkommen wollte und verabschiedete mich eine Viertelstunde später. Ich nahm nicht den direkten Weg nach Hause. Die frische Luft und die körperliche Arbeit mit dem Fahrrad pusteten mir ein wenig den Kopf frei. Meine Beziehung, wenn man denn davon sprechen konnte, zu Raphael war ja schon immer kompliziert. Geändert hatte sich trotz der vielen Informationen nicht sehr viel. Mein Kleiner war und blieb geheimnisvoll und das galt es zu ergründen. Aber vor allem wollte ich ihn wieder sehen, riechen, fühlen … küssen. Mit neuer Kraft und einigen Erkenntnissen erreichte ich erst zwei Stunden später unser Haus. Vor der Tür stand wieder der große Van.

Mit einer gewissen Unruhe enterte ich unseren Flur. Ein tief grollendes Wuff begrüßte mich aus der Küche.

„Na endlich“, hörte ich Tim aufjuchzen.

„Irgendwann erklär ich Dir noch einmal die Funktion eines Handys“, schrie er mir aus der Küche entgegen.

„Was ist denn los?“, antwortete ich und stiefelte in die selbige. Diese war sehr gut gefüllt. Neben meinen Eltern, Tim und Dominik waren der Senator, der Konsul und Mikael sowie natürlich Hondo anwesend, der sich freudig auf mich stürzte. Die anderen sahen mich erwartungsvoll an.

„Allgemeine Diskussionsrunde“, versuchte ich es locker flockig, aber so entspannt war ich bei dem Anblick gar nicht.

„Herr van Dahlen wollte uns gerade einen Ausflug vorschlagen“, fing mein Vater an.

„Hm, Herr Neuman, könnten wir uns auf das Du einigen?“, warf Max ein.

„Gerne“

„Ausflug wohin?“, mehr brachte ich nicht heraus.

„Zuerst einmal nach Leipzig, dann weiter in die Schweiz“, kam diesmal die Antwort von Tim. Fragend, nein eigentlich mehr hoffend sah ich ihn an.

„Nur ein Hinweis, aber immerhin“, meinte Maximilian fast entschuldigend.

„Fünf Minuten, ich muss kurz unter die Dusche“, stieß ich im Herauslaufen noch hervor. Halbnass schlüpfte ich oben in neue Klamotten und stand pünktlich nach fünf Minuten in der Küche.

„Also los“, gab der Senator das Aufbruchssignal. Die Fahrt verlief ohne Schwierigkeiten und war vor allem zügig. Aus Maximilian war nicht viel herauszubekommen, nur dass wir die beste Spur seit langem verfolgten. Was uns erwartete, konnte er nicht mal mutmaßen. Die Abfertigung war schnell und nicht mal eine halbe Stunde später befand ich mich in einem Learjet. In einer geräumigen Sitzecke saß ein jüngerer Mann und redete in irgendeinem Kauderwelsch mit Friedrich und Max. Der Konsul gab dann im selben Kauderwelsch eine Anweisung an den Piloten und schwupps waren wir in der Luft. Tim war ja das „Fremdsprachengenie“ in unserem Team, aber seine Miene war genauso verwirrt wie meine. Dominik sah auch nicht viel anders aus. Nachdem wir die Flughöhe erreicht hatten, fragte mich der Konsul, ob ich mir nicht mal das Cockpit ansehen möchte. Der Pilot war sehr nett und erklärte mir mit einem lustigen Akzent die verschiedenen Knöpfe und deren Funktionen.

„Friedrich, was war das für eine Sprache?“, fragte ich den Konsul noch im Cockpit.

„Schwedisch“, grinste er mich an.

„Wir haben schon vor langer Zeit angefangen, gewisse Sachen in meiner Heimatsprache zu besprechen.“

„Du bist Schwede?“

„Jo“

„Und wessen Flugzeug ist das?“, schob ich gleich die nächste Frage hinterher.

„Meins.“

„Wow“, stieß ich überrascht aus. Der Jet war zwar klein, aber fein und somit bestimmt nicht billig.

„Keine Bange, gegen meinen alten Kompagnon bin ich nur ein ganz kleines Licht“, feixte er. Seine Worte machten mich jedoch wieder nachdenklich.

„Jean, nur das ist wichtig“, sagte er und legte seine Hand auf mein Herz, dann rieb er den Daumen an dem Zeigefinger und meinte ernst, „und das ist nur schmückendes Beiwerk, was viel zu oft Missgunst, Neid und sogar Hass schürt.“

Circa eine Stunde später landeten wir in Zürich und dort erwartete uns wieder ein Van. Unsere Schar erweiterte sich nun um zwei sehr unauffällige Herren, die Mikael aufs Wort folgten. Die folgende Fahrt zog sich dann sehr in die Länge. Mir persönlich war es so, als würden wir die gesamte Schweiz durchqueren. Dann bogen wir auf einen Rastplatz ab. Raphaels Hund brauchte auch dringend etwas Bewegung und so schnappte ich mir das Monster und zottelte mit ihm über den Rastplatz. Der eigentliche Sinn unseres Halts erschloss sich mir nicht, denn hier gab es keine Raststätte, nicht mal ein WC. Nach einer geraumen Weile bog eine unauffällige Limousine ebenfalls auf den Parkplatz. Zwei Herren stiegen aus, näherten sich Mikael und der führte sie dann zum Senator. Natürlich weckte das meine Neugierde und mich zog es zu Max hin. Leider war Hondo der Meinung, dass gerade dieser Baum für ihn der Richtige sei und ich konnte den Fleischberg nicht zu einer Bewegung in die mir gewünschte Richtung bewegen. Als ich ihn dann schließlich mit endlosem Ziehen an der Leine überzeugt hatte, war das kurze Gespräch zwischen den Personen wohl beendet, denn die beiden Herren stiegen wieder in das Auto. Eins hatte sich aber geändert, Maximilians Miene war düster und seine Augen blitzen unheilvoll.

„Weiter“, knurrte er nur. Schnell erklommen wir unsere Plätze und weiter ging es. Nachdem wir eine kleine Stadt durchquert hatten, bog der Van auf einmal in eine schmale Seitenstrasse ab. Der Weg wand sich durch einen dunklen Wald, um dann eine große weiträumige Lichtung freizugeben. Auch wenn das kleine Schloss, welches auf dieser Lichtung stand, einen hellen und freundlichen Eindruck machte, kam es mir gleich wie eine Festung vor. Verstärkt wurde dieser Eindruck durch die Mauer, welche wohl rund um das Grundstück verlief und einzelne kleine Beobachtungstürme integriert hatte. An einem schmiedeeisernen Tor hielten wir und der Senator stieg aus. Hier waren zwei Wachen postiert. Der Schlagabtausch zwischen Maximilian und der Wache war kurz und das Resultat für uns mehr als positiv, denn das Tor öffnete sich. Mit einem diabolischen Grinsen in meine Richtung ließ sich Max wieder auf seinen Sitz nieder und der Van rauschte über das Anwesen. Durch die Scheibe konnte ich ein paar Baumgruppen erkennen, sowie einige Sitzgelegenheiten, die auch sehr gut besucht waren. Eins fiel aber sofort auf, überall tummelte sich Personal in leicht grüner Bekleidung, wie in einer Klinik. Vor dem großen Eingangsportal hielten wir an und betraten dann zusammen den luxuriösen Empfangsbereich. Die Dame an der Rezeption war unser Kommen wohl bekannt, denn sie begleitete uns sehr zuvorkommend in eine Art Salon. Ich hatte mir wieder Hondo geschnappt und meine Nervosität wurde von Minute zu Minute stärker – ich spürte irgendetwas. Alle waren im Salon versammelt Tim, Dominik, Friedrich, Maximilian, Mikael mit einem der Bodyguards und ich selbst. Der Senator war neben der Tür in ein leises Gespräch mit dem Konsul vertieft, in unmittelbarer Nähe war Mikael positioniert. Tim unterhielt sich mit Dominik und ich schlenderte mit Hondo im hinteren Bereich an dem großen Bücherregal entlang. Auf einmal schwang die Tür schwungvoll auf und ein kleiner dicker Mann in den Fünfzigern stürzte dienstbeflissen in den Salon.

„Einen schönen guten Tag Frau van…“, begann er schmierig in breitem Schweizer Dialekt seine Begrüßung, um dann plötzlich stehen zubleiben.

„Einen noch schöneren Guten Tag Herr Maier“, hörte ich den Senator und seine Stimme tropfte vor Hohn.

„Wer sind Sie und wo ist Frau van Dahlen?“, wollte Herr Maier dann kühl wissen.

„Mein Name ist van Dahlen“, stieß Maximilian hervor. Die Augen des kleinen Mannes verengten sich kurz.

„Könnte ich bitte Ihren Ausweis sehen. Wir haben hier eine hohe Sicherheitsstufe“, versuchte Herr Maier seine Unsicherheit zu verbergen.

„Ich glaube nicht, dass das nötig sein wird, da Sie erstens über die Familie van Dahlen informiert sein dürften und ich Ihnen zweitens jegliches Recht dazu abspreche!“, zischte Maximilian eisig. Ich sah den Senator verwundert an, denn so hatte ich ihn noch nie gesehen. Dem zufolge schrumpfte der kleine Herr Maier noch weiter zusammen.

„In Ordnung, in Ordnung…“, stammelte er.

„Ich hoffe doch sehr, dass Sie über die Belegung des Hauses besser informiert sind als über die Eigentümer?“, hörte ich nun Max unverbindlich fragen. Nicht so sehr der freundliche Ton in seiner Stimme ließ meine Hände auf einmal schweißnass werden, nein das kleine Wort „Belegung“ legte sich wie eine Klammer um meinen Magen.

„Nun ich kenne hier nicht alle meine Schäfchen persönlich, aber dafür haben wir ja Akten“, wand sich Herr Maier wie ein Wurm.

„Oh ich glaube schon, dass Ihnen dieser Patient sehr wohl bekannt ist“, plauderte der Senator immer liebenswürdiger.

„Um wen geht es denn“, versuchte der kleine Dicke das Gespräch in die Länge zu ziehen.

„Raphael Maximilian van Dahlen“, kam es leise aber bestimmt von Max. Auf mich hatte jede Silbe dieses Namens die Wirkung von Donnerschlägen. Entsetzt hielt ich die Luft an. Herrn Maiers Augen huschten zur Tür und so ganz zögerlich wich er langsam zurück.

„Lassen Sie sich nicht einfallen, uns die Frage nicht oder sogar falsch zu beantworten“, stellte Maximilian sofort klar. Mikael machte ein paar Schritte und versperrte sehr deutlich die Tür. Welche dieser beiden Tatsachen, die wörtliche oder die physische, Herrn Maier zum Aufgeben zwang, war nicht festzustellen, auf jeden Fall resignierte er.

„Ja, wir haben einen solchen Patienten hier“, hörte ich ihn flüstern. Jetzt schrillten bei mir sämtliche Alarmglocken. Meine Hand, die ich zwischenzeitlich auf die Lehne eines Stuhles gelegt hatte, krallte sich so fest um das Holz, dass die Knöchel weiß hervortraten.

„Dann führen Sie uns bitte zu ihm“, forderte Max ihn auf. Jetzt straffte sich der Kerl noch einmal und sah den Senator aufsässig an.

„Dafür muss ich erst seine Großmutter, die die Vormundschaft für ihn ausübt, informieren und ihre Erlaubnis einholen“, offenbarte er uns seine Anweisungen.

„Wie?“, keuchte ich auf.

„Was?“, schrie Dominik zeitgleich mit mir. Mit einer kleinen Handbewegung erstickte der Senator sämtliche weiteren Fragen jedoch im Keim.

„Nun Herr Maier, da müssen wir doch ein wenig Aufklärung betreiben. Wie Sie sehr gut aus Ihren Akten entnehmen können, ist Herr van Dahlen vor circa vier Wochen 18 geworden und somit aus jeglicher Vormundschaft entlassen“, hörten wir Max betont sachlich sagen. Als Antwort huschte ein kleines aber höhnisches Grinsen über das Gesicht des Herrn Maier.

„Fall es Ihnen entgangen sein sollte, Herr van Dahlen ist blind“, fing er nun in einem erklärenden Ton an und als er das abweisende Gesicht von Maximilian sah, schob er noch den nächsten Fakt hinterher „und wird hier auf Grund einer persönlichen Verhaltensstörung behandelt, die eine Vormundschaft mehr als rechtfertigen.“

„Er wird hier WAS“, grollte der Senator mit unheilvoller Stimme.

„Ärztlich betreut, um den jungen Mann in näherer Zukunft wieder der Gesellschaft zuzuführen“, kam die sofortige Erklärung. Mir war bei der ersten Antwort schon schlecht geworden und das Rauschen wurde in meinen Ohren immer lauter.

„Bringen… SIE mich… sofort zu Raphael“, presste ich mühsam heraus. Eigentlich war das Fass schon längst übergelaufen und ich wusste auch nicht, was mich mein bisschen Beherrschung beibehalten ließ. Pikiert sah mich Herr Maier an.

„Und wer sind Sie bitte?“, hörte ich die verwunderte Frage.

„Wohl die persönliche Verhaltensstörung, wie Sie es nennen“, zischte ich ihn hasserfüllt an. Noch brodelte ich nur, aber wenn nicht gleich etwas geschah, würde ich doch explodieren. Herr Maier stand das Entsetzen im Gesicht und er wich angewidert von mir zurück.

„Vielleicht sollten Sie sich auch…“, fing er schulmeisterlich auf mich einzureden.

„STOP“, knurrte Max gebieterisch.

„Entweder Sie bringen diesen jungen Mann sofort zu meinem Urenkel oder ich nehme Sie in Gewahrsam und werde Sie der Polizei ausliefern“, erklärte er dem Dicken weiter. Aus dessen angeekelten Entsetzen wurde nun das pure.

„Wie können Sie es wagen, mir zu drohen!“, versuchte er nun seinerseits einen Angriff.

„Ihnen drohen?“, lachte Max höhnisch auf.

„Was glauben Sie denn, wer Sie sind? Sie sind ein kleiner, nichtssagender Angestellter, der entweder sofort die Anweisung erfüllt oder seine Sachen packen geht. Die Anzeige kommt so oder so, nur Ihre Bereitschaft, die Sache hier sauber zu Ende zu bringen, könnte Ihre Haftbedingungen etwas mildern. Sie haben einem Menschen ohne seinen Willen hier festgehalten, sozusagen Menschenraub im moderneren Sinne, denn die Vormundschaft meiner Schwiegertochter ist sehr wohl an seinem 18. Geburtstag erloschen und eine neue wurde noch nicht bestellt. Des Weiteren ist mein Urenkel voll geschäftsfähig bis die Gerichte etwas anderes feststellen!“

Herr Maier war sehr weiß geworden, kleine Schweißperlen standen auf seiner Stirn und seine Augen hetzten durch den Raum. Zu einer Antwort konnte er sich noch nicht durchringen.

„Also“, bohrte Max noch einmal drohend nach.

Dann fasste er wohl einen Entschluss und stolperte zur Tür. Nicht nur Mikael, auch ich war ihm dicht auf den Fersen. Neben der Tür befand sich eine Wechselsprechanlage über die er einem Pfleger Bescheid gab. Kaum zwei Minuten später tauchte dieser auf. Herr Maier gab ihm kurz eine Anweisung und der junge Pfleger zeigte höflich auf die Ausgangstür. Über die Schulter warf der Senator ihm noch zu:

„Ich hoffe, wir können unser Gespräch nachher bei einer Tasse Kaffee gemütlich weiterzuführen.“

Der Pfleger führte uns um das Schloss in den hinteren Bereich. Er sah recht hübsch aus und sein Blick ruhte unruhig auf meiner Person. Fragend sah ich ihn an.

„Bist Du Jean?“, nuschelte er. Er war mit seinem Akzent fast nicht zu verstehen, aber der Sinn der Worte erschloss sich mir. Vorsichtig nickte ich. Auch wenn sein Gesicht nun einen gequälten Ausdruck erkennen ließ, war die Erleichterung ebenso abzulesen.

„Endlich“, flüsterte er oder so ähnlich. Bevor ich genauer darüber grübeln konnte, zog Hondo auf einmal mit brachialer Gewalt an der Leine. Ich konnte ihn nicht halten und musste ihn freigeben. Mit riesigen Sätzen stürmte er auf eine kleine Personengruppe ein paar Dutzend Schritte von uns entfernt zu. Sie bestand aus einem Pfleger und einem Menschen im Rollstuhl, der uns abgewandt war. Der Pfleger wich entsetzt vor dem Hund zurück, zumal Hondo nun einen nicht gerade friedlichen Eindruck machte. Ich war zwar wie angewurzelt an Ort und Stelle stehen geblieben - konnte jedoch sein lautes, tiefes Grollen sehr gut hören und die hochgezogenen Lefzen sehen. Dann hatte Hondo die Person erreicht und legte seinen großen Kopf in dessen Schoß. In den Rollstuhl kam Bewegung. Plötzlich stieß die Person im Rollstuhl den Hund von sich und schrie unverständliche Sachen. Der Pfleger wollte beruhigend einwirken, hatte aber die Rechnung ohne den Hund gemacht. Hinter meinen Rücken höre ich nur jemanden leise sagen.

„Dafür werden sie bezahlen.“ Die absolute Kälte in dieser Stimme stellte sämtliche Nackenhärchen bei mir auf.

„Geh“, raunte mir dieselbe Stimme, nur um einige tausend Grade wärmer zu und gab mir einen sanften Stoß. Meine Augen auf den Rollstuhl fixiert, taumelte ich benommen weiter. Hondo hatte sich zwischen dem Pfleger und dem Rollstuhl hingelegt und beäugte den Pfleger argwöhnisch. Zuerst sah ich den Hinterkopf, leider waren seine Haare durch eine Art Mütze verdeckt. Es war, als würde ich einen ganz steilen Berg erklimmen. Mein Schritt wurde immer schwerer, meine Atmung kürzer und kürzer und ein Schweißausbruch jagte den nächsten. Dann umrundete ich den Rollstuhl und blieb stehen …

„Raphael…“, stieß ich entsetzt hervor.

...Fortsetzung folgt…

Nachwort

He, lyncht nicht mich – meine kleinen Hauptdarsteller sind daran schuld *fg*. Irgendwann wisperten sie mir ins Ohr, an dieser Stelle doch eine kleine Pause zu machen. Keine Bange, wirklich nicht dieses Mal, der nächste Teil folgt in den nächsten 3-4 Wochen.

Und ich bin nicht fies, na ja nicht so richtig ;-).

Liebe Grüße

jR

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