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Trost 2

Kapitel 96-98

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Inhaltsverzeichnis

Kapitel 96

Erwartungsgemäß begann der Morgen damit, dass Jan schon fort war, Kai sich aber noch nicht rühren konnte. Vor der Tür pfiff das Bambi ein Lied und schreckte ihn endgültig aus seiner Lethargie auf. Als Kai sich endlich geduscht und für die Klamotten des Tages entschieden hatte, kam Jan mit Brötchen zurück und deckte den Tisch. Bardo und er unterhielten sich über den Stimmbruch und die dummen Witze, die man in dieser Zeit über sich ergehen lassen musste. Offenbar kannte Bardo mehr dumme Sprüche als Jan, weil er das bei zwei seiner Brüder schon mitgemacht hatte.

Kai zog sich möglichst gemütlich an, der Geburtstag, das Älterwerden an sich, nervte ihn an diesem Tag nicht so sehr wie sonst. Vermutlich lag es daran, dass er den Tag nicht allein begann wie in den letzten Jahren. Der Tisch war nett gedeckt. Sicherlich hatte das Bambi dafür gesorgt, Jan war so etwas immer komplett egal. Es brannte sogar ein Teelicht auf Kais Teller.

Bardo saß in aller Ruhe da, schwänzte seine erste Stunde und nuckelte an seinem extrahellen Milchkaffee mit Kakao. Anstelle des Kuchens hatte er ein Bild von einem Geburtstagskuchen gemalt. Kai fand das rührend und insgesamt war er mit einem Mal mehr und mehr für den Jungen eingenommen. Seine Abteilung für schwulen Kitsch und kitschiges Schwulentum verteilte aufgeregt Werbebanner für das perfekte Familienleben. Die Abteilung Abartigkeiten riss die Banner entrüstet wieder herunter, weil das total unsexy war.

Kai ließ sich von Bardo drücken und knutschte dann in der Küche freudig ein Weilchen mit Jan rum, was dem armen Bardo rote Ohren bescherte, dann ließ er sich zum Frühstücken nieder und wurde von den Geschenken überrascht, die er nach der ersten Tasse Kaffee erhielt.

Bardo schenkte ihm Freikarten zur Opernaufführung 'Zauberflöte'. "Ich kann jede Saison fünf Karten verschenken, weil ich im Chor bin. Für Einsteiger ist die Oper total gut geeignet, nicht so kompliziert und ziemlich lustig. Du kannst aussuchen, wann du hin willst. Es ist auch ein Mittwoch dabei, dann könntet ihr zusammen hingehen." Bardos Stimme kippelte heftig zwischen zwei Tonlagen hin und her, was ihn dazu brachte, fast nur noch zu flüstern.

Kai lachte über Jans unbegeistertes Gesicht, dankte dem ein wenig peinlich berührten Bambi und versprach zu kommen. Er dachte bei sich, dass er wohl oder übel Tini fragen musste, und erinnerte sich in diesem Augenblick siedend heiß an Pascal. Der wäre eigentlich der perfekte Mann für einen Ausflug in die Oper, wenn er dann wieder mit Kai sprechen sollte.

Da Jan ihm als nächstes sein Geschenk gab, vergaß er Passi jedoch sofort wieder. Jan schenkte ihm die komplette Buchreihe, die er zum Lernen für die Prüfung brauchen würde. Die neuste Ausgabe davon samt der Prüfungsfragen für den Computer. "Dann kannst du dir von dem Geld, das du dauernd dafür gespart hast, was nettes kaufen. Was dir wirklich gefällt."

Begeistert fiel Kai seinem Freund um den Hals, auch wenn in seinem Kopf einige radikale Stimmen krakelten, dass dieses Geschenk zu teuer gewesen war, viel zu teuer. Aber Kai war zu glücklich, um darauf zu hören. "Dann können wir doch in den Urlaub fahren! Oh, bitte sag, dass du im September auch Zeit hast, Jan!"

Jan nickte. "Hab ich schon klar gemacht. Eine Woche kann ich auf jeden Fall weg. Wir buchen einfach Last Minute, wenn wir den Termin für die mündliche Prüfung haben."

Und der Tag ging genau so toll weiter. Kai war verwirrt, aber er hatte einen unerwartet schönen Geburtstag. Seine Mutter rief ihn an, gratulierte ihm und teilte ihm mit, dass Norbert erst am Nachmittag zu ihnen in die Wohnung kommen würde. Auf die Frage nach ihrer Operation blockte sie ab und versprach, dass sie das alles am Samstag besprechen konnten.

Jan und er fuhren früh in die Uni, weil die letzten Lesungen auch zum Thema Abschlusstestate gehalten wurden. Auf dem Hinweg nahmen sie Bardo mit zur Schule, was diesem rote Ohren bescherte. Vor allen Dingen, weil er seine Tasche mit den Cellonoten im Fußraum liegen ließ und Kai, der hinten gesessen hatte, noch einmal hinter ihm her hechtete und sich aus Versehen vor einigen Schulfreunden mit einem 'Bis heute Abend, Bambi' verabschiedete.

Tini fiel Kai gleich als nächstes vor dem Hörsaal an, als Jan sich gerade mit Thilo verzog und zum Thema Bianca unterhalten wollte. Sie überreichte ihm eine kleine Schachtel. "Machs erst Zuhause auf."

"Wenn du mir was geschmackloses, peinliches schenkst, Tini, dann..."

"Nein. Keine Sorge. Dann mach's jetzt auf. Okay." Aufgeregt schlug sie die Hände vor der Brust zusammen und hopste einmal auf der Stelle. Kai ergab sich in ihren gespannten Blick und öffnete die kleine Kiste. Es war ein USB-Stick, eine kleine schwarze Scheibe mit einem silbernen K darauf. "Wow, das schaut echt schön aus. Und den kann ich echt gut brauchen!"

"Hm, ich weiß. Gefällt der dir? Dann ist's ja gut."

"Wirklich!"

"Ich hab ein paar Bilder drauf gepackt. Von Jan aus dem letzten Jahr."

Erstaunt blickte er ihr in das Gesicht und sie lächelte und wippte auf den Ballen. "Du hast keine, hast du neulich gesagt. Ich wollte dir das Geschenk gestern Abend geben, aber... naja. Alles Gute zum Geburtstag, Kai." Sie lehnte sich dichter, und just als sie ihn auf den Mund küsste, kam Holger um die Ecke.

Holger war zwar nicht eifersüchtig, aber er schlug Kai einmal schmerzhaft auf die Schulter. Dann verkündete er "Ich hab dir als Geburtstagsgeschenk gestern Abend noch das Fahrrad repariert. Alles Gute, Kai und mein Beileid. Jetzt musst du mit Tini, der Spinning-Lady, mit dem Rad zur Uni." Holger lachte laut und Kai seufzte gespielt auf, aber fand, dass Holger ihm ein echt nettes Geschenk gemacht hatte. Außerdem legte Holger einen Arm vereinnahmend um seine Freundin und führte sie in den Hörsaal ab, was Kai Ruhe verschaffte.

Es ging im LPP weiter mit Bastian und Henrike, die ihm beide sehr nett gratulierten, obgleich Kai eigentlich nichts hatte verlauten lassen wollen. Der Grund war natürlich, dass Benni ihm bereits auflauerte und ihm die beiden Fotos von ihm mit Tini und von ihm mit Jan schenkte. Hübsch hellgrau eingerahmt und damit passend zum neuen Sofa. Kai hatte die Bilder gerade ausgepackt, als Leon zu ihnen trat.

Benni war stolz auf seine Fotos und ließ sich von Leon dazu ausfragen, zu seinen Ideen und zu seiner Wunschkarriere bei einer Werbeagentur. Kai gefiel der Blick, den Leon von den Bildern auf Kai und zu den Bildern zurückwandern ließ, ganz und gar nicht. Und natürlich erwähnte Benni gänzlich uneigennützig, dass er Kai auf jeden Fall zu einer Fotosession zwingen wollte.

Aber Leon sagte nichts, sondern legte nur eine Hand auf Kais Schulter, nahe am Nacken, und raunte ihm ans Ohr "Geh doch eher, wenn du noch feiern willst, Kai."

Das lehnte Kai natürlich ab. Er arbeitete mittlerweile wirklich gern im LPP. Alle kannten ihn, er kannte alle, und einige Gäste oder Kunden, die sich häufiger Kaffee und Bagel mitnahmen, kannten ihn schon beim Namen. Wenn nicht gerade der Tag mit den roten T-Shirts dran war, fühlte Kai sich wohl mit der Bekleidung und an einem Abend wie diesem, mit einer Studentenparty, konnte er hinter der Theke in Sicherheit indirekt mitfeiern, ohne sich dummen Anmachen stellen zu müssen, und er bekam noch Geld dafür.

Benni war natürlich nicht nur wegen Kais Geburtstag erschienen, er war auch zur Party gekommen. Aus dem Augenwinkel beobachtete Kai, wie er mit den anderen aus seinem Semester feierte. Benni war noch immer eher schüchtern, aber schaffte es trotzdem, bemerkt zu werden. Er verließ die Feier nicht allein.

Leon nahm Kai mit nach Hause, nachdem sie mit Bastian und Henrike noch einen Absacker getrunken hatten. Das Wetter war deutlich besser geworden, aber nachts noch zu kalt für das Fahrradfahren. Jedenfalls für Kai, sodass er sonst mit dem Bus gefahren wäre. Leon hatte die Kamerageschichte nicht wieder erwähnt, sodass Kai sich auch nicht mehr schämte, mit ihm zu reden.

Auf der Fahrt berichtete Kai Leon von der Bardokrise. "Wie wir den Jungen jemals loswerden, ist mir nicht ganz klar. Teenager, und dazu noch welche, die von den Eltern so nachsichtig behandelt werden und von Schwulen verwöhnt... da kann doch nichts draus werden, oder?"

Leon grinste, dann versetzte er Kai einen mittleren Schock, als er sagte "Wenn Bardo noch etwas da ist, dann kann er ja mal was mit meiner Tochter machen. Die ist über Ostern bei mir zu Besuch und sie ist gerade fünfzehn geworden."

"Tochter?"

Leon nickte und lenkte den Wagen in die Garage. "Die Jüngste. Meine anderen zwei sind schon älter und aus dem Haus. Die kommen ihren Vater nicht mehr so oft besuchen, wenn sie nicht Geld wollen."

"Du bist mal verheiratet gewesen?"

Leon nickte wieder. "Zwei Mal. Ich weiß erst seit ein paar Jahren, dass ich nicht hetero bin. Hatte auch vor der zweiten Scheidung lange Zeit erst mal nur so... Affären. Eine davon war Felix."

"Oh." Kai starrte verwirrt auf das Schild, das Leons Parkplatz auswies.

"Wie auch immer. Anna ist für eine ganze Woche bei mir zu Besuch, und wenn euer Bardo auch da ist und sie mal rumführen könnte, mal was mit ihr unternehmen, Kino oder so, dann wäre ich froh. Ich bin eben doch nur der alte Papa, mit dem sie nicht mehr so richtig ausgehen will. Und, wenn ich ehrlich bin, für mich als Vater ist der Umstand, dass Bardo schwul ist, da eher ein Plus."

"Ich frag ihn", versprach Kai grinsend, aber dachte bei sich, dass Leon sicherlich der coole Papa war, mit dem die Tochter auf jeden Fall etwas unternehmen wollte.

Er selber stählte sich zunächst erst einmal für einen ganz anderen Besuch. Wenn es auch zum Thema passte: Vater und Sohn. Norbert würde vorbeikommen. Seine Mutter hatte eine Operation. Was für eine, hatte sie Kai noch nicht verraten. Verdammt nochmal! Kai war nervös und unruhig wegen des Freitags. Er sorgte sich um seinen Vater, er sorgte sich um seine Mutter und natürlich um sich selber.

Als Bardo ihn müde aus seinem Zimmer blickend fragte, was Kai am Wochenende machen würde, giftete Kai deswegen "Mich suizidieren! Mein Vater kommt her!"

Bardo blinzelte verwirrt und wollte sich gerade aus der Schussbahn verziehen, als Kai ihn noch einmal aufhielt, um ihm von dem Besuch nebenan zu berichten. "Leon wird sicherlich dafür sorgen, dass sie genug Geld für Kino oder was auch immer hat. Also wäre es kein schlechter Deal."

Unsicher lehnte Bardo sich im Türrahmen an. "Ich... bin nicht so..."

"Begeistert? Kann ich mir denken. Keiner zwingt dich. Aber mal ehrlich, was soll passieren? Und sie weiß haargenau, dass es Schwule in der Welt gibt. Ihr eigener Vater ist einer."

Aber Bardo ließ sich den Job als Teenagertouristenführer nicht so leicht andrehen. Er hob ein wenig unglücklich die Schultern und murmelte etwas unbestimmtes. Etwas verspätet fiel Kai ein, dass der Junge noch wegen der kippenden Stimme zu kämpfen hatte. Vielleicht war eine Verabredung mit irgendeinem Mädchen dann doch nicht so eine gute Idee?

Erst einmal nutzte er aber Jans Abwesenheit, um mit seinem Computer zu kämpfen, bis dieser ihm die Bilder anzeigte. Es waren verdammt viele Fotos, was Kai echt wunderte. Von Kursen, Biochemie und Physiologie, Anatomie, eine Exkursion. Von einem Fußballturnier der Uni, von Partys waren auch etliche dabei. Kai klickte sich durch die vielen Fotos und erinnerte sich daran zurück, wie er Jan kennengelernt hatte.

Er erinnerte sich, wie er krampfhaft versucht hatte, sich fernzuhalten von diesem Fußballer und der Paradehete des Semesters. Es war ihm nicht gelungen. Nicht für fünf Minuten. Jan brauchte ihm nur zuzuwinken, schon war er doch gerannt gekommen. Er war von der ersten Sekunde an von Jan begeistert gewesen. Und irgendjemand anderes offensichtlich auch. Kai blickte auf ein Foto von einem fast nackten Jan im Fummelkurs und nahm sich vor, Tini nach den Bildern auszufragen. Außerdem wollte er Lolli noch einmal fragen, wie er sich Abzüge bestellen konnte. Vorsichtig bastelte Kai sich die schwarze Scheibe an seinen Schlüsselbund.

Am nächsten Morgen passierte erst einmal etwas nicht so unerwartetes, wenn auch erschreckendes. Sie erhielten weiblichen Besuch. Kai und Jan lernten gerade mit Turbo für das Nachtestat von Jan, der mal wieder innerhalb von sehr kurzer Zeit alles parat haben musste, was andere in Wochen gelernt hatten. Natürlich hatte der gemeine Hund alles innerhalb kürzester Zeit tatsächlich auch parat, was er brauchen würde, um die Assistentin zu beeindrucken.

Kai konnte es nicht begreifen. Jan lernte wirklich und wahrhaftig nur unter Druck. Unter großem Druck. Aber wenn er lernte, dann hatte er alles in Warpgeschwindigkeit drauf. Fair war das nicht. Kai versklavte sich für seinen guten Punktedurchschnitt in der Regel wochenlang täglich.

Jan war gerade dazu übergegangen, sich dem Lernstoff für Mikrobiologie, ihrer Klausur für den heutigen Tag, zuzuwenden, nachdem er Histologie als erledigt ansah, als es an der Wohnungstür klingelte. Kai ging hin und bereute es. Es war Frau Fröhlich. Komplett wie bei ihrem Auftritt zuvor in ein asymmetrisches Kleid gehüllt, mit einem Korb am Arm, als sei sie beim Einkaufen und mit einem sehr merkwürdigen Gesichtsausdruck. Kais Hirn machte erneut 'Miep' und schaltete sich in eine Art Leerlauf.

Kai brauchte sie nicht hereinzubitten, Frau Fröhlich ging selbstbewusst an ihm vorbei. Er schaffte es nicht einmal, Jan vorzuwarnen. Frau Fröhlich kannte die Wohnung gut genug, um gleich zu ihrem Esstisch durchzugehen, wo Jan über seinem Lernstoff brütete und zugleich, wie Kai mit scharfem Blick sah, eine SMS tippte.

Jan wirkte entspannt und lächelte eher erfreut. "Oh. Wollen Sie Bardo abholen?"

"Nein." Bardos Mutter setzte den Korb auf den Tisch und ließ sich seufzend nieder. "Er war gestern bei uns und hat so geweint wegen der Sache mit dem Chor. Wir haben es ja alle schon gewusst. Er war verglichen mit Ansgar recht spät dran mit dem Stimmwechsel, sogar Nantwin hatte ihn in diesem Winter überholt, und dann war ihm der Gesang so wichtig geworden."

Kai reichte ihr ohne zu fragen einen Becher mit Kaffee rüber.

Sie lächelte unsicher. "Ich trinke nur Tee, aber danke sehr."

Kai nahm wortlos den Kaffeebecher weg und ersetzte ihn durch einen Teebecher.

Jan sah die Frau erwartungsvoll an und erklärte anstelle von Kai, der noch immer im 'miep-Modus' arbeitete "Ich trinke auch nur Tee, Kai hat sich dran gewöhnt, beides zu kochen. Was können wir denn dann für Sie tun, Frau Fröhlich?"

Sie nippte vom Tee und seufzte leise. "Ich heiße Merle, der Vorname reicht mir, sagen wir doch du."

"Gut, unsere Namen kennst du ja schon. Was können wir für dich tun? Bardo hier zu verscheuchen scheint uns nicht zu gelingen. Wir haben schon einiges versucht. Er muss sogar putzen. Er darf nur bis zehn weg sein und kein Fernsehen, wenn er die Hausaufgaben nicht fertig hat. Kai meckert wenigstens einmal am Tag wie eine Furie. Mehr stressige Erziehung schaffen wir nicht neben der Uni und den anderen Verpflichtungen."

Kai starrte seinen Freund an. Mal wieder war Jan viel zu cool, um wahr zu sein. Die Abteilung 'Umgang mit fremden Frauen' meldete ihre Existenz gerade erst in seinem Hirn an und Jan war schon mit der Mutter von Bardo per Du. Mit einer Frau, die Kai noch sehr gut in Erinnerung hatte von ihrem hysterischen Anfall neulich in ihrer Diele. Davon mal abgesehen schien sie mit einem Mal Humor zu entwickeln. Sie lächelte und nickte wissend zu Jans Ausführungen zur Erziehung.

Dann blickte sie kurz zu Kai rüber. "Ich wollte mich entschuldigen. Bei euch. Bei... dir ganz besonders." Unsicher nippte sie noch einmal vom Tee, sah Kai nicht wirklich an. "Ich fühle mich, als müsste ich den ganzen wirren Abend neulich doch noch einmal erklären."

Kai hatte eigentlich schon mit dem Horrorabend abgeschlossen, aber nickte ergeben.

Davon aufgemuntert begann Bardos Mutter zu berichten "Wir hatten ihn bei der Polizei vermisst gemeldet, weil er nicht bei seinem Freund Stefan war, bei dem er vorgegeben hatte zu sein. Stefan hat uns verraten, dass er auf eine Feier gehen wollte. Allerdings war Bardo von Stefan und seinen Eltern für den anderen Morgen erwartet worden, und die waren auch nervös, weil er nicht aufgetaucht war. Da haben wir ihn vermisst gemeldet, für den Fall, dass er irgendwo in einem Krankenhaus gelandet ist oder so.

Gleich darauf hat er uns zum Glück von der Angst befreit und angerufen, aber nur, um uns den nächsten Schock zu verpassen. Er hat uns am Telefon versucht zu beruhigen, zugleich war er so bockig und wollte euch nicht verraten. Wir hatten eine Heidenangst um den Jungen. Als er dann noch so Sätze wie 'die sind hier alle supernett' und 'sie behandeln mich gut' und 'Es macht hier wirklich nichts, dass ich so jung bin' verwendet hat, konnte ich vor Sorge kaum noch atmen."

Jan rieb sich die Augen und blickte rasch zu Kai rüber. "Wir sind zwar homosexuell, aber das hat mit pädophil nichts zu tun. Wir helfen ihm ganz ehrlich und wirklich nicht, weil wir ihn verführen wollen."

"Das glaube ich ja jetzt auch. Gestern haben wir länger miteinander geredet. Auch über euch. Jetzt sehen wir das ja in einem anderen Licht. Aber als wir an dem Abend hier auftauchten, da war dieser sehr gewöhnungsbedürftige Mensch hier und Bardo hat uns angeschrien, dass wir gehen sollten, dass er nie nach Hause kommen wird. Er ist in diesem gefährlichen Alter. Genau dazwischen. Alles muss gleich passieren, sofort. Zugleich muss alles allein durchgestanden werden. Als Eltern hat man nichts mehr zu sagen. Andere werden mit einem Mal wichtiger. Musiker, Leute wie ihr hier. Irgendwie Vorbilder und vielleicht auch Helden, die es nicht sein sollten."

"Wir versuchen unser Bestes, um unattraktiv für Bardo zu werden, aber ich gebe es zu. Ich will ihn nicht komplett verscheuchen. Ich habe ihm gesagt, dass er jederzeit bei Fragen oder Problemen zu uns kommen kann und ich stehe dazu. Wir haben ihn schon ein wenig kennengelernt, und ich glaube, dass er einfach nicht selbstbewusst genug ist, um sich allein durchzuschlagen. Ohne jemanden, der zu ihm hält."

Sie schob den Teebecher zwischen den Händen hin und her und seufzte. "Und das sind nicht die Eltern. Das weiß ich doch jetzt auch alles. Wir können noch so sehr zu ihm halten, es ist ihm doch nur peinlich. Bei euch ist es wunderbar, wenn ihr rumschimpft, wenn ihr euch kümmern wollt, wenn ihr über ihn bestimmt. Bei uns vollkommen unerwünscht. Außerdem habt ihr eine gute Ahnung von dem, was er durchmacht. Ihr seid die passenden Ansprechpartner. Bardos Vater und ich haben deswegen besprochen, dass wir ihn herkommen lassen. Wir erlauben ihm diese Flucht aus der wirklichen Welt für diese empfindliche Phase."

Kai hob den Kopf und starrte sie kurz verwirrt an. Sein erster Gedanke war 'Scheiße! Wir werden den nie los! Scheiße!'

Jan legte den Kopf schief und murmelte irgendetwas vor sich hin, endlich nickte er. "Bardo kann sich hier hin und wieder verkriechen. Wenn so Tage sind wie Mittwoch, als er aus dem Chor geflogen ist und zugleich seinen besten Freund verloren hat. Aber..."

"Ich weiß. Es tut mir leid, wenn ich euch damit so überfalle. Er soll hier nicht einziehen, keine Sorge! Keine Sorge, das wird er nicht. Ich bin mir sicher, dass er sich bald in sein Zimmer, in seine Familie, zu seinen Geschwistern zurücksehnt. Ich wollte nur sichergehen, dass er, wenn er nicht bei uns sein will..." Sie zögerte und hob den Kopf. Jetzt sah sie Kai direkt an. "Dass er dann hier sein will."

Kai blinzelte sie verwirrt an. So etwas zu hören, hätte er nie gedacht. Da sie ihn noch immer ansah, nickte er "Er kann mein Zimmer haben, wann immer er mag. Meistens bin ich da eh nur zum Lernen tagsüber drin."

Sie blickte auf ihre Finger runter. "Wir haben schon viel gelesen und gelernt. Die ganzen Sachen im Internet machen einen nervös, aber es hilft ja nichts. Wissen ist das einzige, das uns jetzt voranbringen kann. Wissen und Geduld. Man ist trotzdem so verunsichert. Heutzutage lernen die Kinder alles aus dem Internet und Fernsehen. Bei Ansgar war das noch anders und Ortrud hat sich schon so früh in der Kirche engagiert. Nantwin ist durch seine Tanzkurse am Institut derart eingebunden, mit dem haben wir noch nie Ärger gehabt. Halvar ist sehr wild, aber immer noch gut zu führen, weil er stets gleich zu uns kommt mit seinen Problemen. Aber Bardo... Er ist schon immer still gewesen. An dem Abend, als Halvar ihn so geärgert hat, war ja noch etwas, weswegen er hierher gekommen ist. Bardo war in sein Zimmer geflüchtet und hat sich dort verkrochen. Als ich am Abend noch einmal mit ihm darüber reden wollte, hab ich ihn dann auch noch erwischt mit... Bildern."

"Mit Bildern?" Das Wort Porno leuchtete über Kais Kopf auf.

Jans Augen verengte sich. "Von Männern? Nacktbilder vielleicht?"

Unglücklich nickte Bardos Mutter und trank um Worte verlegen ihren Tee. Sie kramte im Korb. "Ich hatte seinen Laptop weggenommen deswegen. Das war natürlich eine übereilte Strafmaßnahme. Ich möchte, dass er ihn jetzt wieder hat, für die Hausaufgaben. Daher hab ich ihn mitgebracht." Sie legte die Laptoptasche auf den Tisch und ein Kabel daneben. "Es liegt bei euch, ob er damit ins Internet darf oder nicht."

Jan sah sie noch immer anstrengend direkt an. "Mal sehen. Was für Bilder waren das denn?"

Merle wurde rot, strich sich durch die Haare. "Nichts schlimmes, soweit ich das sehen konnte. Halbnackte Männer eben. Bilder von einer Band, die er gern hört, aber auch Bilder, auf denen sich Männer ausgezogen haben. Es war nichts geschmackloses, aber dennoch hat es mich schockiert. Einfach einen Beweis zu sehen, dass er eben... keine Mädchen mag. Wirklich nicht."

Kai wusste, dass Jans Verwunderung über diese Art Interesse echt war. Sie hatten noch nie gemeinsam einen schwulen Porno gesehen. Kai hatte den einen Kalender mit halbnackten Männern besessen, den er von Lollis Freundin Tanja zu einem Weihnachtsfest vor zwei Jahren geschenkt bekommen hatte. Zum Umzug hatte Kai den Kalender ohne zu Zögern in das Altpapier geworfen.

Jan blickte Kai an, dann schüttelte er den Kopf. "Nein. Von uns hat er die Bilder definitiv nicht. Ich für meinen Teil habe so etwas nicht auf dem Rechner, weil es mich nicht interessiert. Kai geht mit seinem alten Ding nicht ins Netz."

Bardos Mutter sah sich einmal um, studierte die Bilder an den Wänden und Kai folgte ihrem Blick. In dieser Wohnung war von Jan und ihm selber einmal abgesehen nichts zu finden, das er selber schwul fand. Wirklich und wahrhaftig gar nichts. Keine Zeitschriften, keine Poster mit lüsternen nackten Jungs, keine Werbung von den passenden Clubs, keine AIDS-Schleifchen und keine Regenbogenaufkleber und auch und gerade keine pornografischen Sachen. Da hatte ein fünfzehnjähriges Mädchen vermutlich mehr Poster von halbnackten Männern in ihrem Zimmer.

Jan hatte seinen Spielplan vom Fußballteam am Kühlschrank und an den Wänden die jüdischen Feiertagsgemälde seiner Oma. Kai hatte seinen Kursplan an der Wand, eine Übersicht über die fiesesten biochemischen Formeln und dann hatte er das eine gerahmte Foto von Benni, das den schönen Moment zwischen Jan und ihm auf der Party von Lena zeigte, auf seinen Schreibtisch gestellt, damit er es beim Lernen immer mal wieder anträumen konnte. Das Bild von Tini und ihm war nach einem Blick auf Jans Gesichtsausdruck in die Schublade verbannt worden.

Merle Fröhlich nickte endlich einmal und stellte den Tee ab. "Ich weiß, ich weiß. Es waren meine Vorurteile. Mein Unwissen und natürlich auch der Schock. Ich hab fünf Kinder, vier Söhne. Natürlich bin ich nicht so dumm und denke, dass all diese fünf so werden, wie ich es mir erträumt habe. Aber dass ausgerechnet Bardo jetzt so schwierig wird, nachdem er so ein braves Kind gewesen ist, das habe ich nicht erwartet."

Kai blickte auf die Uhr. Sie hatten noch eine gute Stunde, bis sie zur Klausur fahren mussten. Jan hatte seinen Blick bemerkt und setzte sich etwas mehr auf. "Sollen wir Bardo jetzt rauswerfen, damit er sich daheim mehr mit den Problemen auseinandersetzt?"

"Nein. Ich will nur, dass er sich hier nicht in eine Scheinwelt versteckt. Er ist bald fünfzehn und in einem schwierigen Alter. Die ganzen Hormone, die Probleme mit der Stimme, mit seinen Freunden sind natürlich viel für ihn. Ich will nicht, dass er durch... euch und die Freundschaften, die er hier vielleicht zwangsläufig machen wird, in etwas hineingerät, das ihm später leidtun wird." Sie hob die Hände, bevor Jan etwas sagen konnte. "Er ist weich und leicht zu beeindrucken. Ihr seid seine sichere Zone, eine Art kleines Paradies. Ihr hättet allein hören sollen, wie er über euch hier spricht! Mit einem Mal sind seine Zweifel und die rücksichtslosen Witze der kleinen Brüder nicht mehr wichtig. Mit einem Mal gibt es einen Ort, an dem er seinen Fantasien nachhängen kann, ohne gestört zu werden. Das ist nicht gut. Er darf sich ja mit euch treffen, aber hier versinken und sich hier vor dem richtigen Leben verstecken, das soll er nicht."

"Er ist heute mit Badezimmerputzen dran", meinte Kai nachdenklich. "Darf er bis heute Abend bleiben? Wir werfen ihn zum Wochenende raus, da wollen wir die Wohnung sowieso für uns haben."

Merle stand auf und nickte. "Davon abgesehen bin ich gekommen, um den Mietanteil zu zahlen, der dafür ja wohl fällig wird, dass unser Sohn hier quasi wohnt."

Jan hob die Hände und lächelte. "Nicht nötig. Die Wohnung ist meine und es reicht mir, wenn er sich beim Putzen beteiligt."

"Nein. Dinge kosten Geld. Jungs in dem Alter kosten viel Geld. Ich will nicht, dass Bardo sich auch noch so hier einnistet. Wir ziehen es ihm anteilig vom Taschengeld ab. Ich will, dass er sieht, dass es Konsequenzen hat, wenn er sich hier versteckt! Für euch, für uns und auch für ihn."

"Okay. Kai, was für Miete zahlst du mir für das Zimmer?"

Kai rechnete rasch aus, was die Woche kostete und tatsächlich zückte Merle ein Portemonnaie und bezahlte die Miete ohne sich von Jans Protesten abhalten zu lassen. "Bitte, wenn ich noch um etwas bitten darf." Sie wurde unruhig, räumte ihre Sachen ein und stand schon auf.

"Ja?"

Unsicher blickte sie sich im Wohnraum um, dann sah sie Kai flüchtig ins Gesicht. "Bitte, wenn er sich verlieben sollte, jemanden besonderes finden, dann..."

Kai wusste, was sie wollte und wunderte sich, dass Jan sie hängen ließ. Er selber schwieg natürlich zu diesem Thema, auch wenn Merle ihn ansah und nicht Jan.

Sie seufzte und sprach es aus. "Natürlich mache ich mir Sorgen, dass er Sex hat und nicht aufpasst."

Jan lächelte. "Keine Sorge. Nach dem, was ich bislang von ihm weiß, gehe ich davon aus, dass er ausreichend aufgeklärt ist. Er weiß, was er zu tun hat."

Sie seufzte unglücklich. "Hoffen wir es."

Kai ging davon aus, dass Bardo sich schon mit ihren Kondomen im Badezimmer befasst hatte. Zumindest hatte neulich eine Packung gefehlt und war nicht bei ihm oder Jan aufgetaucht. Der Junge mochte zwar noch nicht durch den Stimmbruch sein, aber der Taschentuchvorrat, den er verbrauchte, zeigte deutlich, dass er sich schon mit der Mechanik der Masturbation vertraut gemacht hatte.

Da Merle schon stand und er auch und Jan ihn auffordernd ansah, als sie sich verabschiedete, brachte Kai die Frau zur Tür. Sie blieb noch einmal stehen, als Kai die Hand schon auf der Klinke hatte, und sah ihn an. "Du magst bisexuell sein, aber Bardo ist das nicht, oder? Oder vielleicht doch?"

Kai schloss kurz die Augen, dann schüttelte er den Kopf. "Ich bin das nicht, Jan ist das."

"Aber das Mädchen neulich..."

"Nur eine Freundin."

Merle blickte ihm forschend in das Gesicht. "Oh, weh. Bardo hat so was erzählt. Ich hoffe, dass er nicht..." Sie brach ab und schüttelte den Kopf. "Danke für die Zeit und den Tee."

Kai blickte ihr nach, bis er unten die Haustür hörte. In seinem Kopf wechselten sich die Fragen ab. 'Was soll er nicht? Was hat er über Tini gesagt?'

Kapitel 97

Jan lenkte Kai damit ab, dass er in den Flur kam und verkündete, dass er sich gerade noch auf ein Lernen in letzter Minute mit Holger verabredet hatte. Kai hatte zwar keine Lust, zu früh in der Uni rumzuhängen und Tini wohlmöglich in die Fänge zu geraten, aber er wollte noch weniger mit dem Fahrrad oder dem Bus fahren. Hastig klinkte er sich bei Jan ein.

Das Lernen in letzter Minute fand immer in der anatomischen Sammlung ganz hinten bei den Hörsälen statt, in denen die Klausuren auch abgehalten wurden. Kai ließ sich in der letzten Fensternische nieder und klappte das Mikrobiologieskript auf seinen Knien auf. Er setzte sich komplett in die Nische rein und stellte seine Füße gegenüber an, sodass er erst aus der Nähe zu sehen war.

Ganz auf der anderen Seite saßen Jan und Holger zusammen mit Thilo zwischen den Modellen der Sinnesorgane und fragten sich gegenseitig die alten Klausurfragen ab. Kai senkte seinen Blick zwischen ein paar verträumten Momenten gerade wieder auf sein Skript, als er den silberblonden Schopf von Bianca entdeckte. 'Schnatzenalarm! Scheiße, was will die denn schon wieder!'

Was sie wollte, schien zunächst klar. Doch dann sah Kai, der mit schmalen Augen rüberspannerte, dass nicht Jan ihr Ziel zu sein schien, sondern Thilo. Bianca klatschte dem ein Buch vor den Latz und schob ihm noch eine Tüte mit Kram zu. Was sie sagte, konnte Kai nicht verstehen, aber Holger und Jan kamen gleich drauf zu ihm rüber. Vermutlich um nicht zu stören.

Jan setzte sich auf den Tisch vor Kais Fensterbank und Holger ließ sich auf einem Stuhl nieder.

"Wie lang gibst du ihm?" Jan grinste.

Holger erwiderte das Grinsen und hob eine Hand. "Fünf Minuten. Mehr kann er nicht aushalten."

"Was?"

Jan streckte sich und nickte rüber. "Bianca hat mal wieder ihr Killeroutfit an. Hohe Stiefel, diesen Scharfmachpulli und Minirock... wenn die Thilo jetzt noch von der Unterwäsche erzählt, die sie nicht trägt, sind die in den nächsten fünf Minuten zum Versöhnen weg."

Doch es kam anders. Thilo war weg. Ohne sie allerdings. Ganz offensichtlich reichten die Reize von Bianca nicht aus, um sie bei Jans Kumpel soweit wieder ins Gespräch zu bringen.

"Hatte er nicht grad gesagt, dass er ihr auf jeden Fall verzeiht?"

Holger schüttelte den Kopf. "Vielleicht doch nicht, was?"

"Tja." Jan hob den Kopf und blickte zu Bianca rüber. Die tippte hektisch auf ihrem Handy rum und ging in entgegengesetzter Richtung davon.

Kai sah Bianca nicht wieder, weil sie Mikrobiologie in einem anderen Saal schrieb und er danach dann vor dem kleinen Mikroskopierraum warten musste, bis Jan sein Testat bestanden hatte, damit sie gemeinsam nach Hause fahren konnten. Er brachte die Wartezeit damit hinter sich, dass er die Handys von seiner Mutter und seinem Vater ausprobierte. Er erreichte sie beide nicht und starrte nervös alle paar Sekunden auf die Uhr, machte sich Sorgen um seine Mutter und um Jan.

Kais Puls blieb gleich so hoch, als sei er noch im Prüfungsstress. Sie würden sich auf einen Kaffee mit Norbert in der Wohnung treffen, dann würden sie zum Fußball fahren. Mit Norbert. Kai war so nervös, dass Jan auf der Rückfahrt schließlich seine unruhigen, an der Hose wieder und wieder entlang streichenden Finger umfasste und ihn ein wenig harsch anfuhr "Hör auf zu zappeln!"

Jan war in seiner Trance vor dem Fußball. Das war ein merkwürdiger Zustand bei ihm. Er war dann schweigsam, in sich gekehrt und schien im Geiste irgendwelche Bewegungsabläufe durchzugehen, sich zu sammeln. Da musste Ruhe herrschen, nicht mal das Autoradio durfte laufen. Kai wusste gut genug, dass er da besser nicht störte, weil sein Freund sonst unangenehm werden konnte. Mit Mühe riss er sich zusammen und beherrschte seine Bewegungen, sodass er nicht mit Jan aneinandergeriet. Das konnte er jetzt nicht brauchen. Er brauchte komplette und vollständige Einigkeit mit seinem Freund, um seinen Vater zu überstehen.

Sie kamen etwas früher als gedacht in der Wohnung an und Kai schaffte es, sich seine festen Stiefel für Matschwetter und einen dicken Pulli anzuziehen, bevor Norbert an der Tür klingelte. Gespannt wartete Kai in der Tür, was sein Vater als Geburtstagsgeschenk mitbringen musste.

Norbert kam die Treppen mit langsamen Schritten hinauf, als ob er den Weg mühsam fand. Er begegnete Kais Blick nur kurz, aber er lächelte. "Deiner Mutter geht es gut. Die Operation ist wie geplant gelaufen und es ist alles in Ordnung." Das sagte Norbert noch bevor er direkt vor Kai angekommen war. Man sah ihm deutlich an, dass seine Sorge um seine Frau ihm sehr auf dem Herzen gelastet hatte.

Dankbar erwiderte Kai das Lächeln und fragte, seinem Vater die Jacke abnehmend "Was hatte sie denn nun?"

Norbert reichte Kai einen Umschlag und ein weiches Paket. "Erst einmal herzlichen Glückwunsch nachträglich zu deinem Geburtstag, Kai."

"Danke." Kai bat seinen Vater mit durch und bot ihm verschiedene Getränke an, um etwas sagen zu können. Norbert nahm Kaffee, was Kai zuvor schon gewusst hatte. Die Becher und den Zucker hatte er schon auf dem Tisch. Norbert war ihm jedoch nicht in den Raum gefolgt, sondern im Durchgang stehen geblieben und starrte die neuen Möbel an.

Stolz blickte Kai auch zur Sitzgruppe hinüber. "Ist gut geworden, nicht? Mein ehemaliger Mitbewohner Peter hat doch vor dem Studium Dekorateur gelernt. Daher kann er Möbel aufarbeiten."

Norbert nickte unsicher. Das Verhältnis zwischen Lolli und Norbert war, soweit überhaupt vorhanden, sehr gespannt gewesen. Norbert ging endlich zum Esstisch weiter durch, setzte sich aber nicht, sondern blickte aus dem Fenster. Er nahm sich den Kaffee selbst und beobachtete, wie Kai das Geld aus der Geburtstagskarte nur kurz beiseite legte und sich dann dem Paket widmete. "Deine Mutter hat mal wieder was aufgeschnappt aus deinen letzten Anrufen. Du kannst es umtauschen, sie hat den Kassenzettel aufgehoben."

Es klang, als sei Norbert gegen den Kauf gewesen. Das konnte ja nur was gutes sein. Kai enthüllte eine Weste aus weichem, schwarzem Fleece, die sicherlich nicht billig gewesen war. Sie war lang genug, um auf dem Fahrrad passend zu sein. Er hatte bei seinen letzten Anrufen wirklich erzählt, dass er jetzt vermutlich mehr mit dem Fahrrad zur Uni fahren würde. "Die ist toll. Danke!"

Norbert blickte noch immer aus dem Fenster, seinen Becher in einer Hand. "Sie hatte eine Zyste am rechten Eierstock. Das sollte per Bauchspiegelung gemacht werden, aber weil der Ultraschall so verdächtig aussah, haben wir uns für die Uniklinik entschieden. Wäre es bösartig gewesen, hätten sie dort gleich weiter operiert."

"Oh. Aber es war gutartig?" Kais Finger gruben sich in den kuscheligen Stoff der Weste. Angst um seine Mutter machte ihm einen trockenen Mund.

Jan wählte genau diesen Moment, um in Fußballklamotten mit der großen Sporttasche für Wettkämpfe in der Hand aus ihrem Schlafzimmer zu kommen. Die Trikots wurden vom Verein gewaschen, aber Jan zog sich meistens schon Zuhause um, wenn sie ein Auswärtsspiel hatten. Mit scharfem Blick, weil er sich natürlich Gedanken um Kai und seinen Vater gemacht hatte, sah er Kais Sorge sofort und machte sie zu seiner eigenen. Das war nicht gut. Nicht vor Norbert. Hastig sprang Kai auf und sprach zu schnell und hektisch "Das ist ja toll, dass sie so glatt davon gekommen ist. Jan, müssen wir nicht gleich los?"

"Nein. Wäre noch zu früh." Jan sah ihn mit misstrauischem Blick an, aber ließ sich von der Fährte bringen und reichte Norbert die Hand. Sie sprachen kurz über das bevorstehende Spiel. Norbert wollte selber fahren und gab den Ort in sein Navigationsgerät ein. "Dann kann ich früher zum Krankenhaus oder Hotel zurück, wenn ihr noch feiern wollt."

Kai war es ein Rätsel. Er selber konnte mit Norbert nur über den Garten reden oder mal das Auto. Ansonsten schwiegen sie. Mit Jan fanden sich immer Themen. An diesem Nachmittag die Möglichkeit, das Mietshaus mit einer Fotovoltaikanlage auszustatten. Norbert war eher dafür, eine Solarthermie zu nehmen und Jan und er rechneten über einem Kaffee hin und her, ob sich solch eine Geldinvestition aus den Ersparnissen wieder amortisieren würde.

Kai verstand nur noch Bahnhof und bewunderte Jan für seine sichere Art im Umgang mit dem Haus und diesen ganzen langweiligen wichtigen Themen. Norbert selber war Banker, der rechnete für sein Leben gern, wenn er nicht gärtnern konnte. Daher hatte Jan mal wieder genau das richtige gesagt und gefragt. Es war Kai ein Rätsel, wie er das immer schaffte.

Im Auto fragte Jan jedoch sofort nach Kais Sorge seine Mutter betreffend. "Norbert sah ganz grau aus im Gesicht. Der war ja froh, dass ich ihn abgelenkt habe. Was war mit deiner Mutter?"

Kai seufzte und sah kurz zu Jan rüber. "Es war im Endeffekt nur eine Zyste am Eierstock, aber für eine kleine Weile hätte es auch Krebs sein können. Sie wollte sichergehen und ist deswegen hier in der Uni." Kai senkte den Kopf. "Sie muss sich echt Sorgen gemacht haben, sonst hätte sie es mir erzählt."

"Und dann wolltest du nicht hin?"

"Gott bewahre! Meine Mutter ist auf gar keinen Fall der Typ, den man im Krankenhaus besuchen darf. Auf der Arbeit ja, aber selber als Patientin? Wenn dir dein Leben lieb ist, tust du das nicht. Das fand sie schon immer schrecklich."

"Ah. Der arme Norbert. Dann war er den ganzen Tag allein mit der Furcht."

Realistisch nickte Kai dazu. "Deswegen war er eben total nett zu mir. Es gibt auch gute Seiten an so etwas."

Jan lachte auf, aber musste sich auf den Verkehr konzentrieren. "Du bist ein Soziopath, wusstest du das schon?"

Kai nickte erneut. "Ja. Was meinst du, wie ich so lang überlebt habe?"

Jan tauchte kommentarlos wieder in seine Trance vor dem Fußball ab, aber streichelte Kai mit einer Hand leicht im Nacken, während er durch den Sprühregen zu dem kleinen Ort rausfuhr, wo sie spielen würden. Endlich bog er zum Sportplatz ein. Er winkte im Vorbeifahren jemandem zu und blickte mit schmalen Augen die Autos entlang. "Ist besser, wenn wir nicht zusammen hier rumlaufen, sonst knutsche ich dich aus Versehen zum Abschied und das wär nicht so toll, okay?"

Kai sah Jan kurz an, aber der parkte gerade rückwärts ein und beachtete ihn nicht. "Nee, das wär mir zu peinlich. Viel Erfolg." Er wartete nicht auf Jan, sondern sprang gleich aus dem Wagen und ging, die Hände unsicher in den Hosentaschen vergraben, schon mal vor in Richtung Sportplatz.

Kai kannte Fußballspiele von den Wochenenden Zuhause und Jan hatte ihn schon passend eingenordet, aber Kai traf am Eingang zum Fußballfeld sofort auf Bastian und seine Freunde und von da an war das Spiel ein Selbstläufer. Bastian, komplett in Rockerklamotten und mit seinem Hasi im Arm, zeigte ihm, auf welches Tor sie in der ersten Halbzeit spielen würden, wo es Bier gab und alkoholfreies Bier und wo man am besten stehen sollte. Allerdings wollte Bastian ihn natürlich nicht bei seinen Kumpels haben und das war Kai auch sehr recht.

Er ging nach der kurzen Unterhaltung stattdessen mit seinem Vater zu einem guten Platz am Spielrand. Der Verein, bei dem gespielt wurde, hatte keine richtige Tribüne, nur eine etwas erhöhte Bankreihe, die allerdings dank spendablem Autohausbesitzer überdacht war. Das war auch gut so, Norbert und Kai waren schon leicht durchnässt vom Sprühregen an diesem Abend, als das Spiel losging.

Kai hatte eigentlich vor, gelangweilt zu sein wie sonst beim Fußball, aber er schaffte es gar nicht. Es war unglaublich faszinierend, Jan beim Spielen zuzusehen. Sein Freund machte in der Uni in der Regel einen muffeligen, ein wenig müden Eindruck, wenn er nicht in Diskussionslaune war. Dann wirkte er eher aggressiv und anstrengend. Er wirkte in Kursen oder bei Unterhaltungen, die ihn nicht interessierten, gern auch mal dumm, was er überhaupt nicht war. Eigentlich taute Jan nur bei Mädchen, die er anbaggern wollte auf, oder auf Partys und machte dann aber eher flache Sprüche oder blöde Witze. Gern verschwand Jan auch mit seinen Kumpels an einen Tisch, wo dann stundenlang einfach nur Blödsinn erzählt und getrunken wurde.

Es war Kai noch immer schleierhaft, wie Jan so viel Bier in sich schütten und dann noch so geil aussehen und so fit sein konnte. Es brachte viele Leute in ihrer Umgebung auch dazu, sich zu wundern, wie er es mit Jan aushielt. Lolli und die Meiersche vorneweg. Auch Tini konnte Jan nicht sonderlich leiden. Aber Kai kannte ihn anders als sie. In der Uni, wenn er Bock hatte, superschnell von Kapie und intelligent, was für Assistenten in Kursen zu ebenso unerwarteten wie unangenehmen Rückfragen führen konnte. Und wenn Kai mit ihm allein war, konnte er wie ausgewechselt sein. Besorgt, umsichtig, mit ausgesprochen gutem Sonar für Stimmungen ausgestattet, zärtlich und nicht zuletzt leidenschaftlich.

Und so kannten ihn offensichtlich auch seine Teamkollegen. Jan organisierte den Sturm, achtete darauf, dass alle in Reihe blieben und kein Streit aufkam. Er kümmerte sich um Spieler, die gestürzt waren, half im Mittelfeld aus, wie Norbert es nannte, lobte und freute sich, wenn anderen etwas gelang, baute auf, wenn die Pässe nicht liefen. Er merkte sofort, wenn hinten etwas nicht stimmt, aber war zugleich fit genug, um ruck-zuck vorn am Tor aufzutauchen. Die Gegner hatten ihm recht wenig entgegenzusetzen. Einmal wurde Jan fies umgerempelt und landete mit Überschlag im Matsch, sodass Kai die Augen zusammenkneifen musste, aber ansonsten wich er den Gegnern stets ohne größere Probleme aus.

Er spielte mit leidenschaftlicher Freude. Man sah ihm außerdem auch als Laie an, dass er seit Jahren täglich Fußball gespielt hatte, dass er deutlich besser war als jeder andere im Team. Die kleinen Tricks, die er einfach so zeigte, den Ball um sich spielen, die Fußwechsel, jemandem ausweichen, in eine Richtung laufen, den Ball jedoch unverhofft in eine andere schicken. Das machte er nebenbei, schien es im Blut zu haben.

Kai selber war froh, wenn er einen Ball richtig traf und ihm hinterher nicht der Fuß wehtat, aber Jan spielte damit. Es sah wie ein Tanz aus. Es sah aus, als würde es wirklich Spaß machen. Und Jan konnte aus dem verspielten Tanz auch mit einem Schritt, einer Bewegung nur eine sehr kraftvolle Attacke machen. Da Jan nicht nur Linkshänder war, sondern auch mit links schoss, war der Torwart wohl komplett mit den Angriffen überfordert. Die ersten zwei Tore gingen damit auf Jans Konto.

Nicht nur Kai war beeindruckt. Norbert lehnte sich in der Halbzeitpause gegen den Zaun und nippte von seinem alkoholfreien Bier. "Er ist wirklich gut. Hätte das Zeug zu einem Profispieler gehabt, wenn man mich fragt. Jetzt ist er zu alt, denke ich."

Kai nickte und vergrub die klammen Hände tiefer in seinen Jackentaschen. "Er wollte das erst, aber hat sich dann für das Studium entschieden. Vielleicht würde er sonst jetzt dauernd im Fernsehen rumlaufen."

"Haben seine Eltern ihn überzeugt? Vielleicht war das ein Fehler. Man sieht ja, dass es ihm Spaß macht, und er die Kondition und Kraft hat, um gut zu sein. Verdammt schnell, der Junge."

"Nein. Er selber wollte nicht Fußballer werden. Seine Eltern lassen ihn wohl alles allein entscheiden, aber Jan hat ein Praktikum im Krankenhaus gemacht und das hat ihn wohl davon überzeugt, dass er Arzt werden will. Sein Vater ist ja auch Chefarzt, irgendwie ist es ein logischer Weg."

Norbert zog die Brauen zusammen und beobachtete das Team von Jan. Sie machten sich warm und tranken isotonische Drinks. Bastian und seine Freunde lehnten in der Nähe und redeten mit einigen von ihnen. Kai wurde einen Augenblick später davon überrascht, dass Norbert sich zu ihm umdrehte und ihn ansprach "Was hat dich dazu gebracht, Kai? Wieso willst du Arzt werden? Ich weiß, dass du viel mit Martina im Krankenhaus gewesen bist, aber was war der wirkliche Grund?"

Unsicher sah Kai seitwärts zu seinem Vater rüber, dann hob er die Schultern "Ich fühle mich wohl, wenn ich mit Patienten zusammen bin, wenn ich ihnen helfen kann. Krankenhäuser sind irgendwie angenehm für mich. Die Atmosphäre dort, die Arbeit auch. Besonders im OP. Nähen und so hat mir immer Spaß gemacht."

Norbert schüttelte den Kopf. "Als du uns gesagt hast, dass du studieren willst... ich weiß noch, wie wir gerechnet haben, ob wir das bezahlen können neben dem Altenheim für deine Großmutter. Und ich erinnere mich noch, wie Martina mir sagte, dass sie weiß, dass es genau das ist, was du willst. Aber ich habe das nie gewusst. Du warst immer so..." Er senkte den Kopf, setzte noch einmal an "Du bist immer so entfernt gewesen, seit..."

Kai hob das Kinn und blickte über das Fußballfeld, über dem im Scheinwerferlicht der Regen wie ein Schleier schwebte. "Seit ich vierzehn war?"

Norbert schwieg, die Augen zusammengekniffen, schließlich nickte er leicht. "Ja. Seit dem Tag." Er sah Kai noch einmal von der Seite her an. "Du hast mir das nie verziehen."

Kai umarmte sich selber fest und sah hastig weg. Er fühlte eine bleierne Übelkeit in seinem Bauch. Endlich flüsterte er heiser. "Nein." Es war ganz und gar nicht, wie er fühlen wollte, aber es war die Wahrheit.

Norbert nickte einmal. "Ich... bin nicht perfekt und werde es nie sein. Ich bin als Vater vom ersten Augenblick an nicht so doll gewesen und dann auch noch für dich. Damals, als deine Mutter noch liegen musste, hab ich nie Lust gehabt, dich rumzuschieben oder im Arm zu halten. Die Hebamme und deine Tante haben das normal gefunden. Männer haben kein Interesse an einem Baby hieß es immer. Aber ich fand es nicht normal. Wenn man Vater wird, soll man da nicht sofort übersprudelnde Liebe fühlen? Aber ich hatte nur Angst um meine Frau. Fast hätte diese Geburt Martina umgebracht durch diese schreckliche Nachblutung damals und dann die Embolie... Es war ja nie im Leben deine Schuld, aber ich wollte dich irgendwie nicht haben, wenn sie nicht auch da sein konnte. Dabei warst du meine einzige Chance. Ich hab sie verspielt. Von Anfang an."

Kai seufzte. Seine Mutter wäre bei seiner Geburt fast gestorben. Sie hatten ihr in einer Notoperation die Gebärmutter herausnehmen müssen, weil sie so heftig geblutet hatte. Anschließend erlitt sie noch eine Lungenembolie und wäre noch einmal fast gestorben. Sie hatte über diese Zeit immer gesagt, dass sie Kai so sehr geliebt hatte, dass er all diese Gefahren wert gewesen war. Natürlich hatte Norbert das nicht so gesehen. Kai warf einen Blick auf Norberts ernsthaftes Gesicht, seine Brille war vom Regen gesprenkelt. "So schlecht warst du dann auch wieder nicht, später."

Und das war auch die Wahrheit. Norbert hatte Kai mit einer unglaublichen Geduld all die wichtigen Dinge im Leben beigebracht. Laufen, Schwimmen, Radfahren, Pfeifen und auf den Fingern pfeifen. All die Pflanzen in ihrem Garten hatte er Kai immer erklärt. Er hatte die ersten Schulklassen lang auch mit ihm Rechnen und Schreiben geübt. An den Wochenenden, an denen Kais Mutter Frühdienst gehabt hatte, hatten sie lange Jahre gemeinsam gefrühstückt, Pfannkuchen, weil Norbert die mochte und seine Frau das nicht für das Frühstück passend fand. Kai gab es zu. Sie waren von dem Schock damals überdeckt, aber sie hatten schöne gemeinsame Erinnerungen, sein Vater und er.

Norbert rieb sich den Nasenrücken, nahm seine Brille ab und putzte sie. "Als ich heute daran gedacht hab, dass Martina vielleicht Krebs haben könnte, vielleicht daran sterben, da hab ich nichts weiter denken können, als dass ich dann allein bin. Ganz allein auf der Welt! Ich hab daran gedacht, warum das so ist. Und ich musste dann an dich denken, wie entfernt wir immer sind... vermutlich sein werden." Er drehte sich zu Kai um und sah ihn an "Und eben, als ich dich und ihn so gesehen hab, da war ich das erste Mal froh."

"Was?!" Kai blinzelte, spürte, dass er rot wurde, und blickte unsicher auf das Schild an Norberts Bier. Alkoholfrei, definitiv.

Norbert hatte seinen Blick aufgeschnappt und lachte einmal rau auf. "Da hast du es. Kaum geht es deiner Mutter mal schlecht, ist es schon vorbei mit mir. Mein eigener Sohn hält mich für verrückt."

"Nein, nicht verrückt, nur nicht für dich selbst."

Norbert trat einen Schritt auf ihn zu und sah ihn unangenehm direkt an. "Es ist ihr größter, ihr allergrößter Wunsch, Kai. Dass du nicht allein sein musst. Und du bist dermaßen in dich gekehrt und abweisend, hattest nach... dem Tag nie wieder Freunde mitgebracht, das hat sie so unglücklich gemacht und..." Er zögerte. "… mich auch." Hastig wandte er sich von Kai fort, der einen viel zu schnellen Puls hatte und sich komplett unwohl fühlte. Heiß und kalt, wie bei Grippe, sein Herz tat ihm weh und sein Hals. Norbert sprach leise weiter. "Deswegen sind wir so froh zu sehen, dass es dir jetzt wieder gut geht, dass du doch Freunde haben kannst. Sogar eine... hm, Partnerschaft. Dass du nicht allein bist."

Kai seufzte leise und nickte endlich. Da hatte Norbert recht. Er selber war auch froh, nicht mehr allein sein zu müssen. Aber Freunde? Hatte er die wirklich? Eigentlich fielen Lolli, Tini oder Lukas nicht in diese Kategorie. Doch dann dachte er an Pascal zurück und sagte leise "Pascal Feinweber lebt auch in der Stadt. Wusstest du, dass seine Eltern nicht wissen, dass er auch...?" Er zögerte, dann ließ er den Satz offen. Sein Vater war unglaublich merkwürdig, aber Kai wollte den Bogen nicht überspannen.

Norbert trank einen großen Schluck Bier, wie um seinen Mund nach all den ungewohnten Worten auszuspülen. "Ich bin damals zu ihnen hin und habe mich entschuldigt, für die Unachtsamkeit mit ihrem Sohn. Ich habe ihnen gesagt, dass ich euch Jungs erwischt hab mit Alkohol. Seitdem reden Feinwebers nicht mehr mit uns. Haben sogar die Bank gewechselt." Er sah Kai von der Seite her an. "Aber ich bin mir absolut sicher, dass sie es wissen, Kai. Wir haben es nicht ausgesprochen. Wir haben es 'Alkohol' genannt, aber sie wissen es."

Kai sah, dass Norbert sich sicher war, und nahm sich vor, Pascal danach zu fragen, wie es bei ihm daheim aussah. Jan erlöste ihn im nächsten Moment aus dieser unendlich anstrengenden Unterhaltung. Er kam angelaufen, die Strümpfe von den Schienenbeinschonern geschoben, mit wirren, verschwitzten Haaren und von seinem einen Sturz mal wieder komplett verdreckt. Er lehnte sich über den Zaun. "Wir können hier im Verein duschen, dann müssen wir nicht so nass und eingesaut in die Autos. Dann wollen wir zum Griechen um die Ecke. Scheint akzeptables Essen zu sein und ist mal was anderes als unsere Stammkneipe. Wollt ihr mitkommen?"

Norbert nickte. "Aber ich fahre direkt nach dem Essen in die Klinik rüber. Martina sagt zwar immer, dass sie keinen Besuch will, aber das ist natürlich gelogen."

Kai blinzelte und begegnete Jans Blick. "Ich fahre dann auch. Von der Uniklinik komme ich immer mit dem Bus zurück nach Hause."

Jan legte den Kopf schief, dann nickte er und trabte zu seinem Team zurück, damit sie die zweite Halbzeit beginnen konnten.

Kai konnte das Spiel nicht mehr so verfolgen, wie in der ersten Halbzeit. Die Worte von Norbert geisterten in seinem Kopf umher. Ihm fiel auch wieder ein, wie seine Mutter ihm gesagt hatte, dass Norbert froh war, dass er mit Jan zusammenlebte. Mit einem Mal war sein Vater dafür, wenn er auch noch mit einem Mann zusammenlebte? So viel konnte der Fußball allein doch nicht ausmachen, oder doch?

Das Spiel war Kai ein Rätsel. Seit er seinen Vater kannte, hatte es ihre Wochenenden bestimmt. Die Bundesliga, Pokalspiele, die Meisterschaften, die lokalen Spiele mit dem Verein. Nie durfte Kai einen Film sehen, wenn mal Fußball lief. Vermutlich war er deswegen so stoisch, wenn es sich in Jans Leben ebenso verhielt. Er war es schlicht seit seiner Kindheit nicht anders gewohnt.

Er sah seinen Vater von der Seite her an und meinte endlich "Ich bin mittlerweile froh, dass du so viel Fußball geschaut hast und dauernd zu Fußballspielen hin bist."

"Du magst Fußball nicht, Kai." Es klang wie ein Tadel.

"Ja. Aber ich mag Jan und der mag Fußball. Ich hab von dir gelernt, mit dem Spiel zu leben, wenn ich den, dem es etwas bedeutet, auch mag."

Norbert drehte seine leere Bierflasche in den Händen und blickte darauf. Dann hob er seine Augenbrauen, wie wenn seine Frau ihm etwas freches sagte und lächelte.

Kai nickte einmal und vergrub seine Hände in der Jackentasche. Er wusste, dass Norbert ihn noch immer unheimlich fand, ein wenig verwirrend, aber nicht unsympathisch. Und Norbert mochte Jan, das war wunderbar. Und war das nicht die Hauptsache? Kai selber hatte weiterhin einen Heidenrespekt vor seinem Vater, obgleich Norbert ihn seit der Regennacht im November nie wieder angefasst hatte, nur mit kleinen Sprüchen unterdrückt oder deprimiert.

Er wusste, dass Norbert wie der Zwerg in ihrem Garten sicherlich auch nach außen lächeln konnte, selbst wenn er sich innerlich hohl fühlte, nicht stark und fröhlich. Jetzt wusste Kai doch auch, dass nicht nur er all die Jahre unter der Nacht im Regen, im Oktober gelitten hatte. Norbert hatte mit ihm gelitten, unter seiner Kälte und Einsamkeit, darunter, dass es nichts gab, das sie verband. Mit einem Mal, durch seinen Freund ausgerechnet, gab es diese Verbindung wieder. Und Norbert lächeln zu sehen, ihm zuzulächeln, war schön.

Erleichtert sah Kai dennoch, dass das Spiel sich dem Ende näherte. Er wollte nicht noch länger neben Norbert stehen bleiben und er hatte schon nasse Füße. Jans Team lag mit vier Toren vorn. Jan hatte zwei geschossen, eines vorbereitet und Kai war stolz auf seinen Freund. Die Stimmung bei den alteingesessenen Fans war ebenfalls grandios. "Ich bringe mal die Bierflaschen zurück, okay?"

Sie mussten nach dem Spiel noch ein Weilchen warten, weil das Team sich duschte und besprach. Aber endlich kam Jan und sie fuhren gemeinsam die paar Straßen weiter zu einem griechischen Lokal, wo man an langen Tischen sitzen und sich daneben benehmen konnte. Jan war wie immer bei solchen Gelegenheiten. Er war mittendrin und machte dumme Sprüche, hatte auch schon ein großes Bier vor sich stehen.

Kai saß nicht neben ihm, sondern mit seinem Vater über Eck beim Trainer der Mannschaft. Norbert und der Trainer tauschten sich angeregt über Taktiken aus und über Jans Fähigkeiten. Kai war für alle der Mitbewohner und wurde als solcher mit freundlichem Desinteresse akzeptiert.

Tatsächlich war der Trainer froh, dass Jan keine Lust auf eine Profikarriere hatte. "Ist doch ein Glücksgriff für ein Team wie dieses, dass so ein Spieler andere Angebote ablehnt. Es ist schade, dass er die nächste Saison nicht mehr so viel spielen und trainieren wird, aber auch in der zweiten Mannschaft ist er Gold wert und als zweiter Trainer für die größeren Jungs lässt er sich vernünftig an, hat gerade die unruhigen, schwierigen Fälle gut im Griff. Und er ist verdammt fix. Er ist so fit wie die Jungs, hält mit ihnen beim Ausdauerlaufen und beim Krafttraining voll mit."

Kai hatte ja gesehen, wie Jan mit Bardo und seinen Eltern umgegangen war, und traute ihm ohne weiteres zu, ein guter Trainer zu sein. Zudem konnte jemand, der so gut spielte und so viel Freude am Spiel hatte, diese Freude sicherlich auch gut weitergeben.

Der Abend war insgesamt überhaupt nicht schlimm gewesen. Kai verabschiedete sich dennoch mit Erleichterung, als sein Vater ihn ins Krankenhaus mitnehmen wollte. Er hatte nur rasch zu seinem Freund rüber winken wollen, aber Jan brachte sie zum Wagen raus, was Kai ein ungutes Gefühl in der Magengegend bereitete. Nicht umsonst. Er hatte sich gerade auf den Beifahrersitz fallen lassen und sein Vater war noch am Kofferraum beschäftigt, als Jan sich zu ihm herein lehnte und ihn intensiv ansah. "Grüßt du sie von mir, bitte?"

"Mach ich." Unruhig rückte Kai von ihm weg und fummelte am Gurt.

Jan ließ ihn nicht entkommen, obwohl Norbert sich schon in den Fahrersitz zurechtsetzte und die Adresse vom Krankenhaus in sein Navigationsgerät eingab. "Schalte doch dein Handy an, damit ich mich melden kann, wenn ich hier losfahre. Vielleicht bist du noch an der Uni, dann hole ich dich einfach dort ab, ja?"

"Du hast getrunken."

"Ein Glas."

Kai sah ihn misstrauisch an, aber Jan blickte neutral zurück und fügte hinzu. "Danach nur noch kastriertes Bier."

"Oh." Hatte Jan etwas vor? Es war ungewöhnlich, dass er nach einem Fußballspiel noch fahren wollte. Und alkoholfreies Bier trank er so gut wie nie. Misstrauisch verschränkte Kai die Arme. "Ich hab das Handy nicht mit."

Jan schüttelte den Kopf. "Selber schuld. Dann musst du wirklich mit dem Bus rumeiern. Na, dann bis später, Baby." Und damit küsste er Kai. Nicht einfach nur auf die Wange. Er schob seine Finger in Kais Haare, zog ihn zu sich heran und verpasste ihm einen kurzen, aber nicht gerade seichten Zungenkuss. Dies gelang ihm hauptsächlich, weil Kai seinen Mund für einen Protest geöffnet hatte.

Kai spürte seine Wangen brennen, wütend starrte er Jan an, der jedoch zu Norbert rüber sah und sich verabschiedete. Schon schlug er die Wagentür zu und Kai versuchte seinen Puls zu beruhigen und nicht zu flach zu atmen.

Sein Vater lauschte auf die freundliche, ein wenig leblose Frauenstimme aus dem Navigationsgerät und sagte lange nichts. Erst auf dem Stadtring, als sie die Order bekamen, vier Kilometer dem Straßenverlauf zu folgen, drehte er den Kopf. "Kai, ich mag ein schlechter Vater sein und ein intoleranter Hinterwäldler, aber mir ist schon klar, was für eine Beziehung ihr habt. Du musst keine Angst haben, wenn er sich auch so benimmt."

Kai blinzelte, entkrampfte ganz bewusst seine Hände, dann sah er zu Norbert rüber. "Eh." Er blinzelte wieder, dann musste er grinsen. "Bist du sicher, dass du du bist, Norbert?"

Kapitel 98

Norbert und Kai waren den restlichen Weg schweigend zur Uni gefahren und zur gynäkologischen Station durchgegangen. Norbert kannte den Weg bereits. Er klopfte an, bevor sie um die Ecke ins Schwesternzimmer blickten. Sie hatten Glück, die Schwester von der Nachtschicht begann gerade ihre Runde und erlaubte ihnen noch ein paar Minuten, weil die Bettnachbarin von Kais Mutter ohnehin noch im Aufwachraum lag.

Kais Mutter hatte ein eigenes Nachthemd an und saß mit einer Zeitschrift über Zierpflanzen auf dem Schoß in dem Bett. Ein ungewohnter Anblick, aber sie sah bis auf eine Infusion an der linken Armbeuge sehr gesund und normal aus.

"Mama, wie geht es dir?" Kai ging zögerlich zum Bett und umarmte sie. Sie hatte sogar ihr Parfüm drauf, der Duft machte Kai ein wenig Heimweh.

Seine Mutter blickte tadelnd zu Norbert rüber, aber drückte ihn dann ein wenig zu fest an sich, wie immer, wenn sie ihre Gefühle nicht zeigen wollte. "Kai. Das ist eine Überraschung, aber macht doch nicht solchen Unsinn! Ich bin doch morgen wieder raus hier!"

Norbert ließ sich auf ihrer anderen Seite auf einem Stuhl nieder. Kai hockte sich zu ihr auf die Bettkante. "Aber ihr wärt nicht noch einmal zu uns gekommen, oder? Dann hätte ich dir nicht mehr danken können für das tolle Geburtstagsgeschenk, Mama."

Sie setzte sich etwas mehr auf und griff nach Norberts Hand. "Gefällt die Weste dir, Kai?"

"Total. Die werde ich bestimmt oft anziehen!"

"Das ist schön." Sie sah zwischen ihnen hin und her und zeigte, dass sie ein noch besseres Sonar für Stimmungen hatte als Jan. "Hm. War was?"

Kai und Norbert sahen sich über sie hinweg kurz an, beide schuldbewusst. Sie waren schon so lang immer nur giftig zueinander gewesen, dass es irgendwie komisch war, wenn sie einen Abend regelrecht einig miteinander verbracht hatten.

Norbert löste das Problem, ihr das zu sagen, ohne es ihr zu sagen, sehr elegant. Er begann, sich über Jans Qualitäten als Fußballer zu ergehen und ließ keine Chance aus, um ihn hochzujubeln. Kai wurde rot im Gesicht und regelrecht nervös davon. Er wagte es gar nicht, dem ungläubigen Blick seiner Mutter zu begegnen.

Endlich, als Norbert geendet hatte, bat sie ihn "Kannst du mir noch einen Fencheltee besorgen, Nolle? Der Wagen steht vorn beim Schwesternzimmer."

Kaum war Norbert aus dem Zimmer, als sie Kai mit schmalen Augen anblickte. "Was war los?!"

Kai grinste. "Nichts. Er hat recht. Jan spielt affenartig gut Fußball."

"Tatsächlich. Sonst war nichts?"

Kai nickte, entschlossen, es seinem Vater zu überlassen. Hastig wechselte er das Thema. "Wissen Feinwebers wirklich, dass ihr Sohn schwul ist, Mama?"

Seine Mutter sah ihn mit zusammengezogenen Augenbrauen an, dann nickte sie. "Natürlich, das wissen sie. Aber, Kai, wissen und 'es wissen' sind zwei Paar Schuh. Ich erinnere mich noch an das Wochenende, als Jan dich vorbeigebracht hat, nachdem du überfallen worden bist." Sie zog ihr gequält mitleidiges Gesicht. "Meine Güte hast du vielleicht ausgesehen! Aber das war schon nicht leicht für mich. Du hast nie einen Freund gehabt in der Schulzeit, und nachher im Zivildienst auch nicht. Nie hast du mal auch nur über jemanden geredet.

Die Homosexualität war immer wie eine Art Fantasiegebilde von dir. Wir haben uns immer was vormachen können. Wir haben immer noch sagen können 'Er schaut hübsch aus, zieht sich ordentlich an. Er mag nicht mit anderen Jungs zum Fußball. Er hat mal einen Jungen geküsst, aber vielleicht war es nur eine Phase und dann kommt er doch eines Tages mit einem netten Mädchen nach Haus.' Aber an dem Tag, da stand mir ein Mann gegenüber. Ein richtiger Mann, der dich sehr gern hatte, das konnte man sofort sehen." Sie senkte den Kopf und seufzte. "Das war ein Schock. Trotz allem, Kai. Und ich glaube, dass die Feinwebers diesen Schock noch brauchen, damit sie es wirklich wissen."

Norbert kam mit einem Becher Tee wieder und Kai stand auf. "Ich lasse euch mal allein und versuche einen Bus zu bekommen, ja?"

Seine Mutter unterbrach ihn in seinem Abschied, indem sie Norbert nach der Hochzeitseinladung fragte, die Norbert natürlich vergessen hatte. Mit mulmigem Gefühl öffnete Kai wenig darauf den dunkelroten Umschlag. Darin war eine weiße Karte mit goldenen Herzchen und dem Schriftzug 'Wir heiraten!' Er klappte sie auf und sah, dass es sich um seinen Cousin Jörg und Imke Jelenik handelte. "Wow. Das hat aber reingehauen, die heiraten schon?"

Seine Mutter lachte und nickte. "Die müssen sich beeilen, bevor sie zu dick wird. Schwanger!"

Kai blinzelte sie an und seufze. Die Einladung war für den Juni. "Und ich muss hin?"

"Kai! Natürlich kommst du! Das Problem ist nur, dass du eine Tischdame brauchst."

"Ich komme mit Jan! Ist doch klar!" Hysterisch hoffte er, dass er auf diese Tour entkommen konnte. Hochzeit daheim, mit allen Freunden von Jörg? Ein Alptraum!

"Unsinn. Du kannst wohl kaum mit Jan tanzen, oder?"

Kai sank auf das Bett neben sie. "Mist! Vermutlich nicht. Aber ich tanze doch ohnehin nicht!"

Norbert blickte ihn verkniffen an und seine Mutter fragte schließlich hoffnungsvoll "Kennst du denn gar keine Mädchen, die du fragen könntest? Beim Studium vielleicht? Sonst fragen wir eine Freundin von Imke, ob sie..."

"Danke, nein! Ich überlege mir das." Kai stand hastig auf und verabschiedete sich. Die Einladung knüllte er in seine Jackentasche, sobald er im Flur draußen war. Vor seinem geistigen Augen spulte er die Frauen seiner näheren Bekanntschaft ab. Tini war vermutlich die erste Wahl, mit ihr könnte er unter Umständen sogar einen Tanz überstehen. Allerdings nur, wenn Jan das abnickte, was fraglich war. Tini war gefährlich, und auf einer Hochzeit mit ihr zusammen zu feiern, war Kai im Grunde zu gefährlich. Dann gab es noch Lena, ebenfalls extrem gefährlich und Henrike vielleicht, aber die kannte er nicht genug. Wütend kickte er einen Stein vor sich her.

Er verpasste den guten Bus und musste mit der hundertzwölf fahren, die er sich dann mit einer halben Million Tanzstundenschülern auf dem Rückweg nach Hause teilen musste. Das erinnerte ihn erneut an die Hochzeit und dazu auch noch an seine eigenen Tanzstundentage. Eine grauenhafte Zeit war das gewesen!

Er hatte den Grundkurs nur besucht, weil sein Vater und seine Mutter beide verlangt hatten, dass er sich wenigstens einmal wie ein normaler Junge aufführte. Grübelnd versuchte Kai, sich an den Namen seiner Tanzpartnerin zu erinnern. Auch das war eine Freundin von Imke Jelenik gewesen. Sie kannten sich aus dem Konfirmationsunterricht. Sie war klein, dunkelhaarig und hatte eine Zahnspange getragen. Sie hatte ihn mit absoluter Präzision permanent genervt. Sie hatte außerdem dauernd nach Cherrycola gerochen, was wohl an ihrem Fettstift für die Lippen gelegen hatte. Sie war ihm auf die Füße getreten, er ihr allerdings auch, und nicht immer nur aus Rache. Auch sonst hatte sie ihn sicherlich mit Absicht an den Rand des Wahnsinns getrieben. Das ging so weit, dass sie sich zum Abschlussball ein schreipinkes Kleid angezogen hatte. Eine Farbe, die sich komplett mit seiner Haarfarbe biss. Kai hatte nur den Pflichttanz mit ihr absolviert und die restliche Zeit hinten in einer Ecke im Versteck auf das Nachhause gehen gelauert.

Es waren nur zwei Haltestellen ab der Tanzschule, aber die hatten es in sich. Kichernde Mädchen, megacoole Jungs, flache Unterhaltungen. Hormone und peinliche Momente, wohin man nur blickte. Vollkommen von der Hormonüberdosis aus dem Bus genervt ging Kai mit schnellen Schritten nach Hause. Er war durchnässt und durchgefroren und überlegte, ob er sich mit einer Badewanne mit Jans Badezeug gegen Muskelkater aufwärmen sollte.

Vielleicht, ganz vielleicht, hatte er das Glück, dass Jan wieder nach Hause kam, während er noch in der Wanne lag. Es war schon merkwürdig gewesen, dass Jan alkoholfrei getrunken hatte. Kastriertes Bier... nicht sein Ding ansonsten. Kai schloss die Augen kurz und träumte sich diese Szene herbei, dann fiel ihm Bardo ein und er fluchte innerlich.

Das Bambi hatten sie nicht zu Gesicht bekommen, weil er trotz all dem neuen Stress in seinem Leben nach der Schule erst zum Cellounterricht und danach zur Chorprobe wollte. Jan hatte ihm einen Brief geschrieben, in dem er die Nutzung des Laptops freigab und Bardo zugleich um ein freies Wochenende bat.

Kai erwartete und hoffte daher, dass ihr Bambi fort war, aber so recht auf sein Glück verlassen wollte er sich nicht.

Die Badewanne und das Bett und die Ruhe, auf die er sich gefreut hatte, kamen dann leider unabhängig vom Bambi nicht für ihn infrage. Auf der Treppe zu ihrer Etage saß, in ihre Jacke versunken, Bianca.

Kai stockte auf der Treppe, starrte sie verwirrt und mit einer nicht zu verleugnenden Furcht an. Kurz erwog er eine Flucht. Irgendwo hin, das LPP vielleicht oder die WG. Doch dann fiel ihm ein, dass Jan demnächst auch genau hier vorbeigehen würde. Der würde sicherlich nicht vor Bianca weglaufen, und wenn er sie mit in die Wohnung nahm, wollte Kai auf jeden Fall da sein. Er atmete einmal tief durch, dann stieg er die letzten Treppenstufen hoch, bis er vor ihr stand.

Sie blickte unwirsch zu ihm auf. "Wird auch mal Zeit.“

"Jan ist nicht da."

"Ich weiß."

"Er hatte ein Spiel. Die haben gewonnen, das kann dauern."

Sie schob sich mit den Händen von der Stufe hoch und stand mühsam auf. "Ich wollte zu dir."

"Was?" Panik breitete sich in Kai aus und er ging zu hastig an ihr vorbei, um sie nicht mehr ansehen zu müssen.

"Ich muss mich bei dir entschuldigen."

"Was? Nein."

"Doch. Kann ich reinkommen, oder soll ich hier draußen auf Jan warten?"

'Scheiße!' Bianca wusste genau, wie sie ihn kriegen konnte. Kai schloss die Tür auf und ließ ihr sogar den Vortritt. Sie schälte sich aus ihrer Jacke und er hängte sie in den Schrank. Sie trug ihre Anmachklamotten vom Vormittag nicht mehr, sondern eine weitgeschnittene Jeans und einen dicken schwarzen Pullover, schwarze Doc Martins. Sie zog die Stiefel aus und fuhr sich einmal durch die silberblonden, kurzen Haare. Mit in den Pulloverärmeln versteckten Händen sah sie sich um, als sei sie zum ersten Mal in der Wohnung.

Fröstelnd folgte Kai ihr, nachdem er die Hochzeitseinladung aus seiner Jackentasche gefischt hatte, und überholte sie dann auf dem Weg ins Wohnzimmer. Nachts senkte sich die Heizung ab und es wurde eher ungemütlich in der Wohnung. Im Vorbeigehen schaltete er die Heizung am Temperaturregler wieder an und ging in die Küche vor. Hier folgte ein Lichtblick. Bardo hatte sich tatsächlich nach Hause abgesetzt. Auf dem Esstisch fand Kai einen Abschiedsbrief mit gekritzelten Bildchen.

Mit einem Lächeln las Kai den Dank und betrachtete die kleinen comicartigen Darstellungen von den Dingen, für die Bardo sich bei ihnen bedankte. Das Bett, den Computer, das Frühstück. Mit einem Grinsen sah Kai eine Skizze vom Kuchendesaster, von dem Bardo seinen Ausraster offenbar nicht mehr in Erinnerung hatte. Jeden Morgen Milchkaffee war eine der Sachen, die mit einer hüpfenden Tasse illustriert war. Die Idee war gut.

Kai drehte sich um und fragte "Kaffee?" Leider in die leere Luft. Bianca war nicht da, wo er sie vermutet hatte. Er nahm den Brief von Bardo mit in den Flur zurück und sah sich nach ihr um. Sie war in sein Zimmer getreten, anstelle ihm in den Wohnraum zu folgen. Irritiert folgte Kai ihr. Sie stand vor dem durch Bardo abgezogenen Bett und starrte auf das Foto, das Kai auf dem Schreibtisch aufgestellt hatte.

"Euer kleiner Mitbewohner ist nicht da?"

"Das ist mein Zimmer." Kai verschränkte die Arme. "Das sollte heißen: Geh aus meinem Zimmer!"

"War es nicht bis vor kurzem noch das Zimmer von diesem Jungen?"

"Bardo. Nein. Er war nur zu Besuch." Unsicher legte Kai die Hochzeitseinladung und den Brief von Bardo auf seinen Nachttisch.

"Das Foto ist neu." Sie nahm den Bilderrahmen auf und blickte darauf.

Kai seufzte und rieb sich die Augen. "Kaffee? Alkohol?"

"Beides. Sonst halten wir einander nicht aus."

Eins musste man Bianca lassen. Mit ihr gab es keine Unsicherheiten. Sie war wirklich direkt. Sie nahm das Bild mit und ging zum Wohnraum zurück. Nach einem letzten Rundumblick folgte Kai ihr und schloss die Tür.

Ihre Finger spielten mit den Pulloverärmeln. "Ich wollte nochmal mit dir reden, weil ich so eine bescheuerte Kuh war."

"Aha." Kai setzte eine halbe Kanne Kaffee auf und sah im Kühlschrank nach ihrem Milchvorrat. Es langte noch hin, aber er würde Jan am Samstag zum Shoppen nötigen müssen. 'Bescheuerte Kuh, soso. Einsicht ist der Weg zur Besserung.' Er dachte es nur, wagte es nicht, ihr so etwas zu sagen.

Sie starrte das Foto an. "Das ist wirklich gut gemacht. Wer hat das geschossen? Wann war das?"

Kai ließ sich neben ihr nieder und sah auf ihre Hände, die den Bilderrahmen deutlich zu fest hielten. Er nahm ihr das Bild weg und stellte es aus ihrer Reichweite auf den Couchtisch. "Ich bin müde. Was willst du?"

"Entschuldige, dass ich dich Schwuchtel genannt habe."

"Deswegen hast du nicht auf der Treppe gehockt."

"Nein. Ich wusste, dass Jan ein Spiel hat und dachte, dass ich dich allein hier erwische."

Kais Herz machte einen Satz. Er starrte sie erschrocken an. Todesahnung stellte seine Nackenhaare auf. "Oh, bitte nicht!"

Bianca hob den Blick und sah ihn genervt an "Was?"

"Wenn du mit mir über Sex reden willst, lass es sein! Bitte, lass es einfach sein." Panisch flüchtete er in die Küche rüber.

Leider folgte sie ihm und lehnte sich an den Kühlschrank. Damit versperrte sie ihm den Fluchtweg "Das genau will ich."

"Was?"

"Über Sex reden."

"Was? Ich will das nicht! Rede mit Tini!"

"Um die geht es ja auch!"

"Was?"

Sie starrten sich an und Bianca lachte laut los. "Wir 'wassen'. Ich will bloß etwas fragen, mach dir nicht ins Hemd!" Sie beobachtete ihn mit schmalen Augen. "Es betrifft Sex, Tini hat mir dazu geraten. Die hat neuerdings so eine Sextherapiemacke." Sie brach ab, weil Kai sie noch panischer ansah. "Ach. Du. Scheiße! Oh, mein Gott! Hat die dich rumgekriegt? Habt ihrs getan?!"

Kai wurde sofort knallrot, das spürte er und wandte sich wütend ab. "Ich bin schwul, verdammt! Das ändert sich auch für Tini nicht!"

Dieser Ausbruch war ihm irgendwie sofort unangenehm, aber Bianca reichte das aus. "Aha. Ist ja gut. Sie fährt so sehr auf dich ab. Kann ich echt nicht nachvollziehen." Kritisch blickte sie ihn an. "Wieso? Ich frage es mich echt. Was sieht Jan in dir?!"

Das hatte Kai sich doch bei ihr auch gefragt. Unbestimmt hob er die Schultern. Sie fuhr fort. "Und Tini auch... die denkt ja auch so, dass alle auf dich stehen müssen, weil du so klein und niedlich bist. Aber mal ehrlich, was bist du für ein Mann? Und deswegen dachte ich immer, dass du... sozusagen das Mädchen bist. Mit dem Gedanken hätt ich leben können."

"Hä?" Entrüstet starrte er sie an. So ein Klischee hören zu müssen, war ja wohl das Letzte!

Sie zog sich ihren dicken Pullover leider nun doch aus und legte ein enges Langarmoberteil frei, natürlich mit tiefem Ausschnitt. Eine feine Goldkette mit kleinem Kreuz hing in ihren Ausschnitt und verschwand eben zwischen den Brüsten, lenkte den Blick dahin. Kai wandte sich hastig fort.

Den Pullover auf einen der Stühle am Tresen werfend sagte sie "Du schaust so aus. Mit dem Gesicht wie ein Weihnachtsengel und den blauen Augen. Dann diese schmalen Hände, und dann bist du nicht sonderlich groß. Alles an dir ist so klein und fein und eben ganz wie bei einem Mädchen." Sie war noch auf ihn zugetreten und hatte seine Gestalt mit einer Hand umschrieben "Du bist doch kein echter Mann, Kai." Sie ließ die Hand fallen und lehnte sich wieder an den Kühlschrank an. "Deswegen dachte ich, dass Jan dich bumst. Wie eine Frau eben."

Kai spürte Hitze in seinem Gesicht aufsteigen und presste sich an den Küchentresen zurück.

Sie schlug mit einer Hand neben sich gegen die Kühlschranktür. "Aber er sagt zu mir, dass du mit ihm schläfst! Dass er Analsex geil findet, und zwar nicht die... Sorte, die ich dachte bei ihm!"

"Bitte? Was geht dich das an?"

"Scheiße, Kai. Ich war mit Jan im Bett. Ganz schön viel im Bett, um es genau zu sagen. Er war der erste Mann, der genau so viel Bock hatte wie ich und es passte hervorragend. Aber Jan... der ist im Bett ein Mann gewesen, komplett und durch und durch. Er steht auf Busen, und zwar nicht die zu kleine Sorte!" Sie klopfte zu Demonstrationszwecken auf ihren eigenen.

"Ich will das nicht hören!" Und er wollte das nicht sehen. Auf keinen Fall.

"Was ich damit sagen will, ist, dass ich es ihm ganz und gar nicht abnehme, dat he en Achterlader es... schwul ist mein ich und darauf steht, wenn ihn wer fickt. Und dann auch noch so eine Puppe wie du? Gott, das kann ja wohl nicht wahr sein! Für wie bescheuert haltet ihr mich eigentlich?!" Sie hatte das geschrien, Kais Hirn miepte und ging in den Leerlauf. Er biss sich auf die Unterlippe.

Bianca schloss den Mund, als sie seinen Gesichtsausdruck sah, und rieb sich die Augen. "Gott, dat deit me leed. Tut mir leid. Ich hab dich angeschrien. Ich krieg das einfach nicht hin. Du machst mich irre. Wie, verdammt nochmal, hält das Tini mit dir aus, ohne dich zu erwürgen?!"

Kai blinzelte überfordert und wurde von der Kaffeemaschine gerettet, die blubbernd und zischend fertigen Kaffee ankündigte. Bianca folgte seinem Blick, dann schob sie ihn grob zur Seite, suchte in den Schränken nach Bechern und schenkte ein. Sie trank schwarz, wusste jedoch, dass er Milch nahm. Als sie den Kühlschrank öffnete, fiel ihr Blick auf den Eierlikör, mit dem Lolli sich während seiner Möbelaktion bei Kräften gehalten hatte. Mit schmalen Augen auf ihn starrend goss sie in beide Becher einen großen Schuss, überlegte kurz, dann leerte sie die Flasche in Kais Becher.

"Hier. Tut mir leid. Lass uns erstmal was trinken, vielleicht..." Sie ging in den Wohnraum rüber.

Unsicher folgte Kai ihr und blickte flehend auf die Uhr im SAT-Receiver. Es war noch viel zu früh. Jan würde vermutlich wie immer mit den Kumpeln feiern wie bescheuert und erst nachdem der Wirt sie rausgeworfen hatte mit einem Taxi oder einem der wenigen Fahrer nach Hause kommen. Das konnte noch Stunden dauern.

Sie saß auf dem Hocker, im Schneidersitz, hielt den Becher zwischen beiden Händen und nippte davon. "Geile Mischung. Muss ich mir merken."

Kai probierte auch. Es war zu viel Eierlikör in seinem Becher, das war schon mal sicher. Er trank dennoch in kleinen Schlucken etwas ab, bevor er sich endlich auf dem Sofa niederließ. Sein Herzschlag beruhigte sich wieder. Er sah Bianca erneut an, die mühsam beherrscht auf das Foto von ihm und Jan blickte. Kai fühlte sich davon regelrecht belästigt, als würde sie in ihre Intimsphäre eindringen.

"Er ist in dich verknallt ohne Ende. He het di leev. Un di toleev het he... deswegen lässt er sich von dir vögeln, nicht?" Sie trank noch einen Schluck und nickte zum Foto hin. "Das macht dieses Bild so gut. Man sieht das richtig. Ach was, man sieht Jan immer an, wie er so drauf ist." Kritisch sah sie zu ihm rüber. "Dir sieht man nie was an. Fand ich damals schon, vor dem Skiurlaub. Jan war mit einem Mal total happy und genau wie immer, wenn er eine neue Freundin hatte. Du warst ausdruckslos und unpersönlich wie immer." Sie seufzte. "Er war richtig verliebt und glücklich, das konnte ich sehen. Es hat so weh getan, dass er das nicht meinetwegen war. Ich wusste ja nicht, dass er in dich verknallt war, sonst hätte ich das früher angesprochen. Aber in Norwegen, als der bekloppte Sturm uns das Skifahren versaut hat und er sich auch noch den Mittelfuß angeknackst hat, da war es irgendwie zu viel. Zu viel Gelegenheit."

"Ihr wart im Bett, weiß ich."

Sie nickte. "Ja. Das war ein Fehler."

"Ach."

Sie hob den Kopf und starrte ihn sauer an. "Weil es so verdammt gut war! Trotz eines gebrochenen Fußes und zu viel Alkohol war er saugut im Bett, wie immer übrigens, und ich komm nicht drüber weg, dass das mit dir nicht nur die Probierlaune ist, die ich vermutet hab!"

Kai rieb sich mit den Handrücken über die Augen. Sein Blick glitt über das Foto. Benni hatte schräg hinter ihm gestanden und daher Jans Gesicht viel besser erwischt als seins. Jans Gesichtsausdruck zeigte, was er fühlte. Ernsthaftigkeit, Wärme. Der Blick war anstrengend direkt und ehrlich, zärtlich. Genau wie er Kai ansah, wenn sie allein waren. Genau der Blick, der Kai ein Gefühl von Leere und Leichtigkeit in den Kopf und den Magen zauberte und von Verliebtheit, die fast schon wehtat. Auf dem Bild war das für jeden zu sehen. "Probieren ist nicht seine Art. So ist er nicht."

"Nein. Das hätte ich wissen müssen. Er macht nie halbe Sachen. Damals, als er dich mal geknutscht hat, da dachte ich noch, dass er sich einen hübschen Jungen gesucht hat, um das mal so richtig auszuprobieren. Er ist so. Theorie ist auch nichts für ihn, er muss immer alles gleich machen."

Das war ja auch lange Zeit Kais Angst gewesen, daher nickte er nur und versteckte sich hinter seinem Becher.

Sie fuhr fort. "Aber im Skiurlaub hat er mir erzählt, was er fühlt und von dir will, und das war sehr verworren, theoretisch und irgendwie klang es nicht nach ihm. Es war wie aufgesetzt, einstudiert. Und jetzt sagt er mir, dass du mit ihm schläfst und nicht andersherum?" Sie starrte Kai an. "Das kann ich echt nicht glauben. Hat er das nur gesagt, um mich endgültig zu vertreiben?"

Kai schwieg genervt, endlich stand er auf "Das geht dich überhaupt nichts an, Bianca. Wenn du ihn wieder haben willst, dann..."

"Will ich nicht!" Sie raufte sich die Haare und stellte den Becher ab. "Okay. Will ich doch. Er fehlt mir. Ich hab es mit Thilo versucht, aber sobald Jan durch die Tür kommt, ist es irgendwie so, als ob jemand ein Licht anknipst. Wir passen so verdammt gut zusammen. Wir haben den gleichen Humor, wir diskutieren gern, wir sprechen fast das gleiche Platt seit Kindheit an, wir haben dieselben Interessen, sogar in der Medizin. Unsere Körper passen gut zusammen. Harmonisch, aber nicht langweilig. Im Bett hat es so saugut gestimmt."

"Ehrlich gesagt fand Jan immer, dass es eine Mühe war, mit Frauen zu schlafen", verpasste Kai ihr einen Dämpfer und blickte sie abschätzend an, dann leerte er seinen Becher. Der Alkohol brachte seine Augen zum Tränen. "Bei dir nicht so, weil du wohl mehr sagst, was du willst, als die anderen", gab er endlich zu, weil sie ihn anstarrte.

Sie blinzelte. "Er hat mit dir über mich gesprochen?!"

"Was? Natürlich."

"Was?"

"Jan spricht doch über alles, was er denkt sofort. Dann ausgerechnet über dich nicht?"

"Was?" Sie blinzelte verwirrt. "Das war doch immer so ein großes Problem zwischen uns. War es bei Franka zuvor auch, übrigens. Er hat nie gesagt, was er fühlt, bis zu dem Urlaub!"

"Was?" Kai konnte sich das wirklich und wahrhaftig nicht vorstellen. "Er redet doch dauernd über alles, was er denkt und tut und will."

"Was?"

"Ist doch immer reden, reden, reden bei ihm!"

"Was?" Bianca stockte, dann lachte sie los und schüttelte den Kopf. "Okay, wir 'wassen' schon wieder. Und er hat dir gleich erzählt, dass ich dachte, es ist nur Sex zwischen euch? Ich hab ihm das sogar angeboten. Mit ihm könnte ich mir sogar das vorstellen. Ick bün een Torfkopp!"

Das fand Kai auch, was auch immer das war, aber er sagte lieber nichts, sondern wich in die Küche aus und nahm sich noch einen Kaffee und den Rest Milch. Frühstückskaffee würde ausfallen müssen.

Bianca starrte zu ihm rüber. "Du schläfst echt mit ihm? Ich meine regelmäßig? Oder habt ihr das nur so mal ausprobiert?"

Kai verschränkte die Arme. "Wars das jetzt mal langsam?"

Das Türschloss rappelte, Jan kam in den Flur und schloss ab. Er kramte mit seiner Sporttasche rum, vermutlich trennte er Wäsche von Handtüchern und dreckigen Schuhen. Im Badezimmer klappte eine Tür. Die Schranktüren in der Diele knarrten leise. Atemlos starrte Kai vom Durchgang in den Flur zu Bianca und zurück. 'Scheiße!' Wenn diese dumme Schnatze nicht wäre, hätte er in der Wanne liegen können mit einer Kerze dabei und Jan wäre reingekommen und sie hätten genau das tun können, von dem Bianca unbedingt sprechen musste.

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