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Trost

Kapitel 23-26

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Inhaltsverzeichnis

Kapitel 23

Kai kam gar nicht dazu, seine Mutter um Rat wegen eines Geschenkes zu fragen, denn am Montag sprach Holger ihn in der Mensa auf die Sache an. "Sag mal, wollen wir nicht zusammenlegen und Tini irgendeine Blume kaufen?"

Kai starrte grüblerisch auf den Salat und erwiderte "Ja, können wir. Ich wollte meine Mutter schon anrufen. Sie kennt sich mit Geschenken gut aus."

"Auch gut. Gib mir mal deine Telefonnummer. Ich rufe dich heute Abend noch mal an, wenn du sie befragt hast."

"Ich… bin nie Zuhause. Ich rufe dich an… ich hab deine Nummer schon irgendwo."

Holger sah ihn kurz an, aber nickte dann und sagte "Ist gut, meld dich am besten nach neun, dann bin ich vom Sport zurück."

Erleichtert lief Kai zum Esstisch in der Ecke und bemerkte, dass Jan und Tini dort bereits saßen und sich giftig anstarrten. Tinis Miene hellte sich ein wenig auf, als er an den Tisch trat, aber sie sagte nicht viel mehr als 'Hallo' und verabschiedete sich rasch.

Holger blickte ihr nach und vermutete eine Spur zu laut, wie immer "Die hat echt ein Problem mit dir, Jan."

Jan zuckte mit den Achseln und erwiderte unbeeindruckt "Wenn ich mir darum Sorgen machen würde, dass eine Person mich nicht abkann, dann hätte ich keine Zeit für Spaß im Leben. Ich hab jedenfalls kein Problem mit ihr!"

Holger lachte laut und streckte die kräftigen Schultern, bevor er sich über Kais Nachtisch hermachte; der hatte diesen in die Mitte der Runde gestellt, nachdem das Gelbe sich als Quark statt Pudding herausgestellt hatte.

Am Abend befragte er seine Mutter zum Thema Einweihungsgeschenke und diese pflichtete Holger bei und meinte, dass eine Blume am besten wäre. "Wenn sie die Blume nicht mag, dann kann sie einfach aufhören das Ding zu gießen, heutzutage geht einem das Grünzeug ja immer ein. Nehmt doch einen Ficus…"

"Jaja, wir finden schon was."

"Kommst du mal wieder nach Hause, oder sehen wir dich erst, wenn du zu Omas Geburtstagsfeier kommst?"

Kai stöhnte auf und wurde sofort angefaucht "Du kommst zu ihrer Feier, damit das klar ist, junger Mann! Ich hab überhaupt keine Lust auf deine Grillen, und sie sieht dich ohnehin nur noch zu Weihnachten."

"Ja, ist ja gut. Kann ich… vielleicht Jan mitbringen?"

Kai war eingefallen, dass die Fußball-Saison im November ja zu Ende war und Jan am Wochenende eigentlich Zeit haben müsste.

Seine Mutter schien kurz zu überlegen, dann sagte sie "Norbert hat sich ja gut gehalten, als er letztes Mal da war, warum also nicht. Ich werde es einfach mal sagen, gar nicht erst fragen."

Kai grinste, die familiäre Diplomatie seiner Mutter war schon immer schlichtes Ignorieren gewesen. "Dann komme ich auf jeden Fall. Ich rufe noch mal an, ob ich mit oder ohne Jan erscheine."

"Ja, tu das, Schatz. Meld dich ruhig mal, auch wenn du nichts willst, klar?"

"Klar, Chef."

"Duuhu…"

Kai grinste und war froh, dass sie ihn nicht am Ohr ziehen konnte, das machte sie durchaus noch immer, und sie hatte einen fiesen Griff.

Am Abend klärte er mit Holger ab, dass sie sich vor Tinis Wohnung treffen sollten. Kai war immer darum bemüht, niemanden aus der Uni in seine WG mitzubringen. Er hatte einfach keine Lust auf Verwicklungen.

Jetzt, da er Jan hatte, wollte er diese Verwicklungen noch viel weniger. Immerhin war Holger im selben Uniteam und zudem ein lautstarker und sehr indiskreter Freund, dem Kai nicht im Leben mit seinen privaten Problemen trauen wollte.

Ein wenig nervös, wie immer vor Partys, wartete Kai an der Ecke vom Kleiberstieg und war dankbar, dass Holger ebenfalls ein wenig überpünktlich dran war. Kai konnte die raumfordernde Silhouette bereits vom Anfang der Straße her auf sich zukommen sehen. Er bemerkte zu seiner Verwunderung, dass Holger sich auch nett anziehen konnte.

In der Uni war er mit Jan gewiss gleichauf, wenn es um den schlechtangezogensten Jungen ging, den Kai manchmal im Geheimen in ihrem Kurs erwählte. Während Jan sich einfach das erste T-Shirt im Schrank anzuziehen schien, hatte Holger es vermutlich direkt auf Kombinationen von orange mit lila und grün abgesehen, die ihn zusätzlich zu seiner Größe und seiner lauten Stimme noch auffälliger machten.

An diesem Abend steckte Holgers ohnehin schon beachtliche Gestalt in einer schicken Lederjacke, die er trotz der Kälte unbekümmert offen stehen ließ. Darüber hinaus trug er natürlich wieder ein schreiorangefarbenes Hemd, das schon fast nach einem Augenschutz durch Sonnenbrille verlangte. Aber das Hemd war gut geschnitten, betonte wie fit Holger war. Kai grinste ein wenig, weil er seinen Mut zum Auffallen schon etwas bewunderte. Gleich als nächstes fiel ihm ein, dass er dann ebenfalls auffallen würde, weil er ja mit Holger zusammen auf der Feier auftauchte.

Er begann sich leicht zu sorgen. Holger winkte und lachte von weitem, war aufgedreht irgendwie und Kai bedachte die Mühe, die dieser junge Mann einmal seiner Mutter bereitet haben musste, so als Vierjähriger.

Gleich danach überlegte sich Kai im Geheimen grinsend, dass Holger ja eigentlich noch immer ein Vierjähriger war, nur mit überreichlicher Größe. Der Gedanke machte wirklich Angst. Diese Sorgen vertieften sich, als er sah, dass Holger keinen Ficus, sondern eine orange-rote Orchidee besorgt hatte, die sich in bizarren Formen von einer Ampel herunterschlängelte und äußerst exotisch, empfindlich und daneben noch sehr teuer aussah.

Holger lachte jedoch unbesorgt und tat Kais bekümmerten Blick auf die Blume mit einem "Die hab ich günstig geschossen! Du schuldest mir ein Mensaessen mit Nachtisch, wenn es recht ist." ab. Holger ließ Kai auch keine weitere Chance, um sich die Sache mit der Feier noch mal zu überlegen, er ging gleich auf die bezeichnete Hausnummer zu und schleifte Kai mit sich in den düsteren Treppenflur des netten, cremefarbenen Hauses.

Wie das Schicksal es wollte, wohnte Tini mit den anderen zwei Mädchen im fünften Stock und es waren genau 80 Stufen bis dort hinauf. Kai musste nach Luft schnappen und hielt sich die Seite, als sie nach einer Art Endspurt endlich oben waren. In der Tür standen bereits vier lachende Mädchen… eine war Tini, eine kam Kai latent bekannt vor und die anderen zwei blockierten einfach nur den Weg.

Holger umarmte die Mädchen nach der Reihe und überreichte die Blume eher nebenbei, wofür Kai ihm insgeheim sehr dankbar war. Allerdings hatte er zunächst andere Probleme. Es erwies sich als unmöglich, den kichernden Mädchen im Treppenflur zu entgehen. Wenn er in die Wohnung wollte, dann würde er sich wohl oder übel umarmen lassen müssen.

Nur sehr kurz überlegte Kai, ob er einfach wieder gehen sollte und kam sich dabei schon in Gedanken albern vor. 'Sogar Jan hätte sich für mich geschämt!'

Dann trat er todesmutig in die gemeine Falle aus Armen, weichen Oberkörpern und erhitzten Gesichtern, vermengt mit vier verschiedenen, unglaublich süßen Parfüms. Die Stimmen verwischten zu einem Wirbel aus Gekicher, die feuchtwarmen Gesichter pressten sich an seine Wange, eine bemerkte "Hm, du bist herrlich kühl!", was die anderen zu noch mehr Gekicher trieb und Kai zu dem Hintergedanken verleitete, dass sie mehr als nur seine Wange meinte. Er hielt immerhin still. Zwar eher wie bereits tot, ließ sich hängen, umarmte nicht zurück, aber er hielt still. Das war mehr, als er bei seinen Tanten tat.

Nach der grausamen Begrüßung ließ man ihn allerdings in die Wohnung passieren und in Frieden die Jacke ausziehen. Tini nahm sie ihm gleich weg und zeigte im Kreis herum. "Ihr findet euch schnell zurecht, so viel Platz ist ja nicht zum Verlaufen."

Sie verschwand mit der Jacke und seinem Schal in eines der Zimmer und rief noch zurück "Könnt auch eure Schuhe ausziehen, wir haben überall Teppich!"

Es war eher ein Sit-in denn eine Party. In der Küche gab es Salate, in einem der Zimmer lief leise Musik, um einen Hintergrund zu den Gesprächen zu bilden. Man konnte schwer schätzen, wie viele Leute da waren, weil sie sich auf alle Zimmer verteilten.

In der Küche saßen in einer Sitzecke einige Mädchen, die ihm bekannt vorkamen, vermutlich aus seinem Semester und rauchten am offenen Fenster. Ihr Atem kondensierte und bildete eine Nebelschicht über ihren Köpfen. Kai bewunderte erneut, zu was allem sich Raucher bringen ließen. Es war bestimmt schweinisch kalt in der Zugluft. Er machte sich still, unauffällig und sie nickten ihm auch nur zu. Seine Ruhe schien gerettet.

Allerdings nicht für lange. Kai nahm sich gerade eine Cola, als ein kräftiger Arm sich vereinnahmend in seinen einhakte und eine helle Stimme fröhlich kundtat "Ich zeig dir die Wohnung, Kai!" Das Mädchen stellte sich als diejenige heraus, die ihm bekannt vorgekommen war. Es handelte sich bei ihr um Renate aus seinem Semester. Nun erinnerte Kai sich auch, dass Tini erwähnt hatte, dass sie mit Renate und einer Dritten zusammengezogen war.

Gnadenlos seinen hilflosen Protest ignorierend, schleifte Renate Kai von einem Zimmer in das nächste und ließ ihn erst zufrieden, nachdem sie ihm sogar die Besenkammer gezeigt hatte. Die Wohnung war wirklich nett eingerichtet und in fröhlichen Farben gestrichen worden. Tini und die anderen hatten sich Mühe gegeben, was man an vielen kleinen Details deutlich spüren konnte.

Kai jedoch mochte das nicht anerkennend bemerken, wollte nicht lobende Sachen über die gewischten Wandfarben verkünden, oder gar die Bowle preisen, wie all die anderen. Er wollte auch nicht den anderen vorgestellt werden, oder mit ihnen in eine Diskussion um die neusten Kinofilme einsteigen. Er wollte seine Ruhe, um diesen fürchterlichen Empfang zu verdauen.

In Tinis Zimmer endete die Besichtigung. Dort spielte Musik und etliche Mädchen saßen auf einem ausgeklappten Schlafsofa, aßen, tranken und waren albern. Über dem Sofa schuf ein Hochbett mehr Raum, und auf diesem entdeckte Kai seine Jacke in einem Haufen anderer.

Tini unterbrach seine Überlegung, ob der Moment nicht günstig wäre, um diese Jacke schnell zu schnappen und noch schneller zu verschwinden, indem sie Kai am Arm festhielt, um ihn allen versammelten Mädchen vorzustellen.

Es waren fünf, sie wirkten mit einem Mal wie hundert um ihn herum. Augen waren auf ihn gerichtet, schienen auf seine Gedanken zu starren. Wieso waren denn keine Männer hier?

Kai hasste es, im Mittelpunkt zu stehen. Er hasste es besonders, im Mittelpunkt zu stehen, wenn alle um ihn her kicherten. Ganz deutlich hatte er den Eindruck, dass sie ihn auslachten. Er konnte nicht sagen wieso, aber er fühlte sich schrecklich, bekam einen roten Kopf und wollte nur noch fort. Die Türglocke errettete ihn vor Tini, die ihn noch mit einem Getränk hatte versorgen wollen, aber erst einmal in den Flur lief.  

Nach diesen Attacken flüchtete Kai sich deswegen erst einmal in das Bad, um sich wieder zu sammeln. Der blaue, kühle Anstrich und die hellen Fliesen beruhigten ihn. Er ließ sich auf den Badewannenrand fallen und studierte die Duschgels und Frauenrasierer auf der Ablage, bis er sich nach einem Moment wieder einigermaßen fit fühlte. Als er sich jedoch in den Flur hinauswagte, bekam er einen weiteren Schock. Er lugte vorsichtig Ausschau haltend um die Ecke, und sah sich sofort Aug in Aug mit einem von Lollis Studienkollegen.

Kai kannte ihn nur vom Sehen von einer Videosession, die Lolli mal veranstaltet hatte. Dunkelbraune, kurze Haare, dunkle Augen, ein dunkler Teint. Eigentlich nicht unattraktiv, aber ein wenig zu mollig für Kais Geschmack. Und zu weich, irgendwie schwammig. Jedenfalls wusste er genau, dass dieser Typ schwul war.

Wusste Tini das auch? Würde der ihr nun verraten, dass er Kai von eben diesem Kreis her kannte? All diese Fragen erübrigten sich zunächst, weil der Typ ihm nur zunickte und sich an ihm vorbei ins Bad drängte.

Im Folgenden versteckte Kai sich mit einem Becher in beiden Händen in der Küche hinter der Tür zur Besenkammer. Der Typ hatte ihn doch bestimmt wiedererkannt, oder nicht? Kai lauschte auf das Gelächter der anderen und klaute sich ein paar Erdnüsse vom Tisch. 'Wenn er nun mit Tini befreundet ist, dann hat sie vielleicht doch Verständnis. Was, wenn nicht? Wie hieß der noch mal? Scheiße!'

"Hey, hier bist du." Die Stimme klang weich und freundlich, ein wenig betrunken und dennoch nicht unkontrolliert.

Kai seufzte hörbar und sah dem Kerl ins Gesicht. "Hey."

"Du bist doch Lollis Mitbewohner, nicht?"

"Hm."

"Wie war noch mal dein Name? Ich bin Benni." Der Typ setzte sich zu den Salaten an den kleinen Küchentisch und Kai ließ sich ihm gegenüber auf einen Stuhl fallen. In Gedanken ging er die Möglichkeiten durch, die sich für ihn ergaben. Keine gefiel ihm wirklich. 'Reiß dich zusammen! Du musst Tini am Montag im Seminar wiedersehen!'

Er entschied sich für Aufgabe und erwiderte leise und abweisend "Kai."

"Kai", wiederholte der andere, es klang als würde er sich nun erst richtig erinnern. Der Typ nickte noch einmal und goss sich Cola in seinen Becher. Mit einem Filzstift stand dort auch 'Benni' geschrieben und Kai erinnerte sich, dass er doch weiter im Süden wohnte. Was tat er in der Stadt?

"Nett dich mal wiederzusehen, Kai."

"Hm." Kai starrte ungemütlich auf seinen Becher und wollte weg.

Doch Benni beugte sich näher zu ihm hin und vermutete ungewöhnlich scharfsinnig "Du hast dich erschrocken, dass jemand aus Lollis Clique hier ist?"

"Etwas."

Benni deutete Kais gepeinigten Blick auf die Tür und grinste. Mit einem Mal sah er wie ein frecher Junge aus. "Aha. Wissen die Mädels also nicht, dass du…"

"Nein!" Hastig sah Kai sich um, er konnte auf Zuhörer verzichten. Benni nickte noch einmal und legte den Kopf schief.

Unsicher sah Kai auf die weichen Hände des anderen, die einen Plastikbecher locker hielten, ihn hin und her kippten, sodass die Cola immer bis an den Rand heran lief. Er wollte ihn schon fragen, wie dieser zu Tini kam, woher er sie kannte, oder was er hier machte, als Benni den Kopf hob und Kai ins Gesicht sah. "Ich bin der Sandkastenfreund von Renate. Die Blonde mit dem grünen Pulli. Sie weiß das von mir auch noch nicht. Ich bin eigentlich extra heute hierher gekommen, um es ihr zu sagen."

Kai dachte an das kräftige Mädchen mit der auffallenden Brille, die ihm pausenlos redend die Wohnung gezeigt hatte und hob die Schultern "Aha. Ich fänd es gut, wenn du mich… dabei rauslassen könntest."

"Klar, keine Frage." Benni fragte nach einem Schluck Cola "Und? Wie geht es Lolli?"

Kai sah ihn dankbar an, er schien das Thema einfach so abzuhaken. Das war toll. "Lolli geht es ganz gut."

"Noch immer mit diesem…?"

"Frank?"

"Ja, sind die noch immer zusammen?"

"Hm."

"Fasse ich nicht. Wie hält er den aus?!"

Kai hob überrascht den Kopf und fragte sich insgeheim, wie jemand Lolli nonstop aushalten konnte, aber er sagte nichts dazu, außer einem wenig festgelegten "Hm."

Benni erkundigte sich noch nach der Meierschen und nach ein zwei anderen Jungs, dann erhob er sich und mutmaßte "Ich könnte bei euch vorbeikommen, wenn Renate es nicht so toll aufnimmt. Lolli hat doch sein Sofa noch und würde mich dort pennen lassen?"

Kai grinste und nickte. "Klar, Benni. Das denke ich schon."

"Na, dann will ich mal Attacke machen." Ein hilfloses Lachen, Benni war schnell noch einmal der kleine Junge, dann schlurfte er in eines der Zimmer davon.

Kai schaffte es nach einer Stunde im Schutz der Besenkammer, sich aufzuraffen, bevor er noch vermisst würde. Waghalsig kletterte er auf Tinis Hochbett, nachdem er seine Schuhe unten abgestreift hatte, um seine Jacke aus dem Gewühle herauszusuchen. Unter ihm saßen noch immer die Mädchen und kicherten oder sangen mit den Schlagern mit. Ein schiefer Chor, der ihm das Gehen auch nicht unbedingt erschweren würde.

Kai hatte seine Jacke gerade unter einigen anderen hervorgezerrt, als er eine Stimme unter sich vernahm "Kletter ganz rauf, ich will auch hoch."

"Lass mich erst runter…"

"Nein."

Er starrte in Tinis entschlossenes Gesicht hinunter und gab seufzend nach. Als er zwischen den vielen Jacken an die Wand gelehnt saß, kam sie mit geübten Bewegungen ebenfalls hinauf und setzte sich ohne eine Erklärung neben ihn hin.

Kai wurde heiß und kalt, vor dieser Situation hatte er sich immer gefürchtet und er hatte sie erfolgreich verhindert. Ein wenig von seiner gefangenen Lage verwirrt, starrte er auf die Partylichter in Fischformen, die sich in einer Kette um die Bettreling zogen.

In diesem Moment wurde ihm bewusst, dass Tini immer reichlich Andeutungen gemacht hatte, dass sie ihn mochte. Er hatte sie immer kühl genug abgewiesen, dachte er zumindest. Verstohlen warf er einen Seitenblick auf die Stiege, seinen Ausweg, den sie verbaute.

Sie trug rot und orange zusammen, passend zu der Orchidee. Wilde, exotische Muster auf einem engen Top. So aggressive Farben schon wieder, wie zum Angriff bereit. Er fühlte sich jedenfalls in eine Verteidigungsposition gedrängt.

Tini wühlte die Jacken aus dem Weg und rutschte dichter neben ihn, nachdem sie sich ihren Becher hatte hochreichen lassen. Sie schwieg einen Moment lang und fummelte an dem Plastik herum, nippte an ihrem Baileys und klickerte mit den Eiswürfeln darin, während Kai mehr oder minder unauffällig seine Jacke zwischen sie und sich aufbaute, als Schutzwall. Als Tini jedoch leise zu reden begann, überraschte sie ihn so dermaßen, dass er seine Jacke und sogar den schiefen Schlagerchor unter ihnen vergaß.

"Ich hab dich eingeladen, Kai, weil ich mal mit dir reden wollte." Sie nickte zur Küche rüber. "Naja, Holger wollte auch kommen, das war schon okay."

"Hm." 'Reden. Na klar. Die soll aus dem Weg gehen und mich zufrieden lassen!'

Sie trank einen Schluck und schien ihre Worte zu wählen. "Oh Gott, das ist so schwierig zu sagen, verdammt!" fluchte sie endlich ein wenig genervt und erklärte dann hektisch "Ich wollte mit dir über Jan reden."

Kai starrte auf das Bettgitter, die Fische begannen vor seinen Augen zu verschwimmen und er schüttelte unwillkürlich den Kopf "Was?!" Er spürte, wie er sofort rot wurde. Unangenehme Hitze wallte in ihm auf, seine Handflächen wurden feucht. 'Sie will über Jan reden?! Scheißescheißescheiße….'

Tini schien seinen Aufruhr nicht zu bemerken. Sie nippte erneut und sagte lakonisch "Ich weiß, dass dir das nicht liegt. Ihr haltet zusammen, verratet den anderen nicht. Aber ich hab die Schnauze voll davon."

Weich gesprochen ein noch schlimmerer Angriff, Kai zuckte zusammen. Er blickte panisch nach links und rechts, sein Herz schlug schneller, unangenehm schnell. Er begann zu schwitzen. Was sollte er tun, wenn Tini nun begann, nicht im Privaten mit ihm, sondern mit allen Freundinnen zusammen so zu reden? Offensichtlich war es ihr ganz und gar nicht recht, dass Jan und er… Tini unterbrach seine ungeordneten Gedanken.

Sie redete an ihren Becher gewandt weiter, was ihm das Zuhören erschwerte. Er musste sich dichter zu ihr lehnen, um sie zu verstehen. "Als Jan mit Bianca Schluss gemacht hat, da hat er gesagt, dass er weiß, dass sie nicht die Richtige für ihn ist. Natürlich hat sie ihn gefragt, ob er eine andere hat. Das ganze kam ja auch ein wenig unerwartet, aber er sagte 'Nein'."

Sie starrte Kai direkt an, sodass er erschrocken zurückwich und wiederholte "Nein. Er hat gesagt, dass er Schluss gemacht hat, weil sie nicht zueinander passen und er das fühlt."

"Hm." 'Ist mir doch egal. Die Kuh soll mich endlich gehen lassen!' Tinis Blick war direkt und wütend und das machte ihm langsam aber sicher Angst. 'Scheiße, weiß sie etwas?! Verdammt!'

"Kannst du mir mal sagen, was er will?! Was soll denn der Mist?! Muss er so rumlügen?!"

Kai wusste nicht mehr so recht, was genau sie wollte, aber sein Gehirn schaltete ohnehin auf Panik und verweigerte das Denken. 'Lügen? Jan?! Nie. Das kann ich mir nicht vorstellen. Er würde sich eher verdreschen lassen als lügen, oder? Was soll das?!' Er brachte nur ein "Hä?!" hervor, nicht gerade intelligent.

Tini deutete ungeduldig auf das Sofa nach unten und erklärte "Ich hab eine ganz gute Freundin. Sie sitzt dort bei den anderen. Sie wohnt im selben Wohnheim wie Jan. Im selben Flur", buchstabierte sie ihm aus und zog die Brauen hoch. Sie machte eine kurze Pause, dann bemerkte sie ätzend "Sie kennt ihn ganz gut, auch wenn er nie mit ihr redet. Und sie weiß, dass er seit einer ganzen Weile fast jedes Wochenende nicht in seinem Zimmer schläft und nicht selten in der Woche auch erst morgens auftaucht."

Kai fühlte sich ekelhaft, verschwitzt, ängstlich, in die Ecke getrieben.

"Wo…" erreichte Tinis Stimme sein Gehirn "… ist er denn, wenn er keine andere Tussi hat? Wieso kann er Bianca nicht sagen, dass er eine andere hat, damit sie endlich Ruhe gibt, und endlich mal sieht, was ihr denn fehlt für ihren Mr. Perfect! Damit sie einsieht, dass er nicht nur kein Interesse hat, sondern auch ein anderes, verstehst du?!"

Kai zuckte zusammen. 'Was soll das denn?!'

"Ich kann es mir nicht erklären, aber wieso sagt er ihr, dass er keine andere hat, wenn es ihr helfen würde und er doch tatsächlich wen anderes haben muss?! Warum lügt er sie denn an, wenn er sich nicht mehr für sie interessiert?!"

Kai hob den Kopf und murmelte schüchtern und unsicher "Es ist aber wahr." 'Verdammt, das stimmt! Jan hat nicht gelogen! Es 'ist' wahr!' Sein Kopf wurde mit einem Mal klarer. Er fühlte eine schon unangenehme Leichtigkeit in seinen Gedanken, während er erklärte "Jan hat nicht gelogen. Er hat keine Freundin, Tini. Nicht, dass ich wüsste."

Er grinste leicht. Immerhin stimmte das, Jan hatte keine Freundin. Er hatte einen Freund. Darauf kam sie nicht, das wusste er mit einem Mal und fühlte sich rapide besser.

Tini senkte den Kopf und blickte in den leeren Becher, dann ballte sie eine Hand zur Faust und warf den Becher mit Schwung an die Wand gegenüber. Einige Mädchen unten schrien erschrocken auf, dann lachten sie und riefen Unsinn nach oben, aber Tini ignorierte sie und rief regelrecht wütend "Ach Scheiße!"

Kai zuckte erschrocken zurück. Musste sie immer so wild und impulsiv sein, wenn er doch schon Mühe hatte, ihre Nähe überhaupt zu ertragen? Doch einen Moment drauf sah sie ihn müde und enttäuscht an und murmelte leiser "Scheiße, Kai. Ich… hätte mir gewünscht, dass sie aufhört damit, ihm nachzuweinen, nachzurennen, mich damit zu belasten! Das halt ich nicht mehr aus! Kann sie nicht einfach aufhören?"

Kai blinzelte und vermutete aus eigener Erfahrung mit Jan "Das ist nicht so leicht." Tini schniefte und er kramte erschrocken nach einem Taschentuch. In dem Moment, in dem er es ihr in die Hand drückte, lehnte sie sich gegen ihn und erzählte mit leicht erstickter Stimme "Ich hab es so satt, ihr Gejammer, ihren Ärger, ihre Verdächtigungen. Sie kann damit nicht aufhören und ich hab es so über, dass ich ihr immer zuhören muss, ihr zustimmen. Wenn ich ihn dann auch noch sehen muss, zufrieden, glücklich, fröhlich und ich weiß nicht was."

Sie schlug mit der geballten Faust auf eine schwarze Winterjacke ein. "Das hat er meiner Meinung nach dann nicht verdient, wenn sogar ich mich scheiße fühle! Ich dachte, wenn er ihr die andere zeigt, wenn sie einen Beweis sieht, dass es wirklich aus ist, dann würde sie sich abregen, verstehst du?"

Kai verstand, aber er verstand auch, dass er nun in der Klemme saß. Bianca mochte glauben, dass sie solange bei Jan noch Chancen hatte, wie er solo war. Tini glaubte, dass ihre Freundin von diesen Gedanken geheilt würde, wenn sie erst einmal einen lebendigen Beweis für Jans andere Interessen vorfand. Aber Kai wusste leider nur zu genau, dass dieses Problem so nicht gelöst werden konnte. Denn Jans Interessen waren nun ein wenig zu anders. Das würde sich zudem von Bianca und Tini ausgehend zu schnell und zu weit rumsprechen. Das konnten Jan und er noch nicht riskieren. Nicht solange Jan den Trainerschein noch nicht hatte zumindest.

Ungemütlich hin und her ruckelnd legte er einen Arm hinter ihren Kopf, weil sie schwer darauf lag und der Arm langsam taub wurde. Diese Situation war so schrecklich ungewohnt für ihn. Ein Mädchen. Sie roch süß, flennte wegen einer Lappalie, hatte eine viel zu nervende Stimme, einen ihm unangenehmen Körper. Als sie sich noch näher an ihn presste, drängte sie ihren Busen an seinen Oberarm und er wich unbewusst ein wenig aus. Irgendwie fühlte er sich jedoch mit einem Mal verantwortlich dafür, dass sie sich besser fühlen musste, bevor er weggehen konnte.

Zaghaft schob Kai seinen Arm weiter um sie, was sie damit honorierte, dass sie den Kopf höher auf seine Schulter lehnte. Kai überdachte, was sie ihm erzählt hatte, während Tini sich die Nase tupfte und in eine angenehme Stille verfiel.

Unter ihnen sang der Mädchenchor irgendwie passend 'I Will Survive'. Endlich wagte Kai es, sein Gesicht ein wenig zu drehen, um ihr seine Rückschlüsse mitzuteilen. Diejenigen, die er sich für sie zurechtgelegt hatte. Tini hatte sich an ihn angekuschelt und schien die Situation äußerst angenehm zu finden. Sie schwieg mit halbgeschlossenen Augen und Kai musste sich zusammenreißen, um sie anzusprechen.

"Ich… hab das überdacht."

Sie hob das Gesicht ein wenig und lächelte schwach. "Ja?"

Kai sah rasch weg, seinen Arm konnte er ihr nicht so schnell entziehen, oder doch? Er zupfte daran, damit zupfte er jedoch Tini noch näher an sich. 'Herrgott! Sie sitzt doch schon fast auf meinem Schoß! Hilfe!' Erneut wusste er, wieso er Mädchen nicht mochte, aber er ließ sich dieses Mal nicht beirren. Immerhin war dies eine Chance, das Problem zwischen Tini und Jan zu lösen. Das war ihm ein wenig Leiden schon wert.

Er begann konzentriert zu überlegen. "Ich denke, dass er nicht will, dass Bianca ihren Ärger auf eine unschuldige Person projiziert, verstehst du?"

Tini nickte und knautschte sein Taschentuch ein wenig. "Aber, das kann ihm doch egal sein?"

"Wäre es dir egal, wenn dein Ex mit dem Neuen anfängt zu streiten?" Er fragte sich ernsthaft, ob Frauen überhaupt darüber nachdachten, was denn in Männern vorging, oder ob sie ihre Freunde einfach nur so lange nervten, bis diese aufgaben. Letzteres erschien ihm mit einem Mal sehr sinnig.

Sie runzelte die Stirn. "Hey, darauf bin ich noch gar nicht gekommen. Das ist eine Möglichkeit." Tini rückte nicht direkt ab, aber lehnte sich ein wenig von ihm fort und stellte ein Bein an, das sie mit den Armen umschlang. Sie fragte endlich ein wenig hilflos und mit feiner Stimme "Was soll ich denn mit ihr machen? Ich meine, Männertechnisch?"

Kai überlegte, wie er ihr nett sagen konnte, dass ihm Bianca vollkommen egal war, als sein Blick auf etwas anderes fiel. Im dunklen Fenster gegenüber sah er das Spiegelbild vom Raum unter ihnen, von den Mädchen, die nun mit einer Sesamstraßenkassette mitsangen und schwatzten, vom Sofa, dem Schrank und von dem vom aus Flur erleuchteten Türrahmen. In der Tür sah er das mächtig groß wirkende Spiegelbild von Holger, und dieser sah mit Sicherheit das Spiegelbild von ihnen beiden auf dem Bett. 'Scheiße!' Erneut irgendwie stimmig plärrten die Mädchen unter ihnen "Hätt ich dich heut erwartet…"

Tini machte die Sache noch schlimmer, indem sie den Kopf wieder auf seine Schulter sinken ließ und im schläfrigen Ton fragte "Sag schon, weißt du nichts?" Holger wendete sich wieder ab und verschwand.

Kai verbannte seine Furcht vor ihm kurzzeitig und erwiderte "Ich würde sie verkuppeln, mit einem Typen. Gibt doch genug, oder nicht?" 'Und das gibt dir dann auch zu tun und ich hab meine Ruhe, verdammt.'

Es war ihm schleierhaft, wer auf Bianca stehen mochte, aber auf jeden Topf passt ein Deckel, wie seine Oma so schön sagte. Auch auf Biancas mit Sicherheit. Nur kurz erwog er sogar den einen oder anderen mit Sicherheit Heteromann, aber verwarf den Gedanken ärgerlich. 'Wie kann man sich nur in so was reinziehen lassen?!'

Tini kicherte und erwiderte "Das versuche ich ja. Was meinst du, weswegen ich Holger eingeladen habe?"

Kai hätte sich beinahe an den Kopf gefasst und aufgestöhnt, aber hielt sich im letzten Moment davon ab. Die Humanlogikabteilung in seinem Kopf erteile Tini gerade eine Note sechs. 'Holger steht doch bestimmt nicht auf die! Er kann Bianca doch gar nicht ab! Scheiße, ist die blöd!'

Ein anderer Gedanke brachte ihn zum Grinsen 'Ich sitze hier mit einem Mädchen und bin noch nicht umgekommen. Es ist gar nicht so schlimm, eigentlich. Na gut, sie ist schlimm, aber… es geht, irgendwie.'

Dennoch drängelte sich etwas anderes wieder in den Vordergrund seines Bewusstseins. Das Etwas war leider annähernd zwei Meter groß und nicht wenig kräftig und sehr hetero und wusste nichts davon, wie wenig hetero er selber war. 'Scheiße! Holger ist sauer, mit Sicherheit. Ich kann doch nichts dazu… Frauen. Wieso müssen die immer Ärger machen?'

"Tini, ich muss los." Irgendwann hatte Jan ihm einmal gesagt, dass er 'verdammt noch mal' den Namen der Personen sagen solle, wenn er mit ihnen redete. Kai musste feststellen, dass Leute mit einem Mal wirklich hörten. Den Namen zu sagen, half wirklich.

'Jan kennt sich echt aus’, fuhr es ihm erneut durch den Kopf, denn Tini verwandelte sich von der elenden Klette schnell und einfach wieder zur Gastgeberin zurück. Sie holte tief Luft und fuhr sich rasch einmal durch die Haare. "Ja, klar. Hast du deine Jacke gefunden?"

Kai nickte und ließ sie runterklettern. Als er selber sich auf den Boden fallen ließ, wurde er sich der penetranten Blicke der anderen Mädchen und Jungs im Zimmer und Flur bewusst. Verstohlen checkte er beim Schuhe anziehen noch mal das Fenster und musste feststellen, dass man wirklich direkt auf das Bett sehen konnte und man konnte trotz der schwachen Beleuchtung sogar die Jacken erkennen. 'Scheißescheißescheiße… Frauen…'

So schnell er konnte, winkte er und sagte eher unmotiviert "Tschüss, viel Spaß noch." in Tinis Richtung. Bianca starrte ihn vom Sofa her an und ihre Blicke machten ihn erst recht nervös. Dann erhob sie sich und ging zu Tini hin, um mit ihr zu reden.

Kai nutzte die Chance und ging rasch aus der Wohnung. Holger konnte er nirgends entdecken, der war vermutlich schon gegangen. Kai wagte es aber auch nicht, nach ihm zu fragen, um nicht noch auffälliger zu werden.

Kapitel 24

Kai schlurfte kraftlos mit gesenktem Blick die Straße entlang. In seinem Kopf ging er das Gespräch mit Tini noch einmal durch. 'Sie war sauer auf Jan, weil dieser Bianca anlügt?' Es beeindruckte ihn irgendwie, dass Tini unter der angenommenen Unehrlichkeit litt. Sie hatte eine so aggressive Art und war stets derart direkt, dass sie ihn ein wenig an Jan erinnerte.

Auch Tini war so kompromisslos und ging durchaus einen unbequemen Weg, aber noch auf eine andere Art. Jan hätte vermutlich noch direkter gesagt, was ihm nicht passt, nicht den Umweg genommen, den Tini gewählt hatte.

'Vermutlich wollte sie mich angraben.' Ein sehr leichthin entstandener Gedanke, aber Kai begann sich Sorgen zu machen. 'Was kann ich denn tun, damit sie mich in Ruhe lässt? Ihr erzählen, dass ich schwul bin?' Das wollte er nicht. Sein Privatleben von so vielen wie möglich fernzuhalten, hatte ihm eigentlich immer nur gut getan. Und nun war es nicht nur sein Leben, sondern auch das von Jan.

'Wenn Tini da eine Verbindung zieht, dann weiß ruckzuck Bianca Bescheid und dann bestimmt die ganze Uni.' Der Gedanke, dass Bianca das Wissen über Jan und ihn wohlmöglich für eine kleine Privatrache an ihrem Exfreund nutzen konnte, jagte ihm Schauer über den Rücken.

Kai ließ sich von den Gedanken ablenken, während er mit in den Taschen vergrabenen Händen den Schritt beschleunigte. Er nahm den Weg gar nicht so richtig wahr, sah immer nur zwei Schritte vor sich. Es war ohnehin nebelig und düster hier im Wohngebiet. Es war ja nicht weit bis zu seiner Wohnung und es war kalt genug, dass Kai mit Frieren beschäftigt war.

Doch nach der zweiten Toreinfahrt begann etwas an Kais Aufmerksamkeit zu zerren. Kalte Angst lief seine Wirbelsäule entlang, noch bevor er zuordnen konnte, was es war. Im nächsten Moment wusste er es und stockte.

Da war ein Geräusch. Ein Geräusch, das ihm durch die Nerven kroch, ihm eine Gänsehaut über den Kopf jagte und ihn fertig machte. Ekelhaft, wie… 'Ein Motorrad!'

Kai versuchte schneller zu gehen, aber kam irgendwie dennoch nicht voran. Seine Beine antworteten nicht mehr auf den Befehl, obwohl er innerlich schon 'Lauft endlich!' schrie. Er spürte, dass er taumelte, die Angst begann ihn zu lähmen.

Das Brummen wurde zu einem Aufheulen, es kam näher und Kai begann zu zittern. Er hatte keinen sinnvollen Grund dafür, die Erinnerungen an die Nacht, in der er überfallen wurde, begannen noch gar nicht wirklich. Es waren nur Gefühle, die mit dem Geräusch näher und näher kamen. Unaufhaltsam.

Panisch sah Kai sich um, seine Wohnung war zu weit weg, Tinis Wohnung auch, er stand im schutzlosen Niemandsland.

Die Toreinfahrten begannen wie dunkle Rachen auszusehen. Dann stoppte das Geräusch und alles war wieder still. Kai sah sich um, seufzte nach einem Augenblick erleichtert auf, obwohl sein Herz noch immer wild gegen seine Rippen schlug, schmerzhaft beinahe.

Er atmete einige Male durch und begann erneut konzentriert an den Abend zurückzudenken, um sich abzulenken.

'Benni… ich muss Lolli von ihm grüßen.' Ja, Benni war ein wenig zu sehr an Lolli interessiert, oder? Kai grinste. 'Die passen nicht schlecht zusammen. Aber zusammen müssen die einem doch wirklich den letzten Nerv rauben.'

Frank war ja ein wenig mürrisch, still und nicht gerade der Partyheld. Anders als Lolli, der immer und überall für Fröhlichkeit und aufgeregte Geschäftigkeit sorgte und dessen fehlender Sinn für Takt auch Kai schon einmal in den Wahnsinn getrieben hatte. Bislang hatte er immer angenommen, dass Lolli und Frank einfach sich anziehende Gegensätze waren. Nun begann er zu denken, dass sie den Ausgleich des anderen Temperaments vielleicht brauchten.

Kais Gedanken wanderten zu Holger weiter. 'Wie kann ich ihm denn klarmachen, dass ich nichts von Tini will? Ganz im Gegenteil zu ihm… Ja, er ist doch scharf auf sie, oder nicht?' Verwirrt bemerkte Kai, dass dieses Geschäft mit den Heteros begann, ihm mehr Stress zu bereiten, als jeder Gefühlswirbel von Lolli bislang. 'Wieso können die nicht auch einfach sagen, was sie wollen?'

Eine fiese Erinnerung in seinem Hinterkopf erwachte und verhöhnte ihn ausgiebig 'So wie du, Kai Hellmann? Du hast ja auch so blendend alle deine Probleme mit Jan geregelt. Heulend im Bett liegen, nicht anrufen, nicht mit ihm reden, Angst haben, mit Lukas schlafen, das waren grandiose Einfälle! Du bist ja hier der beste Ratgeber! Ach, halt die Klappe!' Verärgert ignorierte er die Hexenstimmen in seinem Kopf, soweit es ging.

Kai kickte gerade eine leere Dose scheppernd aus dem Weg, als das Motorradheulen wieder begann, näher und lauter dieses Mal. Wie ein wütender Schwarm Wespen, der sich ein Ziel ausgesucht hatte, summte es, jaulte der Motor und kam nun sehr schnell durch die Gassen schallend näher.

Kai wich an die Hauswand zurück, zitterte und konnte die Augen nicht offen halten. Wenn er sie schloss, dann blitzten die Bilder von den Autoräubern wieder vor seinem Gesicht auf: das Motorrad, das gewendet wurde, die Fußtritte gegen seinen Körper, heiß-kalte Schmerzen, der Lärm, als die Maschine dicht an seinem Kopf vorbeizischte. Er konnte seine nackte Angst wieder spüren, die sich nicht mehr beherrschen ließ und die damals seine Schmerzen übertrumpft hatte.

Gleich drauf schoss das Motorrad an ihm vorbei aus einem Innenhof hervor und Kai schrie auf, fuhr zurück und bedeckte seine Ohren mit den Händen, kniff die Augen so fest zu, wie er konnte. Angst wallte in ihm auf, die Wellen schlugen über ihm zusammen, begruben ihn. Er fühlte sich wie taub, konnte nicht mehr reagieren. War wie gelähmt, wie außerhalb seines Bewusstseins, machtlos.

Dann wurde es wieder still. Er ließ zitternd seine Finger sinken, sein Gehirn schaltete sich ein und erzählte ihm mit nüchterner, ruhiger Stimme, dass er normal ein- und ausatmen solle, dass er sich darauf vorbereiten konnte, seine Augen zu öffnen. Eine dumpfe Stimme mischte sich ein, rief ihn, seinen Namen und er hob den Kopf.

Das nächste, was er wahrnahm, war ein kühler Körper, gegen den er sich lehnte und die dunkle Stimme, näher dieses Mal. Jemand berührte seinen Kopf, umfasste seine Schultern. Kai ließ sich mit noch immer geschlossenen Augen gegen den Körper sinken und atmete tief durch. Es war ihm egal, wer das war. Er war in Sicherheit, alles andere war erst einmal Nebensache.

"Hey, Kai. Was ist denn los? Das war nur der Pizzamann. Tief durchatmen, Kleiner." Kai befolgte den Rat und holte Luft, ließ die Hände weiter sinken, aber ließ sich noch immer stützen. Sein Herz verlangsamte das Tempo allmählich und er konnte sich, ein wenig taumelnd noch, in die gewünschte Richtung bewegen.

"Na? Besser? Geht's wieder?"

'Das ist Holgers Stimme.' Und die Größe des Körpers, dessen Schutz er noch immer brauchte, passte auf seine Schätzungen. Bei dem Kühlen handelte es sich um die Windjacke von Holger, an die er sich aufatmend angelehnt hatte.

Kai rückte erschrocken ab und seufzte "Ich…"

"Nee, sag nichts. Ich kenn die Geschichte. Ich kann das verstehen." Holger zog ihn mit festem Griff näher und sagte bestimmt "Ich bring dich nach Hause. Meine Güte. Dich kann man ja keinen Moment allein lassen! Kein Wunder, dass du nicht gern auf Partys gehst."

Kai wollte protestieren, aber konnte nicht. Holgers Arm war nötig für ihn, damit er nicht stolperte. Seine Anwesenheit, damit er nicht vor Angst verging. Betäubt nannte er seine Adresse. Holger zog ihn mehr zu seinem Haus hin, als dass er ihn gehen ließ und er schloss für Kai die Tür auf, ließ sich nicht davon abbringen, ihn bis in die Wohnung zu begleiten.

Kai war noch immer viel zu schockiert, um überhaupt etwas zu sagen, aber als die warme Sicherheit ihrer Wohnung ihn umfing, lösten seine Anspannungen sich eine nach der anderen auf.

Holger war unkompliziert, wie immer. Er zog seine Jacke aus und fragte aufgeräumt "Hast du vielleicht ein Bier? Die hatten nur Sekt und Wein auf der Frauenfeier da drüben."

Kai nickte und hängte die Jacken auf. Er deutete zu ihrem Esstisch und tappte noch immer wortlos in die Küche.        

'Du musst es ihm sagen!' überfiel sein Gewissen ihn sogleich. 'Holger ist ein so netter Kerl, ein Freund. Er muss doch erfahren, dass du nichts von Tini und mit Tini und überhaupt in Richtung Frauen willst! Er muss es erfahren!' Kai goss sich Wasser in einen Becher und holte für Holger eines von Jans Bieren aus dem Kühlschrank.

Noch immer mit seinem Gewissen debattierend ging er zu Holger in den Essraum zurück und stockte in der Bewegung. Sein großer Kommilitone saß an dem Tisch und lehnte den Kopf in den Nacken, um die segelförmige Fahne über den Tisch zu bewundern. Eine Regenbogenfahne. Die war am Tag zuvor noch nicht dort gewesen.

'LOLLI!!' Kai öffnete und schloss einige Male den Mund und rieb sich die Augen, die Fahne verschwand leider nicht.

Holger lachte glucksend und griff sich das Bier, dabei machte er mit der freien Hand eine deutende Bewegung um den Raum und zur Fahne und fragte "So, hier wohnst du also?"

Kai nickte dämlich und ließ sich auf die Sitzbank unter die Flagge fallen, die sich sachte, wie um ihn auszulachen, in der Zugluft bewegte. "Ich teile mir die Wohnung mit einem Designstudenten."

Holger öffnete den Bügel an der Flasche mit einem Zischen. Er trank einen Schluck und betrachtete Kais Gesicht. "Geht es wieder?"

Kai nickte und wurde rot. "Ich hab das noch nie gehabt. Solche Panik", flüsterte er und schämte sich.

Holger gestand ihm tröstlich "Ich hab schreckliche Höhenangst. Das mag man gar nicht glauben von einem, der fast zwei Meter groß ist. Ich kann dich verstehen. Wenn ich im fünften Stock runter schaue, dann bekomme ich auch feuchte Hände."

Kai blinzelte ihn dankbar an und schwieg eine Weile, während er an dem Wasser nippte. Dann hob Holger den Kopf und sagte "Ich bin hinter dir hergegangen, weil du deinen Schal hast liegen lassen." Er nickte zur Garderobe hin und Kai fasste sich an den Kopf. "Oh Mann, danke. Den hab ich aber auch schon überall vergessen!" In Gedanken kniete er vor Holger nieder, weil der ihn davor bewahrt hatte, noch einmal zu Tini zurück zu müssen.

Endlich hatte Kai sich so weit entspannt, dass er über Tini und das Gespräch auf dem Bett reden konnte. Er starrte dabei auf sein Wasser und sprach nur leise, so dass Holger immer auch so tun konnte, als habe er sich verhört. "Tini wollte mit mir über Bianca reden."

"Ich weiß."

Kai blinzelte und hob den Kopf "Ja?"

"Hm."

Holger erschien ihm so cool. Wie konnte er nur derart gelassen unter einer Regenbogenfahne sitzen und Bier trinken? Das würde nicht einmal Jan schaffen!

"Sie wollte, dass Jan Bianca seine neue Freundin zeigt, damit sie Ruhe gibt und es einsieht."

"Aha. Ja, vielleicht hilft das." Holger trank erneut einen Schluck Bier und schien sich noch mehr zu entspannen. Er lehnte sich langsam zurück und breitete sich irgendwie gemütlich über die Sitzbank aus.

"Ich weiß nicht. Ich glaube, dass es Bianca nicht helfen würde, nur der anderen schaden", tat Kai kund.

Holger wiegte den Kopf. "Früher oder später werden die sich ja mal begegnen, oder nicht?"

"Ja, aber nicht extra und so förmlich." Kai schob dabei den Gedanken an ein offizielles Treffen zwischen Bianca und ihm lieber weit, weit von sich.

"Nicht extra, da hast du recht." Holger dehnte seine Schultern ein wenig und begann auf Kai zu wirken wie eine große, träge Katze.

Kai lächelte leicht und traute sich endlich zu sagen "Ich will nichts von Tini."

Holger nickte und erklärte nach einem weiteren Schluck langsam und gemütlich "Weiß ich doch."

Kai blinzelte irritiert "So?"

Holger lehnte sich vor und erzählte "Auf der Uniparty hab ich bemerkt, dass du deine Jacke hast liegen lassen, als du mit dem Bullen weg bist."

"Ja, stimmt." Kai trank nervös von seinem Wasser, obwohl er gar keinen Durst mehr hatte.

"Ich bin zunächst hinter euch her, um dir die Jacke mit einem passenden Spruch in die Hand zu drücken. Aber da hätte ich wohl gestört, oder?"

Kai begriff und wurde rot. 'Er hat mich mit Lukas gesehen?! Scheiße!' Erneut an diesem Abend bekam er Panik und verkrampfte sich.

Holger jedoch lehnte sich wieder zurück und gab zu "Ich hätte dich gar nicht unbedingt fragen müssen, ob du mit Tini was willst hinterher. Ich wollte nur noch mal wissen, woran genau ich so bin. Heutzutage ist alles möglich."

'Verdammt, wie kann er nur so cool sein?!' In Kais Kopf tanzten die Gedanken Ringelreihen, er war zu keiner Antwort fähig. Holger war so anders, als er gedacht hatte. Mit einem Mal erschien er ihm unerwartet verständnisvoll und zugleich vertrauenswürdig.

Holger trank sein Bier einen Moment lang schweigend und Kai hielt sich an seinem Becher fest. Endlich mutmaßte Holger "Du bist immer so schweigsam, um niemanden auf dich zu hetzten, nicht wahr? Brauchst echt keine Angst vor mir zu haben. Nicht alle Gerüchte über Soldaten stimmen."

Er deutete wage zur Fahne, die sachte über ihnen schwankte. "Ich bin mir meiner Vorlieben bewusst und sicher genug, dass ich nicht rumpöbeln muss. Wir sind nicht alle dumm und haben Vorurteile, Kai."

Kai errötete noch mehr und murmelte unsicher "Das hätte ich auch nicht von dir gedacht. Es ist nur so, mein Mitbewohner ist schon intensivpflichtig zusammengeschlagen worden, und ich hab auch schon genug Scheiß erlebt, man ist lieber einmal zu viel vorsichtig."

Holger seufzte und nickte "Da hast du auch recht." Er betrachtete Kais Gesicht erneut und mutmaßte "So wie Jan dem Fummelkursmann eingeheizt hat, weiß er das schon, nicht?"

Kai nickte nur und verschloss sein Gesicht, weil er bei sich dachte 'Und wie Jan das weiß.' Mühsam beherrschte er sein Grinsen.

Doch Holger fuhr fort "Tini hingegen weiß es noch nicht, nehme ich an."

Kai seufzte genervt und sagte "Nein. Ich will es aber auch nicht in der ganzen Uni rumreichen." Er blickte Holger flehend an.

Dieser verstand, was er sagen wollte und nickte leicht. "Okay. Ich kann meine Klappe schon halten, Kleiner. Aber nur unter einer Bedingung."

"Welche?" 'Wenn er mich jetzt erpresst…'

"Du musst Tini zu meiner nächsten Feier einladen, die ist jetzt im Dezember, überübernächstes Wochenende."

Kai nickte zuerst, dann hob er den Kopf und sagte "Ich bin da Zuhause, meine Oma hat Geburtstag. Wenn ich da nicht auftauche, dann erschlägt mich meine Mutter mit Sicherheit."

"Du brauchst nicht zu kommen, nur sie einladen, okay?"

"Wie? Ich soll vor Tini behaupten, dass es meine Feier ist? Das kann ich doch auch nicht."

"Nein, Herrjemine bist du kompliziert. Du sollst ihr nur sagen, dass du hinwillst. Im Nachhinein kannst du ja immer noch sagen, dass du kurzfristig zu der Sache mit der Oma musstest. Wenn du da sein wirst, dann kommt sie auch hin. Ob du da bist, oder nicht, ist mir im Grunde egal, nichts gegen dich, aber weißt schon." Holger grinste ein wenig. "Finde ich ja im Grunde zum Schreien, dass sie auf dich steht."

Kai schob den Becher fort und knurrte "Ja. Zum Schreien. Find ich auch." Daraufhin musste Holger lauthals lachen, was er so ausgiebig tat, dass Lolli davon aufwachte und von Neugierde geplagt seinen Kopf zum Essraum rein steckte.

"Ihr wilden Mäuse könnt mal leiser sein! Ich muss morgen früh arbeiten!" zickte er endlich.

Kai entschuldigte sich errötend, woraufhin Holger sich erhob und an Lolli gewandt meinte "Tut mir leid, ich bin schon unterwegs."

Lolli schenkte Holger ein verschlafenes Lächeln und murmelte abwinkend "Nichts gegen dich, mein Bärchen. Ich versuche nur zu schlafen", was Holger zu einer hochgezogenen Augenbraue bewegte und Kai einen Hustenkrampf bescherte.

Als Kai ihn verabschiedet hatte und in seinem Bett lag, schien mit einem Mal das Leben wieder ein Stück leichter geworden zu sein.

Holger wusste, dass er schwul war und hatte kein Problem mit ihm. Er konnte sich anscheinend nicht vorstellen, dass Jan mit ihm zusammen war, aber er wusste, dass Jan und er Freunde waren. Er wusste, dass Kai nichts von Tini wollte, er wusste, dass Kai von seinem Interesse an dieser schrecklichen Frau wusste. Alles war im Prinzip offen gelegt und nichts musste mehr umschlichen werden mit Holger.

Kai schlief am nächsten Morgen, so lange er konnte. Da er nicht arbeiten musste, wurde sein Schlaf lediglich von Jan begrenzt. Sein Freund kam mit reichlich feucht-kalter Luft in sein Zimmer gestürzt, als die Kirchturmuhr aus der Ferne gerade zwölf schlug. Kai streckte sich wohlig und ignorierte Jan. Er zog sich die Decke ein wenig über die Ohren, während Jan leise fluchend ein wenig aufräumte. Vermutlich, um Platz für sein Handtuch vom Sport zu schaffen, das er noch trocknen musste. Nach einer Weile blendete Kai das Rascheln aus und schlief wieder ein, bis Jan sich zu ihm auf das Bett setzte. "Guten Mittag. Hast du Hunger?"

Kai grummelte und zog die Decke höher. "Geh weg."

Jan lachte leise "Aber, aber… ich hab kalte Hände. Du bist bestimmt herrlich warm."

Kai war nicht auf den Angriff vorbereitet. Er war noch zu verschlafen und konnte sich deswegen nicht wehren, als Jan sich kurz nach diesen Worten zu ihm unter die Decke stürzte und ihn mit den wirklich kalten Fingern gründlich schockte.

Der Kampf war kurz, ausgesprochen unfair und Kai verlor, wie immer. Er fand sich auf dem Bauch liegend, halb unter Jan vergraben wieder, der sein Gesicht an Kais Nacken drängte, um ihn in die empfindliche Haut zu beißen und mit einem Dreitagebart zu kratzen.

"Lass mich los! Verschwinde, verdammt! Ich bin müde und hab einmal frei! Du Arsch!"

Jan lachte nur unbeeindruckt. "Ich wollte dich eigentlich mit einer wirklich netten Neuigkeit überraschen, Kai. Aber wenn du so fies und gemein zu mir bist…"

Kai stemmte sich gegen sein Kissen, um Jans Gewicht von seinem Rücken loszuwerden "Ich?! Fies?! Du hast sie ja nicht mehr alle! Nimm deine Finger da weg!"

Jan lachte ihn noch immer aus und verkündete "Wir haben doch was zu feiern. Nein, eigentlich hast du was zu feiern! Na, rat doch mal."

Kai schaffte es sich umzudrehen und Jan nutzte die Gelegenheit, um sich noch dichter an ihn zu kuscheln. Erst jetzt fiel Kai auf, dass sein Freund kein T-Shirt mehr trug. Er dachte über die Frage nach und begann Jan aus Reflex über die kräftigen Schultern zu streicheln. Mit den Fingern kämmte er durch Jans Wuschelhaare und bemerkte "Du musst zum Friseur, sonst kann man dir bald Zöpfe flechten."

Jan lachte lauthals auf. "Wie ich dich kenne, kannst du das sogar!"

"Nein, aber Lolli wäre begeistert. Der hat bestimmt rosa Haargummis für dich", schoss Kai ätzend zurück. Er mochte es nicht, wenn man ihm schwuchtelige Art unterstellte.

Lolli lachte über die Witze immer nur, Kai fand sie verletzend und litt darunter. Jan wurde normal regelrecht wütend, aber selber neckte er Kai gern, wenn sie allein waren. Vor allem, wenn Kai sowieso schon sauer war, setzte er damit noch einen drauf.

Jan streckte sich nun und schob seine Finger nebenbei an Kais Flanken entlang und unter seine Schlafshorts. Kai seufzte leise und vernahm dann dicht an seinem Ohr "Ich hab heute das letzte Spiel der Saison gehabt. Ist das nicht eine Feier wert, Baby?" Lippen folgte Jans Atem an seinem Ohr und Kai erschauderte.

"Ich wollte dich fragen, ob wir nicht mal am Wochenende nach oben zum Ferienhaus fahren wollen. Nach der Feier bei Lukas das Wochenende meine ich. Wir hauen hier am Freitag ab und kommen Sonntag wieder, wie ist das?"

Kai ächzte leicht und drängte sich gegen die mittlerweile warmen Hände, die über seinen Po wanderten. "Wäre schön… kann ich aber… nicht… leider."

Jan seufzte und stellte ein wenig abrückend fest "Du musst arbeiten."

Kai nickte und drehte sich zu ihm um. "Ich hab dieses Wochenende frei und dann wieder das überübernächste. Und nächstes ist die Feier bei Lukas, da haben wir jetzt schon zugesagt. Ich kann nicht dazwischen auch noch ausfallen lassen."

"Wieso das überübernächste? Das ist doch schon Dezember, oder nicht?"

"Weil meine Oma Geburtstag hat. Da wollte ich fragen, ob du nicht mitkommen willst zu uns."

"Willst du deine Oma zu Tode schocken?"

"Nein, eigentlich nicht…" Kai grinste. "Aber meine Tante vielleicht."

Jan legte ein Bein über seine Hüfte und begann ihm über die Brust zu streicheln. "Schade. Das wäre so ein perfektes Wochenende." Sein Ton war leicht nölig.

Kai verdrehte die Augen. "Ja, schade. Aber ich muss Miete zahlen, Jan!" erwiderte er eine Spur zu scharf. Er hasste es selber, aber Jan musste anscheinend wieder einmal daran erinnert werden, dass Dinge Geld kosteten und dieses nicht bei jedem auf magische Weise auf dem Konto auftauchte, so wie bei ihm.

"Du könntest in ein Wohnheim ziehen, wie ich und Geld sparen."

"Da würde ich eingehen. Das halte ich nicht aus."

Jan seufzte auf und knurrte "Scheiße. Na gut."

Kai seufzte ebenfalls enttäuscht und strich ihm über die Haare. "Wie wäre es, wenn ich Freitag und Samstag arbeite und wir Samstagmittag fahren? Das ginge doch auch, oder?"

Jan grübelte und meinte endlich "Ja. Das geht auch noch. Ein Tag ist auch nett. Kannst du tauschen? Würdest du das tun?"

Kai lächelte über die Freude in seiner Stimme und nickte "Klar mach ich das."

Jan drückte ihn ein wenig "Toll! Danke, Baby."

Als sie am Nachmittag noch immer im Bett lagen und Kai sich beinahe schon schnurrend von Jan den Rücken massieren ließ, störte ausgerechnet Benni diesen Frieden, indem er so lange an der Tür klingelte, bis Jan ihm öffnete.

"Jemand kennt sich mit Lollis Gewohnheiten aus. Der öffnet nur, wenn man Alarm macht", vermutete Kai und wählte den Moment zum Aufstehen aus. Hauptsächlich, weil er langsam Hunger bekam.

Er suchte sich gerade sein Handtuch und wollte zum Duschen gehen, als Jan von der Tür zurück kam und ihm verkündete "Ein Benni will was von deinem Mitbewohner. Ist Lolli nicht zur Arbeit?"

"Ja, ist er. Aber Benni war schon mal hier, der kann ja in seinem Zimmer warten."

Jan rief Benni einen entsprechenden Befehl durch den Flur zu und quetschte sich gerade noch rechtzeitig ins Bad, bevor Kai die Tür schließen konnte.

"Ich lasse mir doch nicht Kai unter der Dusche entgehen!" erklärte er grinsend. Kai ignorierte seine Blicke und seifte sich ein, während Jan sich rasierte. Dann kletterte Jan zu ihm unter das warme Wasser und Kai lehnte sich aus Reflex schon gegen seinen Körper, während Jan ihm das Duschgel in weiten Kreisen auf dem Rücken verteilte.

"Hm. Man sollte immer zu zweit duschen, das ist viel schöner. Man spart Wasser und Energie, weil man sich einseifen lassen kann. Und man kann den anderen befummeln, und…"

"Hey! Hast du denn noch immer nicht genug?" Kai wehrte die Finger von seiner Hüfte und seinem Po ab, aber wurde nur von einem festeren Griff gegen Jans Körper gezogen.

Jan lehnte sich mit ihm gegen die Wand und begann eine Knutscherei, die Kai begeistert anheizte, indem er Jans Lippen mit der Zunge folgte und ihn neckend damit streichelte, bis Jans Zähne ihn eingefangen hatten und seine Finger sich ihm in die Schulter gruben, um ihn dichter zu ziehen.

Nur mit äußerster Mühe konnte Kai abrücken und schlug schwer atmend vor "Das können wir doch auch woanders fortführen, oder?"

Jan sah ihn mit schief gelegtem Kopf an und nickte leicht. "Können wir schon. Aber du schmeckst so lecker, wer weiß wie lange noch."

Kai stellte das Wasser ab. "Jedenfalls länger als unter der Dusche nötig ist."

Jan betrachtete sein Gesicht und küsste ihn noch einmal. "Du bist so unspontan, Kai."

"Bin ich nicht!"

"So?"

"So!" Kai kletterte aus der Wanne und angelte bibbernd nach seinem Handtuch.

"Dann lass es uns hier tun, jetzt."

"Was?"

Jan erklärte es nicht noch einmal, sondern zog ihn mit sich auf Lollis blumenförmigen Badezimmerteppich zu Boden. "Ich will dich jetzt und hier und nicht gleich und dort", knurrte er dunkel und warf Kai ein Kondom zu, das er sich aus seinem Kulturbeutel gesucht hatte.

Kais Nackenhaare stellten sich auf. Er begann vor Erregung zu zittern anstelle vor Kälte. Mit einer weichen Bewegung schob er sich unter Jan entlang und bog seinen Kopf zu sich herunter, um ihn zu küssen. "Gut, dann man los“, flüsterte er zurück.

Jan rollte ihn nach oben und umfing ihn mit den Beinen. Kai hätte seinem Freund ohnehin nichts abschlagen können und erst recht nicht, wenn dieser ihn so ansah und berührte und wenn er so aussah wie in dem Moment. Nass glänzend, mit angespannten Muskeln, weitem Blick und einer herausfordernden Haltung der Schultern, als würde er noch immer sagen, dass Kai es nicht wagen würde.

Sie begannen sofort, streichelten sich ungeduldig, zielstrebig, während das Neonlicht, der kühle Luftzug auf der noch feuchten Haut, sowie der harte Fußboden allmählich verschwanden, bis da nur noch der andere Körper blieb, nichts von der Umwelt mehr interessierte. Kai versuchte vorsichtig zu sein, aber Jan war ungeduldig, zog ihn mit einem Ruck dichter und umfasste seine Hüften mit beinahe schmerzendem Griff und bestimmte ein sehr rasches Tempo.

Erst hinterher kamen beide zum Luftholen, zum Nachdenken und dazu zu bemerken, wie ungeeignet der Badezimmerteppich im Grunde für dergleichen Anwandlungen war.

Jan ächzte seinen Rücken streckend. "Der Fußboden ist hart… aua, das ist vielleicht unbequem!"

Kai ließ ihn aufstehen und erinnerte ihn hinterhältig "Du wolltest unbedingt 'jetzt und hier', mein Lieber." Er grinste und sah an sich herunter. "Ich gehe jetzt noch mal duschen."

Jan grinste zurück und verkündete "Ich komm mit. Wir hätten es auch gleich in der Dusche tun können, wäre vermutlich angenehmer geworden."

Erst als sie in Kais Zimmer beim Anziehen waren und über die Möglichkeiten zum verspäteten Mittagessen diskutierten, fiel ihnen Benni wieder ein.

"Ob der uns irgendwie…" Kai wurde sofort rot.

"Ach was, der hat sich den Fernseher angeschaltet und hat von uns bestimmt nichts mitbekommen." Jan beschloss, dass sie eine Pizza holen konnten und bot an, dass er sie abholen könne, wenn Kai das Anrufen übernehmen würde.

"Ich frag Benni mal, ob er auch was will, vielleicht ist Lolli ja auch schon da."

Als Kai jedoch an die Zimmertür von seinem Mitbewohner klopfte, rief Lollis Stimme hektisch von drinnen "Jetzt nicht!"

Kai stutzte und sah zur Uhr. 'Oh Gott, es ist ja schon Abend!' Als nächstes fragte er sich grinsend, was Lolli und Benni wohl so taten, wenn er ein 'Jetzt nicht!' als Antwort auf eine Pizzaanfrage bekam. 'Na, ob Frank das so toll findet…?'

Kapitel 25

Der Gedanke an Benni und Lolli war schnell vergessen, aber Kai erinnerte sich in der folgenden Woche noch einmal aus gegebenem Anlass recht deutlich daran. Er kam am Donnerstag nach einem langen Tag an der Uni ziemlich gerädert nach Hause und wollte eigentlich nur seine Ruhe und etwas zu Essen, als er seinen Mitbewohner völlig aufgelöst in der Küche sitzend vorfand. Lolli sah verheult und unglücklich aus und leicht betrunken, was durch eine leere Flasche Wein vor ihm dann auch ausreichend erklärt wurde.

Kai blinzelte ihn einen Moment lang verwirrt und mit einem unsicheren Gefühl an, dann reagierte er, indem er sich zu ihm setzte und ihn ansah.

"Frank hat Schluss gemacht… wegen so einem Typen, den er im Fitnessstudio kennengelernt hat!" verkündete Lolli nach einem Augenblick mit schriller, heiserer Stimme. "Das ist so unfair! Er hat wohl schon seit einem halben Jahr mit ihm rumgebumst und hat mich nur ausgenutzt, weil der andere sich nicht sicher war. So eine Ratte! Ich könnte den Arsch vielleicht…" Er begann zu Kais Entsetzen wieder zu flennen.

Kai fühlte sich sofort überfordert mit der Situation. Unsicher tätschelte er Lollis Handgelenk ein wenig und starrte ihn einen Moment lang an, wusste nichts zu sagen. Die Türklingel rettete ihn in dem Moment.

Vor der Tür stand die Meiersche, in eine merkwürdig unpassende Kombination aus Cordhose und gemustertem Hemd gekleidet und sah Kai fragend an. "Na, Schatz? Wie ist die Lage an der Front?"

Kai zuckte mit den Schultern und murmelte "Lolli ist… er hat…"

"Frank hat mal wieder Schluss gemacht, weiß ich doch. Lass mich mal sehen, wie die Dinge liegen, Maus." Er knutschte Kai auf die Wange und schlängelte seinen umfangreichen Körper ungeahnt agil um Kai herum in den Flur.

Carl warf seine Tasche auf einen Stuhl in der Essecke und ging zielstrebig zu Lolli, der noch immer schniefend auf dem Klappstuhl in der Küche hockte. "Aha. Taschentücher versperren dem Retter den Weg!" verkündete er lauthals, dann umarmte er Lolli und drückte ihn ein wenig. "Ach Schatz, hör auf dein Gesicht zu ruinieren", tröstete er wenig rücksichtsvoll und gab Lolli einen Klaps auf die Schulter. "Das bekommen wir wieder hin. Lass den Profi nur machen", versicherte er in Kais Richtung und damit sollte er Recht behalten. Innerhalb weniger Minuten hatte Carl Pizza bestellt, eine Flasche Weißwein in den Kühlschrank befördert und Lollis Gesicht soweit wieder hergerichtet, dass dieser menschlich wirkte.

Kai stand in eine Ecke der Küche gequetscht und bewunderte Carl unendlich für seine Art mit der Situation umzugehen. Dieser schaffte es irgendwie gleichzeitig mit einem begriffsstutzigen Pizzamann zu telefonieren, Lolli tröstend im Arm zu halten und ihm zugleich zu sagen, dass Frank, das alte Muffeltier, es nicht wert war, rote Augen zu bekommen.

Den restlichen Abend über bekam Kai die beiden nicht mehr zu Gesicht und sie schliefen noch, als er um halb acht zur Uni fuhr. Dort angekommen brannte Kai darauf, Jan von dem Trubel zu erzählen, aber er bekam keine Gelegenheit. Immer war jemand um sie herum. Erst Tini, die in zwei Kursen und auch in der Mensa nicht abzuschütteln war, dann Holger im Seminar und zudem Bianca, die Jan ausfragte, was er am Wochenende vorhatte. Deswegen stürzte Kai in der WG gleich zum Telefon, um Jan anzurufen. Doch das war besetzt, weil Lolli mit Frank redete.

Kai schlurfte verärgert in die Küche und setzte sich zu Carl an den Esstisch, nachdem er sich ein Toast zurechtgemacht hatte.

"Na, alles klar?"

Kai nickte und erwiderte zwischen zwei Bissen "Bei mir schon, und selbst?"

"Ach, geht schon wieder. Lolli ist ja nicht zum ersten Mal mit Frank zerstritten."

Kai nickte und murmelte "Stimmt."

"Und? Morgen die Feier bei Lukas?"

Kai nickte erneut leicht und erwiderte "Jan kommt mit."

Carls Grinsen wurde breiter. "Aha, läuft alles gut?"

"Ja." Kai begann sich ein wenig wie bei seiner Mutter zu fühlen, wenn diese ihn ausfragen wollte und erhob sich rasch. "Ich muss noch lernen, wir sehen uns ja morgen."

Da Lolli das Telefon blockierte, blieb Kai nichts weiter zu tun, als zu warten. Er schaffte es vor dem Samstag nicht mehr, mit Jan zu reden und ärgerte sich darüber. Am meisten regte ihn jedoch auf, dass er Lolli nicht anmeckern konnte deswegen, weil noch immer Mitleid angesagt zu sein schien.

Jan kam am Samstag schon recht früh bei ihm vorbei, weil sie noch in die Stadt gehen und ein Geschenk für Lukas kaufen wollten. Er brachte reichlich feucht-kalte Novemberluft mit ins Zimmer und machte unruhig Lärm mit seiner Tasche. Kai linste unter seinen Decken hervor und verfluchte, dass er ein Trampeltier zum Freund hatte. Eines, das zudem früh aufstehen konnte.  

"Der Arsch sollte nichts von uns bekommen", grummelte Jan, als er Kai geweckt und ihn mit Kaffee versorgt hatte.

Kai rieb sich die Augen und seufzte. "Ja, aber nur um höflich zu sein, können wir doch eine Blume mitbringen."

"Einen Kaktus dann am besten." Jan lachte auf und lehnte sich über das Bett zu Kai hin. "Tini ist übrigens ganz high, weil du ihr eine Orchidee mitgebracht hättest. Das hat sie Renate gestern in der Mensa erzählt."

Kai stellte den Becher ab und reckte sich gähnend. "Das hab ich nicht. Holger hat die blöde Blume gekauft. Der steht ja schließlich auf sie!"

Jan schob seine Hand unter Kais blaues Schlafshirt und streichelte seinen Bauch ein wenig. "Aber du hast sie ihr in ihren Augen überreicht. Frauen sehen doch nur, was sie wollen, mein Schatz."

"Schatz dich selber und lass mich duschen gehen." Jan hatte schon wieder diesen hungrigen, überlegenen Blick, der Kai so gar nicht gefiel. In dem Moment, in dem Kai den Blick bewusst wahrgenommen hatte und auch die Hand unter seinem T-Shirt, stürzte Jan sich bereits auf ihn.

Carl rettete Kai einen Moment später, als er anklopfte und durch die geschlossene Tür fragte "Willst du Brötchen, Kai? Ich geh welche holen."

"Ja, gern. Jan ist auch da!" rief Kai zurück und wehrte die kalten Finger von seinem Freund derweilen energischer ab.

Jeder normale Mensch hätte eine Antwort gesagt und wäre weggegangen, aber Carl war anormal. Er riss die Tür auf und grinste Jan und Kai an, die reichlich verfänglich auf dem Bett übereinander lagen. Kai unterdrückte einen Fluch, während Jan zusammenzuckte.

"Guten Morgen, Schatz! Wie geht's?" brüllte Carl fast und strahlte.

Jan zog seine Hand zurück und seufzte ein wenig genervt, während Kai eine Runde rot wurde und Carl in Gedanken mörderte. "Ganz gut, und selbst, Carl?"

Die Meiersche nickte und lehnte sich in den Türrahmen, ignorierte, dass man Kai bestimmt am Gesicht ansehen konnte, wie er in dem Moment mit der Hacke auf ihn losging.

"Ich hab die Tröstaktion ganz gut überstanden", erklärte er und lächelte optimistisch.

"Tröstaktion?"

Jan blickte zu Kai und dieser hob die Schultern. "Lolli und Frank."

"Aha, deswegen war das Telefon die ganze Nacht belegt."

Carl nickte. "Sie vertragen sich wieder. Die Beziehung zwischen Lolli und Frank kann man immer an der Telefonrechnung ablesen. Wenn die Rechnung hoch ist, dann ist sie gut."

Kai hatte sich geschickt aus Jans Nähe geschlichen und suchte sich nun aus der Kommode frische Wäsche heraus. Als Carl das sagte, senkte er den Kopf ein wenig mehr und dachte an Benni. 'Wieso macht Lolli eigentlich so einen Terz, wenn er doch selber rummacht mit anderen?' "Ich geh duschen“, unterbrach er gerade eine hitzige Diskussion zwischen Carl und Jan, die darüber entbrannt war, ob man einen Streit auch am Telefon lösen konnte. Natürlich vertrat Jan die Meinung, dass man wichtige Dinge immer direkt besprechen sollte.

Kai huschte unter die Dusche und schloss das Bad ab, bevor Jan ihn überfallen konnte. Er wollte über Benni und Lolli nachdenken, dazu musste er allein sein. Irgendwie kam ihm Lollis Art zu flennen, Frank zu verfluchen und ihm hinterherzuheulen verlogen vor. 'Was soll die Show denn? Wenn er selber nicht viel besser ist?'

Lolli hatte sich schon ein wenig verändert, wenn man seinen Freunden Glauben schenken sollte. Vor dem Überfall und der Intensivstation war er ein echter Partyfreak gewesen, hatte ständig wechselnde Beziehungen gehabt und war an jedem Wochenende durch Deutschland gereist, um auf irgendwelche Events zu gehen.

Seit Kai ihn kannte, weit nach der Sache also, war Lolli mit Frank zusammen, räumte sich die Freiheiten ein, mal mit anderen was zu machen, aber so wirklich gesehen hatte Kai Lolli nur mit Jungs, die eher seine Freunde waren, nur Freunde. So wie Carl.

'Stimmt. Frank, so behauptet er doch immer, bumst rum. Deswegen will er das auch dürfen. Tut er es denn wirklich? Vielleicht ja doch nicht. Vielleicht… Aber… Lukas. Ob er auch mit Lukas? Der war doch neulich hier.' Aber Lukas zu fragen, ob er mit Lolli rummachen würde, kam Kai bescheuert vor. Außerdem ging es ihn im Grunde nichts an. Er stutze und kletterte aus der Wanne. 'Wieso denke ich dann darüber nach?! Ist doch echt nicht meine Angelegenheit!'

Nachdenklich trocknete er sich ab und zog sich seine Unterwäsche an. Dann bemerkte er, dass er doch nicht die grünen Socken gegriffen hatte, passend zu seinem Hemd, sondern die blauen und zog sie unzufrieden wieder zusammen.

'Ich würde so etwas nie machen. Selber rumvögeln und dem anderen hinterherflennen. Dazu noch, wenn der auch rummacht. Was ist denn das für eine Beziehung?' Ja. Wo überhaupt war die Grenze zu ziehen? 'Für mich ist das doch aber klar! Ist es das?'

Kai rasierte sich und starrte in sein schmales, blasses Gesicht. Seine Augen blickten ernsthaft überlegend zurück. In seinem Kopf begannen mehrere Rechtsabteilungen sich zu streiten, wo denn eine Beziehung ihre Grenzen fand. Nachdenklich trocknete Kai seine Wangen ab und cremte sich ein.

'Würde ich denn jemals wirklich so etwas Verlogenes tun? Wochenlang rumbumsen? Bäh! Mit anderen hinter Jans Rücken? Oberbäh!' Mit einem Mal, ganz unerwartet, begann diese Wärme in ihm. Der Gedanke war ihm eben erst gekommen, als dieses überwältigende Gefühl ihn erfasste und überrumpelte. 'Gott, ich liebe Jan! So etwas würde ich nie machen mit ihm! Nie nie nie!'

Hastig schloss Kai die Tür auf und lief schnell zu seinem Zimmer. Jan war nicht dort. Noch immer barfuß, wie er war, lief Kai in die Küche und blieb kurz an der Tür stehen. Er ignorierte die Kühle der Fliesen an seinen Füßen und lehnte sich in den Türrahmen.

Die trübe Novembersonne erhellte die Küche nur wenig, weswegen Lolli oder Carl eine dicke Kerze zwischen die Frühstücksteller gestellt und angezündet hatte. Der goldene, unruhige Schimmer verschönte die Atmosphäre, und Kai starrte einen Moment lang wie gebannt auf seinen Freund, der mit dem Teefilter hantierte.

Jan hatte eine schwarze Jeans an, eine neue sogar einmal, und einen dunkelblauen Pullover, den Reißverschluss aufgezogen, sodass der weiße Kragen eines seiner T-Shirts hervorschaute. Jans Gesicht war entspannt, der Blick konzentriert auf seine Finger gerichtet, sein Mund ein wenig zu einem Lächeln verzogen, als er den Teefilter endlich auf dessen Halterung gefriemelt hatte.

Unweigerlich blickte Kai auch auf Jans Hände. Kräftig, mit angekauten Fingernägeln, mit einer Schramme von irgendeinem Sportunfällchen. Eigentlich nicht gemacht, um feine Arbeiten auszuführen, aber dennoch wusste Kai, wie zart Jan streicheln konnte. Er lächelte auch und in dem Augenblick hob Jan den Kopf und sah Kai an. "Na?"

Kai musste noch mehr lächeln, das Gefühl, das ihn schon im Bad beschlichen hatte, stieg in seinem Körper auf, vom Bauch in den Kopf, und er sagte es, bevor er darüber nachgedacht hatte. "Ich bin so froh, dass du hier bist."

Jan blinzelte und legte den Kopf schief, dann ging er rasch auf Kai zu und küsste ihn, der Teefilter fiel neben ihnen zu Boden. Sie umarmten sich fest und küssten sich, ohne darauf zu achten wieso eigentlich. "Ich auch, Baby", flüsterte Jan endlich an Kais Ohr und streichelte ihm einen Moment lang über den Rücken. Sie sahen sich kurz an und ihre Lippen berührten sich gerade ein weiteres Mal, als Carls Stimme hinter ihnen erklang. "Wie niedlich ihr zwei seid!"

Jan seufzte und ließ Kai los, um den Teefilter aufzuheben. Die Atmosphäre erlosch wie eine ausgebrannte Kerze allmählich, und unschön irgendwie. Unbefriedigend. Kai verzog seinen Mund und ging dann einfach an Carl vorbei, um sich die richtigen Socken zu holen. Das Gefühl war einfach wieder fort. Er wusste, dass es in ihm war, blieb, vermutlich nie gehen würde, aber in dem Moment konnte er es nicht mehr heraufbeschwören.

Nach dem Frühstück gingen sie einkaufen und überlegten, was sie Lukas schenken könnten. Dieser war wohl auch einer der Menschen, die alles hatten, weswegen Kai im Endeffekt eine Flasche irgendwas vorschlug, auch wenn es dämlich war. In der Stadt verkündete Kai Jan dann noch spontan, dass er sich eigentlich gleich auch noch einen Rolli kaufen könnte. "Ich hätte gern einen schwarzen, zum Unterziehen. Kommst du mit?"

Jan hob die Schultern und ergab sich dann, folgte Kai durch zwei der Läden, ohne ein begeistertes Gesicht zu machen. Kai hatte endlich einen Pulli gefunden, der vom Preis und von der Qualität zu stimmen schien und wollte den anprobieren, als Jan auch schon nörgelig wurde und begann von Essen zu reden.

"Jan, das ist der letzte Laden und ich will den nur noch schnell anprobieren, okay?" Entschlossen ging Kai zu der Umkleide und hatte sich gerade bis auf das T-Shirt ausgezogen, als Jan sich zu ihm gesellte und die Kabine mit seinem unruhigen, kräftigen Körper ausfüllte.

"Was?!" Kai versuchte den Rolli anzuziehen, Jans Finger hinderten ihn daran. "Wieso hast du das heute Morgen gesagt?" Kai blinzelte, dann erst fiel ihm ein, was Jan meinen könnte.

"Nur so." Er wurde rot, wie nervend. 'Sag es ihm, du Depp! Immer muss Jan dir sagen, dass er dich gern hat, sag es doch auch mal. Los!'

Kai sah Jan nicht direkt an, sondern begegnete seinem Blick im Spiegel. Er spürte die Wärme von Jans Körper an seinem Rücken, gleich drauf strichen seine Hände ihm über die Schulter und den Hals. 'Jan! Wir sind hier im Kaufhaus!' Der Vorhang hielt ja dicht, hier konnte doch niemand reinschauen. 'Aber trotzdem.'

"Du wirst schon wieder rot. Man könnte meinen, dass du unanständige Gedanken hast, Kai." Jans Gesicht zeigte den Spott noch deutlicher als seine Stimme.

Kai errötete noch mehr. 'Ich ihn lieben? Niemals! Idiot!' "Lass mich in Ruhe."

Jan seufzte und murmelte "Du musst nicht gleich einschnappen. Ich meine das nett. Ich freue mich, wenn du so rot wirst. Weißt du, es ist immer wieder so niedlich an dir. Macht, dass ich dich gern immer wieder ärgern möchte."

Kai senkte den Kopf und nickte leicht. 'Niedlich.' "Ich hab heute Morgen über Lolli nachgedacht, weil dieser Benni bei ihm übernachtet hat."

Jan lehnte sich neben ihn an die dünne Holzwand und bemerkte mit einem fragenden Blick "Übernachtet? Und du denkst, die hatten was?"

Kai nickte. "Ich finde es nicht gut, dass Lolli dann so rumflennt, wenn Frank mit einem anderen…"

Jan wiegte den Kopf und murmelte eher uninteressiert "Ich nehme die beiden auch nicht als Maßstab."

Kai ließ den Rolli sinken und nickte. "Weiß ich."

"Und du auch nicht. Da sind wir uns also einig, Baby." Jan beugte sich vor und wollte ihn gerade küssen, als Biancas Stimme sie beide erstarren ließ. "Hier! Ich hab es noch mal in M gefunden!"

Jan zuckte zurück und linste hinter dem Vorhang hervor. "Bianca, Tini und Renate“, zählte er auf und seufzte.

Kai wurde rot "Scheiße."

Jan hob die Schultern und sagte locker "Ich geh hin und beschäftige sie, du probierst das Teil an, ja? Ach, ich hab dein Geld in meinem Rucksack."

"Gut." Kai bewunderte Jan, als dieser ganz locker aus der Umkleide trat und zu der Mädchengruppe hinging.

Kai schaffte es allerdings auch nicht, ihnen zu entkommen. Als er zur Kasse gehen wollte, musste er zuvor ohnehin zu Jan, der sein Geld hatte und noch immer mit den Mädchen zusammenstand. Tini strahlte ihn an und auch Renate schien sich unbändig zu freuen. Misstrauisch sagte Kai nur 'Hallo' und griff sich den Rucksack. Die Unterhaltung in der Gruppe drehte sich um die Preise von irgendwelchen Skripten für Biochemie und Kai konnte ohnehin nichts dazu beitragen, während Jan vorschlug, einen günstigen Copyshop zu suchen.

Als Kai jedoch in der Kassenschlange wartete, stand Bianca urplötzlich direkt hinter ihm und sprach ihn an. "Auf ihrer Feier, was hat Tini dir erzählt?"

Kai zuckte zusammen und blinzelte verwirrt. "Nichts", sagte er schnell, zu schnell. Es hörte sich so sehr nach mehr an, dass er es Bianca nicht verdenken konnte, dass sie ihn wütend anstarrte. 'Gott, muss die mich immer so überfallen?!'

"Was soll das? Ist es so was Geheimes? Es ging doch um mich, verdammt." Sie war mal wieder zu anstrengend und Kai konnte sich nicht wirklich gegen ihren Blick wehren, der sein Gesicht beforschte, gegen ihre Haltung, die ihm bedrohlich vorkam.

'Das kann ich ihr schlecht erklären, ohne dass sie misstrauisch wird. Scheiße, wo ist Jan, wenn ich ihn brauche?!' Zugleich fiel ihm etwas anderes ein. 'Wieso fragt sie denn mich, wenn es doch ihre Freundin ist? Reden die denn nicht dauernd über alles?'

Bianca zog sich ihre blaue Steppjacke in dem Moment mit reichlich Geraschel aus und fuhr sich mit den Fingern durch die wieder einmal silberblond gefärbten Haare. "Aha. Du willst mir nichts erzählen. Tini nicht und du auch nicht. Es ging also doch um… euch?"

Die Pause reichte, um Kai erröten zu lassen. Der direkte Blick, der sich in seine Stirn zu bohren schien, bereitete ihm Kopfweh. Er wandte sich ein wenig weiter ab, der Kassiererin zu. Hinterhältig sah Bianca ihn von der Seite her an, aber er musste in dem Moment seinen Pulli in die Hände der Verkäuferin übergeben und gewann dadurch Zeit.

Verspätet antwortete er deswegen "Nein, ging es nicht." Er gab seine Karte rüber und drehte sich dann halb wieder zu Bianca um, bevor er leise und nicht ohne ein schlechtes Gewissen erklärte "Es ging nicht um dich, es ging um Jan." Er betrachtete ihr Gesicht noch einen kleinen Moment lang und wusste, dass sie ihn nicht weiter fragen würde.

Bianca hatte die Augen ein wenig weiter aufgerissen und murmelte "Aha. Tini hat noch immer ein Problem mit ihm." Sie sah sich nach der kleinen Gruppe um, von der Jan sich gerade verabschiedete. "Aha“, sagte sie noch einmal und Kai begann sich zu fühlen, als habe er eine Lawine ins Rollen gebracht. Er hoffte nun nur, dass sie an ihm vorbeirauschen würde und Jan hoffentlich auch verschont bleiben durfte.

Jan kam zu ihnen und drückte Biancas Schulter kurz, während er Kai den Rucksack abnahm. "Schönes Wochenende, lern nicht, feiere mehr." Sie nickte leicht, aber sah ihn nicht an. "Dir auch", erwiderte sie ein wenig zu tonlos und eher abweisend. Gleich darauf musste sie aber nach dem Geld kramen und Kai sagte rasch "Tschüss." Er ging gleichzeitig schon zur Rolltreppe davon.

Jan lehnte sich zu ihm und knuffte ihn in die Rippen. "Nicht einfach abhauen, du musst den anderen wenigstens zuwinken, Kai."

Kai seufzte und verdrehte die Augen, aber Tini und Renate waren schon an die Kasse getreten, sodass er nicht einmal schreien musste, nur leicht winken und 'Tschüss' sagen.

Renate antwortete "Schönes Wochenende, Kai!" und Tini "Bis Montag!", und er war entlassen.

Nur Jans neckendes "Na, das hat doch gar nicht wehgetan!" klang ihm noch in den Ohren und ärgerte ihn auf dem Nachhauseweg.

Den Nachmittag verbrachten er und Jan zunächst mit Carl bei Kaffee und Kuchen, weil Lolli und Frank sich aussöhnen gefahren waren und erst zur Party wiederkommen wollten. Carl erzählte ihnen von dem Laden, in den er sich einkaufen wollte. Er war Optikermeister und arbeitete in einer Filiale einer größeren Kette, aber wollte nun mit einer Kollegin zusammen einen Laden übernehmen und modernisieren.

"Die haben noch keine Kontaktlinsen im Angebot, aber das kann ich ja auch. Das wird bestimmt geil, wenn alles so ist, wie wir das wollen."

"Und mit den Preisen kommt ihr gegen die anderen an?"

"Nee, eigentlich nicht. Aber wir haben den Laden gleich nebenan von einem Ärztehaus, in dem drei Augenärzte und eine Kinderaugenärztin ihre Praxis haben. Da ist genug Kundschaft, die gleich rüberläuft. Die alten Besitzer geben den Laden ja auch nicht auf, weil sie finanziell nicht mehr können, sondern weil sie alt sind und ihre Kinder keine Lust darauf haben."

Energisch löffelte Carl Kai und Jan noch Sahne zum Kuchen dazu und bemerkte "Kommt mich doch mal besuchen. Ist doch nicht so weit und man kann ausgezeichnet Party machen. Meine Wohnung ist groß genug, ich hab ein Zimmer über, für Gäste."

Nach dem Kaffeetrinken verkündete Carl, dass er sich noch ein wenig hinlegen wolle, weil er in der Nacht zuvor kaum Schlaf bekommen habe. "Lolli zu trösten ist ein anstrengender Job. Man muss schrecklich viele Taschentücher auswringen, schrecklich viel reden und deswegen auch immer noch mehr trinken, um nicht auszudörren. Ich hab noch immer einen Schädel, und das, obwohl die Party doch heute erst steigt."

Kai grinste. "Deswegen war ich ja so froh, dass du zum Trösten gekommen bist. Außerdem kann ich das nicht besonders gut."

Carl lachte und schlurfte zu Lollis Zimmer davon. "Ach, du brauchst einen doch nur mit deinen babyblauen Augen ansehen, dann fühlt man sich schon wundervoll, Maus."

Kai wurde rot und grummelte "Nenn mich nicht so."

Aber Jan neben ihm lachte bereits und neckte ihn "Babymaus…  du Armer. Musst du sehr leiden unter allen, die deinen Augen anheim fallen?"

Kai grinste schief und nickte. Carl grölte vom Nebenzimmer rüber "Amnesty International! Kai erleidet seelische Grausamkeiten!"

Sie lachten albern und Kai ließ sich von Jan in ihr Zimmer zerren, wo sie die restliche Zeit, bis Lolli mit Frank zurückkam, mit Lernen für eine Klausur verbrachten. Lolli löste gleich auch noch das Problem mit dem Geschenk. Jan und Kai konnten sich an dem Geschenk beteiligen, das er mit Frank und Carl besorgt hatte. Eine Farbsprühpistole, die sich Lukas gewünscht hatte.

Kai zog sich nach einigem Forschen in seinem Schrank für die Party um und ignorierte Jans Bemerkung, dass er sich doch nicht für eine blöde Party auch noch in dolle Klamotten werfen müsste. Dann erklärte Carl ihnen, dass er mit Lolli genug getrunken hatte und sie fahren könnten.

Lolli würde mit Sicherheit mit Frank mitfahren. Durch die Verzögerungen vor dem Badezimmer kamen sie verhältnismäßig spät los und Kai drängelte schon, weil er es hasste, als letzter auf einer Feier einzutreffen.

Lukas wohnte in einem Vorort in einer Siedlung mit dreigeschossigen Häusern mit Balkonen und einem netten Park zwischen den Häuserzeilen. Jan blinzelte durch die Windschutzscheibe und murrte "Ich kann das Schild nicht erkennen, was steht da?"

Kai sah hinüber und deutete auf die gegenüberliegende Seite. "Hier ist ja der Kiosk, von dem Lukas geredet hat. Das ist die Straße, hier musst du links abbiegen, Jan!" Wenig später sahen sie schon die Autos von anderen Freunden von Lolli und Lukas.

Die Tür wurde per Summer geöffnet und sie stiefelten neugierig durch den grüngrau gestrichenen Hausflur in den ersten Stock zu Lukas' Wohnung hoch. Jan benahm sich seit dem Nachmittag schon so eigenartig, aber nun fiel es Kai so richtig auf. Er hatte schon merkwürdig geschaut, als Kai ein enges Top mit langem Arm anziehen wollte und hatte sogar genörgelt, dass es doch gar nicht in die Disco gehen würde und Kai sich auch gern einen Pulli anziehen könne.

Das Top war neu und Kai zog es an, weil er es endlich mal ausprobieren wollte. Schwarz mit silbern abgesetzten Seiten. Es lag eng an und war trotz des dünnen Stoffes angenehm warm. Da er es unbedingt anbehalten wollte, hatte Kai nur den Kopf geschüttelt und Jan ignoriert. Aber hier im Treppenflur fragte er sich erneut, was mit seinem Freund los war, als dieser sich an ihn drängte und nach seinem Handgelenk griff.

Als sie zur Tür kamen, stand Lukas schon darin und strahlte sie an. Kai blinzelte und dankte einigen Schutzgeistern, dass er sich das Top angezogen hatte. Lukas trug eine dunkelrote Hose aus Kunstleder und ein schwarzes Hemd, was sein Tattoo im Ausschnitt zeigte. Einer seiner Freunde hinter ihm hatte ein golden glänzendes Oberteil an und ein Mädchen, das sich auch noch in den Flur gequetscht hatte, trug sogar eine Federboa, mit der sie ihnen lachend um die Gesichter wedelte.

Lukas winkte sie hinein und begrüßte zunächst Lolli und Frank, die auch kurz vor ihnen eingetroffen waren, dann wendete er sich Kai zu und wollte ihn umarmen, aber kam nicht dazu, weil Kai zugleich vorstellte "Lukas, du kennst Jan ja sicherlich schon."

Lukas und Jan sahen sich kurz an und beide nickten leicht. Kai hätte sich am liebsten versteckt, so eisig schien ihm die Atmosphäre zwischen den beiden.

Doch Carl trat dazwischen, knutschte Lukas auf die Wange und fragte voller Hoffnung "Zu Essen gibt es doch auch noch was, nicht?" Alle lachten kurz auf, und Lukas übernahm es, ihnen das Büffet zu zeigen, während Kai sich aus seiner Jacke pellte, die Jan ihm abnahm. Schon wieder so eine Eigenartigkeit.  

Neugierig sah Kai sich in der Wohnung um. Drei Zimmer, Küche und Bad, ein Balkon, auf dem das Bier kalt stand, wie Lukas sie informierte. Der Flur war mit einer ererbt aussehenden Möbelgarnitur und einer Kommode möbliert, dazwischen lag ein nach Ikea schreiender, hellblauer Läufer.

Die Türen standen alle offen, führten zur Küche, wohin Carl sich mit Lolli im Schlepp aufmachte, zum Wohnzimmer und ins Bad. Gerade durch erkannte man im Halbdunkel das Schlafzimmer. Kai blickte kurz ins Bad und entdeckte nur normale Einrichtung mit blaugrauem Waschbecken, einer ebensolchen Wanne und einer Waschmaschine. "Die Toilette ist hier vorn extra", erklärte Lukas gerade jemandem, der fragte. Im Hintergrund ertönte Lollis Gelächter und jemand stellte die Musik lauter.

Kai sah Jan ebenfalls in die Küche verschwinden und folgte ihm unentschlossen. Eine leicht geöffnete Balkontür ließ angenehm frische Luft hinein. Daneben saßen an einem kleinen Tisch vier Leute, die Kai nicht kannte und schaufelten Nudelsalat in sich hinein. Der Kühlschrank war riesig, gelb und mit einem Eiswürfelbereiter ausgestattet. Die restlichen Teile stammten aus einer beigen Einbauküche.

Kai blickte sich ein wenig enttäuscht um. Alles sah normal aus. Wieso hatte er eigentlich etwas Verrücktes erwartet? Weil er Lukas so eingeschätzt hatte? Kai ging durch den Flur zum Wohnzimmer rüber, wo noch einige Leute saßen und ihm zunickten.

Im Wohnzimmer dann kam der kleine Schock. Die eine Längswand wurde fast vollständig von einem Bild eingenommen. Ein rotes Flugzeug, ein altmodischer Doppeldecker, der vor knallblauem Himmel einen Looping drehte. Das Witzige an dem Bild war, dass es an der Zimmerdecke fortgeführt wurde und zwar mit einer Wiese und einem entfernt liegenden Dorf. Alles stand auf dem Kopf, sodass man nach längerer Betrachtung den Eindruck erhielt, dass der Raum und nicht das Bild mit dem Flugzeug über Kopf gedreht wurde.

Kai blickte fasziniert auf die Wand und schrak zusammen, als Lukas ihm ein kaltes Glas in die Hand drückte. "Caipirinha, probier mal, oder musst du fahren?" Kai schüttelte den Kopf und deutete mit dem Daumen hinter sich in Richtung des unkontrollierten Gekichers aus der Küche. "Die Meiersche fährt uns wohl."

Aus dem Augenwinkel bemerkte er Jan, der mit einem Bier in der Hand ebenso in den Raum trat, während er sein Glas hob und vorsichtig am Strohhalm nuckelte. Es schmeckte lecker, frisch, ein wenig sauer. Kai hob das Glas an und blickte hinein. "Was ist das?"

"Hauptsächlich Eis, außerdem etwas Limettensaft, brauner Zucker und reichlich Zuckerrohrschnaps. Schmeckt er dir?"

Kai trank noch einen Schluck und nickte dann zur Wand rüber. "Ja, sehr lecker. Das Bild ist stark."

Lukas sah ihn an, nicht das Bild und nickte "Hat mich drei Wochen Arbeit gekostet. Ich hab erst alles genehmigen lassen von der Hausbesitzerin."

"Du hast das selber und allein gemacht?! Wow."

"Ja. Und das Bild im Schlafzimmer auch. Willste sehen?"

Jans Stimme schnitt in ihre Unterhaltung hinein. "Ich möchte mir das auch ansehen."

Kai versteckte ein Grinsen hinter seinem Glas. Er liebte es, wenn Jan eifersüchtig war. Diese besitzergreifende Art, der wachsame Blick. Ein wenig Gereiztheit, was man an dem Zug um den Mundwinkel sehen konnte. Kai drehte sich von ihm weg und folgte Lukas durch den Flur in das Schlafzimmer hinüber.

Hier war in weichen Sandtönen eine Wüste dargestellt, und zwar so, dass die Möbel mit eingebunden wurden. Aus dem Kleiderschrank war ein weißes Beduinenzelt geworden, die Kommode, auf der ein großer Fernseher thronte, verschwand hinter Dünen aus bemaltem Gips und einigen Palmen, die eine Oase vorgaukelten und das Bett war ebenfalls im selben Stil gehalten und mit roten, orangenen und goldbestickten Kissen und einem Vorhang versehen. Darüber war ein Ventilator mit drei großen Paddeln angebracht, die sich träge drehten.

"Das ist wirklich sehr schön. Wie bist du nur auf diese Ideen gekommen?"

Lukas deutete zu seinem Nachttisch hin, auf dem ein Stapel Zeitschriften bedenklich schief abgelegt war. "Ach, da gibt es Zeitschriften und Bücher drüber. Wenn du willst, leihe ich sie dir mal."

Kai schüttelte den Kopf und ließ seinen Blick über das Bett schweifen. "Ich kann das doch gar nicht. Ich wünschte, dass ich auch so kreativ sein könnte. Du kannst toll zeichnen."

"Ach, die Kamele sind von Benni, der kann besser zeichnen. Ich bin im Sprayen von großen Sachen ganz gut. Das Zelt, die Hintergründe."

"Benni? Du kennst den auch?"

"Ja klar. Ist ein gemeinsamer Freund von Lolli und mir. Aus der Zeit, bevor er mit Frank zusammengekommen ist."

Kai hätte gern noch weiter gefragt, aber andere Gäste kamen zu Lukas und erkundigten sich nach Bier und dieser entschuldigte sich und ging davon.

Kai betrachtete Jan, der schweigend im Türrahmen lehnte. Jans Mund war zusammengezogen, seine Augen begegneten Kais Blick düster, ein wenig zu schlecht gelaunt. Kai fühlte sich davon und von seinem unangebrachten schlechten Gewissen, nur weil er zwei Worte mit Lukas gewechselt hatte, genervt und fragte ihn leise "Vertraust du mir denn nicht einmal in so einer Situation?"

Jan schaffte es immer wieder etwas zu sagen, was Kai nie im Leben erwartet hätte. Er ließ den Kopf hängen und murmelte gedämpft "Entschuldige. Es ist nur, weil… ihr zwei seht so gut aus zusammen." Völlig ohne Spott oder falsche Eifersucht in der Stimme.

Kai ließ seinen Mund einen Moment lang offen stehen, bis ihn ein Teil seines Körpers pikiert darauf hinwies. "Äh… gut?"

Jan nickte leicht und seufzte. "Weißt du, die Klamotten, die Haare, die Wohnung. Wenn du mit ihm redest, dann ist es so… es passt irgendwie. Ich passe doch gar nicht, wenn ich…"

"Das stimmt doch gar nicht!" Kai hatte das gerufen und klappte erschrocken den Mund wieder zu, aber sagte leise noch einmal "Das stimmt nicht. Du passt doch gut zu mir, oder findest du das wirklich nicht?" Jan ging auf Kai zu und sie ließen sich auf dem Bett nieder. Kai trank von seinem Cocktail und stocherte nervös mit dem Strohhalm darin herum. "Wieso glaubst du denn so was?"

Mit einem Mal stieg in Kai die Furcht auf, dass er Jan verlieren könnte, wenn dieser so zu denken begann. 'Wir sind doch gerade erst seit August zusammen. Drei Monate. Da kann er doch nicht jetzt schon…'

Jan legte eine Hand auf seinen Unterarm und drückte ihn kurz. "Ich bin gern mit dir zusammen, mehr als gern. Du weißt das. Aber manchmal frage ich mich eben, ob das gutgehen kann, wie es weitergehen soll."

Kais Herz begann zu jagen. 'Bitte, sag mir nicht, dass du nicht mehr willst, dass du zu viele Zweifel hast. Bitte tu mir das nicht an, Jan!' Er blickte auf Jans Finger, die sich neben ihm auf dem Bett abstützten und legte seine Hand sachte darüber, spürte dass sie vom Cocktailglas kalt und feucht war, als er Jans warme Haut berührte.

"Wenn du willst, können wir es allen sagen. Du hast doch den Trainerschein gemacht. Du hast den Job als Hilfe im Verein. Jetzt werden sie dich doch deswegen nicht mehr rauswerfen, oder?"

Jan schüttelte den Kopf. "Ich will es aber nicht so superoffiziell ankündigen!" sagte er dann heftig.

"Das wäre ein Outing, nicht?" neckte Kai und traf den Punkt.

"Genau! Das kotzt mich ja auch schon an. Das Wort allein und ich bekomm' einen zu viel!" Jan entzog seine Hand und fuhr sich mit seinen Fingern durch die Haare. "Dass man hingehen und sich 'outen' muss. Seit wann muss man das, wenn man… was weiß ich denn?! Eine neue Freundin hat, sich einen Ohrring stechen lässt, wenn man eine neue CD gekauft hat?! Das muss man nur, wenn man mit einem Mal schwul geworden ist! Ich hab keinen Bock auf so eine Show. Ich will einfach dazu stehen, ohne big Erklärung vorher, ohne mir das Geschwafel anhören zu müssen, dass alle es ja prima finden, damit dieselben Leute dann nicht mehr mit einem reden!"

"Jan, Jan. Ist ja gut." Kai legte seinem Freund besorgt einen Arm um die Schultern und drückte ihn kurz an sich. "Ich verstehe was du meinst. Was immer du willst, ich bin dabei. Wir machen es so, wie du willst, okay?"

Jan nickte leicht und atmete durch. "Okay, wenn ich es dann mal weiß." Er lehnte sich zu Kai rüber. Kai drehte schon aus Reflex sein Gesicht und sie küssten sich einen Moment lang.

Schließlich rückte Kai ab und fragte "Lässt du mich jetzt mit den anderen reden, oder willst du lieber wieder nach Hause?"

Jan winkte ab und schüttelte den Kopf. "Nein! Los, lass uns ein wenig feiern. So ein Ding, wie du hast, will ich auch mal trinken!"

Erleichtert folgte Kai ihm in den Wohnraum zurück. Dieses Problem war so typisch Jan. Ehrlich sein schon, aber sich anpassen und irgendeine Mode mitmachen? Am besten doch lieber das Gegenteil. Es hatte ihm nur einen Heidenschreck eingejagt, dass Jan sich unsicher schien, was die Beziehung anging. Kai war sich so sicher, dass er es nicht verstehen konnte, wenn Jan Dinge in Frage stellte, die zwischen ihnen waren.

Aber nach der kleinen Unterhaltung war Jan mit einem Mal nicht mehr so wachhundmäßig. Kai konnte sich mit den anderen unterhalten, während Jan sich von Carl vollquatschen und von Benni anstarren ließ, bis er schließlich jemanden fand, mit dem er über Fußball reden konnte.

Kapitel 26

Kai setzte sich bei der einen oder anderen Gruppe dazu und lauschte den Gesprächen. Selber mochte er nichts erzählen, wenn er die Leute nicht gut kannte. Nach einer Weile nahm er sich von dem Nudelsalat und setzte sich damit gleich in die Küche, in der mittlerweile einige Kerzen brannten und es ein wenig nach Haschisch roch, vermutlich vom Balkon her, von wo Kai sanfte Stimmen vernahm, die sich in einer trägen Unterhaltung zu befinden schienen.

Schon nach einem Bissen schmeckte der Salat nicht mehr, Kai fühlte eine leichte Übelkeit und nahm sich ein Stück trockenes Brot. Seufzend und seinen Sinnen nach drei von den Cocktails nicht mehr trauend, setzte Kai sich auf einen Stuhl und lehnte sich seitlich an die Wand an. Er schloss seine Augen halb und lauschte, langsam auf dem Brot kauend, auf das Gemurmel und die Musik aus dem Wohnzimmer.

Lächelnd vernahm er Carl und Lolli, die bei dem Lied mitsangen, jeder für sich mindestens einen Ton daneben, zusammen Katzenmusik. Irgendwer rief gerade "Meierchen, hab Gnade und hör auf! Schief singende Schwuchteln sind nicht auszuhalten!", als sich warme Hände auf Kais Schultern legten.

Im Hintergrund wurde die Balkontür geschlossen und das Mädchen mit der Federboa ging schwankend durch den Flur in Richtung Bad davon. Die Finger wanderten einmal über seine Schultern und verharrten dicht am Ausschnitt seines Shirts. "Lukas?" Kai legte den Kopf in den Nacken und stellte fest, dass er richtig getippt hatte. Lukas lehnte sich vor und sie sahen sich über Kopf in die Augen. Schon davon wurde Kai schwindelig und warm, er senkte seinen Kopf hastig.

"Na, Kai?" Lukas' Stimme war mal wieder dunkel, rauchig irgendwie und der Tonfall so intim, irgendwie erschien diese Anrede schon allein wie etwas Verbotenes. Die Finger schoben sich weiter unter den Ausschnitt von seinem Hemd und begannen seine Haut am Halsansatz sachte zu streicheln. "Gefällt dir die Feier nicht, oder wieso sitzt du hier so allein?"

Kai hob die Schultern kurz. Irritiert stellte er fest, dass sich ein nicht unangenehmes, aber definitiv ungewolltes Wärmegefühl in seinem Unterleib sammelte, obwohl Lukas ihm doch nur ein wenig über den Nacken strich. "Ich hatte Hunger und die anderen nicht." Zur Bekräftigung biss er noch einmal vom Brot ab.

"Und dein Mann? Wo steckt der denn?"

"Jan? Oh, der sitzt mit zwei anderen in deinem Zimmer und schaut sich auf dem Sportkanal irgendeine Übertragung von einem Radrennen oder so an."

"Ah." Lukas zog sich einen Stuhl heran und bemerkte mit einem leichten Lächeln. "Und lässt dich hier so ganz allein? Ich verstehe seine Risikobereitschaft immer weniger."

"Du hättest ihm nicht so etwas sagen sollen, auf der Party in der Uni, Lukas."

Kai wandte seine Aufmerksamkeit seinem Glas zu und rückte noch ein wenig von Lukas kräftiger Gestalt zurück an die Wand.

Lukas lachte auf. "Hat er das weitererzählt?"

Kriegerisch sah Kai ihm in die Augen. "Und ich hab ihm erzählt, dass du mich geküsst hast und ich das nicht wollte!"

Lukas betrachtete sein Gesicht gelassen und nickte leicht. "Doch, wolltest du schon, aber hast gleichzeitig überlegt, ob sich das gehört… so etwas zu wollen, nicht?" Seine Stimme untermalte die Worte so passend, ein wenig zu leise, viel zu dicht an Kais Ohr gesprochen. Bemerkungen zur Sünde.

'Scheiße! Es war nur ein Kuss!' schimpfte Kai mit sich selber. Sein Gewissen erinnerte ihn daran, dass es egal war, ob ein Kuss, oder eine heiße Nacht mit dem ganzen Programm. 'Du hast den Mund geöffnet, hast die Zunge doch ebenso gegen seinen Mund geschoben, wolltest es doch.'

Es war Betrug, weil Jan es so auslegte, weil er sich bereit erklärt hatte, es auch so zu sehen. Er betrog ihn doch jetzt schon wieder. Seine Gänsehaut, die Gedanken an den Geschmack von Lukas' Lippen, an das Gefühl, so rücksichtslos begehrt zu werden.

Lukas begehrte ihn, das wurde Kai mit einem Mal klar. Das war mehr als nur ein Spiel für ihn. Für sie beide. Kai hatte ihn doch oft genug abweisend behandelt und doch kam Lukas immer wieder zu ihm, machte ihm Komplimente, berührte ihn, schaffte es, Zweifel zu säen, Nervosität zu erzeugen, und auch wenn Kai es sich nur ungern eingestand, Lust. 'Oh nein! Nicht mit mir!'

Energisch stand Kai auf, glich sein sachtes Schwanken vom Alkohol und der schnellen Bewegung aus und drängelte sich an Lukas vorbei zum Schlafzimmer, zu Jan. Lukas, das spürte er, würde ihn in diesem Zustand einfach viel zu sehr verunsichern.

Kai fühlte sich durch seinen Wunsch nach jemandem zum Ankuscheln, durch seine Trägheit durch den Alkohol zu angreifbar für Lukas. Wohlmöglich gestand er ihm noch, wie verdammt erotisch er in dem Hemd und der engen Lederhose aussah.

Jan saß vor dem Bett auf einigen Kissen auf dem Fußboden. Er trank noch immer Bier, weil ihm der Cocktail auch nach einigen Versuchen nicht geschmeckt hatte. Neben ihm saßen zwei Jungs und ein Mädchen, sie alle starrten auf den Fernseher. Es war eine Sportübertragung. Ironman auf Hawaii, deswegen die schreckliche Uhrzeit. Zwischendurch wurden Fußballergebnisse aus Brasilien und Handballspiele aus China kommentiert. Die kleine Gruppe aß Chips und machte fachmännische Bemerkungen zu den Events.

Ein wenig gelangweilt ließ Kai sich auf das Bett fallen und sah auch auf den Fernseher, ohne jedoch wirklich darauf zu achten, was eigentlich lief. Dann auf Jans Nacken. Die Haare waren gerade gekürzt worden. Es war Jan ja egal, aber irgendwann fand auch er einmal die Zeit für den Friseur. Da Jan den Kopf ein wenig gehoben hatte, konnte Kai die Muskeln am Nacken nicht sehen, die er sonst immer gern entlang streichelte.

Kai wurde gleich darauf klar, dass er verloren hatte. Er würde sich nie wieder erheben können, ihm wurde schwindelig bei dem Gedanken an Bewegung. Wohlig streckte er seine Arme und den Rücken aus. Lukas' Bett war auch selbst gebaut, zwei mal zwei Meter, mit einem erhöhten Bettkasten. Kai gähnte und genoss es zu liegen. Mit einiger Mühe robbte er an die Kante, an der Jan und die anderen saßen, heran.

Er streckte vorsichtig seine Finger aus und strich ihm über die Haare. Sein Freund bewegte sich nicht, weswegen er die Finger noch einmal durch die Haare gleiten ließ. Da drehte Jan seinen Kopf ein wenig hin und her. Kai kicherte und Jan bemerkte ihn erst in dem Moment und drehte sich um. Kai legte den Kopf schief und lächelte.

Er wollte gerade die Hand heben, um Jan noch einmal zu streicheln, als dieser ein wenig knurrig murmelte "Was ist denn? Willste etwa schon los?"

Kai ließ seine Hand fallen und blinzelte erstaunt. "Was?"

"Ich will das gern noch sehen."

"Ich will nicht los."

"Fein."

Kai starrte einen Moment lang auf den Bildschirm, um erkennen zu können, wobei er störte, aber es lief Werbung.

Jan hatte den Kopf schon wieder gedreht und er krabbelte näher an die Kante heran. Sachte strich er Jan über die Schulter zur Brust herunter, aber wurde recht rasch aufgehalten, als Jan seine Hand abwehrte und ungeduldig sagte "Kai… ich kann mich nicht konzentrieren!"

Enttäuscht blinzelte Kai auf den Bildschirm und entgegnete spitz "Das ist Werbung!" 'Arsch!'

"Die ist gleich vorbei."

'Blöder Arsch!' Kai krabbelte zurück auf die Liegefläche, dann schob er sich bis auf das entlegene Ende an die Wand zurück und griff sich sein Glas mit genau dem Cocktail, der einer zu viel sein würde. Der Geschmack des Getränks gefiel ihm nicht mehr.

'Dann kann ich ja auch abstürzen.' "Ich werde dann mal hier rumliegen und schlafen. Wenn du gehen willst, weck mich ruhig."

Jan nickte, trank einen Schluck Bier und entgegnete "Carl kann nicht mehr fahren, wir müssen wohl ein Taxi nehmen, wenn die Feier sich auflöst."

Kai hob den Kopf, aber Jan begann schon wieder mit den anderen zu reden, sich über das Wetter auf Hawaii und die imposanten Wellen zu unterhalten, die gerade gezeigt wurden.  

Kai versuchte sich vorzustellen, dass er Jan vor ein paar Stunden noch unglaublich geliebt hatte. In diesem Moment war er nur noch unendlich genervt und enttäuscht. 'Idiot! Arscharscharsch…' Wütend trank er den Cocktail aus, ihm wurde noch mehr übel. Rasch warf er sich rückwärts in die Kissen, um Jans Hinterkopf mit einem Mörderblick zu traktieren.

Das warme Glas begann Kai zu stören. Er wandte den Kopf, um es auf dem Nachttisch abzustellen, dabei blickte er direkt in Lukas' Augen. Kai schrak zusammen und zuckte ein wenig zurück.

Lukas hatte beide Hände und ein Knie auf die Matratze gestützt. Das dunkle Leder umfing die Muskeln seiner Oberschenkel, die sich abgleichend anspannten, während er vor Kai verharrte. Das Schimmern seiner Kleidung unterstützte den Eindruck einer Raubkatze, die sich anschlich, genau wie Lukas' schuldbewusstes Lächeln Kai bewies, dass er sich angeschlichen hatte.  

Gleich darauf glitt Lukas noch eine Idee dichter an Kai heran und fragte leise "Kann ich dir noch etwas Gutes tun? Noch was zu Trinken?"

Kais Mund war mit einem Mal trocken und er nickte. 'Was Gutes…' Wie um ihn zu warnen, fiel sein Blick direkt auf den Teufel auf der dunklen Brust vor ihm, als Lukas das Glas aus seinen schlaffen Fingern nahm und sich aufrichtete.

"Äh… Lukas? Nur ein Wasser bitte." Kai fand seine Stimme zu dünn mit einem Mal.

Lukas strich ihm einmal durch die Haare und schob ihn mit sanftem Druck an der Schulter in die Kissen zurück "Warte hier, bin gleich zurück." Er streifte den Fernseher und die kleine Gruppe davor mit einem abschätzenden Blick und nahm dann noch die Schale mit den letzten Chipskrümeln auf.

Kai starrte Lukas benommen auf den Hintern, während dieser noch zu den anderen herabgebeugt nach Getränkewünschen fragte. 'Verdammt, wieso sieht er auch so gut aus in der Hose?' Unsicher zupfte Kai sein Top zurecht.

Lukas erschreckte ihn erneut, als er ihm bei seiner Rückkehr ein "Zieh doch deine Schuhe aus, wenn du auf dem Bett liegst", sagte. "Ach warte, ich helfe dir." Lukas reichte ihm den Drink und strich aus der Bewegung heraus an Kais Bein entlang. Die Berührung war leicht, nicht auf seiner Haut, aber brannte dennoch eine Spur ein, die Kai erschaudern ließ. "Ich mach das." Kais Schuhe wurden von den Fersen her sachte umfasst und mit einer leichten Bewegung von seinen Füßen gezogen.

Kai blickte erstarrt auf Lukas, dann auf Jan, dann wieder zu Lukas zurück. "Entspann dich doch einmal. Ich tu dir nichts, Engel." Lukas' Stimme war leise, intim und für Jan nicht zu hören. Seine Finger begannen mit leichtem Druck an Kais Fußsohle entlang zu streichen, während er mit der anderen Hand das Gelenk umfasst hielt, keine Chance auf Entrinnen erlaubte.

Aber das wollte Kai ohnehin nicht. Was Lukas da tat, war zu angenehm, entspannend, irgendwie gar nicht verfänglich und zugleich doch nicht wirklich erlaubt, was es interessanter machte. 'Ach was. Das ist nichts, wir tun nichts’, überredete Kai sich und genoss es, gestreichelt zu werden.

Unwillkürlich blickte er zu dem dunklen Haarschopf rüber, der in einiger Entfernung über den Bettrahmen schaute. Jan sah gerade zur Seite und erzählte etwas, blickte jedoch nicht zu Kai zurück.

'Jan, der Idiot, kümmert sich eh nur um mich, wenn er eifersüchtig ist!' Das war unfair, aber gerade in dem Moment kümmerte Jan sich um die Chips, die dort standen, das Bier und den Fernseher vor ihm. Ab und zu machte er eine Bemerkung zu den anderen, aber das Bett war ohnehin zu hoch, als dass Kai viel von den anderen mitbekommen konnte.

Lukas lächelte ihm zu und nahm sein Getränk auf, um das Glas gegen Kais zu stupsen. "Auf die Party."

"Ja, es ist wirklich nett hier."

Lukas ließ seine Füße los und strich ihm über die Beine, an den Seiten entlang bis zum Knie und eben auf die Oberschenkel, bevor er sich neben Kai in die Kissen lehnte. "Ja. Ich bin froh, dass alle so zufrieden sind."

Kai beobachtete wie Lukas sich eine Zigarette aus der Schachtel fischte und wurde von ihm dabei erwischt. Sie sahen sich wieder an. "Stört es dich?"

Kai schüttelte den Kopf. "Nicht, wenn du mir auch eine gibst," erwiderte er gelassener, als ihm bei der Nähe zu Lukas' Wärme, dem Duft seines Aftershaves und seinen Blicken zumute war.

Lukas nickte und zündete eine Zigarette an, zog einmal daran, bevor er sie Kai an die Lippen hielt.

Kai hob die Hand und ihre Finger streiften sich, bevor Lukas losließ und sich noch eine Zigarette nahm. Kai wurde heiß, aber er war zu träge, um abzurücken. Stattdessen zog er einmal und trank dann im Wechsel von dem Cocktail.

Lukas stellte sein Bein an und balancierte einen gläsernen Aschenbecher auf dem Knie vor ihnen. "Wie geht es dir? Ist in der Uni alles in Ordnung?"

"Hm."

"Und sonst?"

"In der Arbeit? Es geht so. Mit meinen Eltern ist es wie immer. Mit Jan alles top."

Lukas lächelte und lehnte sich zurück. "Und mit dir selber, Engel?"

Kai wurde rot und senkte den Kopf. "Bitte, mach das nicht."

"Mich um dich sorgen? Interesse haben? Wieso?"

"Ich hab einen Freund."

"Na und?"

"Nichts na und, der sitzt genau zwei Meter entfernt, nicht mal."

"Und er nennt dich nicht Engel, das ist mein Name für dich."

Kai seufzte und schnippte Asche von der Zigarette, daran ziehen wollte er sowieso nicht. Nachdenklich blickte er auf die Glut am Ende und spielte damit herum. Man konnte sich prima mit einer Zigarette ablenken, das war schon einmal sicher.

'Engel.' "Aber ich bin keiner."

"Für mich schon. So schüchtern, so voller Gedanken, voller Gewissensbisse wegen jedem deiner Gedanken." Lukas hob eine Hand und ließ die Finger über Kais Wirbelsäule gleiten, bevor er murmelte "So angespannt, immer am beobachten, wie du wirkst."

"Jeder will wissen, wie er wirkt“, verteidigte Kai sich.

Lukas' Finger erreichten seinen Hosenbund und er lehnte sich hastig zurück, klemmte die Hand zwischen seinem Rücken und den Kissen ein. Lukas zerrte seine Hand jedoch nicht hervor, sondern schob sie weiter um ihn herum, bis er seine Finger über der Hüfte in Kais Hose schieben konnte.

"Hey!"

"Sch. Deine Zigarette ist ausgegangen."

Kai warf die Kippe missmutig in den Ascher. "Ich kann nicht rauchen."

"Wahrscheinlich ist das eine deiner besten Eigenschaften." Lukas löschte seine Zigarette, bevor er den Aschenbecher auf den Nachttisch zurückstellte. Gleich darauf zog er Kais Top mit langsamen Bewegungen aus der Hose. Kai wartete einfach nur ab. Zum einen, weil er direkt auf Jan sehen konnte, zum anderen, weil er sich müde fühlte, als seien seine Glieder aus Blei.

Warme Finger begannen über seine Haut zu fahren, Lukas' Atem berührte seine Wange. Die Musik aus dem Wohnzimmer schien den Raum mal lauter, mal leiser zu durchstreifen. Der Fernseher war schon länger nicht mehr da für Kai. Er fühlte sich träge, alles schien im Takt zum sich noch immer über dem Bett drehenden Ventilator zu passieren. Lukas fühlte sich so gut an, so richtig und Kai entspannte sich, sackte in die Kissen zurück. Seine Schultern berührten Lukas Brust, sein Arm zog ihn dichter.

'Wir machen doch auch gar nichts. Nicht wirklich, ‘ argumentierte er hoffnungsvoll und wurde mit einem drastischen 'Dann schau doch mal in deinem Gewissen und vielleicht auch in deiner Hose nach!' von seiner Ethikabteilung abgewiesen.

Er war schon erregt, aber dann auch wieder nicht. Wie nicht zu ihm zugehörige Wärme fühlte es sich an. 'Ich bin zu betrunken, das zählt nicht’, verwarf Kai die Anklage und bemerkte verwirrt, dass er seine Wange gegen Lukas' Brust gelehnt hatte.

Lukas begann ihm von einer Strandparty zu berichten. Sie redeten leise von Urlaubserinnerungen, bis Lukas von Italien erzählte, von einer Jugendfreizeit. "Das war eine der aufschlussreichsten Reisen, die ich je gemacht habe. Am dritten Urlaubstag hab ich mit ihm geschlafen, im Zelt, im Schlafsack, mit zwei anderen, vollkommen betrunkenen Jungs, gleich neben uns. Es hat ins Zelt geregnet und ich hab mich erkältet dabei wie nie zuvor. Nicht der Romantikkick." Er streifte Kai mit einem leichten Blick. "Das war mein erstes Mal."

Kai senkte den Kopf und wurde vom Ernst in Lukas' Stimme überrascht. "Du hattest ja auch Pech, nicht?"

Kai sah ihn nicht an, aber fragte an sein Glas gerichtet "Wieso?"

Lukas nickte zu dem dunklen Wuschelschopf vor dem Fernseher. "Du wolltest dein erstes Mal doch auch lieber mit ihm und nicht mit mir, oder?"

Kai nickte, bevor er sich dessen bewusst wurde und Lukas seufzte. "Das tut mir leid, Engel."

Kai seufzte auch und murrte "Ach was, tut es nicht."

"Doch. Ich hätte es besser machen sollen. Nicht so hastig, nicht gleich dort. Ich hätte dich mitnehmen sollen, zu mir, zu dir, egal. Ich hätte dich erst einmal ausschlafen lassen sollen, und dann hätten wir genug Zeit gehabt."

"Dann hätte ich es nicht gemacht."

Lukas' Daumen spielte mit seinen Rippen und Kai wand sich. "Das kitzelt, Lukas."

"Doch, du hättest es gemacht, aber vielleicht hättest du es dann nicht so sehr bereut. Ich hätte dich fragen sollen - respektieren."

"Vergiss es endlich!"

Lukas ließ den Kopf hängen. "Das kann ich nicht. Es ist schließlich meine Schuld. Solch ein Engel fällt mir direkt vor die Füße, und ich mache alles falsch. Dann hab ich dich auch nicht verdient, nicht wahr?" Seine Finger verharrten und er murmelte "Dann ist es richtig, dass du mich so ablehnst, immer wieder lockst und dann wieder wegjagst."

Kai schwieg, weil er ja schon dachte, dass Lukas ihn zu grob behandelt und mehrfach übergangen hatte. Doch seine raue Stimme erklärte ihm gleich darauf. "Aber es ist nun einmal so, dass ich mich nicht fernhalten kann. Wenn ich in deine Augen sehe, wenn ich deine Haare spüre, deine Haut, deinen Geruch. Alles. Es ist verhext. Sofort bin ich wieder bereit, alles falsch zu machen, dich zu übergehen, nur um dich zu spüren."

Zwei Finger drehten Kais Kinn und Lukas zwang ihn, seinem Blick zu begegnen. "Ich kann nicht anders. Ich muss dich anfassen. Ich sehne mich danach, dich wieder so zu sehen, wie ich dich in der Badewanne sehen durfte", hauchte er.

Kai konnte den Blick nicht abwenden, blinzelte nicht einmal. Wie durch einen Schleier drangen Lukas' nun nur noch geflüsterte Worte zu ihm durch, während er dem brennenden Blick aus den dunklen Augen begegnete. Er konnte seinen Atem auf den Lippen spüren, ihn fast schon schmecken.

"Und ich verzehre mich danach, dir noch einmal die Kühle zu rauben, dich fühlen zu machen, dir die Kontrolle zu nehmen. Wie kannst du nur so unbeteiligt auf meine Gefühle für dich sehen? Wie kannst du nur so grausam abweisend sein, während ich koche, nach nur einer Umarmung?"

Kais Herz setzte aus. Er atmete schnell und zu flach, spürte, wie er den Mund offen stehen lassen musste, weil ihm die Kraft fehlte, ihn zu schließen. Endlich konnte er den Blick von Lukas' Augen lösen und ließ ihn auf das Glas in seinen Händen sinken. "Das tut mir leid", flüsterte er.

Lukas seufzte und nickte leicht, dann beugte er sich noch dichter "Mir auch. Du liebst nun mal ihn dort." Gleich darauf berührten weiche Lippen Kais Hals dicht am Ohr, und er vernahm eben gerade "Und ich kann nichts weiter tun, als dich in Versuchung zu führen, wie man es mit Engeln schon immer getan hat."

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