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Kartenhäuser

Teil 5

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Inhaltsverzeichnis

Happy Birthday!

Kaum hatte Chris am nächsten Morgen die Augen geöffnet, hing ihm Paul auch schon am Hals. Im wahrsten Sinne des Wortes.

„Guten Morgen und alles alles alles Gute zum Geburtstag!!!“, trompete Paul ihm direkt ins Ohr und sprang sofort wieder auf. „Was möchtest du denn gerne frühstücken? Ich habe Brötchen, Croissants, Müsli, Obstsalat, French Toast oder auch einfach nur Brot.“ Paul strahlte von einem Ohr zum Anderen und schien Chris` müdes Blinzeln kaum wahrzunehmen.

„Guten Morgen“, gähnte der etwas verspätet. „Eigentlich will ich zur Zeit gar nichts.“

„Gar nichts?“, fragte Paul sichtlich beleidigt und setzte sich neben Chris auf die Bettkante. Da gibt man sich so viel Mühe, latscht am Sonntagmorgen durch die halbe Stadt, um alles Mögliche und Unmögliche zu Essen aufzutreiben und dann bekommt man so eine Abfuhr! Unglaublich!

„Bist du jetzt sauer? Ich muss mich halt erst daran gewöhnen, dass mein Geburtstag auf einmal gefeiert wird.“

Paul regte sich nicht und hielt die Arme vor seiner Brust verschränkt.

„Paul! Hallo?“

„Ach egal“, sagte er schließlich und lächelte Chris an. „Du hast ja schließlich nur einmal im Jahr Geburtstag und du sollst heute alles haben, was du willst. Auch wenn du gar nichts willst.“

„Aha“, entgegnete Chris jetzt total verwirrt. „Dann will ich einfach nur dich, und zwar für immer.“

Paul sah ihn skeptisch an. „Das hört sich echt schleimig an, weißt du das? Es tropft ja fast schon... hey!“

Ohne dass er sich hätte wehren können, wurde Paul von Chris aufs Bett gezogen und mit beiden Händen auf die Matratze gedrückt.

„Was denn? Ich hab doch gesagt, ich will dich“, sagte Chris breit grinsend. „Und du hast gesagt, dass ich alles bekomme, was ich will.“

„Muss ich jetzt Angst haben?“

„Das liegt ganz an dir.“ Vorsichtig strich Chris mit einer Hand über Pauls Augen, um sie zu schließen. „Du hast gesagt ich soll dir vertrauen. Dann gilt das gleiche auch für dich“, flüsterte er in Pauls Ohr und küsste dann seinen Hals. Das T-Shirt zog er ihm über den Kopf und küsste danach jeden Zentimeter der freigewordenen Haut. Seine Lippen hinterließen eine brennende Spur auf Pauls Körper und wanderten langsam wieder hoch zu seinem Mund. Als sich ihre Münder schließlich berührten, drehte Paul Chris zur Seite, so dass er jetzt auf dem Rücken lag. Sie grinsten sich an.

„Ich liebe dich“, sagte Paul.

„Ich liebe dich auch“, antwortete Chris und zog Paul zu sich runter, um ihn wieder zu küssen.

Seinen letzten Geburtstag hatte niemand wirklich wahrgenommen. Er hielt sich immer wieder vor Augen, wie sich sein Leben doch verändert hatte. Was er Paul am letzten Abend gesagt hatte, war die reine Wahrheit. Schon als sie sich das erste Mal über den Weg gelaufen waren, hatte er ein leichtes Kribbeln im Bauch gespürt und nun? Nun lag er hier mit ihm in seinem Bett, in seiner Wohnung und konnte einfach nicht genug von seinen Berührungen und Küssen bekommen. Als Paul bei ihren ersten Begegnungen immer so abweisend gewesen war, hatte Chris schon alle seine Träume zerplatzen sehen und dabei wollte er doch nur bei ihm sein. Das erste Mal hatte er mit dem Gedanken, Arnie zu verlassen, gespielt, ohne dabei ein schlechtes Gewissen wegen der Anderen zu bekommen. Er war wirklich sehr egoistisch gewesen, aber was sollte er tun? Ihnen zuliebe dieses ganze Elend weiter ertragen? Nein, hatte er sich gedacht, und war einfach gelaufen, im Vertrauen darauf, dass Paul ihn bei sich aufnehmen würde. Viele Hoffnungen hatte er sich nicht gemacht, aber trotzdem hatte es funktioniert. Er war jetzt hier bei ihm und feierte das erste Mal seit Jahren wieder seinen Geburtstag. Als seine Eltern noch lebten, war es ganz natürlich gewesen, aber dann war da dieser schreckliche Unfall. Er war auf einmal allein und wehrte sich strikt dagegen in ein Heim zu gehen, oder in eine Pflegefamilie und was sie ihm alles angeboten hatten. Doch letztendlich hatte ihn niemand nach seinen Wünschen gefragt und er kam in ein Waisenheim. Nach einer Woche hielt er es nicht mehr aus und lief davon. Er war gerade mal fünfzehn Jahre alt und geriet in seiner Naivität schnell an die falschen Leute, die seine Situation für sich ausnutzten und ihn abhängig von sich machten. Nach einigem Hin und Her landete er schließlich bei Arnie und wurde dort fest mit eingeplant. Wie er die nächsten Jahre überstanden hatte, war ihm selber schleierhaft, aber das war jetzt endgültig Vergangenheit. Nachher würde er mit Paul zur Polizei gehen und diesem ganzen Durcheinander ein Ende machen.

Chris lächelte in sich hinein. Endlich kann ich ein normales Leben führen. Mit dem Mann, den ich liebe und der mich liebt.

„Was grinst du denn so?“, fragte Paul amüsiert.

„Ach nichts. Ich bin nur froh, dass ich dich hab.“

Ihre Hände strichen langsam über den Körper des Anderen, durch die Haare, über die Wange oder den Rücken. Ihre Zungen suchten einander und jagten bei jedem noch so kurzen Kontakt, winzige Stromstöße durch den restlichen Körper. Beide erschauderten in regelmäßigen Abständen und zogen sich währenddessen langsam gegenseitig ein Kleidungsstück nach dem anderen aus.

Wie unter Drogen lagen sie nun dicht nebeneinander, Haut an Haut, ohne den störenden Stoff ihrer Hosen und Shirts dazwischen, küssten und berührten sich immer wieder und versanken vollständig in ihrer Leidenschaft füreinander.

Später lagen sie immer noch dicht beieinander. Chris lehnte mit dem Kopf an Pauls rechter Schulter und strich mit dem Finger über dessen Oberkörper. Vom Halsansatz über die Brust bis zum Bauch und zurück. Pauls Hand lag ruhig auf seinem Rücken und machte nur ab und zu kleine kreisende Bewegungen.

Irgendwann mussten sie wohl eingeschlafen sein, denn als Paul die Augen wieder öffnete, zeigte die Anzeige seines Weckers schon 13:13. Chris lag immer noch sehr dicht bei ihm und hatte beide Arme um Pauls Körper geschlungen. Sein leises, regelmäßiges Atmen bewies eindeutig, dass er noch schlief, aber irgendwann mussten sie schließlich mal aufstehen, wenn sie ihr Vorhaben vom vergangenen Tag einhalten wollten.

„Chris“, flüsterte er also und streichelte leicht über dessen Schulter. „Aufwachen.“

„Nein“, quengelte der und schob sich noch dichter an Paul heran.

„Oh doch. Du wirst jetzt aufstehen, duschen und noch etwas frühstücken, bevor wir in die Stadt gehen.“

„Warum denn ausgerechnet heute?“

„Damit wir es schnell hinter uns haben und deinen Geburtstag dann umso mehr genießen können.“

„Ich glaube, ich genieße am besten hier im Bett. Den ganzen Tag.“

„Jetzt komm schon hoch“, befahl Paul und stand selber auf, wobei er Chris von sich schieben musste.

„Du bist fies“, sagte der Zurückgelassene, gähnte und streckte sich ausgiebig und stand schließlich widerwillig auf.

Nachdem er geduscht und gemeinsam mit Paul gefrühstückt hatte, verließen sie die Wohnung und machten sich auf den Weg zum nächsten Polizeirevier. Sie schlenderten gemütlich nebeneinander her, sahen in das eine oder andere Schaufenster und unterhielten sich über alles Mögliche. Es war ein sehr warmer Tag und schon bald beschwerte sich Chris darüber, dass er für hohe Temperaturen einfach nicht geboren sei. Die Sonne schien zwar nicht mehr, aber die dichte, weiße Wolkenwand schloss die ganze Wärme des Vormittags ein.

Genaugenommen taten er und Paul alles, um für kurze Zeit zu vergessen, was sie vorhatten. Immerhin wussten sie beide nicht was, und ob überhaupt etwas dabei rauskommen würde. Hatten sie denn eine Chance, diesen Alptraum endlich hinter sich zu lassen?

Während sie also Seite an Seite durch die Stadt streiften, völlig ins Verdrängen vertieft, bemerkten sie nicht wie sich langsam jemand von hinten an sie heranschlich. Er kam näher und näher und noch bevor es irgendjemand registrieren konnte, zückte er ein langes, dünnes Messer und stürmte nach vorn.

Als hätte er etwas gespürt, drehte Chris sich um, kurz bevor der Fremde Paul sein Messer seitlich in den Bauch stieß. Chris schrie laut auf und versuchte noch Paul beiseite zu ziehen, doch die Attacke war viel zu unvorhergesehen gekommen. Keiner der beiden hätte in irgendeiner Weise reagieren und das alles verhindern können.

Paul sackte in sich zusammen. Auf seinem Shirt breitete sich ein dunkler Fleck aus. Chris stand da und starrte den Körper seines Freundes entsetzt und fassungslos an. Das war doch nicht echt! Er träumte! Er hatte nur Angst vor seiner Aussage bei der Polizei! Paul lag nicht da und... und...

Doch der Angriff war noch nicht vorbei. Der Fremde wandte sich von seinem ersten Opfer ab und ging nun auf Chris los, dessen Augen ausschließlich Paul fixierten. Er schien nichts weiter um sich herum wahrzunehmen und dachte daher nicht einmal daran, auszuweichen. Das Messer blitzte erneut auf und schoss auf Chris zu, doch diesmal ging jemand dazwischen. Dieser Jemand stieß dem Angreifer die Waffe aus der Hand und warf ihn zu Boden. Bewusstlos blieb er liegen und Chris` Retter rief sowohl den Notarzt, als auch die Polizei.

Völlig aufgelöst und zitternd hatte sich Chris währenddessen neben Paul auf den Gehweg gesetzt und sofort angefangen hemmungslos zu schluchzen, als er realisierte, was gerade geschehen war. Er starrte immer wieder auf die Wunde und flehte Paul ununterbrochen an, ihn nicht zu verlassen. Ihn niemals zu verlassen. Einfach aufzustehen und zurück in seine Wohnung zu gehen. Unmengen von Tränen rannen über sein Gesicht und vermischten sich mit dem Blut, das einfach nicht aufhören wollte zu fließen. Die ganze Zeit über waren Pauls Augen geschlossen und sein Körper reglos geblieben, doch nun hob er eine Hand und legte sie auf die von Chris, der sofort zusammenzuckte, als er diese schwache Berührung spürte.

„Du weinst ja“, flüsterte Paul, was Chris nur noch mehr Tränen entlockte.

„Du darfst mich nicht verlassen, hörst du?“

„Tut mir leid.“

„Was?“

„Dass ich nicht auf dich gehört habe. Du wolltest doch nie zur Polizei.“

„Nein, du hattest recht. Es war die richtige Entscheidung, nur der falsche Zeitpunkt.“

„Ja, vielleicht, aber...“

„Nein, sag nichts“, unterbrach Chris ihn. „Du solltest jetzt nicht sprechen.“

Paul schloss die Augen wieder, ließ seine Hand aber auf Chris` liegen. Die Sekunden zogen sich unrealistisch lang hin, sodass Chris letztendlich nicht sagen konnte, wie viel Zeit wirklich verging, bis sie die Sirene des Rettungswagens hörten. Paul öffnete die Augen wieder und sah Chris traurig an.

„Die kümmern sich jetzt um dich, Paul“, schluchzte Chris und sagte wieder: „Du darfst mich nie verlassen!“

„Das werde ich nicht“, sagte Paul mit schwacher Stimme.

„Weißt du noch, was ich mal zu dir gesagt habe, als du die Sonne so vermisst hast? Ich hab gesagt, dass ich sie nicht brauche, solange ich dich atmen höre. Das ist alles, was ich will. Dich atmen hören. Also hör jetzt nicht damit auf!“

„Du wirst für uns beide atmen“, flüsterte Paul kaum hörbar und jetzt lief auch ihm eine Träne über die Wange. Er streichelte über Chris` Handrücken und schloss die Augen wieder, doch diesmal verlor auch seine Hand ihre Kraft und fiel zu Boden.

Noch während Chris schrie, Pauls Körper schüttelte und Tränen ohne Ende aus seinen Augen quollen, hielt der Notarztwagen neben ihnen am Straßenrand und wenig später auch zwei Einsatzfahrzeuge der Polizei. Alle rannten so schnell wie möglich auf die beiden am Boden liegenden Personen zu, um das zu tun, was schon zu spät war. Die Ärzte ließen sich neben Pauls leblosem Körper nieder und winkten zwei Sanitätern, die sich um Chris kümmern sollten. Sie kamen sofort und redeten auf ihn ein, er solle von Paul ablassen, damit die Ärzte ihre Arbeit machen könnten.

„Das ist eh schon zu spät!“, schrie er und wehrte sich gegen die beiden Männer, die ihn jetzt beiseite nahmen und ihn in einen der Krankenwagen brachten. „Ihr seid zu spät gekommen!“ Dann verließ ihn seine Kraft und er fiel den Sanitätern in die Arme.

Ganz verschwommen nahm Chris die Menschen um sich herum wahr. Ihre Hektik, teilweise Verzweiflung und Wut. Er spürte wie ihn jemand hoch hob und gleich darauf wieder ablegte. Stimmen schrien durcheinander, aber was sie sagten, verstand er nicht. Er schlief nicht, war aber auch nicht wirklich wach. Was hatten ihm die Sanitäter nur verabreicht?

Es war ein angsteinflößendes Gefühl so machtlos zu sein. Seine Augen gehorchten ihm nicht. Sie waren wie zugeklebt, dabei wollte er doch unbedingt Paul sehen. Was war mit ihm? Und warum stellte niemand diese Sirene aus? Laut und schmerzhaft hallte der schrille Ton des Martinshornes in Chris` Kopf. Hoch und runter, hoch und runter. Wenn er das noch länger mit anhören musste, würde er vollends den Verstand verlieren. Es konnte doch nicht so schwer sein dieses Ding abzuschalten! Jemand musste einfach diesem Wahnsinn ein Ende machen! Er wollte nicht mehr dort liegen und dem undeutlichen Gemurmel zuhören. Bemerkte denn niemand, dass er lange nicht so weggetreten war wie er es hätte sein sollen?

Das Murmeln und Nuscheln wurde lauter und auch verständlicher. Als hätte jemand seine Bitte erhört, wurden die Stimmen klarer und er konnte ein paar Wortfetzen aufschnappen.

„...genau... in den Bauch... nicht gut... Schock...“ Die Stimme wandte sich ab, doch kurz darauf sprach sie wieder. Dieses Mal verstand Chris jedes Wort. „Es wird hart für ihn, wenn er aufwacht. Seine Reaktion lässt darauf schließen, dass sie ein sehr enges Verhältnis hatten. Wahrscheinlich wird er noch eine Weile Beruhigungsmittel bekommen müssen. Sag im Krankenhaus Bescheid, dass sie ihn gut im Auge behalten.“

Alles stürzte auf einmal über Chris ein. Bilder schwirrten wahllos durch seine Gedanken, Gefühle kamen zum Vorschein und immer wieder sah er Paul. Paul wie er lächelte, wie er ihn wütend anschrie, wie er verlegen zu Boden schaute, seinen liebevollen Blick und schließlich das leere, ausdruckslose Gesicht. Paul konnte doch nicht einfach verschwinden. Er kann mich nicht einfach allein lassen!

Chris riss die Augen auf und fand sich in einem Krankenwagen wieder. Er war noch immer am Ort des Geschehens, doch nun wimmelte es geradezu von Polizisten und Sanitätern. Zwei von ihnen standen neben ihm an der Trage, zusammen mit einem Mann, auf dessen Jacke die Aufschrift “Notarzt“ zu lesen war. Die drei starrten ihn erschrocken an und waren einen Augenblick wie eingefroren. Dann löste sich der Arzt aus seiner Starre, tastete nach Chris` Puls und legte ihm eine Hand auf die Stirn.

„Wie fühlen Sie sich?“, fragte er.

„Ich will...“, begann Chris, doch seine Stimme war nicht mehr als ein Krächzen. Er wollte sich aufsetzen, aber die Sanitäter hielten ihn zurück.

„Es ist besser, wenn Sie liegen bleiben“, sagte einer der beiden. „Wir bringen Sie jetzt ins Krankenhaus.“

„Aber, nein... Paul...“

Die drei warfen sich vielsagende Blicke zu, dann kramte der Arzt in einer der vielen Schubladen. Als Chris die Spritze sah, versuchte er vergeblich aus dem Wagen zu entkommen, kam aber nicht weit. Bevor er einen Fuß auf den Boden setzen konnte, schnappten ihn die beiden Sanitäter und drückten ihn auf die Liege. Sie waren einfach zu stark oder war er nur zu schwach?

„Sie haben einen schweren Schock erlitten. Deshalb gebe ich ihnen ein Beruhigungsmittel. Wir werden ihnen alles im Krankenhaus erklären.“

„Ich will zu Paul!“, schrie Chris mit aller Kraft, aber niemand achtete darauf. Er wand sich unter dem Griff der zwei Männer und wehrte sich so gut er konnte, doch schließlich verschwand die Nadel in seinem Arm und ein kaltes, kribbelndes Gefühl breitete sich unter der Haut aus. Er wurde zunehmend schwächer und leistete irgendwann gar keinen Widerstand mehr. Das berühmte “Scheißegal-Gefühl“ breitete sich in ihm aus und alles, was er noch wahrnahm waren die heißen Tränen auf seinem Gesicht.

Du hast mein Leben ausgemacht,
und dir nichts dabei gedacht,
du warst der Sinn und der Lebenswert,
und jetzt ist all das nichts mehr wert.
Du löscht meine Kerze einfach aus,
weil du sie nicht mehr brauchst,
machst mein Leben zum Kartenhaus,
und ziehst die unterste Karte raus. *

Weiß

Als Chris wieder aufwachte lag er in einem Krankenhausbett. Er wusste zunächst nicht, was geschehen war, aber als einige der Ärzte vor der Glasscheibe, die den Blick auf den Krankenhausflur freigab, hin und her liefen, erinnerte er sich langsam an alles. Die Bilder strömten geradezu auf ihn ein, so dass er sich sofort wieder schwach und müde fühlte. Aber er konnte jetzt nicht schlafen. Er musste zu Paul. Musste ihn einfach sehen, und schon bei dem Gedanken an den Anblick seines leblosen Körpers, wurden seine Augen feucht und die Tränen rannen ihm ohne Unterlass übers Gesicht. Glauben konnte oder wollte er es immer noch nicht, aber etwas tief in ihm sagte ihm doch, dass es wahr war. Nie wieder würde er Pauls Zärtlichkeiten spüren, seine Stimme hören und neben ihm einschlafen und aufwachen. All das sollte nun Vergangenheit sein und das war etwas, das ein normaler Mensch nun mal nicht mit einem Augenaufschlag begreifen und akzeptieren kann. Wie auch? Es war doch noch gar nicht lange her, dass sie unbeschwert nebeneinander gelaufen sind. Was war nur passiert?

Chris spürte, dass er mit seinen Kräften und Nerven völlig am Ende war. Er lag nur da und hoffte... ja was hoffte er denn? Dass Paul wiederkommen würde? Dass es doch alles nur ein Traum gewesen war und er jeden Moment in den Armen seines Freundes aufwachen konnte? Nein! Da war einfach zu viel Blut in seinen Gedanken. Der Anblick von viel zu viel Blut vernebelte seine Sinne. Pauls Blut.

Irgendwann öffnete sich die Tür zu dem kleinen Zimmer und eine Krankenschwester kam herein. Sie ging direkt auf Chris zu, sah ihn besorgt an und legte dann eine leere Spritze und eine kleine Glasflasche auf den kleinen Tisch neben seinem Bett.

„Ich werde Ihnen nachher noch ein Beruhigungsmittel geben, damit sie sich noch eine Weile ausruhen können. Vor der Tür warten übrigens noch ein paar Leute, die gerne mit Ihnen sprechen würden. Ich schicke sie gleich rein, wenn es Ihnen recht ist.“

Chris nickte nur. Ihm war gerade alles egal. Bestimmt waren das Leute von der Polizei, die alles genauestens geschildert haben wollten. Doch als die Frau das Zimmer wieder verließ, um den Besuch hereinzubitten, erkannte Chris zwei der drei Gesichter. Es waren Tom und Jane. Die andere Frau, die bei ihnen stand, hatte er noch nie gesehen.

„Hi Chris“, sagte Tom vorsichtig. „Wie geht es dir?“

Wie es mir geht? , dachte Chris. Na wie wohl?!

Tom schien gemerkt zu haben, dass die Frage nicht gut ankam und stellte nun erst einmal die zweite Frau vor, die Chris noch nicht kannte.

„Das ist Lisa. Ich weiß nicht, ob P... ob du schon von ihr gehört hast.“

„Ihr könnt ruhig seinen Namen sagen und ja, Paul hat mir von ihr erzählt.“

„Hallo“, sagte Lisa etwas schüchtern.

„Hallo“, entgegnete Chris kühl und stand auf. Den Sauerstoffschlauch aus seiner Nase warf er beiseite.

„Wo willst du hin?“, fragte Tom und stellte sich ihm in den Weg.

„Ich will zu ihm. Lass mich durch!“

„Willst du nicht lieber noch hier bleiben? Zur Beobachtung?“

„Wozu denn!“, rief Chris nun schon etwas lauter. „Ich hab doch überhaupt nichts abbekommen. Ich hab nicht mal einen kleinen Kratzer und Paul ist tot!“ Er stieß Tom zur Seite und ging hinaus auf den Flur und dann geradewegs zur Rezeption.

„Wo ist er? Wo haben sie ihn hingebracht?“

„Von wem sprechen Sie denn?“, fragte die Frau hinter der Theke verwirrt und offensichtlich leicht beängstigt.

„Paul Flemming. Er muss mit mir zusammen hierher gekommen sein.“

„Tut mir leid, aber Sie wurden ohne Begleitung hier eingeliefert.“

„Er wurde direkt ins Gerichtsmedizinische Institut gebracht“, sagte Lisa, die mit Tom und Jane jetzt wieder neben Chris stand.

„Komm, wir suchen uns jetzt erstmal ein ruhiges Plätzchen und erzählen dir alles, okay?“, kam es leise von Tom.

„Das will ich gar nicht wissen“, sagte Chris und kämpfte schon wieder mit den Tränen und mit Tom, der ihn mit sich zog. Warum konnte es nicht so sein wie in den ganzen Filmen, die er gesehen hatte? Warum erinnerte er sich sofort an alles. Bei dem Tod seiner Eltern hatte er die Wahrheit tagelang nicht akzeptiert. Er hatte so eine Art Blackout und als er es endlich verstand, hatte er sich unterbewusst schon fast damit abgefunden.

Aber jetzt war alles anders. Er sah alles ganz klar und deutlich. Er wusste genau, was geschehen war und was das für ihn bedeutete. Das war einfach alles zu viel und noch dazu war dieses Gefühl, allein zu sein, viel zu erdrückend. Die ganzen letzten Wochen hatte Chris Paul in seiner Nähe gehabt. Immer war er mit ihm zusammen gewesen, abgesehen von den Stunden am Tag, in denen Paul arbeiten musste. Es war so normal für ihn geworden, dass es jetzt umso mehr weh tat, zu wissen, dass es nie wieder so sein würde. Von jetzt an war er allein, wie er es vorher auch immer gewesen war. Und er würde auch immer allein bleiben. Nie wieder, da war er sich sicher, würde jemand den Platz in seinem Leben einnehmen, den Paul eingenommen hatte und den er auch immer noch ausfüllte.

Zuerst seine Eltern, dann Paul. Was war nur mit ihm los? Das hatte er Paul gestern erst gefragt. Gestern. Gestern hatten sie noch zusammen im Bett gelegen, sich gestritten und wieder versöhnt. Ganz normal. Es war so schön in seinen Armen zu liegen, seine Wärme zu spüren. Sie hatten nur eine kurze Zeit gemeinsam verbracht und doch konnte sich Chris kaum an etwas anderes erinnern. Es war fast so, als hätte es ein Leben ohne Paul nie gegeben und nun sollte er ohne ihn auskommen? Für den langen Rest seines Lebens? Warum hatte er sich nicht an sein Vorhaben gehalten, nicht zur Polizei zu gehen? Er gab nicht Paul die Schuld, weil er ihn überredet hatte, sondern viel mehr sich selber, weil er nicht auf diese Vorahnung gehört hatte.

Ohne, dass er bemerkte wohin sie eigentlich gingen, lief Chris, von Tom gestützt, Lisa und Jane hinterher, bis sie schließlich in der kleinen Cafeteria ankamen, die zu dieser Zeit völlig leer war. Sie setzten sich an einen Tisch in eine Ecke des Raumes und schwiegen erst eine Weile, bevor Tom anfing zu sprechen.

„Die Polizei hat uns gesagt, dass der Kerl, der euch angegriffen hat, im Auftrag gehandelt hat.“

Ach was!

„Sie haben in seiner Jackentasche eine Visitenkarte von einer Kneipe gefunden und auf seinem Handy waren mehrere Anrufe aus dieser Bar. Den Besitzer haben sie letztendlich festgenommen, als sie auf ein paar Sachen gestoßen sind, die da wohl nicht ganz koscher gelaufen sind. Anscheinend hat er im Hintergrund so eine Art Nachtclub unterhalten, bei dem Minderjährige als Prostituierte arbeiten mussten.“

Chris überlegte kurz, ob sie sich nur dumm stellten, oder ob sie wirklich nichts von seiner Vergangenheit wussten. Und wenn nicht, sollte er es ihnen dann jetzt erzählen? Nein, eher nicht. Oder zumindest nicht jetzt. Die Polizei würde ihn deswegen wahrscheinlich auch noch vernehmen wollen und er hatte keine Lust, das alles doppelt zu erzählen. Also war er vorerst still und hörte mit einem Ohr dem zu, was Tom zu sagen hatte.

„Was wir mitbekommen haben, wird er wohl ziemlich lange von der Bildfläche verschwinden.“

Da war es nun endlich soweit, dass Arnie verhaftet wurde und Chris konnte sich trotzdem nicht freuen. Jetzt wäre es ihm lieber, Arnie frei zu sehen und dafür Paul wieder zu haben.

Endlos lange schienen sie dort an diesem Tisch zu sitzen und irgendwann hörte Chris dem Gespräch kaum noch zu. Vor ein paar Minuten hatten sie das Thema Tod und Polizei abgehakt und sprachen nun über Paul. Es war unerträglich für Chris etwas über Pauls Leben zu erfahren, das er ihm nie selbst gesagt hatte. Er fühlte sich dabei unwohl, als wäre es nicht für seine Ohren bestimmt. Nur ab und zu fing er ein paar Wortfetzen auf und versank dann wieder in seinen trüben Gedanken. Er hielt sich beide Hände an die Ohren, aber das schien niemandem aufzufallen. Am liebsten wäre er jetzt allein. Nein, am allerliebsten wäre er natürlich bei Paul, aber das war von nun an unmöglich.

„Schon, als wir noch zusammen waren, habe ich gemerkt, dass es ihn nicht glücklich machte, wie er lebte“, erzählte Lisa. „Irgendetwas bedrückte ihn und als ich endlich glaubte zu wissen, was es war, hielt ich es für die beste Lösung unsere Beziehung zu beenden. Er hat mich dafür immer gehasst, aber ich hatte recht. Ich konnte ihm nie das geben, was er brauchte, weil ich eine Frau bin.“

Sie erzählte von ihrem Besuch, und dass er es immer noch nicht selber herausgefunden hatte, dass es Männer waren zu denen er sich hingezogen fühlte, und dass sie froh war, dass er letztendlich doch noch jemanden gefunden hatte. Chris taten diese Worte nur weh, weil es ihn daran erinnerte, welchen Kampf Paul deshalb mit sich selbst ausgetragen hatte. Wie sie schließlich doch noch zusammengekommen waren und was es ihnen beiden bedeutet hatte.

Irgendwann sprang er einfach auf und verließ die Cafeteria. Tom rief ihm noch nach, aber das ignorierte er. Er lief einfach weiter, ohne von irgendetwas Notiz zu nehmen und verließ sogar das Krankenhaus. Weinend, schluchzend und am ganzen Körper zitternd streunte er umher und fragte sich in Gedanken immer wieder, warum alles so gekommen war. Warum konnte er nicht einfach glücklich sein und mit dem Menschen zusammenleben, den er liebte? Warum hatte Paul ihn verlassen? Weil er ihn in diese ganze Sache reingezogen hatte. Er hatte immer wieder befürchtet, sie könnten Paul etwas antun. Warum also hatte er es zugelassen? Warum hatte er Paul dieser Gefahr ausgesetzt? Es war alles seine Schuld! Arnie wollte sich an ihm rächen und das Opfer war nun Paul. Wieso? Das war nicht fair!

Immer mehr Tränen liefen über sein Gesicht, und als er schließlich auf einer Brücke stehen blieb, konnte er kaum noch etwas sehen. Es ist alles meine Schuld!

Dann kletterte er über das Geländer der Brücke und sah nach unten. Wie es wohl wäre zu springen? Würde er Paul dann wiedersehen? Was hielt ihn noch hier? Überhaupt nichts, also spring!

Doch bevor er das Geländer loslassen und sich einfach fallen lassen konnte, packten ihn zwei starke Arme und zogen ihn zurück. Zogen ihn vom Abgrund zurück ins Leben.

„Spring nicht!“

Ein seltsamer Traum! Alles war so schwammig und die Bilder schwirrten unaufhaltsam durcheinander. Zuerst waren da Tom, Jane und Lisa, dann eine Brücke und jetzt war alles nur noch schwarz und düster. Ab und zu hörte Chris Stimmen, war sich aber nicht sicher, was sie sagten.

Bin ich tot? , fragte er sich immer wieder, doch die Antwort blieb aus. Was war nur passiert? Diese Brücke und das Geländer... hatte er sich fallen lassen?

Langsam schlug er die Augen auf und fand sich in einem Zimmer wieder, das geradezu abschreckend weiß war. Nicht mal eine Farbe konnte er sehen. Alles war grell, langweilig und wahrscheinlich höchst steril. Einen größeren Unterschied zu der Schattenwelt, die er soeben verlassen hatte, konnte es nicht geben.

Er war also nicht tot. Und nun?

Wieder sah Chris durch die Glasscheibe auf das hektische Treiben dahinter und bemerkte im selben Augenblick wie gleichgültig ihm alles war. Würde gleich wieder eine Krankenschwester ins Zimmer kommen, gefolgt von Tom, Jane und Lisa? Oder würde es dieses Mal tatsächlich die Polizei sein, die ihn wegen Pauls Tod befragen wollte? Egal. Sie sollten ihn alle in Ruhe lassen. Wer konnte schon verstehen wie er sich fühlte? Er hatte niemanden mehr. Keine Familie, keine Freunde und auch kein Geld oder eine Wohnung. Sein „neues Leben“, von dem er geglaubt hatte, es würde ewig so weiter gehen, war an Paul gebunden. Paul war seine Familie, seine einzige Hoffnung auf ein normales Leben gewesen. Doch auch er hatte ihn verlassen. Welche Zukunft hatte Chris bei den Aussichten schon zu erwarten? Warum war er nicht gesprungen, als er die Gelegenheit dazu hatte? Er konnte sich nicht erinnern. Aber was ihn auch davon abgehalten hatte, er verfluchte es jetzt.

Ein Mann mittleren Alters mit grau meliertem Haar öffnete die Tür und trat ein. Er wirkte müde, ging aber mit einem freundlichen Lächeln auf Chris zu.

„Wie schön, dass Sie endlich wach sind. Das wird Ihren Freund bestimmt sehr freuen. Er hat sich wirklich unheimlich viele Gedanken gemacht und...“

„Mein Freund ist tot.“

Sofort erstarb das Lächeln auf dem Gesicht des Arztes und er schien nicht zu wissen, was er darauf antworten sollte.

„Es... es tut mir leid. Ich weiß, was Ihnen passiert ist, aber ich meine nicht den jungen Mann, der dabei ums Leben kam. Ich spreche von demjenigen, der Sie hierher zurückgebracht hat. Er sagte Sie seien zusammengebrochen und wartet schon seit gestern darauf, dass Sie wieder aufwachen.“

Chris verstand kein Wort von dem, was ihm gerade erzählt wurde. Jemand hatte ihn ins Krankenhaus gebracht? Dann war er also auf der Brücke zusammengebrochen, bevor er hatte springen können? Wenn er sich doch nur erinnern könnte.

„Kann ich ihn zu Ihnen reinschicken?“

Chris nickte matt. Sicher war es Tom, der ihm zur Brücke gefolgt war. Eigentlich hatte er keine Lust jetzt mit ihm zu reden oder mit irgendjemandem sonst, aber was soll´s. Er drehte sich demonstrativ mit dem Rücken zur Tür und sobald er die Augen geschlossen hatte, erschien Pauls Gesicht in seinen Gedanken. Er dachte an die letzten Worte, die sie gewechselt hatten und augenblicklich spürte er das leichte Kitzeln der Tränen auf seinem Gesicht. Warum hatte Paul nicht auf ihn gehört? Warum hatte er ihn verlassen, obwohl Chris ihn angefleht hatte, bei ihm zu bleiben? Immer wieder sah er das viele Blut und hörte sich selber verzweifelt schluchzen. Wie sehr er gebetet hatte, dass Paul überlebt. Doch geholfen hatte es nicht.

Am ganzen Körper zitternd, krallte Chris seine Finger in die Bettdecke und zog sie ganz dicht an sich. Nie wieder würde er Paul so nah bei sich spüren, nie wieder seine Wärme genießen. Von jetzt an konnte er sich nur noch nach etwas sehnen, das ihn für immer verlassen hatte.

Leise betrat jemand das Zimmer und schloss die Tür wieder hinter sich. Er zögerte einen Moment, bevor er sich Chris näherte und einen Stuhl ans Bett stellte.

Minutenlang geschah nichts. Chris hatte nicht bemerkt, dass sich jemand neben ihn gesetzt hatte und schreckte erst hoch, als er eine Hand auf seiner Schulter spürte. Erschrocken sah er in das Gesicht seines Besuchers. Es war nicht Tom. Überhaupt war es niemand, den er hier erwartet hätte.

„Was machst du denn hier?“, fragte er mit belegter Stimme.

„Ich habe dich hierher gebracht, nachdem du zusammengebrochen bist und wollte jetzt sehen wie es dir geht.“ Er machte eine kurze Pause, dann fragte er: „Warum wolltest du von der Brücke springen?“

Ohne eine Antwort zu geben, starrte Chris sein Gegenüber fassungslos an. Er hatte sich also doch nicht geirrt. Die ganze Zeit hatte er recht gehabt mit dem, was er geglaubt hatte zu sehen. Dieser Junge war die letzten Tage ununterbrochen in seiner und Pauls Nähe gewesen, aber wozu? Warum hatte er sich nie offen gezeigt?

In Chris´ Kopf überschlugen sich die Gedanken geradezu, als er versuchte, irgendeinen Sinn hinter dieser verzwickten Geschichte zu finden. Dieser Junge hatte sie eindeutig verfolgt und dafür gab es nur eine sinnvolle Erklärung; zumindest aus Chris´ Sicht.

„Du hast denen gesagt wo wir sind“, sagte er mit zittriger Stimme.

„Was? Was habe ich wem gesagt?“

„Jetzt tu doch nicht so! Du hast Paul und mich verraten. Du bist doch die ganze Zeit hinter uns hergeschlichen!“

„Du hast mich gesehen?“

„Ja, allerdings. Ich fasse es nicht, dass ich mir auch noch Sorgen um dich gemacht habe! Hat es sich wenigstens gelohnt?“

Der Junge sah Chris, der gleichzeitig weinte und lauthals schrie, verständnislos an. „Wovon redest du denn? Ich habe euch nicht beobachtet, weil ich Arnie sagen sollte wo ihr seid, sondern der Polizei.“

„Was?“ Sofort hörte Chris auf zu schreien.

„Nachdem wir zusammen aus der Bar geflohen sind, bin ich zur Polizei gegangen und wollte Arnie anzeigen. Die konnten zwar nichts unternehmen, haben aber versprochen, ihn im Auge zu behalten, genau wie dich und deinen Freund.“

„Hat ja super funktioniert!“, schnaufte Chris und zog die Bettdecke wieder an sich.

„Es tut mir leid, dass du deinen Freund verloren hast. Ich weiß wie das ist.“

„Überhaupt nichts weißt du! Hast du etwa zugesehen wie derjenige, den du liebst in deinen Armen stirbt? Wie sein Blut über den Boden läuft? Musst du auch ständig daran denken, was er als letztes gesagt hat, und dass du ihn niemals wieder in den Arm nehmen wirst?“

„Er lag zwar nicht in meinen Armen, aber ja. Ich habe meinen Freund genauso sterben sehen wie du.“

Chris war sprachlos. War das die Wahrheit? Wenn ja, dann könnte er sich selber ohrfeigen für das, was er eben gesagt hatte.

„Ähm...“

„Du musst dich nicht entschuldigen. Ich kann verstehen, dass du gerade niemandem traust, aber du solltest wissen, dass dir alle nur helfen wollen, ok?“

Chris nickte geistesabwesend.

„Na gut, dann lass ich dich jetzt in Ruhe. Ich wollte nur so lange warten bis du wieder aufwachst. Ich komme morgen noch mal, wenn es dir recht ist.“

„Ja“, sagte Chris leise, als sein Besucher schon auf dem Weg zu Tür war. „Warte mal. Wie heißt du eigentlich?“

„Oh, sorry... ich bin Alex“, antwortete er. „Bis morgen.“

„Bis morgen“, sagte Chris mehr geflüstert, als wirklich laut ausgesprochen. Da war er wohl sprichwörtlich ins Fettnäpfchen getreten. Aber das alles war doch echt wie in einem schlechten Krimi, oder nicht? Irgendwie erschlossen sich ihm die Zusammenhänge noch nicht so ganz, aber diese ganzen Informationen mussten einfach erst mal ankommen und verarbeitet werden. Nichts davon hätte er sich noch vor ein paar Tagen vorstellen können. Alles war so normal gewesen, wie er es nicht gekannt hatte, seit seine Eltern verunglückt waren. Und jetzt war wieder alles anders. Er musste schon wieder von vorne anfangen. Meine Güte, er war gerade mal achtzehn, hatte aber schon seine Eltern und seine erste große Liebe verloren! Was würde wohl noch alles auf ihn zukommen? Wäre er doch bloß gesprungen!

Wieder starrte er an die weiße Wand, fast als wollte er dort etwas finden, doch er sah nur weiß, weiß, weiß...



*
Silbermond – Kartenhaus
Geschrieben und getextet von: Stefanie Kloß, Thomas Stolle, Andreas Nowak und Johannes Stolle
Verlag: Valicon Songs/EMI Songs und Silbermond Musikverlag/Copyright Control

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