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Summer in Paradise 3

Teil 9

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Informationen

Inhaltsverzeichnis

David

Ich liebe es, dass nicht nur ein Tag mit Feier geplant ist, sondern dass die Leute aus den Staaten schon ein paar Tage früher anreisen. Scott kommt sogar schon eine Woche vorher, was sich als Segen herausstellt, denn so kann er nicht nur den Hype um das virale Video von Max managen, sondern nimmt auch nach der Sabotage sämtliche Presseanfragen an und schickt ein vorgefertigtes Statement raus. So können wir den ganzen Scheiß möglichst gut von Carlos und seiner Familie fernhalten.

Tobey, Kevin, Brian und Sean kommen am Dienstag an und machen jeden Tag mit Jordan Musik. Zum Glück stehen gerade einige Zimmer im Paradies leer und werden erst im Oktober wieder bezogen. Außerdem bringt Severin einige Gäste im Kaiserwirt unter. Auch bei Christians Frau Franzi und bei meinen Eltern und Großeltern werden Gäste untergebracht. Und Jordans Familie mütterlicherseits schläft bei Carol in Nürnberg. Josh und Kate bleiben bei Nikki und Oliver in München. So finden alle Platz.

Am Donnerstagabend steht Paul plötzlich vor der Tür bei meinen Eltern.

“Überfall! Auf geht’s, pack dich zamm, wir machen heute Junggesellen-Abschieds-Party am Weiher.”

“Ehm, was?”

“Schwing dich auf’s Radel. Alle warten schon.”

Ich packe mir noch eine Decke und einen Pulli ein, küsse den grinsenden Jordan, der scheinbar eingeweiht war und selbst seinen Junggesellenabschied mit der Band verbringen wird und folge Paul zum Weiher. Ich kann es nicht fassen, am Lagerfeuer sitzen sie tatsächlich alle: Flo und Chrissy, Tom, Michi, Anne, Jenny und Julia. Und Jana. Sie steht auf und umarmt mich.

“Jana, ist das schön”, freue ich mich.

“Es ist viel zu lange her.”

“Hey Alter! Du heiratest!”, johlt Michi. “Dann bin ich der Letzte in Freiheit!”

“Du meinst, der Letzte, der sich noch stressen muss, wo er den nächsten Fick herkriegt”, lacht Flo und steht auf, um mich zu umarmen.

“Ich bin im Übrigen auch nicht verheiratet”, meint Paul.

“Aber sowas von unterm Pantoffel”, lacht Michi.

Ich umarme alle der Reihe nach und bekomme ein Bier und einen Dübel gereicht.

Wir erzählen uns vom Leben, von der Arbeit, von den Kindern, trinken, lachen, die Zeit verfliegt und ich fühle mich wieder wie zu Schulzeiten. Plötzlich steht Thorsten da und Max! Mit seiner Gitarre! Genau wie früher. Ich umarme die beiden, spüre beim Aufstehen die Wirkung vom Alkohol und vom Gras. Max spielt erst Summer of 69 und ich gröle rein “Summer of Twenty-oh-six”. Er lacht. Und dann spielt er “My Way”. Ich setze mich neben ihn. Das ist der Song, der mich damals dazu gebracht hat, mich zu outen. Das ist der Song, den ich immer noch im Kopf habe, wenn ich jemand Neuem sage, dass ich schwul bin. Das ist der Song, der irgendwie mein Lebensmotto geworden ist, meine Hymne, wenn ich Mut brauche. Das ist der Song, den ich auf meinem 70. Geburtstag singen will. Und Max singt ihn heute nur für mich. Die anderen werden still, hören auf, rumzublödeln. Ich will nicht, dass der Song jemals vorbei ist, aber als Max zum Ende kommt, applaudieren alle. Außer mir. Ich sitze neben ihm und hab Tränen in den Augen. Er legt die Gitarre weg und zieht mich hoch.

“Komm mit.”

Wir gehen ein Stück am Ufer entlang. Bald wird es dunkel, aber noch sieht man alles in der Abenddämmerung gut. Er gibt mir ein Taschentuch.

“Danke, Max”, sage ich. “Ich liebe dieses Lied.”

“Ich auch, weil es mich immer an dich erinnert. Und an den Abend damals am Lagerfeuer, als du weggelaufen bist und mir klar wurde, dass du wohl schwul bist. Ich hatte es bis dahin schon vermutet, aber als du es mir dann gesagt hast, am nächsten Tag, das war einer der glücklichsten Momente meines Lebens.”

“Und ich hatte so eine Panik.”

Max nimmt meine Hand:

“Wir sind weit gekommen, du und ich. Wenn auch nicht zusammen …”

“Ja, und … Max, ich … ich liebe dich. Das wird immer so bleiben.”

Er strahlt:

“Ich liebe dich auch, David. Und ich werde dir jetzt einen Abschiedskuss geben und dann fahre ich heim zu meinem Verlobten.”

Ich nicke.

Er legt seine Arme um mich und ich meine um ihn. Dann treffen sich unsere Lippen, so wie früher. Und für einen kurzen Moment treffen sich auch unsere Zungen. Hinter uns am Lagerfeuer johlt jemand auf. Applaus bricht los. Wir grinsen, Max drückt seine Stirn gegen meine:

“Deine Freunde nerven noch genauso sehr wie früher.”

Ich lache und umarme ihn.

“Singst du den Song für mich auf der Hochzeit?”

“Natürlich. Wenn du dir das wünscht?”

Ich nicke:

“Mach’s gut, Max.”

“Mach’s gut, David.”

Er sammelt noch seine Gitarre und Thorsten ein. Dann ist er weg. Ich bleibe noch eine Weile am Weiher stehen und schaue über das Wasser. Jana kommt zu mir.

“Alles in Ordnung?”

“Ja. Wir haben uns nur verabschiedet.”

“Verstehe. Ihr wart lange zusammen.”

“Ja, und es ist immer noch seltsam, ihn zu sehen. Wir sind nicht mehr zusammen, aber Freunde sind wir auch nicht. Er kennt mich so gut und trotzdem muss ich irgendwie künstlich auf Distanz bleiben.”

“Ich verstehe …”

“Aber jetzt hat er Carlos. Das ist gut.”

“Oh mein Gott, ich habe das Antrags-Video gesehen. Das war sowas von der Hammer!”

“Ja, aber gleichzeitig bin ich auch eifersüchtig. Nein, das trifft es nicht. Ich frage mich, warum er bei mir nicht so war wie er jetzt mit Carlos ist. Genau so hätte ich ihn mir gewünscht … Loyal, romantisch und komplett an Bord mit der Beziehung. Jetzt richtet er sein ganzes Leben nach Carlos aus, aber mich hat er nicht mal gefragt, ob ich damit leben kann, wenn er nach Hamburg zieht. Er hat mich als absolut selbstverständlich hingenommen und das hat mich damals sehr verletzt.”

“Ihr wart nicht füreinander gemacht, Max und du. Deshalb konnte es nicht klappen.”

“Das stimmt. Aber ich hab es immer noch nicht ganz überwunden. Versteh mich nicht falsch, das sagt nichts über Jordan und mich aus. Ich weiß, dass er der Eine für mich ist, auf allen Ebenen. Aber Max …”

“...war deine erste große Liebe.”

“Nein, Jana, das warst du.”

Sie lächelt, aber schüttelt den Kopf:

“Wir haben es versucht, aber wir waren eigentlich immer beste Freunde, die miteinander ins Bett gegangen sind.”

“Hast du jemanden, gerade?”

“Nichts Ernsthaftes. Ich genieße gerade das Single-Leben und meinen Job. Und irgendwann wird dann schon der Richtige vor mir stehen.”

Als ich irgendwann auf die Uhr schaue, ist es drei Uhr nachts. Keiner scheint Lust zu haben, nach Hause zu gehen. Paul teilt meine Decke mit mir und fragt:

“Meinst du, ich soll Elisa einen Antrag machen?”

“Ihr wohnt jetzt seit zwei Jahren zusammen, oder? Willst du, dass es für immer ist?”

“Ich kann mir grad nicht vorstellen, was uns je auseinanderbringen soll.”

“Was hält dich dann ab?”

“Ich find das Ehe-Zeug irgendwie spießig.”

“Naja, es ist, was ihr draus macht. Vielleicht ist es für euch auch nicht das Richtige, so traditionell mit Antrag und so? Vielleicht fragst du sie einfach mal, was sie will? Wie sie sich die Zukunft vorstellt?”

“Und wenn mir ihre Antwort nicht gefällt?”

“Dann ist es besser, es früher zu wissen als später.”

Um halb fünf komme ich ziemlich betrunken und noch etwas high nach Hause. Jordan sitzt auf der Couch im Wohnzimmer und spielt Gitarre.

“Warum bist du nicht im Bett?”, frage ich und setze mich neben ihn.

“Bin vor zwanzig Minuten heimgekommen und hab gesehen, dass das Bett leer ist. Deshalb hab ich noch ein bisschen gespielt.

“Wie war dein Junggesellenabschied?”, frage ich ihn.

“Uh, nicht so spaßig wie deiner, anscheinend. Die Graswolke, die dich umgibt, ist ja krass.”

“Sorry, ist das schlimm für dich? Soll ich duschen und auf der Couch schlafen?”

“Ehrlich gesagt, triggert es mich schon ein bisschen …”

“Ich hüpfe unter die Dusche. Tut mir Leid.”

Als ich geduscht bin, schnuppert er an mir und lotst mich zu sich ins Bett. Er setzt sich hin und zieht mich auf sich.

“Kann ich dich ficken?”, fragt er.

“Immer gern”, grinse ich.

Während er das tut, fragt er:

“Wie war es am Weiher?”

“Total gut. Es waren echt alle da. Die Stimmung war super und Paul überlegt, Elisa einen Antrag zu machen.”

Ich erzähle ihm die Highlights des Abends. Auch, dass Max da war und wir uns gebührend voneinander verabschiedet haben.

“Ich kenn das. Sean und ich hatten auch so einen Abend, als klar war, dass ich Dylan heirate. Das war wichtig.”

“Danke, dass du das verstehst. Mh, kannst du dein Becken kippen? Mh, ja, genau so. Mh. Wie war es bei dir mit der Band?”

“Wir haben so krass genial gejamt. Niemand hatte Lust, aufzuhören. Es klickt einfach bei uns vieren. Die Musik kommt von selbst zu uns. Wir haben sogar einen neuen Song geschrieben, der wäre quasi aufnahmebereit. Brian und Kev haben es noch total drauf. Und Tobey sowieso, das ist ja klar. Warte, kann nicht mehr reden.”

Er packt meine Hüfte und gibt ein schnelleres Tempo vor. Ich lehne mich zurück, er beugt sich über mich, kommt hart.

“Mach weiter, wenn du kannst, ich komm auch gleich.”

Er rollt sich auf den Rücken und zieht mich auf sich.

“Mach, wie es dir am besten gefällt”, stöhnt er.

Das mache ich und komme so laut, dass er mir den Mund zuhält.

Er hält mich fest, als ich von ihm runterrutschen will.

“Bleib.”

Er setzt sich auf und umarmt mich.

“Soll ich dir erzählen, was morgen geplant ist?”

“Klar.”

Während ich auf ihm sitze, erzählt er mir nicht nur den Tagesplan, wir vereinbaren auch, wer die Kids wann sieht und wo wir essen wollen.

“Du bist der einzige Mensch auf der Welt, der draufsteht, Alltagsgespräche zu führen, während du fickst.”

“Ich finde halt, in dir zu sein, sollte der Normalzustand sein und ich sollte es nur dann nicht sein, wenn wichtige Gründe dagegensprechen. Die Einkaufsliste ist kein wichtiger Grund. Also bleibe ich hier.”

“Du bist so verrückt, mein Lieber.”

“Verrückt nach dir”, schnurrt er.

Den Tag vor der Hochzeit verbringen wir getrennt voneinander. Ich gehe mit Noah, Dayu, Klara und ihrem neuen Freund brunchen, danach treffe ich Josh und Kate in München und gehe mit den beiden shoppen. Am Abend esse ich mit meinen Eltern, meinen Großeltern und den Zwillingen und gehe dann früh schlafen. Morgen ist der große Tag!

Jordan

Die Vorbereitungshektik hat sich gelegt und der Freitag gehört ganz meinen Freunden, die extra aus Kalifornien gekommen sind. Gleich morgens hole ich Vince vom Flughafen ab. Er sieht ganz gut aus. Etwas blass, aber er lächelt. Das ist ein gutes Zeichen. Denn Vince ist einer der Menschen, denen man ansieht, wie sie sich fühlen. Er kann das nicht gut verstecken.

Wir setzen uns gleich am Flughafen in ein Café, um uns zu unterhalten. Denn in einer Stunde landet mein Vater mit seiner Freundin und Milo.

“Wie geht’s dir, Vince?”

“Willst du die offizielle Version oder die Ehrliche?"

“So schlecht?”, frage ich und greife über dem Tisch nach seiner Hand.

“Ich kann es nicht anders beschreiben als in Farben. Es ist, als hätte jemand in jedes Gefühl der Welt Grau mit reingemischt. Die ganze Welt ist grau, selbst dann, wenn ich mich über irgendwas freue. Ich sehe mich um und sehe nur Schmerz und Leid und Traurigkeit und ich sehe keinen Sinn. Ich weiß, dass es irgendwann wieder anders wird. Und ich will nicht mehr sterben. Aber wohl und glücklich fühle ich mich eigentlich nie.”

“Aber die Medikamente wirken?”

“Ja. Ich glaube, so einfach ist es aber nicht. Ich werde nächstes Jahr 40 und ich frage mich, was die zweite Hälfte meines Lebens noch bringen soll. Ich hab schon alle ToDos erfüllt. Meinen Seelenverwandten getroffen und wieder verloren, Karriere gemacht, eine Familie gegründet, …ich habe keine Ziele mehr. Und ich hab auch gar keine Lust, nach Zielen zu suchen.”

“Vielleicht ist es dann jetzt Zeit, dein Leben einfach zu genießen? Verpulver doch deine Kohle auf Reisen oder bei fetten Parties. Zeig deinem Sohn, was das Leben zu bieten hat. Dir stehen doch alle Möglichkeiten offen, Vince.”

“Ich weiß. Aber ich hab keinen Antrieb. Ich kann nicht mal vernünftig malen, selbst dafür reicht die Motivation nicht”

“Scheiße, das war sonst immer dein Mittel der Wahl, wenn es dir richtig schlecht ging.”

“Es ist anders, dieses Mal. Ich hab nicht das Gefühl, krank zu sein. Es liegt nicht an mir, nicht an meinem Gehirn …”

“Wie kann ich dir helfen, Vince?”

“Ich weiß es leider nicht …”

Dad und Milo begrüßen uns freudig und Dad stellt mir Kelly vor, die schon einen gehörigen Bauch hat.

“Darf ich?”, frage ich.

Sie nickt und ich lege meine Hand auf ihren Bauch:

“Hallo da drin, kleine Schwester.”

Sie kickt gegen meine Hand. Kelly lacht herzlich. Sie ist mir sofort sympathisch. Ganz anders als Carmen damals.

Ich bringe die drei zu Nikki und Oliver, wo mein Dad gleich mal seine Enkelin in Beschlag nimmt und ihr erzählt, dass sie bald Nichte wird. Vince nehme ich mit nach Seelendorf. Er wird bei Christian in seiner Einliegerwohnung bleiben. Ich stelle die zwei einander vor und mache mich dann auf den Weg zurück zum Flughafen, um dort Sina und Mario einzusammeln.

Christian

Ich konnte mal wieder nicht nein sagen, obwohl ich wirklich keine Lust auf einen Hausgast habe. Die Wohnung ist eng genug. Aber Jordan hat gefragt, ob ein Hochzeitsgast bei mir unterkommen kann und ich habe eben ja gesagt. Am Freitagnachmittag, während ich Bürokram erledige, klingelt es also und Jordan steht vor der Tür, mit meinem Gast.

Jordan ist schon wieder auf dem Sprung, erinnert uns aber, dass wir uns alle um neunzehn Uhr im Paradies zum Abendessen treffen. Dann sind wir allein.

“Ich bin Vince”, lächelt er und gibt mir die Hand.

“Christian”, sage ich und mustere ihn kurz. Er dürfte etwa in meinem Alter sein, ist schlank und komplett in Schwarz gekleidet. Sein Haar ist ebenfalls schwarz, seine Augen leuchten blau-grau und nehmen mich ein paar Sekunden lang gefangen.

“Ich zeige dir, wo du schläfst und wo du auspacken kannst. Brauchst du sonst gerade was?”

“Eine Dusche wäre gut, und ein Nickerchen gegen den Jetlag vielleicht.”

Ich zeige ihm alles und setze mich wieder runter ins Büro. Gedanklich wandere ich aber ständig wieder zu ihm, der in meiner Wohnung auf dem Sofa liegt und schläft. Was er wohl beruflich macht? Er sieht kreativ aus. Vermutlich Musiker, wie Jordan. Vielleicht waren sie Bandkollegen. Oder ist er vielleicht ein Exfreund? Lädt man seinen Exfreund auf die Hochzeit ein? Jordan würde das vermutlich schon machen. Definitiv ist Vince schwul, das erkennt man. Er macht keinen Hehl draus, bewegt sich zum Teil recht feminin und hält lange Blickkontakt. Ich höre Schritte auf der Treppe, Vince steht in meinem Büro.

“Sorry, ich wollte dich nicht stören.”

“Nein, komm rein. Was brauchst du?”

“Darf ich mich einfach am Kühlschrank bedienen? Ich hab im Flugzeug nichts gegessen und glaube, dass ich es nicht bis 19 Uhr aushalte.”

“Na klar, nimmt dir, was du möchtest. Ich komm mit hoch.”

“Arbeite ruhig weiter …”

“Nein, ist gut, das kann ich auch noch später fertig machen.”

Ich mache ihm mein berühmtes Käse-Karotten-Sandwich und er ist begeistert.

“Ich hab gedacht, du setzt mir da eine völlig verfehlte Kombi vor, aber das schmeckt echt fantastisch!”

“Ja, ich lerne langsam, mich allein zu versorgen.”

“Bist du frisch Single?”

“Ja”, nicke ich. “Ich war eigentlich noch nie Single. Ich war jahrelang verheiratet und hatte davor auch immer Freundinnen, die mich versorgt haben. Ich bin leider kein besonders emanzipierter Mann. Wie schaut es bei dir aus?”

“Geschieden, seit Jahren. Und nach der letzten Beziehung, die vor einigen Monaten sehr unschön geendet hat, bin ich Single aus Überzeugung.”

“Verstehe. Geht mir auch so.”

“Jordan holt übrigens gerade meine Ex-Freundin vom Flughafen ab.”

Okay, doch nicht schwul. Da hab ich mich wohl geirrt.

“Oh, scheiße. Dann hast du wohl mäßig Lust auf das Abendessen mit allen, nachher?”

“Stimmt.”

“Ich auch nicht. Mein Ex-Freund wird auch da sein.”

“Ach, du bist schwul?”, fragt er überrascht.

“Es ist kompliziert …”

“Ist es das nicht immer?”

“Ich dachte auch, dass du schwul bist, ehrlich gesagt.”

“Bin ich”, nickt er.

“Achso, ich dachte, weil deine Ex gerade einfliegt …”

“Auch das ist kompliziert. Als wir zusammengekommen sind, hat sie sich als Frau definiert. Inzwischen ist er ein Mann. Ein Cis-Mann, sogar.”

“Moment, das musst du mir jetzt kurz mal erklären.”

“Mario kam als Junge zur Welt, wegen einer Gen-Mutation hat er in der Pubertät aber weibliche Attribute ausgebildet. Er hat ein paar Jahre als Frau gelebt, dann aber gemerkt, dass das einfach nicht passt. Er hat sich dann mit Hilfe von Hormonen und OPs komplett in einen Mann zurückverwandelt, körperlich.”

“Verstehe. Das klingt wirklich kompliziert.”

“Und bei dir?”

Ich seufze:

“Ich bin in diesem Kaff hier groß geworden. Schwul sein war einfach keine Alternative. Deshalb hab ich eine Frau geheiratet. Bis dann Severin kam und mich so dermaßen von den Socken gehauen hat, dass ich mir eingestehen musste, dass ich auf Männer stehe. Also 70:30 würde ich sagen. Wenn ich mich in eine Schublade sortieren müsste, dann wohl in die Bi-Schublade.”

“Verstehe.”

“Willst du was trinken?”, frage ich ihn.

“Gern. Aber bloß nichts Alkoholisches.”

“Nein, ich hab keinen Alkohol daheim. Ich bin Alkoholiker”, sage ich.

Vince grinst:

“Verstehe, deshalb hat Jordan mich hier einquartiert. Ich bin auch Alkoholiker.”

“Wie lange trocken?”

“Ich war Jahre lang trocken, hatte dann aber vor ein paar Monaten einen Rückfall. Jetzt fange ich also wieder von vorne an.”

“Scheiße … Ich war ein knappes Jahr trocken. Nach der Trennung hab ich wieder angefangen … Ich komm quasi frisch aus der Reha …”

“Wie geht’s dir?”

“Körperlich gut, aber psychisch … ziemlich bescheiden.”

Vince nickt verständnisvoll:

“Bei mir das Gleiche. Und dann steht nächstes Jahr auch noch ein runder Geburtstag an, der mich irgendwie mehr trifft als ich gedacht habe…”

“Ah, da hab ich noch ein paar Jahre länger als du. Aber ja, die Halbzeitbilanz ist bei mir auch irgendwie schwierig.”

“Weil du das Gefühl hast, noch nicht genug erreicht zu haben?”, fragt er.

“Im Gegenteil. Ich hab schon alles erreicht und weiß nicht so recht, was als nächstes kommen soll.”

“Geht mir haargenau so”, sagt Vince und schüttelt erstaunt den Kopf. “Ich hab meine Karriere, hab ein Kind, hab viel erlebt … und hab keine Ahnung, womit ich die zweite Hälfte meines Lebens jetzt füllen soll.”

“Genau! Ich bin selbstständig, der Betrieb läuft besser als mir lieb ist, ich kann mich vor Aufträgen kaum retten. Ich hab zwei Kinder, die ich viel zu selten sehe. Mit dem Paradies hab ich ein Werk vollbracht, das mich überdauert. Weißt du, was ich meine?”, frage ich.

“Ja total!”, lächelt er. “Moment, du hast das Paradies gebaut?”

“Ich bin der Bauingenieur, Severin der Visionär.”

“Wow! Ich hab so viel gehört davon. Gibst du mir nachher eine Tour? Und überhaupt, warum lebst du nicht dort?”

“Ich bin damals mit Severin eingezogen, aber nach der Trennung … hab ich Abstand gebraucht.”

“Verstehe.”

“Was machst du beruflich?”

“Ich bin Maler.”

“Und kannst davon leben?”

“Ja, sehr gut sogar. Auch ich hab mehr Aufträge als mir lieb ist …”

“Kannst du was für mich zeichnen?”

“Natürlich.”

Ich gebe ihm mein Skizzenheft und verschiedene Bleistifte. Er blättert durch.

“Das ist richtig gut! Dieses Gebäude, diese Linienführung …”

“Das Meiste davon könnte so nicht gebaut werden oder wäre zumindest nicht bezahlbar.”

“Trotzdem, wunderschön. An dir ist ein Architekt verloren gegangen.”

“Wenn ich die Augen schließe, sehe ich Häuser, ganz außergewöhnliche Häuser. Die sich in die Landschaft einfügen oder die hoch auf einem Berg thronen. Aber eigentlich wolltest du ja was zeichnen. Was siehst du, wenn du die Augen schließt?”, frage ich ihn.

Vince schließt seine Augen für eine Weile, lächelt dabei und zeichnet dann in langen, klaren, absolut sicheren Linien das, was er auf’s Papier bringen will. Nach ein paar Minuten zeigt er mir sein Bild.

“Das bin ich als Meermann. Wow, ich wünschte, mein Oberkörper würde wirklich so aussehen. … Warum sehe ich so traurig aus?”

“Ich weiß nicht, sag du es mir.”

“Ich weiß nicht, wie es weitergehen soll. Ich weiß nur, dass es nicht so bleiben kann, wie es ist. Sonst bin ich in 15 Jahren vermutlich tot, wie mein Vater. Ich möchte meine Kinder wirklich gern beim Aufwachsen begleiten. Und ich will die Firma so lange wie möglich nicht zu ihrem Problem machen.”

“Du hast eine eigene Baufirma, richtig?”

“Ja”, nicke ich. “Die habe ich Anfang zwanzig von meinem Vater geerbt.”

“Wenn sie für dich nur noch ein Problem ist, warum gibst du sie dann nicht auf?”

“Weil … weil sie meine Familie und mich versorgt. Und weil sie … seit vier Generationen existiert und ich nicht der sein will, der das Erbe seiner Nachkommen durchbringt. Und weil ich nicht weiß, wer ich bin, wenn ich nicht der Chef von Bergner Bau bin.”

“Und wenn du versuchst, etwas zu bauen, das dich begeistert?”

“Das Paradies war so ein Projekt. Und Davids Gaststätte auch. Ich baue gern Dinge, von denen die Menschen in meiner Heimat profitieren. Aber ich bin drauf angewiesen, dass jemand mir sagt, was ich bauen soll.”

“Bist du nicht. Deine Entwürfe …”

“Sind nur Hirngespinste. Das ist nicht realistisch.”

“Dann ändere es, damit es realistisch wird. Hier, das zum Beispiel: Was ist daran nicht realistisch?”

Ich erkläre ihm, was Sichtbeton kann und was nicht und wie man ein optisch freischwebendes Stockwerk planen kann, welche Werkstoffe man verwenden kann, wenn man Leichtigkeit vermitteln möchte und was die Vor- und Nachteile einer Holzständer-Bauweise sind. Er hört mir gebannt zu, zeichnet selbst Entwürfe mit den fantastischsten Linien und Fensterformen. Wir sind total versunken, bis mein Handy-Wecker anspringt.

“Es ist Viertel vor sieben. Wir müssen ins Paradies.”

“Ich bin schon sehr gespannt drauf.”

Vince steht im Garten des Paradies’, genau an der Stelle, auf die alle Sichtlinien zulaufen. Er schließt die Augen:

“Ja, das fühlt sich gut an. Das ist perfekt in Harmonie. Die Materialien, der Luftstrom, die Farben, einfach alles. Das ist ein wunderbarer Platz. Hier möchte ich morgen früh stehen und dein Gebäude zeichnen. Und am liebsten dich dazu, dort vorne im Gras, wie du das sitzt und dir dein Paradies anschaust.”

“Solange ich dabei angezogen bleiben darf, sitze ich dir gern Modell.”

Er strahlt:

“Ja? Dann haben wir morgen Früh vor der Zeremonie ein Date hier.”

“Ich würde dich gern noch rumführen, aber dann kommen wir zu spät zum Essen.”

“Ich habe ohnehin noch keinen Hunger”, lächelt er, also zeige ich ihm den Garten, die Fahrräder, die Hühner, das Büro, den Mehrzweckraum, den Meditationsraum, den Wellnessraum.

“Ihr habt einen Whirlpool?”

“Ja, das haben wir einstimmig beschlossen, dass wir den brauchen.”

“Oh mein Gott, ich will da rein.”

Ich checke die App:

“Er ist die nächsten zwei Stunden frei. Ich buch ihn dir und lasse ihn dir ein.”

“Ich schreibe Jordan, dass es später wird.”

“Welchen Badezusatz willst du?”, frage ich und zeige ihm die Auswahl.

“Oh, Aloe Vera hört sich gut an.”

“Okay, das Wasser geht von selbst aus, wenn er voll ist. Anschalten kannst du ihn hier. Handtücher findest du dort drüben. Ich wünsch dir viel Vergnügen.”

Ich wende mich zum Gehen, er hält mich am Arm zurück:

“Bleib, Christian.”

Das Angebot erschreckt mich im ersten Moment.

“Du meinst …”

Er öffnet meine oberen Hemdsknöpfe.

“Ich meine: Bleib …”

Kann ich das machen? Ich kann. Und ich will. Ich küsse ihn, seine Hände öffnen mein Hemd komplett, fahren über meine Brust nach hinten. Er zieht mich an sich. Ich hebe ihn hoch, er schlingt seine Beine um mich. Ich presse ihn gegen die Tür, sperre ab, ziehe ihm sein schwarzes Shirt aus, küsse seinen Hals, seine Schultern, sein Gesicht. Ich lasse ihn runter, damit wir uns komplett ausziehen können. Er steht nackt vor mir und mustert mich unverhohlen.

“Ich steh auf die Haare auf deiner Brust”, sagt er und küsst mich wieder.

“Ich stehe auf die feine Linie hier”, sage ich und gehe in die Knie, um die Haare auf seinem Bauch zu küssen.

“Ich bin nicht auf der Suche nach einer Beziehung”, sagt er.

Ich stehe auf, küsse seinen Hals:

“Ich auch nicht. Aber ich kann ein paar unbeschwerte Tage gebrauchen, bis du wieder zurückfliegst.”

“Ich auch.”

Ich hole Kondome aus einem dezenten Körbchen hoch oben auf einem Regal. Die haben Severin und ich hier mal deponiert. Dann steige ich zu Vince in den Whirlpool und stelle die Blubbern an.

“Mmmmmah, das ist gut”, macht er.

“Darf ich?”, frage ich und zeige auf das Kondom.

“Ja”, lächelt er.

Eine halbe Stunde später kommen wir in den Essensraum, wo schon alle dabei sind, massenhaft veganes Fingerfood in sich reinzuschaufeln. Wir suchen uns freie Plätze, getrennt voneinander. Vince landet neben Eugen. Ausgerechnet! Ich setze mich neben einen blonden Mann, der mich freundlich begrüßt:

“Hey, ich bin Sean.”

“Christian.”

“Freut mich.”

Es stellt sich raus, dass der Kerl Arzt ist. Ich erzähle ihm von meinem Bandscheibenvorfall und er gibt mir ein paar gute Tipps. Dann fragt er, woher ich David und Jordan kenne. Ich erzähle ihm, dass ich das Paradies gebaut habe und er will dazu sofort ganz viel wissen. Vince schaut ab und an rüber, vertieft sich dann aber wieder in ein Gespräch mit Eugen. Severin sitzt ihnen gegenüber und turtelt mit Milla rum. Cassandra sitzt neben Eugen. Sie sucht meinen Blick und gibt mir zu verstehen, dass das Geturtel ihrer Eltern sie auch nervt. Dann bedeutet sie mir, ob ich raus gehen will. Ich entschuldige mich bei Sean und folge ihr nach draußen.

“Hey Christian. Lange nicht gesehen”, sagt sie und umarmt mich. “Wie geht es deinem Rücken?”

“Wird schon wieder.”

“Und wie geht es dir mit meinem Vater?”

“Ich versuche, ihn nicht zu oft zu sehen. Nur geschäftlich … aber er hat mir sehr geholfen, als ich im Krankenhaus war.”

“Und der Entzug?”

“Ist ziemlich stressig.”

“Depressionen?”

“Unter anderem, ja …”

“Du weißt, das kommt ganz oft vor beim Alkoholentzug, aber das wird vorbeigehen,”

“Hoffentlich schnell”, schnaufe ich. “Und bei dir? Hat das Semester nicht schon angefangen?”

“Ich schreibe gerade an meiner Bachelor-Arbeit, das geht auch von hier aus.”

“Wow, du warst jetzt schnell durch. Respekt.”

“Danach möchte ich gern einen Master dranhängen, vermutlich in München.”

“Hey, dann sehen wir dich ja öfter hier.”

“Ja, kann sein”, grinst sie.

Neben Sean sitzt inzwischen jemand, deshalb suche ich mir einen anderen freien Platz und lande neben einer dunkelhaarigen Frau.

“Ist hier frei?”, frage ich.

“Klar, setz dich”, haucht sie. “Ich bin Sina.”

“Christian.”

“Hallo Christian, schön dich kennenzulernen. Wohnst du hier im Paradies?”

“Nein, nicht mehr. Ich hab mitgeholfen, es entstehen zu lassen. Ich war der Bauingenieur beim Projekt.”

Auch sie ist total interessiert und stellt ganz viele Fragen zum Gebäude und zum Projekt.

“Ich würde hier echt gern leben, man fühlt sich sofort wohl.”

“Und du, woher kennst du David und Jordan?”

“Jordan und ich waren zusammen, vor langer Zeit.”

“Wirklich? So lange kann es doch nicht her sein. Du bist doch kaum Mitte zwanzig, oder?”

“Oh danke, du bist süß. Ich werde nächstes Jahr 30. Aber ja, ich war ziemlich jung, als wir uns kennengelernt haben.”

“Dann kennst du hier vermutlich die meisten, oder? Kannst du mir eine kleine Einführung geben, wer wer ist?”

“Geh einfach davon aus, dass dein Gegenüber ein Exfreund von Jordan ist. Damit liegst du meistens richtig”, grinst sie.

Severin kommt rüber. Er legt mir die Hand auf die Schulter:

“Christian?”

“Ja?”

“Die Leute wünschen sich eine Tour durch das Gebäude. Wollen wir?”

“Sicher, klar. Sina, du kommst doch mit, oder?”

“Auf jeden Fall.”

Auf dem Flur kommt uns Franzi mit den Kindern entgegen.

“Hey, sorry, die Kids sind noch fit, da hab ich sie mitgebracht.”

Ich freue mich, dass ich so unverhofft doch noch Zeit mit ihnen habe. Xaver läuft sofort zu Severin und wird von ihm Huckepack genommen. Ich nehme die Kleine aus dem Kinderwagen und stelle sie Sina vor.

“Das ist meine Tochter Carolina.”

“Oh, wie süß. Mein Sohn ist im gleichen Alter. Sein großer Bruder ist zwei.”

“Wow, sportlicher Abstand. Schlafen die zwei schon?”

“Nein, die sind in Kalifornien. Ich wollte sie nicht über den Ozean zerren.”

“Verstehe.”

Jordan legt Sina den Arm um die Schultern und tuschelt ihr was ins Ohr. Ich glaube, er sagt ihr, wie geil er ihren Hintern in der Hose findet. Sie kichert:

“Ach, hör auf.”

Er grinst:

“Doch, echt.”

Dann verschwindet er wieder unter den anderen Leuten. Sina bemerkt meinen leicht irritierten Blick.

“Du hast das gehört, oder?”, lächelt sie leicht peinlich berührt.

Ich nicke und sage aber gleich:

“Geht mich absolut nichts an.”

“Versteh es nicht falsch. Ich bin wegen einer Essstörung in Behandlung und hab in den letzten Monaten zugenommen. Jordan hat das gesagt, weil er weiß, dass es für mich schwierig ist, mich wohlzufühlen mit Normalgewicht. Er wollte mir nur einen kleinen Ego-Boost geben.”

“Das ist tatsächlich irgendwie nett von ihm. Und er hat im Übrigen Recht.”

“Danke”, lacht sie.

Wir beenden die Standart-Tour, die wir gemeinsam schon hundert Mal gegeben haben, nach zwanzig Minuten und Severin und Renate servieren Obstsalat und Schokotörtchen. Ich setze mich mit Carolina auf dem Arm neben einen gutaussehenden Mann, der sofort anfängt, mit Carolina zu spielen.

“Man vergisst, wie klein sie am Anfang sind”, lächelt er. “Wie alt ist sie?”

“Sieben Monate. Die Zeit verfliegt.”

“Wir hoffen, zu Weihnachten unser kleines Mädchen auch in den Armen halten zu können.”

Er zeigt auf den Bauch der Frau neben ihm.

“Oh, herzlichen Glückwunsch! Und woher kennt ihr Jordan? War einer von euch mit ihm zusammen? Ich hab gehört, das gilt für die Hälfte der Menschen hier”, grinse ich.

“Na, die Hälfte vielleicht nicht, aber es stimmt schon. Mein Sohn ist nicht gerade ein Kind von Traurigkeit.”

“Sohn, du meinst …?”

“Ich bin Jordans Vater. Antony Bonanno.”

“Oh, ups. Tut mir leid. Da wäre ich jetzt nicht draufgekommen, auch wenn ich die Ähnlichkeit sehe. Aber vom Alter her klappt das doch nicht, oder?”

Er rechnet es mir vor und wir unterhalten uns danach erstaunlich gut darüber, wie es ist, selbstständig zu sein und sein Unternehmen durch die Aufs und Abs der Wirtschaft zu führen.

Gegen halb zehn fragt mich Vince nach dem Wohnungsschlüssel, weil er sich gern hinlegen würde.

“Ich komme mit, ich will auch ins Bett”, grinse ich.

Max

Carlos ist so niedlich nervös am Morgen der Hochzeit. Er geht durch meinen Kleiderschrank auf der Suche nach einem Anzug. Und er findet einen, der ihm sehr viel besser steht als mir.

“Wow”, mache ich. “Ich werde den ganzen Tag damit beschäftigt sein, dran zu denken, wie ich dir den heute Nacht ausziehe.”

“Also meinst du, ich kann so gehen?”

“Natürlich! Du siehst super-heiß aus!”

“Sitzt der nicht etwas eng?”

“Der sitzt perfekt, Carlos.”

“Und wir können dort wirklich einfach so … offen zusammen sein?”

“Natürlich. Vermutlich sind auf der Hochzeit mehr Schwule als Heteros.”

“Sorry, das ist für mich total der Kulturschock. Ich hab die letzten zehn Jahre alles getan, um zu verheimlichen, dass ich schwul bin. Und plötzlich darf ich in einem Raum voller Menschen ganz ich selbst sein. Ich komm da drauf noch nicht ganz klar …”

Ich umarme ihn:

“Ich verstehe. Aber du wirst sehen, die allermeisten Menschen sind total aufgeschlossen. Du wirst nur sehr wenigen Idioten begegnen, die sich drüber aufregen, wenn wir öffentlich zusammen sind. Und auf der Hochzeit heute ist sicher keiner davon.”

“Dafür haben die sich im Zirkus und in meiner Familie geballt.”

“Ja, du hattest echt sehr schlechte Bedingungen als Jugendlicher. Aber jetzt bist du out. Du hast das Schlimmste schon überstanden. … Auch wenn es halt echt dauerhaft ein bisschen Überwindung kosten wird, neuen Leuten zu sagen, dass du schwul bist.”

“Zumindest weiß es meine ganze Verwandtschaft Dank des Medienrummels auf einen Schlag. Ich will gar nicht wissen, was meine Großeltern in Italien über mich denken …”

Ich nehme ihn in den Arm. Mehr kann ich nicht tun.

Es ist ein richtig goldener Spätsommertag mit milden Temperaturen. Wir parken beim Paradies und gehen zu Fuß zum Rathaus. Es stehen schon ein paar Menschentrauben auf dem Platz vor Rathaus und Kirche. Davids Schwester Klara winkt uns zu sich. Sie trägt ein kurzes, dunkelblaues Kleid, hat die Haare hochgesteckt und wirkt total erwachsen. Für mich wird sie immer die Kleine zwei Klassen unter mir bleiben. Sie umarmt mich, stellt uns ihren Freund Ben vor.

“Das ist Carlos.”

“Oh mein Gott, das Antrags-Video war so schön!”, sagt Klara. “Ich hätte echt fast geheult. Mama, Papa? Max ist da!

Die zwei haben die Zwillinge auf dem Arm und strahlen:

“Max, ist das schön, dass wir uns mal wieder sehen!”

Mona umarmt mich, Gert gibt mir herzlich die Hand. Genauso herzlich begrüßen sie Carlos, der inzwischen merklich entspannter ist. Jemand tippt mich an. Da steht ein junger Mann mit brauner Haut und schwarzen Haaren, in einem edlen, gutsitzenden Anzug.

“Hey Max.”

“Mario?!”, frage ich, weil ich seine Transition bisher nur auf Fotos auf seinem Facebook-Profil gesehen habe und nicht fassen kann, wie männlich er aussieht und klingt.

“Wooow”, mache ich. “Du siehst ja richtig richtig gut aus.”

“Danke”, grinst er. “Du kennst mich ja, ich mach keine halben Sachen, wenn es um mein Äußeres geht.”

Ich mustere ihn noch mal fasziniert.

“Ich bin echt begeistert. Oh, achso, das ist Carlos, mein Verlobter.”

Ich merke, dass Carlos ihn etwas verhalten begrüßt. Er hat erwähnt, dass er der eifersüchtige Typ ist. Tja, da muss er durch. Sina begrüßt uns ebenfalls freudig. Auch von ihrer Verwandlung bin ich total begeistert.

Und dann kommt eine Kutsche angefahren, mit zwei weißen Pferden. Und in der Kutsche sitzen sie, David und Jordan, strahlend und winkend und sich küssend. Und sie sehen beide einfach fantastisch aus. Jordan in einer hellbraunen Vintage-Weste mit weißem Hemd und nachtblauer Krawatte. Die Ärmel hat er lässig hochgekrempelt und er trägt eine etwas tiefsitzende dunkle Jeans dazu. Man sieht, dass er sich total wohl in diesem Outfit fühlt. David hat einen Dreiteiler gewählt, klassisch-elegant, im gleichen Farbton wie Jordans Weste und durch die nachtblaue Fliege unverkennbar aufeinander abgestimmt. Seine Locken hat er halbwegs gebändigt, aber auch er wirkt entspannt und locker. Sie begrüßen kurz ein paar Leute, dann bittet uns der Standesbeamte auch schon ins Trauzimmer im ersten Stock des Rathauses.

Der Beamte begrüßt uns alle, vor allem das Brautpaar und deren Kinder und Eltern. Die Zwillinge laufen zwischen David und seinen Eltern hin und her. Trauzeugen sind Noah und Tobey, der Keyboarder von Summerskin. Der Raum ist gesteckt voll. Die meisten Menschen kenne ich nicht, außer Davids Verwandtschaft. Seine Großeltern väterlicherseits, seine Großmutter, seine Tanten und Onkeln und Cousins und Cousinen.

Erst sagt der Standesbeamte ein paar schöne Worte darüber, was es bedeutet, Verantwortung für einen anderen Menschen zu übernehmen und sich zu entscheiden, das Leben zu teilen, dann wird er etwas technisch und klärt die zwei über ihre Rechte und Pflichten laut Lebenspartnerschaftsgesetzt auf. Das hört sich alles komplett nach Ehe an. So ganz kann ich nicht nachvollziehen, warum man es dann anders nennen muss, nur um gleichgeschlechtliche Paare ein Quäntchen schlechter zu stellen. Dann kommen die Gelübde:

“Jordan, du bist mein bester Freund, seit vielen Jahren. Unsere Wege haben sich zufällig gekreuzt, aber es war sofort klar, dass wir uns verstehen. Wir haben mehr schwere Zeiten zusammen als Freunde überstanden, als andere in ihrer Ehe. Heute ist kein Beginn, sondern ein Neubeginn. Wir haben schon so viel Vergangenheit, sind schon so lange gemeinsam unterwegs, in reißenden Gewässern. Ab jetzt wird der Seegang ruhiger. Jetzt haben wir den schwierigen Teil geschafft und können unseren Alltag mit unseren Kindern genießen. Bald steht auch unser Haus und unsere Gaststätte. Ich freu mich drauf, auf ganz normale, langweilige Alltagsliebe ohne Dramen. Mit niemandem würde ich das lieber teilen, als mit dir. Ich verspreche, dass ich dich jeden Tag lieben werde, für immer.”

Jordan küsst ihn kurz und lacht:

“Jetzt muss ich improvisieren, mein Gelübde war fast wortgleich mit deinem.”

Die Leute lachen, Jordan atmet tief durch. Man merkt, dass er nervös ist.

“David, du bist mein bester Freund und mein Mittelpunkt. Als ich am absoluten Tiefpunkt war, warst du für mich da. Jeden Tag. Und du warst für die Kinder da. Du bist ihr Papa. Und ich liebe es, dass ich dieses ganze Elternzeug nicht alleine machen muss. Dass ich dich an meiner Seite habe. Du kennst mich in- und auswendig und liebst mich aus mir unerfindlichen Gründen trotzdem. Ich verspreche dir, dich für immer zu lieben. Was total leicht ist, weil du der liebenswerteste Mensch bist, den ich kenne. Ich bin dankbar, dass ich Teil deines Lebens sein darf.”

Die beiden küssen sich und diverse Leute im Publikum wischen verstohlen über ihr Gesicht. Carlos drückt meine Hand. Ich flüstere ihm zu:

“Ich bin so froh, dass ich dich gefunden habe.”

“Eigentlich hab ich dich gefunden”, grinst er und küsst meine Wange.

Der Standesbeamte bittet die zwei und die Zeugen, ein Dokument zu unterschreiben und die Ringe auszutauschen. Er erklärt ihre Lebenspartnerschaft als gültig. Applaus bricht los.

Ein Teeny-Mädchen mit grünem Iro steht auf und beginnt zu singen:

“Goin' to the chapel and we're gonna get married

Goin' to the chapel and we're gonna get married”

Brian und Tobey zaubern Percussion hervor und begleiten sie.

“Gee, I really love you

And we're gonna get married”

Davids Mutter steht auf und stimmt plötzlich mit einer zweiten Stimme mit ein.

“Goin' to the chapel of love

Spring is here, the sky is blue, whoa-oh-oh”

Sina und Kevin haben plötzlich Gitarren in der Hand und spielen mit.

“Birds all sing as if they knew

Today's the day we'll say "I do"

And we'll never be lonely anymore.”

Gert und Jordans Vater stehen auf und singen mit. Ihre Söhne lachen los.

“Because we're goin' to the chapel and we're gonna get married

Goin' to the chapel and we're gonna get married

Gee, I really love you

And we're gonna get married

Goin' to the chapel of love

Bells will ring, the sun will shine, whoa-oh-oh

I'll be his and he'll be mine

We'll love until the end of time

And we'll never be lonely anymore because”

Gwen steht auf und singt ganz allein, alle anderen sind plötzlich still:

“Because we're goin' to the chapel and we're gonna get married

Goin' to the chapel and we're gonna get married

Gee, I really love you”

Jordan laufen Tränen über die Backen.

Alle gemeinsam singen noch mal:

“And we're gonna get married

Goin' to the chapel of love yeah, yeah, yeah, yeah

Goin' to the chapel of love yeah, yeah, yeah, yeah”

Der Applaus ist groß und Jordan umarmt seine Tochter und seinen Vater. Ich vermisse meine Eltern. Ich wünschte, sie könnten auf meiner Hochzeit dabei sein. Carlos legt seinen Arm um mich, mehr kann er nicht tun …

Christian

Ich muss neidlos anerkennen, dass die standesamtliche Zeremonie wirklich wunderschön war. Wir gehen nach draußen, wo Pfarrer Fuchseder schon auf dem Kirchenvorplatz wartet. Franzi und die Kinder sind auch dort, ich stelle mich zu ihnen, auch wenn ich immer ein Auge auf Vince habe, der neben dem neuen Freund seines zuhause gebliebenen Exmannes steht. Wir bilden einen Halbkreis um das Brautpaar und ihre Zwillinge. Der Pfarrer spricht ein Gebet und dann segnet er die Kinder, die Eheringe und wünscht auch dem Paar Gottes Segen. Ein paar schaulustige Seelendorfer stehen am Rand des Platzes und beäugen das Ganze. Dann wird das Paar und alle fünf Kinder von der Kutsche zum Paradies gefahren, um dort im Garten ein Fotoshooting zu machen. Für uns andere gibt es einen kleinen Sektempfang, bevor wir uns zu Fuß auf den Weg machen. Ich hole mir einen Orangensaft und nehme gleich ein Glas für Vince mit, was mit Carolina auf dem Arm gar nicht so leicht ist, aber ich bekommen es hin.

“Hey, möchtest du?”

“Sehr gerne, danke. Das ist übrigens Scott, Jordans Manager.”

“Hey”

“Hallo. Ich hol mir mal was zu trinken”, erklärt er und lässt uns alleine.

“Und das muss Carolina sein.”

“Genau.”

“Bist du aber hübsch. Wo ist dein Großer?”

Ich schaue mich um.

“Da, bei Severin. Die zwei sind unzertrennlich, wenn sie sich sehen.”

“Sag mal, kann es sein, dass ich deinen Ex heute mit verschiedenen Leuten turteln hab sehen?”

Ich rolle die Augen:

“Ja. Das dort ist seine Frau Milla. Sie führen eine Dreierbeziehung mit Eugen. Der steht da drüben neben Kassandra, der Tochter von Severin und Milla.”

“Verstehe. Und dein Platz in der Beziehung …”

“War dann als Nummer vier. Aber das wollte ich nicht. Ich wollte nur Severin.”

“Verstehe.”

“Bist du jetzt sehr geschockt?”

“Ach Süßer, ich hab in den letzten 20 Jahren Dinge gesehen, mich schockt nichts mehr”, grinst er.

“Tja, mich Landei hat das tatsächlich schon ein wenig geschockt.”

Er tätschelt meine Schulter und mich überrascht es, wie wohl ich mich mit dieser öffentlichen Berührung fühle. Carolina lacht ihn an.

“Magst du zu mir, Baby?”, fragt er.

Ich gebe ihm Carolina. Er geht total natürlich mit ihr um, so als hätte er viel Erfahrung mit Kindern.

“Du hast einen Sohn, richtig?”

“Ja, er ist acht. Und ich habe zehn Neffen und Nichten und mein ältester Neffe ist letztes Jahr Vater geworden.”

“Wow. Dann bist du echt sehr erfahren. Meine Ex-Frau und ich sind beide Einzelkinder. Xaver war also das erste Kind, mit dem wir näher zu tun hatten. Da war er ein ganz schönes Versuchskaninchen.”

“Er wirkt wie ein glücklicher kleiner Kerl. Ich finde es schön, dass er so ein gutes Verhältnis zu deinem Ex hat und dass du das zulässt.”

“Severin ist toll mit Kindern und toll mit Menschen im Allgemeinen. Ich freue mich, dass Xaver ihn hat.”

Vince lächelt mich an und ich spüre kurz Schmetterlinge im Bauch, die ich ganz schnell wieder vertreibe.

“Sollen wir mal Richtung Paradies losmarschieren?”

“Gerne.”

Ich werfe einen kurzen Blick zu Franzi. Sie unterhält sich mit ein paar Leuten aus dem Paradies und bedeutet mir, dass ich ruhig schon mal mit Carolina vorgehen soll.

Vince geht neben mir her und macht Quatsch mit Carolina. Er seufzt:

“Was würde ich dafür geben, noch mal Kind zu sein. Diese Unbeschwertheit …”

“Ja, ich weiß was du meinst. Keine Verantwortung, keine großen Sorgen … Das Bild, das du heute Morgen von mir gemalt hast, werde ich mir übrigens ins Büro hängen. Du hast da wirklich … die Essenz eingefangen, anders kann ich es nicht ausdrücken.”

“Das Paradies ist wirklich ein fantastischer Ort. Und du bist ein fantastischer Mann.”

Ich drehe mich kurz um, um zu sehen, ob wir außer Sichtweite sind. Dann gebe ich ihm einen Kuss.

“Du auch, Vince.”

Carolina kichert. Wir kichern mit, weil sie sich so niedlich anhört.

“Du musst dich nicht umsehen, ob uns jemand sieht. Mir ist egal, wenn jemand mitbekommt, dass wir was miteinander haben.”

“Okay, mir eigentlich auch. Das ist eher alte Gewohnheit. Dieses ‘Was sagen die Leute’ bekomme ich nicht so schnell aus dem Kopf. Aber ich arbeite dran.”

“Ich erwarte, dass du nachher mit mir tanzt, nur damit das klar ist”, grinst er.

“Oh Gott, jetzt bin ich froh, dass meine Frau mich damals zum Tanzkurs genötigt hat.”

“Ich hab sogar Jordan damals dazu gebracht, mit mir zu tanzen. Ich schaffe das also bei jedem.”

“Sag mal, Vince … warst du eigentlich mit Jordan zusammen oder woher kennt ihr euch?”

“Ja, wir waren zusammen. Aber das ist lang her, Ende der 90er. Seitdem sind wir Freunde.”

“Woran ist es zwischen euch gescheitert?”

“Ich bin der Karriere wegen nach New York gezogen, er ist wegen der Band in L.A. geblieben. Aber auch wenn das nicht passiert wäre, wäre die Beziehung gescheitert. Ich war schon im Familien-Gründungs-Modus und er war Student. Das Timing hat nicht gepasst.”

“Verstehe.”

“Und ich war nicht all-in. Ich bin mit ihm zusammengekommen, kurz nachdem mein Verlobter gestorben ist.”

“Oh fuck, wirklich? Das tut mir leid. Woran ist er gestorben?”

“AIDS.”

Ich bekomme sofort Angst, irrationale Angst. Das sieht er mir an.

“Ich bin negativ. Ich hab mich damals nicht angesteckt.”

“Es tut mir so leid, Vince. Ich kann mir nicht vorstellen, wie das gewesen sein muss …”

“Es war genauso schrecklich, wie es sich anhört. Und auch wenn ich danach geheiratet habe, ich war nie wieder wirklich glücklich. Mit David hätte ich mein Leben verbringen sollen. Ohne ihn wird es nie wirklich ein erfülltes Leben sein.”

Ich umarme Vince. Carolina findet das wieder zum Kichern. Dieses Mal kichern wir nicht mit. Vince klammert sich an mich und weint. Ich bin ein bisschen überfordert mit der Situation, aber ich weiß, dass es gut ist zu weinen. Deshalb warte ich geduldig, bis er fertig ist.

“Tut mir leid.”

“Alles gut, Vince”, flüstere ich und küsse ihn.

Im Paradiesgarten schießt Jordans Sohn gerade Bilder von der restlichen Familie. Als er Vince kommen sieht, winkt er ihn gleich herbei. Vince übernimmt die Kamera, so können alle fünf Kinder mit auf die Fotos. Ich wünschte, ich hätte dieses Bild gesehen, als ich Anfang zwanzig war. Zwei Männer, die zusammen eine glückliche Familie haben. Das hätte absolut mein Weltbild gesprengt und mir vielleicht genügend Mut gegeben, um früher dazu zu stehen, dass ich schwul bin. Aber es ist wie es ist und ich mache das Beste draus …

Severin und sein Küchenteam stellen überall Bistrotische auf und breiten Picknickdecken aus. Außerdem sind zwei lange Festtafeln aufgebaut. Langsam kommen auch die anderen Gäste herbei geschlendert und verteilen sich im Paradiesgarten. Eine kleine Bühne ist aufgebaut und davor ist im Rasen Platz zum Tanzen.

Als alle Leute da sind und sich verteilt haben, nimmt David das Mikro.

“Liebe Familie, liebe Freunde, bevor wir gleich zusammen anstoßen und feiern, möchte ich noch kurz innehalten. Ich möchte euch alle, die ihn kannten, einladen, an Dylan zu denken. Er fehlt heute. Er fehlt im Leben seiner Kinder, er fehlt im Leben seiner Freunde und er fehlt in Jordans Leben. Er war auch mein Freund und wir vermissen ihn.”

Alle Anwesenden sind still. Nach einiger Zeit bedankt sich David und eröffnet das Buffet.

Max

Carlos und ich sitzen bei meiner Arbeitskollegin Sandra und ihrer Familie und unterhalten uns vor allem über die Arbeit, aber auch über das Verlobungsvideo, das scheinbar meine komplette Firma gesehen hat. Ich war DAS Gesprächsthema, in meiner Abwesenheit. In diesem Moment bekomme ich eine Textnachricht von den Mietern meines Elternhauses.

“Lieber Herr Weller, wir möchten Sie schon mal vorwarnen. Aufgrund von unvorhergesehenen beruflichen Veränderungen ziehen wir zum Jahresende nach Hamburg. Die fristgerechte Kündigung ist in der Post. Wir haben uns in Ihrem Haus sehr wohl gefühlt und danken Ihnen für das gute, wenn auch kurze Mietverhältnis. Ihre Familie Saarmüller”

Eigentlich will ich die Nachricht sofort Carlos vorlesen, aber dann wird mir klar, was für eine Gelegenheit sich da bietet. Wir könnten zusammenziehen. Schon in drei Monaten. Ich muss erst darüber nachdenken, ob ich das schon will, bevor ich ihm davon erzähle.

Nach dem Essen werden die meisten Kids unruhig. Die Erwachsenen sitzen rum und ratschen. Den Kindern ist langweilig. Paul packt Jonglierbälle aus. Ich sehe sofort Carlos’ Blick.

“Geh schon”, grinse ich.

Er und Paul besprechen sich kurz. Dann werfen sie sich gegenseitig die Bälle zu und haben schnell ein Publikum aus Groß und Klein. Die Kids wollen das auch lernen. Ich sitze inzwischen bei Severin und seinen Freunden aus München, Sebastian und Leon.

“Holla!”, sagt Leon plötzlich.

Carlos hat Sakko und Hemd abgelegt und läuft im Unterhemd auf den Händen über den Rasen.

“Ihr seid exklusiv oder?”, fragt mich Leon.

“Ähm …”

“Mein Freund fragt, ob er was mit deinem Freund anfangen kann”, erklärt Sebastian.

“Wir sind exklusiv.”

“Schade. Dir ist klar, dass er ein Vermögen verdienen könnte, wenn er das nackt macht, oder?”

“Ich glaub nicht, dass das sein Ding ist. Aber er hat ein Jobangebot im Varientétheater.”

“In München?”

“Ja.”

“Da sind wir Stammgäste.”

“Ist das … also ich meine, geht es dort wirklich um Akrobatik oder wird eigentlich was anderes verkauft?”, frage ich.

“Du meinst, ob es eine Art Puff ist? Nein. Aber man findet eigentlich immer jemanden zum mit nach Hause nehmen. Nicht unbedingt aus dem Ensemble. Aber auch.”

“Wir wollen uns das Ganze nächste Woche mal anschauen. Carlos’ Familie ist mit der Familie der Chefin befreundet.”

“Anita?”

“Genau.”

“Lasst uns doch zusammen hingehen.”

“Leon, er hat gesagt, sie sind exklusiv”, sagt Severin genervt.

“Na und? Ich hab nicht bei allem was ich tue Hintergedanken. Außerdem gab es eine Zeit, da war es dir ganz Recht, dass ich immer für einen Fick zu haben war.”

Er steht schwungvoll auf und wirft dabei seinen Stuhl um. Dann geht er in Richtung Bühne, wo ein Punk gerade irgendwelche Kabel sortiert und fängt augenblicklich an, ihn anzubaggern.

“Es wird echt immer schlimmer mit ihm”, findet Severin.

“Eigentlich hat sich bei ihm nichts verändert. Er ist noch genau wie früher. Aber wir haben uns verändert, Severin”, erklärt Sebastian.

“Wie hältst du das bloß immer noch aus?”

“Ich liebe ihn. Was soll ich machen?”

“Wie du meinst …”

“Mann, sei doch nicht so scheiß überheblich, Severin. Du hast dir von Milla auch jeden Scheiß bieten lassen.”

“Das war was anderes."

“Sicher doch. Bei dir ist es immer was anderes.”

Sebastian steht ebenfalls auf und lässt mich allein mit Severin zurück.

“Tut mir leid, dass du da reingeraten bist.”

“Alles gut. Aber ich muss sagen … so kenn ich dich gar nicht. Du bist sonst nicht aus der Ruhe zu bringen.”

“Leon ist einer meiner ältesten Freunde. Er schafft es immer wieder. Es ist unfassbar.”

“Und Basti, was ist da die Geschichte?”

“Wir waren zusammen im Internat. Er war der erste Junge, in den ich ernsthaft verliebt war. Und der Erste, der mir das Herz gebrochen hat.”

“Verstehe.”

“Ich war übrigens auch schon öfter mit im Varieté. Carlos würde da tatsächlich gut hinpassen.”

“Und er wäre in München, müsste nicht rumreisen … der Gedanke gefällt mir ganz gut. Und gerade vorhin habe ich erfahren, dass meine Kleindinger Mieter zum Jahresende ausziehen. Wenn wir wollen, können wir also dort einziehen, in mein Elternhaus.”

“Wow, das wurde sehr schnell sehr ernst bei euch.”

“Ja, vielleicht geht mir das Ganze auch etwas zu schnell. Ich bin mir noch nicht sicher.”

“Dann lass dir lieber etwas mehr Zeit.”

“Ich versuche es. Aber gleichzeitig kann mir alles gar nicht schnell genug gehen. Ich weiß, das macht keinen Sinn, aber so ist es nun mal …”

Nachdem die dreistöckige Hochzeitstorte angeschnitten und zum Großteil aufgegessen ist, eröffnen David und Jordan den Tanz. Und zwar zu “That’s Amore”. Die zwei finden das ziemlich lustig und grinsen über’s ganze Gesicht. Den zweiten Song tanzen sie mit ihren Müttern. Die Band erklärt, dass sie noch ein paar Songs spielen, aber immer wieder das Mikro frei machen werden, falls jemand singen möchte. Das wird mir also nachher auch noch blühen. David hat sich ja “My Way” gewünscht.

Ich sitze weiter herum und beobachte die Leute, da mir mein Tanzpartner abhandengekommen ist. Carlos tanzt mit Gwen auf dem Arm. Seit er für sie jongliert hat, weicht sie ihm nicht mehr von der Seite. Er ist fantastisch mit Kindern. Und es wird fantastisch sein, ihn als Vater zu erleben, eines Tages. Mona sitzt allein an ihrem Tisch und schaut versonnen über die tanzende Menge. Ich setze mich zu ihr. Sie lächelt mich an, wie nur Mütter es können. So … wissend.

“Es ist so schade, dass deine Eltern deine Hochzeit nicht mehr miterleben können. Nichts macht Eltern glücklicher, als ihr Kind glücklich zu sehen.”

Ich schlucke, kann nicht antworten. Sie legt ihre Hand auf meine und schaut mir fest in die Augen.

“Max, du warst wie ein zweiter Sohn für mich. Wenn du jemals irgendwas brauchst, einen mütterlichen Rat oder ein spontanes Abendessen, weil der Kühlschrank leer ist oder einfach eine Umarmung, komm zu mir. Einfach so, jeder Zeit, ja?”

“Könnte ich die Umarmung jetzt haben?”, frage ich.

Sie steht auf, kommt zu mir rüber und nimmt mich fest in den Arm.

“Ich hab dich sehr lieb, Max. Und ich bin sehr stolz auf dich.”

“Danke, Mona.”

David

Ich setze mich zwischendurch hin, um zu verschnaufen. Die Leute lachen und tanzen. Nicht nur unsere Gäste, aus dem ganzen Ort sind Menschen dazugekommen, um das Wetter und die gute Musik zu genießen. Junge und alte Leute, Menschen aus dem Paradies, die noch nicht lange hier sind, Menschen in Tracht, die wahrscheinlich schon immer hier gewohnt haben, Asylbewerber, Punks, Feuerwehrler, Schwule, der Pfarrer, der Bürgermeister, Leute aus dem Schützenverein, alle unterhalten sich. Alle haben Spaß. So wünsche ich es mir auch für unsere Gaststätte. So soll es jedes Wochenende sein. Alle beieinander. Das ist es! Das ist der Name für unsere Gastwirtschaft!

“Na, Sohn? Geht’s dir gut?”

“Absolut. Das ist die perfekte Hochzeit, hier im Garten des alten Kaiserwirts.”

“Ja, es ist ein sehr schöner Tag. Ich bin froh, dass nach allen … nach allen Widrigkeiten, durch die du durchmusstest, ich bin einfach froh, dass du deinen Platz jetzt gefunden hast. Ich bin sehr stolz auf dich, David.”

“Hast du eigentlich nie … gehadert?''

“Womit?”

“Damit, dass ich schwul bin.”

“Natürlich, in gewisser Weise. Aber nicht, weil ich nicht stolz auf dich bin. Nur weil ich dir gewünscht hätte, dass du es nicht so schwer hast.”

“So schwer hatte ich es eigentlich gar nicht. Ihr habt perfekt reagiert und mich immer unterstützt. Und bei allen anderen Leuten, die Probleme damit hatten, war es mir dann eigentlich egal.”

“Ich bin sehr froh, das zu hören. Und ehm… möchtest du eigentlich mit mir tanzen?”

“Echt jetzt? Ich meine, sicher. Mit Mum hab ich ja auch getanzt. Aber ich will nicht, dass du was tust, mit dem du dich nicht wohl fühlst.”

“Also bitte!”, lacht er. “Warum sollte ich mich nicht wohl damit fühlen, mit meinem Sohn zu tanzen?”

Er steht auf und reicht mir galant die Hand.

“Erst singst du plötzlich und jetzt das. Du steckst echt voller Überraschungen.”

Jordan

Ich schwebe den ganzen Tag ein paar Zentimeter über dem Boden. Alles ist surreal-perfekt. Nur eines fehlt noch: Auf der Bühne stehen mit meinen Jungs. Um zwischendurch mal vom Standardtanz wegzukommen, spielen wir ein paar unserer Songs. Ink & Metal ist wie immer der Hit beim deutschen Publikum. Überhaupt ist es, als hätte Summerskin nie Pause gemacht. Eigentlich sind wir vier die Idealbesetzung. Kevin ist am Bass zwar eigentlich überqualifiziert, aber er beschwert sich nicht, sondern ist einfach froh, wieder mit uns auf der Bühne zu sein.

Sina steht in der ersten Reihe und empfängt uns begeistert, als wir fertig sind.

“Ihr solltet wirklich wieder regelmäßig zusammen Musik machen”, findet Sina. “Die Chemie zwischen euch ist wirklich was Besonderes.”

“Das dürfte kompliziert werden, jetzt wo wir nicht mehr nur in verschiedenen Staaten, sondern sogar auf verschiedenen Kontinenten wohnen.”

“Trotzdem. Realistisch gesehen, müsstet ihr nur ein paar Wochen zusammen ins Studio. Und dann auf Tour.”

“Ehm, Veto”, wirft David ein, der zusammen mit Sean den Auftritt ebenfalls begeistert in der ersten Reihe verfolgt hat.

“Ja, ich weiß schon noch, wie das war, wochenlang und monatelang auf Tour zu sein und Jordan zu vermissen. Brian und Sean können sich sicher auch noch lebhaft erinnern”, grinst Sina schief. “Aber Kunst braucht Opfer.”

“Und unsere Kinder brauchen ihren Vater.”

“Maddy und ich sind auch nicht besonders scharf drauf, Brian monatelang nicht zu sehen”, wirft Sean ein. “Und in der Firma würde es ohne ihn vermutlich auch nicht lange funktionieren.”

“Ich liebe es wirklich, mit euch zu spielen, Jungs. Aber Janet und ich planen gerade das zweite Kind. Da bin ich wirklich nicht sehr flexibel”, wirft Tobey ein.

Kevin meint:

“Wartet mal ab, wenn eure Kids ein bisschen älter sind, dann klappt es ja vielleicht …”

“Du könntest es dir also vorstellen?”, will Brian wissen.

“Jederzeit”, nickt er. “Aber ich versteh euch alle. Schließlich bin ich damals ausgestiegen, um mehr Zeit für die Familie zu haben. Aber die Kids sind jetzt Teenies und machen ihr eigenes Ding.”

“Ja, so weit sind wir aber noch lange nicht. Frag doch einfach im Jahr 2020 wieder”, erklärt David trocken und geht weg.

“Wow, 2020”, grinst Brian. “Hört sich futuristisch an. Bis dahin fliegen wir alle mit Hoverboards zur Arbeit.”

“Das ist in acht Jahren, Liebling”, lacht Sean. “Du hast zu viel ‘Back to the Future' geschaut.”

“Ich schau mal nach David”, erkläre ich und geh ihm hinterher.

Ich finde ihn bei seinen Eltern am Tisch, mit Jake auf dem Schoß.

“Schatz? Können wir reden?”

Er seufzt und gibt den müden Jake seiner Mutter. Wir gehen ein paar Schritte weg von der Hochzeitsgesellschaft in Richtung unseres Hauses. Der Keller ist schon ausgehoben, alles nimmt Gestalt an.

“Das sind nur Hirngespinste, David. Wir planen nicht ernsthaft, Summerskin auferstehen zu lassen.”

“Nein, noch nicht. Aber ich weiß, dass das irgendwann kommen wird und das macht mir Angst.”

“Angst wovor genau? Dass ich dich hier mit allem allein lasse?”

“Das allein ist es gar nicht. Wenn erstmal alles läuft, die Kids im Kindergarten gut angekommen sind und in der Gaststätte Normalbetrieb herrscht, dann bekomm ich das alles auch mal eine Zeit lang ohne dich hin. Aber …”

“Aber was?”, frage ich, als er nicht weiterredet.

“Aber was, wenn du wieder der Alte wirst?”

“Was meinst du?”

“Die Musikbranche ist anstrengend, das hast du selbst gesagt. Was, wenn dich das aus dem Gleichgewicht bringt? Wenn du wieder mit Drogen in Berührung kommst oder mit den ganzen Fans … Du wirkst jetzt sehr stabil. Aber letztes Jahr hast du versucht, Heroin zu kaufen. Vor ein paar Monaten konntest du morgens kaum aus dem Bett kommen. Dir ist es jetzt so schnell besser gegangen. Was, wenn es dir genauso schnell auch wieder schlechter geht? Ich weiß nicht, ob ich es nochmal überleben kann, dich so zu sehen.”

Ich nehme ihn fest in den Arm.

“Ich kann mein Leben nicht von der Angst bestimmen lassen, dass es mir irgendwann wieder schlechter gehen könnte, David. Ich genieße, dass es mir jetzt gut geht. Und ich tue mein Möglichstes dafür, dass es auch so bleibt.”

“Ich weiß. Es tut mir leid. Ich will wirklich nicht der Mann sein, der dich davon abhält, zu tun was du liebst.”

“Hey, ich liebe dich und die Kinder und ich liebe es, bei euch zu sein. Ich würde jetzt nicht auf Tour gehen wollen und den ganzen Kram. Ich will nur ab und an in die Staaten fliegen und mich mit den Jungs zusammensetzen und Musik machen, vielleicht mal ins Tonstudio gehen, ganz entspannt, ohne Verträge erfüllen zu müssen. Mehr nicht. Vielleicht irgendwann wieder, wenn wir alle mit Hoverboards zur Arbeit fliegen. Aber nicht jetzt. Jetzt will ich mit dir dieses Haus bauen und diese Gaststätte.

“Beinand beim Lenz”

“Hm?”

“Das wird der Name. Beieinander ist ein altes bayerisches Wort, das zusammen, gemeinsam bedeutet.”

“Ich mag den Klang. Beinand.”

David

Ich muss über seinen dicken amerikanischen Akzent lachen. Er legt seine Arme um mich und flüstert:

“Ich will ein Baby mit dir, sobald hier alles steht.”

“Auch wenn das heißt, noch länger keine Tour?”

“Mir egal. Nichts ist wichtiger als du und die Kinder.”

Ich umarme ihn fest und wünschte, dieser Moment würde nie vergehen.

Nach einer Weile gehen wir zurück zur Hochzeitsgesellschaft. Ich sehe meinen Großvater bei Severin und Eugen sitzen. Es sieht irgendwie aus, als würden sie über etwas Wichtiges sprechen. Deshalb setze ich mich dazu. Mein Großvater erzählt von seiner Kindheit im Krieg und in der Nachkriegszeit.

“Damals waren wir so sehr mit allem beschäftigt, was man zum Überleben braucht. Wir hatten nicht den Luxus, uns mit den Fragen zu beschäftigen, die ihr euch heute stellt.”

“Welche Fragen zum Beispiel?”, fragt Eugen nach.

“Fragen nach der Liebe. Oder nach Erfüllung. Danach, welcher Beruf einen wirklich begeistern würde. Danach, wo der nächste Urlaub hingehen soll.”

“Hättest du dir das gewünscht, dass du solche Fragen stellen kannst?”

“Nein, meine Kindheit hat mich stark gemacht. Ich habe gelernt, was im Leben wirklich wichtig ist.”

“Und was ist das?”, fragt Severin ehrlich interessiert.

“Zusammenhalt. Familie, Freundschaft. Finanzielle Sicherheit.”

“Was hast du dafür aufgegeben?”, will Eugen wissen.

Mein Großvater verschließt sich. Man kann richtig dabei zusehen. Sein Gesichtsausdruck. Seine Körperhaltung.

“Du musst nicht drüber reden”, sagt Severin sofort.

Mein Großvater schaut mich an. Unsicher.

“Möchtest du … soll ich lieber gehen?”, frage ich.

“Nein. Komm her, setz dich zu mir.”

Ich rutsche zu ihm rüber.

“David, du darfst auf keinen Fall denken, dass ich bereue, eine Familie gegründet zu haben. Meine Söhne und meine Enkel sind mein ganzer Stolz und ich würde in meinem Leben alles wieder genauso machen. Ich würde nichts ändern wollen. Und ich liebe deine Großmutter.”

“Das weiß ich doch, Opa.”

“Ihr habt gefragt, was ich für meine Familie aufgegeben habe. Ich hab Ludwig dafür aufgegeben.”

Ich habe keine Ahnung, was er damit meint. Severin fragt:

“Ludwig Bergmüller, hier aus Seelendorf?”

Mein Opa nickt.

“Ich versteh nicht, Ludwig ist doch dein bester Freund. Ihr wart doch immer mit seiner Familie in Italien im Urlaub, Oma und die Kinder und du? Dann hast du ihn doch nicht aufgeben…?", frage ich verwirrt.

Mein Großvater starrt auf seine Hände. Eugen, der mir gegenübersitzt, sagt:

“David, ich glaube, dein Großvater sagt uns gerade, dass er in Ludwig verliebt war, aber die Beziehung aufgegeben hat, um zu heiraten und Kinder zu bekommen. Richtig, Vinzenz?”

“Aber das …”, setze ich an, bis ich den Blick meines Großvaters sehe.

Ich hab ihn noch nie so ängstlich gesehen, so verletzlich. Dieser Baum von einem Mann, der immer ausgeglichen und zufrieden durchs Leben geht. Er sitzt neben mir und sieht aus, als würde er drauf warten, dass sich der Himmel auftut und ihn der Blitz trifft.

“Du bist schwul?”, frage ich leise.

Er nickt kaum merklich.

“Oh Opa …”

Ich umarme ihn. Er scheint überrascht zu sein von dieser Reaktion.

“Du darfst wirklich nicht glauben, dass mein Leben eine Lüge ist. Ich liebe mein Leben, ich liebe meine Familie.”

“Ich weiß, Opa. Und ich liebe dich. Du warst schon immer mein großes Vorbild. Wir waren uns schon immer ähnlich. Und das ist jetzt noch eine Sache, die ich von dir geerbt habe.”

“Danke, David.”

Jordan umarmt mich von hinten.

“Zeit zu tanzen”, schnurrt er.

Ich sage noch schnell zu meinem Großvater:

“Ich will die ganze Geschichte hören. Lass uns nächste Woche mal in Ruhe zusammen spazieren gehen oder sowas, ja?”

Er nickt:

“Geh, tanz mit deinem Mann.”

Ferdi Fuchseder singt für uns “Kiss me” von Sixpence none the Richer. Ich schmiege mich an Jordan. Mir wird klar, was mein Großvater mir da gerade offenbart hat. Wie viel Überwindung ihn das gekostet haben muss. Wie viel Schmerz er über all die Jahrzehnte vermutlich verdrängt hat. Und nicht nur er. Unzählige schwule Männer seiner Generation. Während wir tanzen, flüstere ich Jordan alles ins Ohr, was ich gerade erfahren habe und alle Gedanken, die ich mir dazu mache. Er hält mich fest im Arm.

“Wir haben so viel Glück, David. Es ist so tragisch, was so viele Menschen verstecken und verheimlichen mussten und in manchen Ländern immer noch müssen.”

Ferdi hängt gleich noch Iris von den Goo Goo Dolls dran. Josh tippt uns an:

“Kann ich abklatschen?”

“Sicher”, sage ich und gebe Jordan frei.

Ich schaue mich um. Meine Mutter sitzt an ihrem Platz. Ich fordere sie auf, das freut sie.

Jordan

Josh und ich brauchen einen Moment, um eine gute Tanzstellung für uns zu finden. Aber das kriegen wir hin. Er ist ein erstaunlich guter Tänzer.

“Das Paradies ist wirklich toll.”

“Ja, gefällt’s dir?”, frage ich.

“Sehr. Ich fand die letzten Tage hier wirklich … wunderbar.”

“Ich hab dich kaum zu Gesicht bekommen. Wo waren du und Kate eigentlich immer unterwegs?”

“Kate hat sich ziemlich viel Arbeit mitgebracht. Sie war eigentlich fast durchgehend damit beschäftigt.”

“Oh, ist es grad stressig im Studium?”

“Sie will immer die Beste in allem sein und ist gerade zwanghaft dabei, sicherzustellen, dass ihre Noten auf dem Level bleiben, auf dem sie sind.”

“Dich stört das?”, frage ich, weil ich einen seltsamen Unterton bemerke.

“Ich weiß, so ist Kate nun mal. Aber in letzter Zeit … in letzter Zeit wird es mir zu viel. Ich weiß nicht, ob ich das aushalte, für immer.”

“Für immer? Heißt das, ihr denkt darüber nach, zu heiraten?"

“Sie ist zwanzig. In ihrem Plan heiraten wir in zwei Jahren, bekommen das erste Kind und dann nach fünf Jahren das zweite. Sie hat ihre ganze Karriere schon vorausgeplant …”

“Ich dachte, das wäre genau dein Ding?”

“Das dachte ich auch eine Weile lang. Aber vielleicht war das nicht wirklich das, was ich wollte. Vielleicht war das nur die sicherste Sache. Vielleicht war es auch einfach genau das Gegenteil von dir und Mum. Aber ich will mit Fotografie und Videos mein Geld verdienen. Und da kann man halt nicht alles haarklein planen. Da gehört ein gewisses Risiko dazu. Kate hätte gern, dass ich mir einen anständigen Job suche und den Rest so nebenbei mache. Aber das ist nicht, was ich will.”

“Hast du ihr das gesagt?”

“Ja, natürlich. Wir haben da einfach einen Konflikt, der nicht lösbar ist. Wir streiten viel, deswegen. Und auch wegen anderer Sachen. Es wird immer klarer, dass wir in ganz wesentlichen Sachen irgendwie nicht so gut zusammenpassen, wie gedacht. Und das liegt allein an mir. Ich hab mich verändert. Es tut mir auch total leid, aber ich kann es nicht ändern.”

“Josh, du bis 19. Es ist erlaubt, dass man mit 19 seine Meinung ändert, sich selbst neu erfindet. Und es ist auch ganz normal, dass Beziehungen sich auseinanderentwickeln. Wenn das so ist …”

“Dann muss ich ihr das ehrlich sagen und einen klaren Schlussstrich ziehen.”

“Ja. Wenn du dir wirklich sicher bist…? Ihr seid schon so lange zusammen.”

“Dad, ich hab in den letzten Tagen sehr viel Zeit mit Kassandra verbracht."

“Severins Tochter?”

“Ja. Es ist nichts passiert, zwischen uns. Noch nicht. Das würde ich Kate nicht antun. Aber ich hab gemerkt … ich hab gemerkt, wie es sich anfühlen kann. Wie es ist, wenn es klick macht. Wenn man einfach zusammenpasst und wenn man verstanden wird. Ich will in den nächsten Tagen sehen, wohin das führt. Aber dazu muss ich erst mit Kate sprechen und ihr sagen, was los ist. Ich will sie wirklich nicht verletzen. Aber ich kann sie auch nicht mehr hinhalten und hoffen, dass meine Gefühle für sie doch wieder stärker werden.”

“Oh je … das wird ein schwieriges Gespräch. Ich bin davor und danach für dich da. Du hast dir nichts vorzuwerfen, Josh. Du kannst nichts für deine Gefühle.”

“Ich weiß … aber ich hab dir deine Gefühle immer zum Vorwurf gemacht. Ich hab wohl versucht, alles möglichst rational anzugehen. Aber das geht auf Dauer nicht gut.”

“Die Mischung aus Kopf und Bauch macht es wahrscheinlich aus. Ich glaube, du bist da gerade auf einem gutem Weg.”

“Du auch, Dad. Dich mit David zu sehen, macht mich sehr froh. Weil alles irgendwie in Balance scheint. Ihr tut einander sehr gut.”

“Mir geht es auch sehr gut. Ich bin sehr glücklich.”

“Das freut mich total.”

Nikkis Stimme kommt aus dem Mikro.

“Liebe Gäste, lieber David, lieber Jordan. Natürlich will ich auch was für euch singen. Meine Gitarrenfähigkeiten sind ein bisschen eingestaubt. Aber diesen Song werde ich nie verlernen. Er bedeutet mir sehr viel. Es ist der Song, den du gesungen hast, als ich dich zum ersten Mal gesehen habe. Es ist der Song, der mich auf dich aufmerksam gemacht hat. Und es ist der Song, ohne den es unsere wunderbaren Kinder nicht gäbe. Ich bin sehr glücklich, dass du damals in mein Leben gekommen bist und ich bin sehr glücklich, dass du meinen Kindern so ein wunderbarer Vater bist.

Call you up in the middle of the night

Like a firefly without a light

You were there like a blowtorch burnin′

I was a key that could use a little turnin'

So tired that I couldn′t even sleep

So many secrets I couldn't keep

Promised myself I wouldn't weep

One more promise, I couldn′t keep

It seems no one can help me now

I′m in too deep, there's no way out

This time I have really led myself astray

Runaway train, never goin′ back

Wrong way, on a one way track

Seems like I should be gettin' somewhere

Somehow I′m neither here nor there

Can you help me remember how to smile

Make it somehow all seem worthwhile

How on Earth did I get so jaded

Life's history seems so faded

I can go where no one else can go

I know what no one else knows

Here I am just a drownin′ in the rain

With a ticket for a runaway train

And everything seems cut and dry

Day and night, earth and sky

Somehow I just don't believe it

….”

Josh und ich umarmen Nikki, als sie von der Bühne kommt.

“Danke, Nikki.”

“Ich danke dir für die letzten Jahre. Dafür, dass du da warst, als ich nicht da sein konnte.”

“Dafür ist Familie doch da.”

Christian

Sina kommt rüber und fragt mich, an wen sie sich wenden muss, wenn sie auf die Bühne will. Ich stelle ihr den Bruder von Pfarrer Fuchseder vor, und dessen Freund Schröder. Die beiden kümmern sich heute um die Technik.

“Ich würde gern ein bisschen Gitarre spielen”, lächelt Sina Schröder an.

“Cool. Die Akustikgitarre ist gestimmt. Du kannst einfach loslegen.”

“Eigentlich gefällt mir die Gibson da hinten ganz gut.”

Schröder zieht die Augenbrauen hoch:

“Wow, eine Frau, die weiß was sie will. Ich schließe sie dir an. Was willst du spielen?”

“Snow von den Chili Peppers.”

“Mädel, wenn du das im Orginaltempo hinbekommst, schieß ich den Fuchseder in den Wind und mach dir nen Antrag.”

“Wäre doch schade um den hübschen Kerl”, lacht sie. “Ich hol mir noch den Drummer und den Bassisten.”

“Und jemanden, der singt?”

“Natürlich”, lächelt sie.

Sie holt Brian und Kevin und klärt sie kurz auf, was sie spielen will. Den beiden fallen fast die Augen aus dem Kopf:

“Wie oft hat Jordan an dich hingeredet, dass er das mit dir performen will? Der wird sich freuen.”

“Ja, ich hatte keinen Bock zu Üben. Aber zur Hochzeit, wann, wenn nicht da? Kriegt ihr das hin?”

“Logisch, unser Part ist ja nicht sonderlich schwer, im Gegensatz zu deinem.”

Sina geht ans Mikro und lächelt breit:

“Lieber David, leihst du mir deinen Mann für fünf Minuten aus? Ich bräuchte jemanden, der ein wenig singt, während ich Gitarre spiele.”

Er schickt Jordan auf die Bühne.

“Was hast du mit mir vor?”, fragt Jordan ein wenig anzüglich ins Mikrofon.

Sina lächelt:

“Es gibt da diesen einen Song, den du immer mit mir machen wolltest. Und heute darfst du.”

“Snow?”, fragt er.

“Hey-Oh, hundert Punkte.”

Schröder reicht ihr die Gitarre.

“Ich hoffe, ich krieg den Text noch hin”, grinst Jordan.

Sina legt los. Schon nach wenigen Noten ist klar: Die Frau weiß was sie tut. Ihre Finger fliegen über die Gitarre. Vince kommt zu mir und hakt sich bei mir unter. Schröder steht neben uns und ist völlig von der Rolle:

“Ich glaub, ich bin verliebt.”

Sein Freund rollt die Augen und legt ihm den Arm um die Schulter.

“In eine Frau? Das dürfte eine Premiere sein.”

“Sie ist eine Gitarrengöttin”, sabbert Schröder.

Vince fragt, was los ist. Ich erzähle es ihm auf Englisch. Er lacht:

“Ah, dann habt ihr Sina nicht erkannt? Sie ist die Gitarristin der O-Scars.”

“Xander Paulson ist Gitarrist bei den O-Scars”, sagt Schröder sofort.

Dann schaut er auf die Bühne, wieder zu Vince und noch mal zu Sina. Eine Erkenntnis scheint ihn zu treffen.

“Oooooh!”, macht er.

“Genau”, grinst Vince.

“Lasst ihr uns Nicht-Fangirls auch teilhaben?", fragt Ferdi Fuchseder patzig.

“Das IST Xander Paulson”, erklärt Schröder. “Oder war es zumindest mal.”

“Sina ist trans”, erklärt Vince.

“Wirklich?”, frage ich. “Darauf wäre ich im Leben nicht gekommen. Sie wirkt komplett wie eine echte Frau.”

“Sie ist eine ‘echte’ Frau. Zumindest in jeder Definition, die zählt.”

“Dir ist klar, dass Xander Paulson auf meiner Hallpassliste steht oder Fuchsi?”

“Auf deiner was?”, frage ich.

“Auf meiner Hallpassliste. Fünf Promis, mit denen man trotz Beziehung was anfangen darf, sollte man jemals die Chance dazu bekommen.”

“Na dann viel Erfolg”, wünscht Ferdinand. “Ich setze Tobey Sandman hiermit auf meine.”

“Hey, so läuft das aber nicht. Du musst das schon vorher festlegen! Außerdem sind deine fünf die Backstreet Boys und die seh ich hier nirgends!"

Wir überlassen die Beiden ihren Diskussionen und stellen uns ein Stück weit weg, um dem Auftritt zuzuhören.

“Die beiden sind wahnsinnig talentiert. Und sie waren mal zusammen, hat Sina erzählt?”

“Ja, Xander war damals noch sehr jung und Jordan war frisch Vater geworden. Gwen und Josh haben damals bei ihm gelebt. Das war schwierig, aber sie haben es gut hinbekommen. Bis …”

“Bis was?”, frage ich, weil er nicht weiterredet.

“Bis zu den Schüssen.”

“Welche Schüsse?”

“Ich … es gibt keinen einfachen Weg das zu sagen: Jordans Großvater hat versucht ihn zu töten, weil er schwul ist.”

Ich schlage mir die Hand vor den Mund.

“Ich kann hier und jetzt nicht drüber reden. Wir dachten damals, dass er nie wieder der Alte wird. Dass er nie wieder laufen wird, geschweige denn auftreten. Und jetzt sieh ihn dir an. Der Mann ist unzerstörbar. Ich wünschte, ich wäre auch so unzerstörbar”, flüstert Vince. “Aber ich bin total kaputt.''

Ich nehme ihn in den Arm und küsse ihn. Mehr kann ich nicht tun. Wir hören still weiter zu.

“Privately divided by a world so undecided

And there's nowhere to go

Deep beneath the cover of another perfect wonder

Where it's so white as snow

Running through the field where all my tracks will be concealed

And there's nowhere to go

I said hey oh yeah, oh yeah

Tell my love now

Hey, yeah, yeah, oh yeah”

Das Publikum ist ziemlich begeistert und auf der Bühne knistert es zwischen Jordan und Sina.

“Es gibt da noch einen Song, den ich jetzt gerne mit dir spielen würde, Sina …”

Sie weiß scheinbar sofort, welchen er meint und spielt die ersten Takte.

“Sina und ich haben diesen Song zusammen geschrieben. Und er hat uns reich gemacht”, grinst Jordan.

Sogar ich kenne den Song aus dem Radio.

„…And so I do what’s worst for both of us,

anxious,

I move the blade so slow,

Red Snow.“

Okay, nach diesem Auftritt der beiden ist wohl allen im Raum klar, dass sie mal zusammen waren.

“Ich schau mal nach David”, tuschelt mir Vince zu.

“Ich komme mit.”

Auf der Bühne umarmen sich die beiden unter lautem Beifall und sagen dem Publikum und einander Dankeschön.

David sitzt auf seinem Platz und lächelt.

“Alles klar?”, fragt Vince.

“Sicher.”

“War es nicht zu viel?”

Er zuckt die Schultern:

“Klar, meine Verwandtschaft wird sich das Maul zerreißen, aber ich weiß, wie schwierig die Beziehung zwischen Jordan und Sina war und ich weiß, dass sie beide noch sehr verletzt waren und heute … ich hab das Gefühl, heute ist das erste Mal, dass sie wirklich als Freunde zusammen auf der Bühne gestanden haben. Ich weiß, so sah die Performance nicht aus. Aber ich kenne Jordan, ich weiß, dass er nur deshalb so unbeschwert mit ihr flirten kann, weil sie sich beide völlig im Klaren darüber sind, wie sie zueinander stehen.”

“Trotzdem ist es okay, wenn du den Anblick nicht magst. Du musst deine eigenen Gefühle nicht runterschlucken, nur weil du verständnisvoll sein willst. Immerhin war Xander der mit dem Jordan Dylan betrogen hat und das ist noch gar nicht so lange her …”

“Ich weiß. Aber ich will auch nicht künstlich eifersüchtig tun, nur weil ein paar Leute das vielleicht erwarten. Ich weiß, dass Jordan keine solchen Hintergedanken hat.”

“Übrigens die gleiche Geschichte wie bei dir, Christian”, erklärt Vince. “Xander wollte eine Dreierbeziehung, Jordan wollte das nicht mehr. Deshalb haben sie sich beim zweiten Mal getrennt.”

“Wow, das scheint ja häufiger vorzukommen, als ich dachte…”, grinse ich.

“Wow, so viele Profis hier … da ist es für Amateure wie mich gar nicht so leicht, sich zu überwinden, ans Mikro zu gehen”, sagt Max, der plötzlich auf der Bühne steht.

“David, jetzt, da du deinen besten Freund geheiratet hast, ist diese Stelle ja wieder vakant. Und ich würde mich freuen, wenn ich sie irgendwann besetzen könnte. Ich glaube, wir zwei sind auf einem guten Weg dahin. Und jetzt hab ich Tobey gebeten, mich auf dem Keyboard zu begleiten. Du hast dir diesen Song von mir heute gewünscht. Ich weiß, was er dir bedeutet. Das ist für dich:

“And now the end is here

And so I face that final curtain

My friend I'll make it clear

I'll state my case, of which I'm certain…”

Ich stehe an der Bühne und höre diesem Lied zu. Ich hatte immer meinen Großvater vor Augen, an seinem 70. Geburtstag. Ludwig hatte eine Dia-Präsentation für ihn gemacht, vom perfekten Familienleben, das er hatte. Ich erinnere mich daran, dass ein Bild von den beiden in Italien beim Campen dabei war. Das sehe ich jetzt mit ganz anderen Augen. Mein Großvater hat sein Leben nicht auf seine Art gelebt, er ist einen Kompromiss eingegangen. Und ist trotzdem glücklich geworden. Das Bild, das ich von meinem Großvater hatte, bröckelt. Nein, nicht das Bild, das ich von meinem Großvater hatte. Eher das Bild, das ich von meiner Zukunft hatte. Vielleicht muss ich nicht kompromisslos dafür sorgen, dass alles perfekt ist? Das Lied berührt mich plötzlich nicht mehr. Auch wenn Max wirklich fantastisch und gefühlvoll singt. Ich stehe auf meiner Hochzeit und habe eine Sinnkrise. Gehe ich den richtigen Weg? Max kommt von der Bühne und ich umarme ihn, bedanke mich. Dann sehe ich mich um. Sehe Eugen. Er schaut mich an. Ich bedeute ihm, mir zu folgen.

Wir gehen zur Straße, ein Stück außer Sichtweite.

“Irgendwie … irgendwie hat die Sache mit meinem Großvater etwas in mir ausgelöst”, fange ich an. “Ist es okay, wenn ich mit dir darüber rede?”

“Sicher. Als Freund. Nicht als Therapeut.”

“Ja. Es ist nur … er ist mein Vorbild und ich dachte, er hat das perfekte Leben geführt. Und jetzt seh ich, dass er so einen großen Kompromiss eingegangen ist.”

“Er wirkt trotzdem sehr glücklich auf mich.”

“Ja, eben! Das ist es, was mich so verunsichert. Ich dachte immer, ich dürfte keine Kompromisse eingehen, mein Leben komplett selbstbestimmt leben, offen und auf meine Art. Das ist der Pfad zum Glück. Und jetzt sehe ich, dass es auch ganz anders geht.”

“Was würdest du anders machen, jetzt, da du diese Info hast?”

“Weniger verbissen auf Perfektion achten”, sage ich sofort.

“Klingt gut”, findet Eugen.

“Jordan mehr Freiraum lassen, wenn er ihn braucht.”

“In Bezug auf …”

“Nein, nicht andere Menschen im Bett oder sowas. Ich meine, für seine Musik. Und alles außerhalb der Familie. Ich hab das Gefühl, dass er sich sehr zurücknimmt und mich und die Kinder immer priorisiert, obwohl er eigentlich was anderes will. Weil wir ihm Sicherheit geben und er Angst hat, uns zu verlieren. Aber wir können ihm auch Sicherheit geben, ohne aneinander zu kleben. Ich schaffe es hier mit Hilfe meiner Eltern auch mal ohne ihn. Er kann sein Ding machen. Wir sind trotzdem eine Familie. Egal ob er im Studio in Kalifornien ist oder auf Asientour oder an der Uni in München. Wir müssen nicht das Leben meiner Eltern und Großeltern kopieren. Wir können unseren eigenen Weg gehen.”

Eugen deutet hinter mich. Da steht Jordan. Er lächelt.

“Wie viel hast du gehört?”, frage ich.

"Genug, um zu wissen, dass ich den besten Ehemann auf dem ganzen Planeten habe.”

“Ich glaube, ihr braucht mich hier nicht mehr”, grinst Eugen und verschwindet.

“Jordan, es ist mir sehr wichtig, dass du weißt, dass du lockerlassen kannst. Du musst mir nicht alles recht machen. Ich will, dass du dich entfalten kannst. Wir kriegen das alles hin. Wirklich.”

“Es tut mir so gut, das zu hören.”

“Auch wegen einem Baby. Ich weiß, dass du das vor allem wegen mir vorschlägst. Aber du und die Kinder, ihr seid mir genug. Wenn noch ein Baby dazukommt, dann ist das ein Bonus. Aber mein Glück hängt nicht davon ab. Wirklich nicht.”

“Echt? Ich dachte, du kannst es schon gar nicht mehr erwarten …?”

“Ich weiß, ich hab den EIndruck vermittelt. Aber … ich will nicht, dass es so läuft wie mit den Hochzeitsvorbereitungen. Dass ich etwas anzettle und du dann einspringen musst, weil ich zu beschäftigt bin.”

“Das hab ich doch gern gemacht!”

“Ich weiß. Und du hast es toll gemacht. Darum geht es nicht. Es geht drum, dass ich die einmalige Chance verpasst habe, die Hochzeit zu organisieren. Das kann ich verkraften. Aber wenn ich die Anfangszeit mit unserem Baby verpassen würde, damit könnte ich nicht leben. Verstehst du?”

“Also willst du warten, bis die Gaststätte läuft? Ich werde 35, weißt du? Ewig warten sollten wir nicht mehr …”

“Ja, aber entweder es ergibt sich oder nicht. Wir haben auch so schon die perfekte Familie. Alles andere fügt sich, wenn es sein soll. Ist das für dich okay, so?”

“Ich hab mich schon ziemlich in die Vorstellung verliebt, mit dir ein Baby zu haben. Ich weiß nicht, ob ich dem Schicksal da einfach seinen Lauf lassen kann …”

“Dann setzen wir uns eine Deadline. Wenn die Gaststätte den ersten Sommer und den ersten Winter gut überstanden hat, dann setzen wir uns zusammen und entscheiden. Im Frühjahr 2014. Dann bist du 36. Dann reden wir darüber, ob ein Baby immer noch das ist, was wir beide wollen und planen dann, wie wir weiter machen. Okay?”

“Klingt gut.”

Wir küssen uns kurz.

“Und jetzt gehen wir wieder tanzen, komm.”

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