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Summer in Paradise - Band 1

Teil 2

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Inhaltsverzeichnis

Jordan

Nach dieser SMS ist alles klar. Wir haben jetzt einen Zeitplan, wir haben die Sicherheit, dass wir ab September hier ein Zuhause haben und wir wissen, was jetzt nötig ist. David macht einen Notartermin mit seinen Großeltern aus, Christian arrangiert ein Treffen mit einem großen Münchner Architekturbüro und Nina macht für mich, Nikki und Oliver einen Termin im amerikanischen Konsulat zwecks Aufenthalt und Arbeitserlaubnis und so weiter. Und ein Anmeldegespräch im Seelendorfer Kindergarten steht auch an. Das alles in den nicht mal drei Wochen unterzukriegen, in denen wir hier sind, ist gar nicht so leicht.

Aber als erstes will David mich hochoffiziell seinen Großeltern vorstellen. Ich nehme das zum Anlass, mir meine Haare abzurasieren. David steht kopfschüttelnd neben mir.

„Ich fass es nicht, dass du wirklich nervös bist, meine Großeltern kennenzulernen. Und dass du dir echt die Haare abmachst ...“

„Wenn du nicht helfen willst, verschwinde. Ich brauch kein Publikum“, grinse ich und schiebe ihn aus dem Bad.

Als ich fertig bin, schaue ich mich im Spiegel an. Ja, so will ich aussehen. Erwachsen. Wie ein Vater. Aber ein cooler. Mein Piercing behalte ich. Die Tunnels auch. Das ist mir alternativ genug. Mein Handy klingelt. Es ist Anthony.

„Hey Dad!“

„Hallo Jordan. Dein Großvater ist vor einer Stunde gestorben.“

Ich atme tief durch, so als hätte ich gerade die zu enge Krawatte aufgemacht. Ich fühle mich erlöst.

„Alles in Ordnung?“, fragt Anthony.

„Ja. Wie geht es dir?“

„Ich bin froh, dass es vorbei ist. Aber gleichzeitig … er war mein Vater. Und jetzt ist er tot.“

„Warst du bei ihm?“

„Ich war im Krankenhaus. Aber nicht bei ihm. Milo und ich haben im Wartebereich gesessen, Mama Maria war bei ihm.“

„Milo, an den hab ich gar nicht gedacht … wie geht es ihm?“

„Er kam nicht wegen deinem Großvater, er war da, um Mama Maria zu unterstützen. Er hat inzwischen zwei bildhübsche Töchter, lebt immer noch in San Diego und kümmert sich um Maria.“

„Wer hat eigentlich die Firma weiter betrieben, während der Mistkerl im Gefängnis saß?“

„Milo hat sich um die Abwicklung gekümmert, aber viel war nicht mehr übrig, nachdem die Steuerprüfung fertig war. Er hat sich als IT-Spezialist selbstständig gemacht.“

„Okay. Ich .. danke, dass du mir Bescheid gegeben hast.“

„David ist in der Nähe, oder?“

„Ja, ich … ich erzähl es ihm nachher gleich.“

„Okay. Jordan?“

„Hm?“

„Wir sind jetzt frei.“

„Ja... Bye, Dad.“

Ich entsorge meine Haare im Müll und gehe die Treppe runter, kann aber nicht ins Wohnzimmer gehen, weil mein Puls in die Höhe schnellt und ich meinen Herzschlag bis zum Hals fühle. Ich setze mich auf die letzte Stufe und ringe nach Luft. Mein Brustkorb lässt mich nicht mehr atmen. Ich gehe zur Haustür raus, kenne das Gefühl einer Panikattacke viel zu gut, weiß, dass ich atmen muss. Dass ich mich bewegen muss. Ich laufe ein paar Kreise im Garten, atme bei jedem zweiten Schritt ein, lasse zu, dass die Angst aufkommt, sträube mich nicht. Ich versuche, nicht auf mich zu schauen, sondern auf die ersten Knospen am Strauch. Ich zähle sie und atme zittrig ein und aus.

„Jordan?“

Severin steigt gerade von seinem Fahrrad, mit einem Packen Dokumenten. Ich atme nochmal tief ein.

„Brauchst du Hilfe?“

Mir ist es peinlich, dass er mich so sieht. Deshalb schüttle ich den Kopf.

„Ich hab selbst oft Panikattacken. Ich kann dir beim runterkommen helfen, wenn du willst.“

„Es geht schon wieder ...“

„Okay … ich bleibe einfach hier bei dir, wenn das in Ordnung ist?“

Ich nicke und setze mich auf die Bank vor der Haustür. Ich atme ein paar Mal tief durch. Dann sage ich:

„Tut mir Leid, ich … ich hab meine Attacken normalerweise besser im Griff.“

„Du musst dich nicht entschuldigen. … Geht es wieder?“

„Ja.“

„Weißt du, was der Auslöser war?“

„Ich hab gerade erfahren, dass mein Großvater gestorben ist.“

Seinem Blick nach zu urteilen, weiß er sofort, dass ich meinem Großvater nicht nachtrauere.

„Der, der damals ...“

Er redet nicht weiter.

„Der, der damals auf mich geschossen hat.“

Er legt mir die Hand auf die Schulter:

„Das muss ein ziemliches Gefühlschaos für dich sein.“

„Eigentlich nicht. Ich bin froh, dass er tot ist. Weil ich jetzt keine Angst mehr vor ihm haben muss. Aber ...“

Als ich nicht weiterspreche, fragt er:

„Aber?“

„Aber ich fühle mich wie ein schlechter Mensch, weil ich mich über seinen Tod freue.“

„Dass du dich dabei schlecht fühlst, zeigt, dass du kein schlechter Mensch bist. Es ist sehr nachvollziehbar, dass du froh bist.“

„Ja?“

„Auf jeden Fall. Es erklärt aber nicht unbedingt die Panikattacke...“

„Nein. Ich spüre, dass ich meinen Onkel und meine Großmutter vermisse. Und jetzt wäre der Weg frei dafür, sie wiederzusehen. Aber ich hab Angst.“

„Wovor?“

„Dass sie eigentlich auch Monster sind und ich es all die Jahre nicht wusste.“

„Ich verstehe ...“

„Hast du schon Therapeuten-Tipps für mich?“

„Der Lover meiner Frau ist sehr zu empfehlen“, grinst er.

„Boah, Severin. Mit jemandem wie dir hab ich in der Bayerischen Provinz echt nicht gerechnet.“

„Ja, ich dachte auch nie, dass es mich wieder hierher verschlägt. Immerhin bin ich bald nicht mehr der einzige Freak im Dorf. Vorausgesetzt, ihr schafft es, euch durch diesen Berg an Verträgen zu wühlen“, lacht er.

„Kriegen wir hin. Ich bin aus der Musikbranche schlimmeres gewöhnt. Ach Moment, das ist alles Deutsch, oder?“

„Ich befürchte schon ...“

„Na dann muss David da alleine durch.“

„Ich würde ihm gern kurz hallo sagen, wenn es gerade passt.“

„Klar, komm rein. Und danke, dass du mir Gesellschaft geleistet hast.“

„Kein Problem. Du wirst dich vermutlich irgendwann revanchieren können. Ich bin gerade noch dabei, die richtige Dosis für meine Medikation zu finden. Ich hab ab und an noch schlechte Tage...“

„Du kannst mich jederzeit anrufen. Das mein ich ernst.“

„Danke, Jordan. Übrigens: Ich mag deine neue Frisur. Du wirkst viel erwachsener damit.“

„Dankeschön.“

David

Ich sitze mit meinem Vater über den Grundstücksplänen, während meine Mutter mit den Zwillingen 'Tempo, kleine Schnecke' spielt, als die Tür aufgeht und Jordan ohne grüne Haare, dafür aber mit Severin im Raum steht.

„Hallo zusammen“, sagt Severin freundlicherweise auf Englisch. „Ich bringe euch den Mietvertrag und die Hausordnung und ein paar Zusatzvereinbarungen für die Gartennutzung und so weiter.“

„Oh, hey Severin. Danke, die hätten wir doch auch abholen können.“

„Ich hab eh ein bisschen Bewegung gebraucht. Herr Lenz, Frau Lenz, schön, sie kennenzulernen.“

Mein Vater antwortet auf Deutsch:

„Wir kennen uns. Oder ich kenne dich von früher“, erklärt er. „Als du noch ein Bub warst und in der Wirtschaft mitgeholfen hast.“

„Ja, stimmt. Der Vinzenz hat seine Geburtstage immer bei uns gefeiert, gell?“, antwortet Severin auf Deutsch mit bayerischem Slang.

„Ja, zuletzt den 75. Schön, dich mal wieder zu sehen. Und schön, dass du dem David und dem Jordan ein Zuhause gibst. Ich find deine Geschäftsidee wirklich sehr beachtlich.“

„Dankeschön. So, ich will euch gar nicht lange aufhalten.“ Er wechselt ins Englische:

„Ruft an, wenn ihr Fragen habt. Wir sehen uns spätestens nächste Woche beim Architekten. Aber natürlich könnt ihr jeder Zeit beim Chor vorbeischauen oder bei einem anderen Kurs.“

„Danke“, sage ich.

Jordan nickt nur und bringt Severin noch zur Tür. Ich gehe hinterher, weil er mir seltsam vorkommt. Severin und er verabschieden sich mit einer Umarmung. Dann dreht Jordan sich zu mir um.

„Alles okay?“, frage ich.

„Lass uns kurz hoch gehen und reden.“

„Okay.“

Wir setzen uns auf mein Bett.

„Was ist los?“

„Mein Vater hat angerufen. Sein Vater ist tot.“

Er muss nicht viel erklären. Ich bin erleichtert und er sieht auch erleichtert darüber aus. Ich umarme ihn.

Dann frage ich:

„Ist heute der richtige Tag, um dich meinen Großeltern vorzustellen?“

„Auf jeden Fall. Jetzt, wo ich mich extra schick gemacht habe.“

Ich fahre über die kurzen Haare.

„Du siehst sexy aus. Ich steh drauf.“

„Darf ich dich dann heute Nacht hier in deinem Kinderzimmer verführen?“

„Mal sehen“, grinse ich. „Vielleicht, wenn du mich vorher ausführst? Ins Restaurant meiner Tante zum Beispiel?“

„Okay, aber dir ist klar, dass ich jetzt die ganze Zeit bei deinen Großeltern an heute Nacht denken werde …?“

„Um Gottes Willen ...“

Ich spüre meine Wangen rot werden und kabbel Jordan in die Rippen. Dann küsse ich ihn. Innig. Er zieht meine Hand in seinen Schritt und säuselt:

„Mh, wir könnten kurz die Tür absperren, und ...“

„Vergiss es, Jordan. Nicht am helllichten Tag, während meine Eltern unten sitzen ...“, flüstere ich zurück und lege seine Hand ebenfalls in meinen Schritt.

„Schade“, grinst er und steht abrupt auf.

Ich reiße mich also zusammen, hole April und Jake und führe Jordan zum Haus meiner Großeltern. Mein Großvater macht gerade das Vogelhaus im Vorgarten sauber.

„Opa, schau, das ist Jordan.“

Die beide schütteln sich die Hand. Leider können sie nicht wirklich viel miteinander reden, da mein Großvater so wenig Englisch kann, wie Jordan Deutsch. Aber Jordan hilft beim Beet saubermachen und in der warmen Stube sind sie sich einig: Der Apfelkuchen meiner Oma ist der beste der Welt!

„Na, wie fandest du die zwei?“, will ich von Jordan wissen.

„Das sind Bilderbuch-Großeltern. So stellt man sich das vor. Kuchen, Familienfotos an allen Wänden und die zwei strahlen aus, dass sie alles haben, was sie zum Glück brauchen.“

„Genau“, nicke ich. „Ein einfaches Leben mit allem, was man WIRKLICH braucht. Deshalb ist mein Großvater für mich so ein großes Vorbild.“

„Muss ich jetzt auch lernen, dir so einen Apfelkuchen zu backen?“, grinst Jordan.

„Da hätte ich nichts dagegen“, grinse ich zurück.

„Heute steht sonst gar nichts mehr an, oder? Dann würde ich nachher gern noch mal Nina besuchen.“

„Du kannst sicher das Auto meiner Mutter ausleihen. Ich geh dann mit den Zwillingen ein bisschen einkaufen. Wir futtern meine Eltern sonst noch arm. Aber heute Abend Essen gehen, steht, oder?“

„Ja, ich bin gegen sechs auf jeden Fall wieder bei deinen Eltern. Dann können wir die Kinder bettfertig machen und dann führ ich dich aus.“

Nach dem Mittagsschlaf macht sich Jordan also auf den Weg ins Paradies und ich gehe mit den Kindern in den kleinen Supermarkt, in dem ich schon als Kind auf dem Heimweg von der Schule immer eingekauft habe. Die zwei haben keine große Lust, im Wagen sitzen zu bleiben. Sie rennen munter durch die Gänge und schauen sich die fremden deutschen Produkte ganz genau an. Jake ist mal wieder um eine Ecke geflitzt. Ich sause hinterher und fange ihn ein:

„Hab ich dich, du Ausreißer. Bleib in meiner Nähe, damit wir uns nicht verlieren, ja? Und jetzt schnell zurück zu deiner Schwester.“

„Papaaaa! Gummibärchen!“, ruft die.

Das verheißt nichts Gutes. April hat schon drei Packungen im Einkaufswagen als ich mit Jake um die Ecke komme.

„Nein, Süße, wir haben genug zu Hause. Such dir lieber einen schönen Apfel aus...“

Ich bleibe stehen wie vom Donner gerührt. Da steht er und schaut mich genau so verblüfft an, wie ich ihn:

„Max!“

Ich spüre, wie mir der Schweiß ausbricht und ich rot werde. Max bekommt auch rote Flecken. Er steht am Chips-Regal und hält seine Lieblingssorte in der Hand, die er in Amerika so vermisst hat. Er bewegt sich nicht, starrt mich nur an. Ich hatte vermutet, dass wir uns früher oder später über den Weg laufen würden, aber im Moment war ich absolut nicht drauf gefasst.

„David“, versucht er zu lächeln. Er mustert Jake auf meinem Arm und April, die mit dem großen Einkaufswagen zu uns rüber schiebt.

„Papa, kann ich Kekse?“, will Jake wissen.

„Gleich, ich ...“

„Sind das... sind das Jordans Zwillinge? Ich … ich wusste nicht, dass sie schon so groß sind.“

„Sie werden diesen Monat drei. Ich wusste nicht, dass du gerade in Kleinding bist.“

„Ich bin hier um das Haus zu verkaufen.“

„Aber... warum?“

„Meine Mutter lebt inzwischen in einem Pflegeheim, mein Vater hat mir das Haus überlassen, aber ich kann hier nicht wohnen. Zu viele Erinnerungen. Ich …“

Er muss schlucken und sieht ein bisschen so aus, als würde er gleich in Tränen ausbrechen.

„Willst du … sollen wir uns vielleicht auf einen Kaffee treffen?“, schlage ich vor. „Ich könnte die Kinder zu meinen Eltern bringen und ...“

Er atmet schwer und kann mir kaum in die Augen schauen.

„Max? Dir geht es nicht gut, oder?“

Er schüttelt den Kopf. Mir versetzt es einen Stich ins Herz ihn so zu sehen.

„Was ist los?“

„Mein Vater ist vor zwei Tage gestorben.“

„Was?! Wie?“

„Er hatte ALS. Wir wussten es schon länger. Ich hab damals versucht, dich anzurufen ...“

„Deshalb hast du angerufen? Ich hab einfach aufgelegt. Das … das tut mir so Leid.“

„Ich hätte dich nicht anrufen sollen. Nach so langer Zeit und … nach dem ich auf diese Art mit dir Schluss gemacht habe. Ich … ich hatte nur niemanden da drüben, mit dem ich darüber reden hätte können.“

„Und jetzt? Ich meine, deine Mutter ...“

„Meine Mutter liegt im Heim seit mein Vater sich zu Hause nicht mehr kümmern konnte. Wir wussten, dass er nicht mehr lang hat. Aber wir dachten, vielleicht noch ein paar Jahre. Jetzt ging es plötzlich ganz schnell. Innerhalb von einer Woche.“

„Ich kann mir gar nicht vorstellen, wie es dir damit gehen muss. Wo wohnst du dann jetzt?“

„Ich arbeite gerade in Nürnberg, für ein paar Monate. Danach war eigentlich Zürich geplant, aber … wahrscheinlich bleibe ich hier in der Nähe, um regelmäßig meine Mutter besuchen zu können. Ich weiß noch nicht genau. Ich muss nochmal ganz neu planen ...“

„Hast du jemanden?“, frage ich besorgt.

Er schüttelt den Kopf:

„Nein, nicht mehr, seit ich zurück nach Deutschland gekommen bin... Und du? Ist Jordan auch hier?“

„Er ist mit Nina unterwegs. Wir sind noch diese Woche hier, dann geht es erstmal zurück nach Kalifornien. Hast du mitbekommen, dass wir im Herbst hierher ziehen?“

„Nein, ich hab kaum noch Kontakt zu Leuten aus Kleinding. Wie kommt's?“

April räumt Salzstangen in den Wagen und Jake quengelt.

„Ich bring die Kinder zu meinen Eltern, dann reden wir, okay?“

„Okay. In einer halben Stunde bei Cora?“, schlägt er vor.

„So machen wir's.“

Zittrig lege ich unsere Einkäufe aufs Band, antworte auf die Fragen der Kinder nur oberflächlich und sehe zu, dass wir nach Hause kommen. Meine Mutter zupft im Garten Unkraut und bereitet ein Beet für die erste Aussaat des Jahres vor.

„Mama?“

„Ja?“

„Kannst du die Kinder für den restlichen Nachmittag nehmen?“

„Sicher. Hast du was vor?“

„Ich hab grad zufällig Max beim Einkaufen getroffen. Wusstest du, dass sein Vater gestorben ist?“

„Nein, wann? Warum?“

„Er war schon länger krank. ALS.“

„Oh je … deshalb haben sie Isa ins Pflegeheim gesteckt … und die Leute haben sich so das Maul darüber zerrissen … Wie geht es Max?“

„Er wirkt sehr traurig. Ich treffe mich gleich bei Cora mit ihm ...“

„Ihr habt euch nicht mehr gesehen, seit ...“

Ich schüttle den Kopf.

„Wie geht es dir dabei?“, will sie wissen.

„Ich war gerade total geschockt. Aber ich will für ihn da sein.“

„Okay. Ich muss wohl nicht sagen, dass du keine Dummheiten machen sollst, oder?“, mahnt sie.

„Mama ...“

„Schon gut, ich wollte es ja bloß gesagt haben.“

Von unterwegs aus schreibe ich Jordan, dass er mich um 18 Uhr bei Cora treffen soll, weil ich dort mit Max sitzen werde.

Max wartet schon an einem Tisch in der Ecke, mit zwei Milkshakes.

Jordan

Das Paradies ist an diesem sonnigen Tag sogar noch viel schöner als am Vortag. Leute werkeln im Garten, füttern die Hühner, meditieren auf Picknick-Decken und malen auf der Terrasse des Gemeinschaftsraumes. In dem großen Sandkasten sitzen ein paar ältere Kinder und bauen ein Fort aus Ästen und Zweigen. Nina finde ich allerdings mit Leo im Zimmer, auf dem Bett, genau wie gestern.

„Hey“, flüstert sie. „Er ist gerade erst eingeschlafen, nachdem er stundenlang gebrüllt hat. Ich mag jetzt einfach nur hier liegen bleiben. Sei nicht böse, okay? Ich hätte dir Bescheid gegeben, aber das Handy liegt da drüben und wenn ich rüber gegangen wäre, wäre er sicher aufgewacht...“

Ich rolle ein bisschen mit den Augen: „Na schön, du versetzt mich also. Ich hab jetzt trotzdem zwei Stunden kinderfrei. Dann schau ich mal, wer mir hier sonst noch über den Weg läuft. Du solltest mit dem Zwerg aber auch ein bisschen an die frische Luft gehen, nachher.“

„Ja, mach ich schon, irgendwann ...“

Sie erinnert mich ziemlich an Vince in seiner ersten Zeit mit Danny. Ich kann das gut nachvollziehen, dass man alleine mit einem Neugeborenen überfordert ist. Aber Leo hat ja schließlich auch einen Vater. Ich muss dringend mal nachfragen, ob der sich nicht auch ein bisschen mehr einbringen könnte …

Ich gehe raus in den Garten und sehe von Weitem schon Severin, der mit einem Spaten den Boden beackert.

„Brauchst du Hilfe?“

„Jordan! Hey“, seufzt er. „Ja, gerne. Im Geräteschuppen ist Werkzeug. Wenn du da drüben anfangen könntest? Hier soll ein neues Bodenbeet entstehen ...“

Ich schnappe mir also Handschuhe und einen Spaten und grabe ein paar Quadratmeter Erde um. Severin müht sich sehr ab, ist dabei aber wenig produktiv.

„Mir reicht's“, verkündet er. „Ich hol mir einen Rechen und mach die Erdbrocken klein.“

Eine Weile arbeiten wir schweigend nebeneinander her. Dann fragt er:

„Hast du das schon mal gemacht? Sieht nämlich so aus.“

„Ja. Dylan und ich hatten einen Gemüsegarten hinter unserem Haus. Wir haben für jedes Ehejahr einen Strauch gepflanzt. Und wir haben oft zusammen im Garten gearbeitet. Aber inzwischen ist da sicher alles wieder zugewachsen.“

„Du lebst also nicht mehr in eurem Haus?“

„Nein, ich lebe inzwischen wieder in der Eigentumswohnung, in der ich schon mit Anfang 20 gewohnt habe, als ich von zu Hause ausgezogen bin. Das Haus ist abbruchreif, seit ...“

Severin lässt meinen Blick nicht los, obwohl ich eigentlich nicht weiter drüber reden will. Er macht es mir nicht leicht, auszukommen. Ich überwinde also meine inneren Widerstände und sage:

„Wir haben unser Haus verloren, bei einem Angriff. Dylan war Aussteiger aus der rechten Szene. Er hat viele andere Skins von der Straße geholt und ihnen beim Ausstieg geholfen. Er hat deshalb viele Drohungen bekommen. Er hat sich viele Feinde gemacht. Darunter auch ein rechtsradikaler Waffenhändler, der Dylan davon abhalten wollte, seine Leute „umzuprogrammieren“. Als Dylan nicht auf seine Erpressungen eingegangen ist, hat er Leute geschickt um unsere Kinder zu töten. David konnte mit ihnen fliehen, sie haben nur unseren Hund erwischt und getötet. Und unser Haus mit Sprengstoff fast ganz zerstört. Sie haben Dylan entführt und behauptet, unsere Kinder seien tot. Sie haben ihm sogar blutige Fotos gezeigt, aus unserem Wohnzimmer. Kurz darauf ist seine erste Psychose ausgebrochen.“

Ich spreche ruhig und klar, aber meine Hände umkrallen den Spaten. Ich habe geredet, als würde ich Szenen in einem Film wiedergeben. Als hätte ich nichts mit der ganzen Sache zu tun gehabt. Severins Blick ist unglaublich erschrocken, unglaublich traurig. Diese Gefühle in ihm zu sehen, hilft mir, Zugang zu meinen Gefühlen zu bekommen. Er sieht mir das wohl an. „Wollen wir irgendwo hingehen, wo wir reden können?“

„Ja, gern.“

Er checkt kurz sein Handy:

„Der Ruheraum ist frei. Komm.“

Ich trotte neben ihm her zu einem kleinen Zimmer, das hellorange gestrichen ist. Auf dem Boden liegen Yogamatten und Sitzkissen und es riecht nach Mandarinen. Severin zündet eine Kerze am Fensterbrett an und deutet auf ein Sitzkissen in der Mitte des Raumes.

„Setz dich. Oder leg dich hin. Was dir grad gut tut.“

Ich setze mich hin. Er setzt sich mir gegenüber. Etwas näher, als Leute das für gewöhnlich tun. Wenn ich meine Beine ausstrecken würde, würden sie ihn berühren. Aber die Nähe ist mir nicht unangenehm. Ich weiß, dass er das tut, um mir zu zeigen, dass er Kontakt möchte. Dass er möchte, dass ich weiter erzähle.

„Nächste Woche wäre unser Hochzeitstag. Vor sechs Jahren haben wir geheiratet. In den letzten Monaten habe ich nur an all das Schlimme denken können, das Dylan getan hat, als er krank war. Seit er letztes Jahr gestorben ist, war es, als hätte ich mich von allen Gefühlen abgekapselt. Erst seit ein paar Wochen kann ich manchmal auch wieder glücklich sein. Aber gleichzeitig kam auch die Trauer mit voller Wucht. Und jetzt kann ich nur noch an die guten Zeiten denken. An unsere ersten Tage zusammen, und wie schnell ich wusste, dass er mein Mann werden würde. Daran, wie grandios unsere Hochzeit war. Daran, wie es war, wenn er mir mich selbst erklärt hat. Daran, wie es war, ihn im Zentrum zu sehen, wo er den Kids geholfen hat. Daran, wie es war, mit ihm zu schlafen und mich dabei so unglaublich sicher zu fühlen. Daran, wie es war, als wir gemeinsam Eltern wurden. Und wie es war, als wir nach einer Trennung wieder zusammengekommen sind und unsere Beziehung so viel stärker war als davor. Ich vermisse ihn so unglaublich, dass ich es gar nicht sagen kann. Dass ich Angst davor habe, es mich überhaupt fühlen zu lassen, weil mein Herz dann vor Schmerz zerspringen würde. Und ich will David damit nicht verletzen, denn ihn liebe ich auch. Sogar sehr. Zu sehr, zu schnell. Ich komm nicht mehr hinterher damit, das alles zu verarbeiten. Ich komme nicht hinterher ...“, schluchze ich. „Meine Kinder wären fast getötet worden. Dylan hat mich in einer Psychose angegriffen und wollte David erschießen, weil er ihn für einen Alien gehalten hat. Wie hätte ich Dylan das je verzeihen sollen? Aber jetzt krieg ich nicht mal mehr die Chance, es zu versuchen, weil er tot ist. Weil er weg ist für immer.“

Severin schaut mich an mit einem Blick, der tiefes Verständnis ausdrückt. Ich darf hier weinen. Ich darf hier frei reden. Ich werde hier verstanden.

Er reicht mit ein Papiertaschentuch und fragt:

„Darf ich dich in den Arm nehmen?“

Ich nicke und muss noch mehr weinen, als er seine Arme um mich legt.

Es dauert eine Weile, bis es mir gelingt, mich mit ein paar tiefen Atemzügen zu beruhigen. Dann fühle ich mich besser. Ich fühle meine Liebe zu Dylan und ich fühle meine Liebe zu David und ich fühle, dass beides gleichzeitig in mir Platz hat.

„Danke“, murmle ich.

Severin lächelt:

„Jederzeit, Jordan.“

„Nina könnte denk ich auch mal so eine Sitzung mit dir brauchen“, grinse ich.

Severin schaut besorgt:

„Wie geht es ihr?“

„Sie ist vor allem müde. Und Leo schreit wohl viel. War sie eigentlich schon mal mit dem Kleinen draußen?“

Er überlegt:

„Ich hab sie bisher nur beim Essen gesehen oder mal im Gemeinschaftsraum.“

„Vielleicht braucht sie da mal einen Schubs in die richtige Richtung.“

„Das mach ich, darin bin ich gut.“

„Ja“, nicke ich. „Das hab ich schon bemerkt.“

„Aber eine Sache ist mir ganz wichtig, Jordan. Weil du es gerade Sitzung genannt hast: Das hier war für mich keine Therapiesitzung. Es war ein Freundschaftsdienst. Weil ich das Gefühl habe, dass wir uns sehr ähnlich sind. Und weil ich dich wirklich gut verstehen kann.“

Er drückt kurz meine Hand, dann steht er auf und pustet die Kerze aus:

„So, zurück an die Arbeit. Das Beet legt sich nicht von selbst an.“

Draußen arbeiten wir wieder eine Weile schweigend, dann will ich aber doch auch mal etwas über ihn erfahren – wo er schon so viel Persönliches über mich weiß.

„Christian scheint vom Typ her ganz anders zu sein als du, oder?“

„Ja, das kann man sagen“, grinst er. „Christian hält sich für einen Kopf-Menschen. Aber eigentlich ist er ein Herzensmensch. Er hat ein sehr starkes Gefühl dafür, was richtig und was falsch und was ungerecht ist. Und er spürt auch sehr stark, welche Erwartungen andere an ihn haben. Das hat es ihm im Leben nicht immer leicht gemacht.“

„Ihr seid noch nicht so lange zusammen, meinte David?“

„Nein, wir sind noch im ersten Jahr. Ich bin unglaublich in ihn verliebt. So richtig mit rosa Brille. Für mich ist er meine perfekte zweite Hälfte. Gott, das klingt kitschig“, lacht er.

„Dann ist es zwischen euch wohl schnell ernst geworden?“, frage ich.

„Ja. Ich hatte vom ersten Moment an Vertrauen in Christian. Ich wusste, dass ich mit ihm reden kann. Ich wusste, dass man sich auf das verlassen kann, was er sagt. Und ich wusste, dass ich ihm dringend an die Wäsche wollte“, grinst er.

„Ich wollte David auch vom ersten Moment an an die Wäsche, als wir uns vor vielen Jahren das erste Mal getroffen haben. Das hab ich ihm aber nicht gezeigt. Damals war ich schon verheiratet und er frisch verliebt. Und danach hat sich mein Fokus irgendwie verschoben. Wir wurden Freunde. Der Gedanke, was mit ihm anzufangen kam mir nie mehr. Aber ich hab ihm auch vom ersten Moment an vertraut. Eine Verbindung gespürt.“

Mein Handy vibriert. Ich habe eine Nachricht von David bekommen:

„Hey Liebling. Sehen uns um 18 Uhr direkt bei Cora. Ich treffe mich hier gleich … mit Max. Ich liebe dich!“

„Oh-kay“, sage ich.

„Was ist?“, fragt Severin.

„David trifft sich gerade mit seinem Ex-Freund. Und ich bin – entgegen meiner sonstigen Gewohnheiten ziemlich eifersüchtig.“

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