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A longer Way

Teil 5

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Xanders Bruder hat mich noch nicht bemerkt. Warum habe ich eigentlich nicht früher an ihn gedacht? Er hat mir damals im Krankenhaus auch geholfen. Er wird mir sagen, wo Xander ist. Er muss einfach! Ich stehe auf, habe Michael fast vergessen.

„Ich muss kurz … bin gleich wieder da“, stammle ich und gehe auf die Gruppe zu, die im hinteren Teil des Raumes sitzt und trinkt.

Ich bin auf halbem Weg, als Ryan mich bemerkt. Es sieht aus, als würde er nach einem Fluchtweg suchen, aber er sitzt auf einer Bank zwischen zwei anderen Kerlen.

„Hi.“

Die Gruppe verstummt und sieht zu mir auf. Alles Quarterbacks und Cheerleader, zumindest sehen sie so aus. Ich streiche mir eine grüne Strähne aus der Stirn und frage in Ryans Richtung:

„Kann ich dich kurz sprechen?“

Der Kerl neben ihm steht auf, aber nicht etwa um ihn durchzulassen, sondern um sich vor mir aufzubauen.

„Was willst du?“, fragt er bedrohlich.

Ich ignoriere ihn so gut es geht und mache einen Schritt zur Seite, um Ryan wieder ansehen zu können.

„Fünf Minuten, bitte.“

Er steht tatsächlich auf. Gott sei Dank.

„Komm.“

Er führt mich raus vor die Tür.

Ich rieche Bier. Wie alt ist er eigentlich? Alt genug um zu trinken bestimmt noch nicht. Mann, was denk ich da eigentlich?! Als ich in seinem Alter war …

„Was willst du?“, reißt er mich aus meinen Gedanken.

„Ich würde gerne deinen Bruder besuchen.“

„Das ist keine gute Idee.“

„Ich will ihn nicht nur besuchen. Ich will wieder mit ihm zusammen sein.“

„Du hast doch keine Ahnung, wie es ihm geht.“

„Ich weiß, dass er nicht mehr im Krankenhaus ist, sondern in einer Psychiatrie und ich weiß, dass ich daran schuld bin. Aber ich weiß auch, dass ich ihm helfen kann. Er hat das alles nur getan, weil er dachte, mich für immer verloren zu haben. Aber das hat er nicht, Ryan.“

„Bist du sicher, dass du das willst? Wenn er dich noch mal verliert …“

„Ich bin sicher.“

„Lemongrove Memorial.“

Ich kann es im ersten Moment gar nicht glauben. Er hat mir tatsächlich den Namen der Klinik genannt!

„Danke! Gott, ich dank dir.“

Von plötzlicher Euphorie ergriffen, umarme ich ihn kurz.

„Schon gut. Versau es einfach nicht, okay?“

„Werde ich nicht. Ich werde ab jetzt auf deinen Bruder aufpassen, das schwöre ich.“

Ich muss ihn einfach noch mal umarmen. Mein Bauch kribbelt. Jetzt steht mir nichts mehr im Weg. Gleich morgen kann ich zu Xander fahren!

„Lass uns wieder reingehen, okay?“, fragt Ryan und seine nach oben gezogenen Mundwinkel verraten, dass er sich von meiner Euphorie hat anstecken lassen. Zumindest ein ganz klein wenig.

Michael sieht mich verwundert an. Vermutlich, weil ich wie ein Idiot grinse und nicht aufhören kann.

„Alles in Ordnung?“

„Bestens!“

„Na dann frisch ans Werk.“

Der Rest ist schnell überarbeitet. Ich kann mich erstaunlich gut drauf konzentrieren, aber ich merke schon, dass ich heute Nacht vor lauter Aufregung nicht viel Schlaf abbekommen werde.

Ria ist noch wach. Es ist kurz nach elf. Sie liegt im Bett und blättert in einem Magazin.

„Hallo. Du warst aber lange weg.“

„Ja, ich hab einem Dozenten noch bei was geholfen.“

„Achso, Extrapunkte sammeln, was?“

„Kann ja nicht schaden.“

„Und warum grinst du so?“

„Grinse ich?“

„Bis über beide Ohren.“

„Hm, Geheimnis. Erzähl mir lieber, wie dein erster Tag war.“

„Schön, aber anstrengend. Ich musste sogar Kisten schleppen. Mädchen für Alles hört sich viel zu leicht an.“

„Bist du sicher, dass du diesen Job willst?“

„Ich bin sicher, dass ich diesen Job brauche.“

„Verstehe …“

„Aber wenigstens sind die Kolleginnen nett.“

Während ich mich umziehe, erzählt sie von ihrem Tag. Ich merke, dass sie darauf wartet, dass ich zu ihr ins Bett krieche. Aber das geht heute nicht. Wenn alles gut läuft, geht das nie mehr. Morgen sehe ich Xander. Meine Ängste sind wie weggeblasen. Egal wie schlecht es ihm geht, zusammen schaffen wir das. Ich höre noch ein wenig Einschlafmusik, dann gleite ich nahtlos in einen Traum von Xander und mir, gemeinsam auf der Bühne bei Red Snow.

Ria und ich frühstücken zusammen, von den Anderen ist mal wieder niemand zu sehen und sie fragt, was ich so vorhabe.

„Ich fahre einen Freund besuchen. Du?“

„Ich habe eine Kurzschicht im Spa und heute Abend … du weißt ja, da gehe ich mit Vince essen.“

„Dann darf ich heute Nacht wohl nicht mit dir rechnen, was?“, grinse ich.

„Ich nehme an, da bin ich außer Haus, ja“, lächelt sie.

Ich google den Namen der Klinik. Die Adresse ist circa eine dreiviertel Stunde von hier. Sieht ganz gut aus, so gut so eine Institution eben aussehen kann. Nicht gerade klein und nicht gerade für Arme. Ich muss mich noch ein wenig zügeln. Vor Mittag sollte ich da nicht auftauchen. Bis ein Uhr muss ich mich also noch gedulden. Aber bei Musik und Schreiben vergeht die Zeit schon irgendwie.

Im Auto werde ich doch nervös. Jetzt geht es um alles. Was wenn Xander mich nicht zurücknimmt? Dann ist alles umsonst gewesen. Was wenn seine Mutter dort ist und mich nicht zu ihm lässt? So viel könnte schiefgehen. Außerdem macht mein Bein wieder Zicken trotz der Pille am Morgen. Zu allem Überfluss staut es sich auch noch auf dem Freeway. Ich fahre ab, nehme ein paar Schleichwege, verfahre mich prompt, muss einen Umweg in Kauf nehmen und bin erst nach zwei in der Gegend der Klinik.

Ich folge der Beschilderung Richtung Gästeparkplatz, stelle den Wagen ab und muss an eine Pforte. Das eigentliche Klinikgelände ist abgeschirmt durch eine hohe Sichtschutzmauer. Ein grimmiger schwarzer Pförtner schaut mich aus seinem Glashäuschen auffordernd an.

„Guten Tag. Ich möchte gerne Xander Paulson besuchen.“

„Ihr Name?“

„Jordan Handerson.“

Er tippt auf seiner Tastatur rum.

„Sie stehen nicht auf der Besucherliste.“

„Wie ist es mit Jordan Bonanno?“

„Auch nicht.“

„Ja, sehen sie, das ist mein erster Besuch hier, also …“

„Der Patient oder die Angehörigen müssen sie auf diese Liste setzen. Sonst kann ich nichts für sie tun. Schönen Tag noch“, wünscht er mir im bestimmenden Tonfall.

„Aber es muss doch eine Möglichkeit geben …“

„Kontaktieren sie Mr. Paulsons Angehörige, damit die sie auf die Liste setzen.“

„Ja wo soll ich deren Nummern denn jetzt hernehmen?“

„Dann muss ich sie jetzt bitten …“

„Hören sie, ich bin weit gefahren, um Xander sehen zu können …“

„Sir, ich muss sie jetzt bitten …“

„Sie wollen zu Xander Paulson?“, fragt eine weibliche Stimme hinter mir.

Ich fahre herum und sehe eine junge Kittelträgerin.

„Ja, ich bin … ein alter Freund. Er hat wohl nicht mit meinem Besuch gerechnet, deshalb hat er mich nicht auf die Liste gesetzt.“

„Wie ist ihr Name?“

„Jordan Handerson.“

„Ah, verstehe. Kommen sie. Ich kümmere mich darum, Malik“, erklärt sie dem Pförtner, der uns missmutig hinterherschaut.

„Wie sie meinen, Doktor Garcia.“

Etwas überrumpelt trotte ich hinter ihr her, sie lässt mich zu sich aufschließen.

„Also Mr. Handerson. Ich bin Xanders Ärztin. Und ich weiß, wer sie sind.“

„Oh … ja.“

„Warum sind sie hier?“

„Um mit Xander zu sprechen … um ihm zu sagen, dass … dass ich für ihn da bin.“

„Überlegen sie sich gut, was sie ihm zumuten. Wenn sie das nicht ernst meinen oder nur ihr schlechtes Gewissen beruhigen wollen …“

Ich schüttle schnell den Kopf.

„Ich hab mich von meinem Mann getrennt. Mir ist es ernst.“

Sie schaut zwar immer noch skeptisch, aber auch eine Spur … erleichtert?

„Kommen sie, er ist im Park.“

Sie führt mich durch die Grünanlage über perfekt verlegtes Pflaster und an perfekt gestutzten Sträuchern vorbei zu einer großen Wiese mit Englischem Rasen. Dann deutet sie quer nach rechts auf eine Baumgruppe. Eine riesige Weide steht dort und lässt traurig ihre Zweige hängen. Darunter erkenne ich ein paar Bänke. Die meisten sind verlassen. Doch auf einer sitzt eine schwarz gekleidete Gestalt, irgendwie in sich zusammengesunken. Ich gehe darauf zu, den Weg entlang, der mich erst ein Stück nach rechts führt, dann endlich immer näher ran. Ich erkenne Xanders Profil. Er ist so blass. Und seine Haare sind komplett abgeschoren, soweit ich das von hier sagen kann. Ich beschleunige meine Schritte. Wie konnte er in den paar Wochen bloß so viel abnehmen? Er hört Musik, ich glaube, er hat die Augen geschlossen. Ich bin bis auf zehn Meter heran, werde langsamer. Seine Wangen sind mit roten, blutigen Flecken übersät. Wo ist seine Porzellanhaut geblieben? Er bewegt sich, zieht seine Beine zu sich nach oben und umfasst sie mit seinen dünnen Armen. Ich erkenne dunkle Narben darauf. Inzwischen höre ich das Rauschen aus seinen Kopfhörern. Er muss die Musik bis zum Anschlag aufgedreht haben. Seine Augen sind tatsächlich geschlossen. Er ist in einer anderen Welt. Ich kenne das aus eigener Erfahrung. Für ein paar Sekunden stehe ich neben der Bank.

Dann setze ich mich neben ihn. Nah genug, dass er meine Anwesenheit bemerkt, aber nicht so nah, dass er sich bedrängt fühlen könnte. Langsam, fast widerwillig schlägt er die Augen auf und dreht seinen Kopf zu mir. Seine Augen, sie sind gerötet und traurig und irgendwie … verbraucht. Das Leuchten darin ist weg. Sie weiten sich auch nicht, als sie mich erkennen. Langsam nimmt er die Kopfhörer ab, seine Stirn leicht in Falten gelegt. Ich habe Angst. Er sieht mich einfach nur an, mein Mund öffnet sich um etwas zu sagen, aber es kommt nichts raus. Er setzt seine Beine auf den Boden. Wird er etwa weggehen? Er verschränkt seine Arme, als würde er sich selbst umarmen.

„Was machst du hier?“, flüstert er.

„Ich liebe dich.“

Seine Augen weiten sich nun doch, aber eher vor Überraschung als vor Freude, glaube ich. Die Falten auf seiner Stirn sind verschwunden. Seine Wangen sind so eingefallen und die Farbe seiner Haut ist fast gräulich. Die Ringe unter seinen Augen lassen ihn viel älter wirken als er ist. Wir sehen uns eine Weile nur an. Ich wage es nicht, näherzukommen. Seine Hand schnellt an seinen Mund, er kaut nervös an seinen Nägeln herum. Dabei schaut er mich fast Hilfe suchend an. Soll ich?

Ich greife langsam nach seiner Hand und ziehe sie zu mir, weg von den Zähnen, die sie schon blutig gebissen haben. Ich streiche über die Finger, spüre Kälte und Speichel und narbige Haut.

„Alles wird wieder gut, Xander“, flüstere ich und bin den Tränen nahe.

Er presst seine Lippen aufeinander. Ist das sein Versuch eines Lächelns? Meine Hände reiben über seine Linke, ich muss ihn aufwärmen. Seine Rechte schiebt sich auch noch dazwischen. Ich rücke näher, halte einfach nur seine Hände und sehe ihn an.

„Ich brauche dich“, höre ich ihn leise.

„Ich weiß. Ich bin für dich da. Ich gehe nicht mehr weg, das schwöre ich.“

Damit scheint er seine Skepsis zu verlieren, denn sein Oberkörper beugt sich zu mir, lässt sich von mir festhalten. Ganz vorsichtig streiche ich über seine Schultern, ziehe ihn sachte an mich. Seine Beine legt er über meine, so wie wir es oft im Bus gemacht haben, wenn er schlafen wollte. Ich spüre seinen Atem an meinem Hals. Sogar der kommt mir zu kühl vor.

„Es tut mir so leid, Xander.“

„Jetzt bist du ja da.“

Ich halte ihn noch ein bisschen fester. Er entspannt sich.

Mein Blick fällt wieder auf die zerschundene Haut auf seinen Armen. All der Schmerz und die Verzweiflung. Ich spüre sie deutlich. Zu deutlich. Jetzt muss Xander mich festhalten. Ich höre seinen viel zu schnellen Herzschlag. Oder ist es meiner? Wir klammern uns aneinander. Er atmet tief durch, saugt meinen Geruch ein, schmiegt sich an mich. Ich küsse seinen Nacken, versuche ihm so nah zu sein, wie es nur geht. Ich hab das Gefühl, mein Herz bricht mir gleich die Rippen, wenn es weiter so pocht.

„Schhh, ist doch gut, mein Schatz“, höre ich ihn flüstern.

„Es tut mir so schrecklich leid.“

„Schhh. Jetzt sind wir ja wieder zusammen.“

Nach einer Weile kommt eine Schwester und erklärt, dass Xander jetzt zu seinen Therapiesitzungen muss. Widerwillig lösen wir uns voneinander. Ein Abglanz des alten Leuchtens ist in Xanders Augen, als er mir aufmunternd über die Wange streicht.

„Sei nicht mehr traurig, Jordan.“

„Wann kann ich dich morgen sehen?“

„Komm um vier.“

„Gut … Darf ich …“

„Küss mich endlich“, lächelt er schief.

Und das tue ich. Oh ja, das tue ich.

Im Auto schwirrt mir immer noch der Kopf und ich habe das Gefühl, ein paar Zentimeter über dem Sitz zu schweben. Ich höre beschwingte Musik, trällere fröhlich mit, hab ungefähr tausend Songideen im Kopf und fühle Xanders Kuss noch immer auf den Lippen.

Ich fahre gleich noch einkaufen und komme gegen halb fünf nach Hause. In der Küche ist es mir entschieden zu voll. Das Pärchen kocht. Der Koloss sitzt am Tisch und wartet scheinbar drauf, bedient zu werden. Ich verstaue nur kurz mein Zeug im Kühlschrank und verschwinde wieder. Das Bad ist auch blockiert. Toll.

„Da ist deine Freundin drin. Schon seit einer halben Stunde.“

Hinter mir steht der Furlong-Verschnitt. Verdammt, wie heißt der noch mal?

„Ria ist nicht meine Freundin“, stelle ich klar.

„Was auch immer. Langsam könnte sie da jedenfalls mal rauskommen.“

Ah natürlich, das Date mit Vince, das hatte ich ja ganz vergessen. Ich stell mich mal lieber drauf ein, dass das Bad noch eine Weile besetzt sein wird, und schreibe Dylan und Nikki erst mal SMSen, in denen ich mich nach den Kids erkundige.

Nikki ruft sofort an.

„Hey.“

„Wann hattest du vor, es mir zu sagen?“

„Was?“

„Was?! Dass du ausgezogen bist!“

„Das ist nichts, was man gern erzählt, Nikki.“

„Also ist eure Ehe durch?“

„Ja.“

„Aber vielleicht …“

„Nein Nikki. Es ist vorbei.“

„Was hast du gemacht?“

„Wieso denkst du sofort, dass ICH was gemacht habe?“

„Hast du nicht?“

„Doch“, gebe ich zu.

„Jordan!“

„War das dann alles?“

„Nein. Wann kannst du Gwen nehmen? Sie fragt ständig nach dir. Und nach Dylan übrigens auch. Wie soll das denn jetzt weitergehen?“

„Ich wohne wieder in der alten Wohnung und richte für Gwen und die Zwillinge ein Zimmer ein.“

„Und Dylan?“

„Er wird weiter im Haus wohnen. Mit Kate und den Zwillingen.“

„Aha. Und wann kannst du Gwen nun nehmen?“

„Übermorgen?“

„Alles klar. Holst du sie …“

„… dann vom Kindergarten ab, ja.“

„Okay, dann bis dann.“

„Und Nikki?“

„Ja?“

„Mir geht’s gut, danke der Nachfrage.“

Sie schnaubt nur und legt auf. Ein Feingefühl wie ein Elefant hat diese Frau.

Ich entschließe mich, David eine kurze Mail zu schreiben. Aus einer kurzen wird dann doch eine recht lange, in der ich ihm ziemlich detailliert von der Trennung von Dylan berichte und von allem, was in der kurzen Zeit, die ich wieder in den Staaten bin, passiert ist. Auch von Ria und vor allem von Xander. Als ich meine eigenen Beschreibungen noch mal durchlese, wird mir klar, dass Xander und ich noch einen langen Weg vor uns haben. Er ist ein ganz schönes Wrack und ich bin auch nicht unbedingt in Höchstform. Seine Mutter wird bestimmt alles andere als erfreut sein, dass ich wieder aufgetaucht bin. Und Tyler wird sich auch nicht einfach so geschlagen geben.

Ria blockiert immer noch das Bad. Toll. Dann statte ich eben Janet und Tobey mal einen Besuch ab. Ist eh überfällig.

Die beiden sitzen grad beim Abendessen. Sandwiches. Wie günstig.

„Hast du Hunger?“

„Und wie. Aber kann ich vorher bei euch aufs Klo?“

„Sicher.“

Als ich wiederkomme, schauen sie mich fragend an.

„Ria blockiert seit Stunden das Bad“, erkläre ich.

„Ach?“

„Ja, sie muss sich wohl besonders hübsch machen, für ihr Date mit Vince.“

„Deinem Vince?“, fragt Janet erstaunt.

Oh oh.

„Ich wusste gar nicht, dass er bi ist“, meint Tobey.

„Ja, also … jedenfalls … bekomm ich so ein Sandwich?“

„Bedien dich.“

„Also wie war das jetzt mit Ria und Vince“, hakt Janet nach.

„Die beiden gehen seit Kurzem miteinander aus. Für Details fragt die Betroffenen.“

„Na schön. Du bist immer so schrecklich integer …“

„Klar“, grinse ich.

„Okay, dann erzähl uns wenigstens endlich, was bei dir los ist. Warum wohnst du wieder hier?“

„Hat das nicht Zeit bis nach dem Essen?“

„Oh, also ist es ernst.“

„Dylan und ich haben uns getrennt.“

„Du meinst auf Zeit … wegen der Sache mit Xander?“, fragt Janet vorsichtig.

„Nein, für immer. Ich bin wieder mit Xander zusammen.“

„Was?!“, machen beide gleichzeitig.

Tobey findet seine Sprache als Erster wieder.

„Seit wann?“

„Ganz frisch.“

„Ich hab ihn hier nicht gesehen.“

„Nein, er ist in einer Klinik.“

„In was für einer Klinik?“

„Er hat versucht, sich das Leben zu nehmen, okay?!“, schnauze ich und lege das Sandwich, das ich gerade angefangen habe, weg.

Die beiden werfen sich einen verdammt überheblichen Blick zu. Armer dummer Jordan, oder was?!

„Ihr habt keine Ahnung, was los war, okay?!“

„Dann erzähl es uns.“

Widerwillig fange ich damit an und ende mit meinem Besuch in der Klinik.

Janet holt tief Luft.

„Ich weiß nicht, Jordan …“

„Aber ich weiß. Ich liebe ihn. Ich will für ihn da sein. Punkt. Mehr gibt es dazu nicht zu sagen.“

„Aber was ist mit den Zwillingen?“, fragt Tobey.

„Was soll mit ihnen sein? Sie sind bei Dylan und Kate gut versorgt.“

„Aber … vermisst du sie denn nicht?“, fragt er vorsichtig.

Treffer.

„Jordan …?“

„Nein. Ich weiß, ich bin ein schrecklicher Vater, aber nein, ich vermisse sie gerade nicht. Der Einzige, den ich vermisse, ist Xander. Mir ist klar, wie ihr jetzt von mir denkt, aber …“

„Ich würde nie schlecht von dir denken, Jordan“, flüstert Janet und hat Tränen in den Augen. „Das sind nur die verdammten Hormone, ich bin grad so nah am Wasser gebaut.“

Sie fächert sich vor den Augen rum.

„Ach Janet, es ist doch alles gut …“, versuche ich sie zu beruhigen.

„Ich wünsche dir wirklich, dass du glücklich wirst. Und jetzt leg ich mich etwas hin.“

„Okay …“

Sie gibt mir einen Kuss auf die Wange und verschwindet.

„Lass uns auf den Balkon gehen“, schlägt Tobey vor.

Dort steht ein bequemes altes Zweisitzersofa, daneben ein kleiner Kühlschrank.

„Bier?“

„Gern.“

„Bist du dir sicher?“

„Ehm, klar, ein Bier kann nicht schaden, oder?“, frage ich verwirrt.

„Das meine ich nicht.“ Er setzt sich neben mich und reicht mir eine Dose. „Bist du sicher, was Xander betrifft? Ich meine, ihr wart eine Weile zusammen, gut. Aber mit Dylan warst du viel länger zusammen. Du hast ihn geheiratet, wir haben alle deinen Schwur damals gehört. Und jetzt willst du einfach wieder zu Xander zurück? Ich meine, verwechselst du nicht vielleicht Nostalgie mit echten Gefühlen?“

„Ach komm schon, Tobey …“

„Nein, ich könnte das gut nachvollziehen, weißt du? Dieses ganze Babyzeug kann einem echt Angst machen. Da kommen gerne mal alte Gefühle wieder hoch.“

„Ehm, reden wir jetzt von dir oder von mir?“

„Ich hätte letzte Woche beinahe etwas sehr Dummes getan“, gibt er leise zu.

„Was? Wann?“

„Als du hier warst und nach einer Unterkunft gefragt hast.“

„Tobey …“

„Aber ich hab erkannt, warum ich das wollte. Und es ging dabei nicht um dich. Es ging um die ganze Babysache. Typischer Fall von Torschlusspanik.“

„Okay … das mag schon sein, aber so ist es bei Xander nicht. Ich liebe Dylan. Wirklich, das tu ich. Aber mit ihm zusammen sein … zwingt einen in eine gewisse Rolle. Eine anstrengende Rolle. Er hat viel zu geben, sicher. Er ist stark und verlässlich und so weiter. Für die Kinder war er die beste Wahl und ich bereue auch nicht, mit ihm die Zwillinge bekommen zu haben. Aber für mich ist er nicht der Richtige. Für mich als Person, als Künstler. Ich hab das Gefühl, wenn ich weiter mit ihm zusammengeblieben wäre, dann wäre ein wichtiger Teil von mir verkümmert. Deshalb musste ich diesen Schritt jetzt machen, weißt du? Für mich. Für niemanden sonst.“

Tobey schaut mich erst mal ein paar Sekunden ausdruckslos an. Ich bin selbst etwas baff von meiner Ansprache. So klar hab ich das zuvor noch nie formuliert. Aber es trifft so ziemlich den Kern der Sache.

„Wenn das so ist, dann hast du wohl das Richtige getan … irgendwie.“

„Ja, ich glaube auch. Und jetzt sollte ich mal nach Ria sehen. Danke für das Sandwich und das Bier.“

Mein Blick fällt auf die Tageszeitung auf einem kleinen Tisch neben der Couch.

„Ah, kann ich den Lokalpolitikteil haben?“

„Äh sicher“, antwortet Tobey etwas überrumpelt.

„Danke. Gute Nacht. Und gib Janet einen Kuss von mir. Tut mir leid, dass sie sich wegen mir aufregen musste.“

Tobeys Geständnis hat mich zu meiner eigenen Überraschung nicht im Geringsten aus der Fassung gebracht. Vorige Woche wäre das noch ganz anders gewesen. Wieder ein Beweis, dass es richtig war, mich für Xander zu entscheiden. Und mein Bein tut auch so gut wie nicht mehr weh. Morgen versuch ich es erst mal ohne Pillen.

Ria ist inzwischen aus dem Bad raus. Sie wirbelt durch’s Schlafzimmer und erklärt, dass sie absolut nichts Anzuziehen hat. Schwer zu glauben, bei den ganzen Stofffetzen, die gerade durch die Gegend fliegen.

„Hilf mir doch, Jordan! Vince wird in einer halben Stunde hier sein!“

„Ehm ja also … ihr geht also essen?“

„In ein schönes, teures, französisches Restaurant. Ich darf also auf keinen Fall zu billig wirken.“

„Dann fällt das kleine Schwarze wohl aus. … Und alles was Großkatzenmuster drauf hat zum Glück auch.“

Sie schnauft genervt.

„Du sollst mir nicht sagen, was ich nicht anziehen darf, sondern was ich anziehen soll!“

„Hast du überhaupt Kleider, die bis über die Knie gehen?“, grinse ich.

„Du bist nur neidisch auf meine tollen Beine“, schnappt sie zurück.

„Sicher, erwischt. Heimlich trage ich immer Miniröcke …“

„NICHT HILFREICH!“

„Ist ja gut. Zeig mir mal alle deine langen Kleider. Und deine langen Röcke.“

Wir treiben einen schwarzen, schön fließend über die Knie fallenden Rock auf, zu dem Ria ein ebenfalls schwarzes Spaghettiträgertop kombiniert und einen silbergrauen Bolero, so nennt man, wie ich mich aufklären lasse, die zu kurz geratenen Jacken, die gerade wieder in sind. Nachdem sie mich dann auch noch mit der Auswahl von Schuhen und Accessoires genervt hat, gibt sie sich zufrieden. Keine Sekunde zu früh, es klingelt.

Ich bin froh, als endlich Ruhe eingekehrt ist, mache mir noch eine Kleinigkeit zu essen und lege mich dann in Rias bequemem Bett schlafen.

In letzter Zeit träume ich sehr viel und sehr realistisch. Meistens mit Hintergrundmusik, die ich immer sofort auf meinem MP3-Player-Diktiergerät festhalte. Ich probiere ein paar Melodien aus, blättere mal durch den gestrigen Lokalpolitikteil, finde ein paar Themen aus dem Seminar wieder, schreibe Dylan eine SMS, suche mir Mittagessen zusammen, begegne den grummeligen Noch-Mitbewohnern …

Gegen eins schleicht Ria herein und zieht mich gleich mit sich ins Schlafzimmer.

„Naaaa?“, grinse ich.

„Wow. Einfach nur WOW. Vince ist unglaublich!“

„Oh ja, das ist er.“

„Was er alles für Bewegungen drauf hat … und, na du kennst das alles ja, seine Zungensache, die er beim Blasen macht.“

„Du meinst die Fünf-Zonen-Nummer?“

„Genau die“, seufzt Ria.

„Oh ja, ich erinnere mich.“

„Mich hat’s wirklich schwer erwischt, Jordan. Und ich glaube, ihn auch. Gott, ich hoffe ihn auch! Oh nein, was ist, wenn es ihm nicht so gefallen hat wie mir? Im Gegensatz zu ihm bin ich doch total unerfahren! … Jordan! Du musst rausfinden, wie er es fand. Ruf ihn an.“

„Was?!“

„Unter irgendeinem Vorwand. Sag einfach … du wolltest mich was fragen oder so. Was WG-mäßiges das nicht warten kann. Komm schon. Tu’s für mich“, dackelblickt sie mich an.

„Na gut“, höre ich mich sagen.

Sie drückt mir sofort mein Handy in die Hand.

„Hey Jordan.“

„Hey. Ich hoffe ich störe nicht. Ich wollte nur Ria was fragen.“

„Oh, sie ist schon seit einer Weile weg. Sie sollte bald zu Hause ankommen.“

„Oh, achso, dann warte ich wohl einfach.“

„Okay.“

„Na dann …“

Rias Augen werden riesig und sie schüttelt den Kopf. Na schön, da muss ich jetzt durch.

„Ich dachte nur, ihr würdet den Tag zusammen verbringen oder so.“

„Nein, Collin bringt gleich Danny vorbei.“

„Achso. Dann natürlich nicht.“

„Aber ich hätte es schon gern, wenn die zwei sich bald kennenlernen.“

„Ria und Danny?“, frage ich erstaunt. „Dann ist es euch wohl ziemlich ernst miteinander, was?“

„Ich glaube schon. Also mir zumindest. Ich hoffe ihr auch. Jordan, du bist doch mit ihr befreundet …“

Oh Mann. Ich spiel das Spiel auf keinen Fall in zwei Richtungen.

„Ja bin ich. Und ich kann dir sagen, sie ist total verschossen in dich. Mach dir mal keine Gedanken.“

Ria rammt mir den Ellbogen in die Rippen und bedeutet mir, dass ich nicht mehr ganz dicht bin. Vince hingegen fragt selig:

„Ja wirklich? Ich mag sie nämlich auch wirklich sehr.“

„Ah, sie kommt gerade zur Tür rein. Ich geb sie dir gleich.“

Ria winkt panisch ab, aber ich bleibe hart.

„Denkt an meine arme Handyrechnung“, mahne ich und lasse sie allein.

Der Koloss steht in der Küche und nimmt ganz schön viel Licht weg.

„Hey“, mache ich unverbindlich.

„Hallo.“

Ich schiebe mich an ihm vorbei, um mir was zu trinken aus dem Kühlschrank zu holen.

„Ich hab ne neue Wohnung gefunden. Bin in ein paar Tagen weg.“

„Ah, okay, dann kann ich anfangen, für’s Kinderzimmer einzukaufen.“

„Walt und Sally bist du dann auch los. Wir gründen wieder ne WG.“

„Es geht echt nicht drum, euch loszuwerden. Ich brauch den Platz einfach für meine Kinder.“

„Was auch immer …“

Er zieht ab. Na das ist doch gut gelaufen …

Der Furlong-Kerl kommt rein.

„Was isn mit dem los?“, fragt er, dem Koloss hinterherdeutend.

„Er nimmt mir übel, dass ich euch aus der Wohnung vertreibe.“

„Ah.“

„Dabei hat er eh schon was Neues, zusammen mit Sally und Walt.“

„Ich war auch schon bei ein paar WGs und so, aber es ist nicht so leicht, was zu finden mit meiner Vorgeschichte.“

„Lass dir Zeit. Solange ich oben alles fertigmachen kann, damit meine Kinder hier auch mal ein Wochenende verbringen können oder so, ist alles gut. Sag mal, wie heißt du noch mal?“

„Xander.“

Ich glaub ich hab mich verhört!

„Wie??“

„Xander. Das ist eine Abkürzung v…“

„… von Alexander. Ich weiß. Mein Freund heißt auch so.“

„Oh, achso … Ich dachte, du und unser Betreuer, ihr wärt verheiratet.“

„Dylan. Und wir leben getrennt.“

„Ich weiß, wie er heißt. Immerhin hat er mir den Arsch gerettet.“

Mal wieder eine Story über Dylans Heldentaten im Zentrum mag ich mir gerade nicht anhören. Ich weiß ja, wie toll er ist. Und ich weiß, wie scheiße es von mir ist, ihn jetzt zu verlassen, kurz nach der Geburt der Zwillinge. Ich muss wohl damit leben, das Arschloch zu sein. Aber immerhin bin ich ein glückliches Arschloch.

Ich wende mich zum Gehen.

„Sorry, ich wollte dir nicht auf den Schlips treten“, höre ich hinter mir.

Ich drehe mich wieder zu ihm.

„Bist du nicht. Zurzeit ist nur alles ziemlich verfahren.“

„Kann ich mir vorstellen.“

„Ich brauch jetzt etwas zum Abschalten.“

„Im Wohnzimmer steht ein Fernseher. Ich frage mich schon die ganze Zeit, wem der gehört.“

„Der gehört zur Wohnung“, erkläre ich.

„Gut. Irgendwie sitzt immer nur Biggs davor. Ich schau mal, was läuft.“

Naja, Fernsehen ist jetzt eigentlich nicht das Richtige, aber solange Ria im Schlafzimmer noch telefoniert …

Xander 2 (ich bin ziemlich sicher, dass ich seinen Namen noch gar nicht kannte, denn DEN hätte ich sicher nicht vergessen) zappt durch die Programme.

„ … eine Einheit. Das Leid eines Einzelnen ist das Leid der ganzen Gemeinsch…“

„Halt! Schalt noch mal zurück.“

Er wechselt wieder auf den Nachrichtenkanal. Da steht ein vielleicht fünfundvierzigjähriger Schwarzer mit grau melierten Schläfen und hält auf einem Podium DIE Rede. Ich lese die Einblendung.

„Ramir Vuza – District 14.“

„Willst du den Scheiß echt anschauen?“

„Wart mal noch kurz.“

Das Publikum ist bunt gemischt. Viele junge Leute aller Hautfarben. Das ist irgendein Park, kommt mir bekannt vor. Muss eine Aufzeichnung von heute Nachmittag sein, denn die Sonne scheint.

Eine weibliche Stimme aus dem Off erklärt:

„Laut Experteneinschätzungen hat der Schriftsteller Vuza gute Chancen, ab September seinen Wahlbezirk im Stadtrat zu vertreten. Mit dem kolumbianischstämmigen Vater und der äthiopischen Mutter wäre er damit der erste offen schwule Farbige, der als Vertreter seiner Gemeinde bestätigt wird.“

Danach folgt ein Bericht über neugeborene Bären im Zoo.

„Okay, du kannst umschalten.“

„Kennst du den?“

„Nein … aber ich hab gestern seine Rede überarbeitet.“

„Ehm?“

„Ich muss jetzt mal nach Ria schauen. Sonst macht mich die Telefonrechnung am Monatsende arm.“

Ich klopfe an und stecke sogleich meinen Kopf zur Tür rein. Sie sitzt auf dem Bett und dreht ihre Haare zwischen den Fingern, wie eine verliebte Teenagerin. Die sie ja auch ist, fällt mir ein.

„Oh, hey … Jordan ist gekommen, um sein Telefon zurückzufordern. Ja, ich frag ihn gleich. Warte kurz.“

Sie drückt das Handy an ihre Brust und fragt mich:

„Wann hast du deine Tochter wieder?“

„Gwen? Übermorgen Nachmittag. Warum?“

„Übermorgen Nachmittag“, wiederholt sie in den Hörer. „Passt dir das? … Okay, dann mach ich das aus. … Ich vermiss dich auch. Bis bald.“

Sie schmatzt noch ins Telefon und legt auf.

„Was passt Vince auch?“

„Er wollte mich gerne Danny vorstellen.“

„Wirklich? Schon?“

„Das macht alles unkomplizierter, meint er.“

„Okay, und was hat das mit Gwen und mir zu tun?“

„Wir dachten, wir könnten vielleicht was zu fünft unternehmen, so zur Eingewöhnung.“

„Achso. Ja, können wir machen. Gwen und Danny verstehen sich auch ganz gut.“

„Ich hab gehört, Gwen stiftet den Kleinen immer zu allem möglichen Unfug an“, grinst Ria.

„Ja, das ist meine Tochter“, lächle ich stolz.

Den restlichen Abend verbringe ich am Laptop. Erst lese ich alles, was ich damals über Xander und mich aufgeschrieben habe, noch mal durch, bis dahin, wo wir in San Diego zusammen auf der Bühne standen. Den Rest erspar ich mir lieber. Dann fange ich an über die Dinge zu schreiben, die seit der Geburt der Zwillinge passiert sind. Damals, nach den Schüssen, hat mir das Schreiben geholfen, mir über ein paar Sachen klar zu werden. Vielleicht klappt das ja wieder. Ich hab zum Beispiel keine Ahnung, wie ich Frieden mit Josh schließen könnte. Wir sind sehr verschieden und je älter er wird, umso deutlich macht sich das bemerkbar.

Was mir auch klar wird, ist, dass es vorprogrammiert war, dass Xander und ich wieder zusammenkommen. Wäre mein Großvater uns damals nicht dazwischengekommen, wären wir nie getrennt worden. Er und ich, wir sind verbunden. Die Musik verbindet uns und unsere Lebenseinstellungen und unsere gemeinsame Geschichte. Xander ist mein Schicksal. Und meine Inspiration.

Punkt vier am nächsten Nachmittag stehe ich wieder an der Pforte.

„Hey Malik“, grinse ich.

Er schnaubt nur und lässt mich widerwillig durch.

Mir fällt auf, dass Xander und ich nicht vereinbart haben, wo wir uns treffen. Ob ich vielleicht erst in seinem Zimmer nachsehen sollte? Aber bei dem Wetter wird er wohl draußen sein. Vermutlich wieder unter der Trauerweide. Er hat eine Schwäche für große Bäume.

Tatsächlich sehe ich ihn schon von Weitem auf der Bank sitzen. Als er mich kommen sieht, steht er sogar langsam auf und macht ein paar Schritte auf mich zu. Er sieht besser aus als gestern. Er trägt zwar einen dunklen Schlabbertrainingsanzug, aber wirkt irgendwie sauberer und auch etwas gepflegter. Wortlos lässt er sich von mir in den Arm nehmen. Es ist auf seltsam vertraute Art unvertraut ihn festzuhalten.

„Was ist mit deinem Bein?“, fragt er leise.

„Lange Geschichte.“

„Das Einzige, was ich hier im Überfluss habe, ist Zeit.“

„Sicher, dass du das schon hören willst?“

„Ich möchte wissen, was mit dir passiert ist.“

Ich erzähle ihm von allem, was seit unserer Nacht geschehen ist. Er hört nur zu, stellt keine Fragen, sondern lässt mich alles einfach erzählen. Seine Augen sehen mich mitfühlend und aufmerksam an. Halb erwarte ich, dass er etwas Böses über Dylan sagt, und ich weiß nicht, wie ich darauf reagieren werde.

„Wir haben ganz schön Scheiße gebaut, oder?“, fragt er schließlich.

„Bereust du es?“, frage ich überrascht.

„Nein! Du?“

„Nein. Ich bin zwar nicht glücklich damit, wie alles gelaufen ist. Aber ich bin sehr glücklich mit dem Endergebnis. Naja, noch glücklicher werde ich sein, wenn du erst mal hier raus bist.“

Er gibt mir einen seiner unschlagbaren kurzen Küsse.

„Woher wusstest du eigentlich, in welcher Klinik ich bin?“

„Ryan hat es mir gesagt. Ich hab ihn auf dem Campus getroffen.“

„Ich schätze, ich muss mich bei ihm bedanken.“

„Besucht er dich oft?“

„Bisher noch gar nicht. … Aber wir haben einmal telefoniert.“

„Ich finde echt, er könnte …“

„Ich verstehe ihn, Jordan. Er ist wütend auf mich, und das zu recht.“

„Trotzdem ist und bleibt er dein Bruder.“

„Wann hast du deine Brüder das letzte Mal gesehen?“

„Das ist etwas anderes. Und lass uns jetzt nicht von den Bonannos sprechen.“

Mein Blick fällt auf seine rechte Hand.

„Du trägst noch immer den Gitarrenring.“

„Natürlich. Ich nehme ihn so wenig wie möglich ab.“

„Die ganze Zeit?“

„Seit über fünf Jahren. Als ich dich auf der Trauerfeier gesehen habe, hab ich ihn schnell in meiner Hosentasche verschwinden lassen. Irgendwie war es mir peinlich.“

„Ich hab das Zungenpiercing auch noch. Ich trage es nicht mehr, aber …“

„Du hast es aufgehoben?“, fragt er ehrlich überrascht.

„Natürlich, was denkst du denn?“

„Ich habe ehrlich gesagt gedacht, dass du alles, was auch nur entfernt an mich erinnert, verbrannt hast oder so, nachdem ich … nachdem ich dich verlassen habe.“

„Erzählst du mir irgendwann, warum du das getan hast?“, frage ich vorsichtig und lege meinen Arm um ihn.

„Ja. Irgendwann bestimmt.“

„Und auch, was nach unserer Nacht passiert ist?“

„Da gibt es nicht viel zu erzählen. Und ich schäme mich auch sehr deswegen.“

„Vor mir musst du dich nicht schämen. Das weißt du doch.“

„Ich habe nie im Leben gedacht, dass ich das noch mal spüren darf.“

„Was?“

„Na das …“, lächelt er und küsst mich.

Mein Herz springt. Ich liebe diese Lippen. Mein Bauch kribbelt. Ich brauche diese Hände. Meine Wangen glühen. Ich fühle mich so ganz.

Wunderbare Melodien schweben durch meinen Kopf, Worte fügen sich zu Bildern zusammen. Ich glaube, ich werde gerade von der Muse geküsst.

„Wir müssen einen Song zusammen schreiben“, sagt Xander, als hätte er meine Gedanken gelesen.

„Was für einen Song?“

„Einen fröhlichen“, erklärt er alles andere als fröhlich.

„Hast du Ideen?“

„Tausende.“

„Ich auch.“

„Es ist fast fünf. Ich muss noch zu einem Einzelgespräch und dann essen. Können wir morgen damit anfangen?“

„Ich hab morgen Nachmittag Gwen, also werd ich es wohl nicht hierher schaffen.“

„Gar nicht?“, fragt er bestürzt. „Ich glaub, das halt ich ehrlich nicht aus, Jordan. Wenn du nicht da bist, habe ich Angst, du kommst nicht wieder. Mit jeder Sekunde wird es schlimmer und mir fallen immer mehr Gründe ein, warum ich dich sicher niemals wiedersehe.“

Er bricht fast in Tränen aus.

Ich schiebe mich von der Bank, knie mich vor ihn, nehme seine Hände.

„Xander, schau mich an.“

Als er meinem Blick beschämt ausweicht, helfe ich mit einer leichten Berührung am Kinn nach.

„Ich werde immer wieder zu dir zurückkommen. Denn ich liebe dich. Ich liebe dich seit Jahren und werde dich auch noch lieben, wenn ich alt und grau bin. Egal was du tust und wohin du gehst, das wird sich nie ändern. Ich brauche dich mindestens genau so sehr, wie du mich brauchst. Siehst du das nicht?“

Er nickt dankbar, schluchzt kurz auf und lässt sich von mir festhalten.

Nach einer Weile flüstert er:

„Kannst du nicht am Vormittag kommen?“

Ich nicke.

„Natürlich. Dann komme ich am Vormittag.“

Wir müssen uns losreißen.

An der Pforte frage ich Malik:

„Wo finde ich eigentlich diese Doktor … wie hieß sie noch gleich?“

„Garcia?“

„Ja, genau die. Wo treibt sich die rum?“

„Irgendwo auf dem Klinikgelände. Unsere Ärzte tragen keine Peilsender.“

Ich nicke anerkennend ob dem gelungenen Kontra.

„Kann ich ihr hier eine Nachricht hinterlassen?“

„Sehe ich aus wie eine Sekretärin?“

„Naja, vielleicht mit ein paar mehr Haaren auf dem Kopf und einer etwas taillierteren Uniform …“

Er nickt gelangweilt, kann sich ein Lächeln aber nicht ganz verkneifen.

„Ich kann sie anpiepen.“

„Das wäre toll, danke.“

Fünf Minuten später steht sie persönlich vor mir, was in einer gewöhnlichen Klinik sehr unwahrscheinlich wäre. Da muss man als Patient froh sein, seinen Arzt mal außerhalb der Visite zu Gesicht zu bekommen, geschweige denn, dass er sich Zeit für die Angehörigen nimmt.

„Sie wollten mich sprechen?“, fragt sie freundlich und nicht mal ein klein wenig genervt.

„Ja. Xander will mich morgen unbedingt sehen, aber nachmittags habe ich leider andere Verpflichtungen. Daher wollte ich sie fragen, ob es okay wäre, wenn ich ihn vormittags besuchen komme.“

„Das ist höchst unüblich.“

„Das denke ich mir. Aber am Nachmittag kann ich morgen wirklich nicht.“

„Also schön, aber nicht vor halb elf. Bis dahin werde ich sehen, dass die Visite durch ist. Therapien hat er erst ab eins. Die Entspannungsgruppe kann er ausnahmsweise ausfallen lassen. Aber nur dieses eine Mal. Und nur weil ich das Gefühl habe, dass ihm ihr Besuch gestern wirklich gut getan hat.“

„Danke! Ich werde mein Möglichstes tun, um ihm morgen besonders gut zu tun. Ich möchte ihnen wirklich danken, dass sie sich so gut um ihn kümmern. Sie kennen sogar seinen Therapieplan auswendig. In anderen Kliniken wissen die Ärzte meistens gar nicht, was ihre Patienten eigentlich den ganzen Tag machen. Ich habe wirklich das Gefühl, Xander ist hier in guten Händen.“

„Und ich hab das Gefühl, sie haben Erfahrung mit ‚compliance’ gegenüber Ärzten.“

„Hab ich zu dick aufgetragen? Ich meine es aber ehrlich. Ich bin nur gerade so … Wuuhu! Wissen sie?“

„Xander und sie scheinen sich gegenseitig gut zu tun. Ich hoffe das bleibt auch so.“

„Ich weiß, dass das so bleibt. Sie wissen, warum er … es getan hat, oder?“

„Ja. Und sie wissen, dass kein gesunder Mensch wegen Liebeskummer versuchen würde, sich das Leben zu nehmen?“

„Xander ist sehr empfindsam. Das war er schon immer.“

„Ich befürchte, darüber geht es hinaus.“

„Aber er bekommt Medikamente, oder?“

„Wir sind noch in der Einstellungsphase.“

„Ist man das bei Antidepressiva nicht immer? Ich will gerade nicht alles so skeptisch betrachten, aber das bedeutet nicht, dass ich das Risiko nicht kenne. Ich werde gut auf ihn aufpassen. Das wird schon. Ich hab es früher auch geschafft, ihn glücklich zu machen. Das klappt wieder.“

„Optimismus können sie gerade gut gebrauchen. Ich hoffe, er wird ihnen nicht so schnell genommen. Ich muss jetzt wieder nach Patienten sehen, wir beide werden noch viel miteinander reden. … Ach, nur aus Interesse: Was ist morgen Nachmittag so wichtig, dass sie es nicht hierher schaffen?“

„Meine Tochter.“

„Verstehe.“

Irgendwas in ihrem Blick gefällt mir nicht, aber bevor ich weiter drauf eingehen kann, wendet sie sich um und geht. Ärzte sind doch ewige Schwarzmaler …

Zu Hause versucht Ria aus mir herauszubekommen, wo ich war. Aber ich habe nicht vor, das schon zu verbreiten. Wenn sie es weiß, weiß es Vince und über kurz oder lang auch Scott. Und als allererstes sollte sowieso Dylan davon erfahren.

Mein Handy klingelt. Es ist Dylan.

„Hey, alles klar mit den Kindern?“, frage ich sofort.

„Sicher. Ich wollte dich um etwas bitten.“

„Klar.“

„Kannst du die Zwillinge Freitagabend nehmen? Ich hab da so ei…“

„Sicher! Sehr gern“, falle ich ihm ins Wort.

„Klasse. Josh und Kate wollen ausgehen und ich muss auf so ein Wohltätigkeitsding.“

„Ich hab sowieso nichts vor.“

„Gut. Also wie sollen wir das machen? Bist du schon für Babyübernachtungen eingerichtet?“

„Nicht wirklich …“

„Du könntest auch hierher kommen. Ich denke, ich werde nicht lange nach Mitternacht heimkommen. Dann kannst du ja immer noch zurückfahren.“

„Gute Idee, glaub ich.“

„Okay. Kannst du um sieben hier sein?“

„Kein Problem.“

„Okay. Dann bis dann.“

Ich beschließe, noch ein bisschen was für meine Seminare zu tun, bis ich schläfrig werde. Ria scheint etwas nervös zu sein, wegen Danny. Ich rede ihr gut zu und finde heraus, dass Vince plant, mit den Kids in einen Spielzeugmegastore zu gehen. Na der fährt ja schwere Geschütze auf, um Danny seine Freundin schmackhaft zu machen. Gwen wird’s freuen.

Am nächsten Morgen packe ich spontan meine Gitarre ins Auto. Als ich ankomme, finde ich die Idee plötzlich aber doch nicht mehr so gut. Ich will niemanden stören und damit vielleicht provozieren, dass ich bei Xanders Ärztin nicht mehr so gern gesehen bin.

Heute sitzt eine weibliche Pförtnerin im Häuschen. Mein Name steht inzwischen auf Xanders Besucherliste. Mit einem Vermerk, dass ich ausnahmsweise außerhalb der Werktagsbesuchszeiten rein darf. Es ist zwanzig nach zehn. Unaufgefordert nennt mir die Frau Xanders Zimmernummer.

Ich erklimme die Treppen in den zweiten Stock. Die Geländer sind brusthoch und nach oben mit Plexiglas noch erhöht. Überall sind Kameras. Sehr dezent, aber wenn man danach sucht, findet man sie. Obwohl alles hell und freundlich und neu wirkt, gefällt mir die Atmosphäre hier nicht. Ich muss Xander eben schnell zu mir nach Hause holen.

Ich scheine im richtigen Flur zu sein. Einige Patienten tapsen mit trübem Blick über den Gang, andere wirken geradezu manisch und grüßen mich übertrieben freundlich. Der Visitenschwall kommt gerade aus einem Zimmer. Doktor Garcia mittendrin, neben zwei älteren Herren und einigen jüngeren Ärzten. Sie lächelt mich flüchtig an und zeigt auf eine Tür. Ich bedanke mich mit einem Nicken und klopfe kurz, bevor ich eintrete.

Das Zimmer ist, genau wie alles hier, freundlich gestrichen und fast liebevoll dekoriert. Die Möbel scheinen aus echtem Holz zu sein, das Bett ist keines dieser schrecklichen, in alle Richtungen verstellbaren Krankenhausdinger, sondern ein ganz normales. Xander sitzt auf dem Fensterbrett. Ich möchte wetten, bis eben hat er noch sehnsüchtig hinausgestarrt. Das tut er ständig.

„Hey“, lächelt er.

„Hallo mein Liebling“, gebe ich zurück und kann nicht schnell genug bei ihm sein, um ihn zu küssen.

„Willst du raus gehen?“, fragt er nach einer Weile. „Hier ist es irgendwie so erdrückend.“

„Ich weiß, was du meinst, ja. Lass uns rausgehen.“

Händchen haltend schlendern wir nach draußen, ganz langsam. Xander wirkt wirklich schwach.

„Wie ist das Essen hier?“, frage ich.

Er zuckt die Schultern.

„Nicht gut?“, hake ich nach.

„Doch, glaub schon. Für mich schmeckt alles gleich.“

„Du musst essen, um wieder zu Kräften zu kommen.“

„Ich weiß. Das höre ich drei Mal am Tag.“

„Okay …“

„Aber danke, dass du es sagst.“

Überrascht lächle ich ihn an.

„Das tu ich nicht ganz uneigennützig. Momentan hätte ich wirklich Angst davor, dich zu ficken. Ich glaub, ich würde dich versehentlich auseinanderbrechen.“

Er lacht auf. Das ist das Beste, was ich seit Langem gehört habe.

Viel Zeit haben wir leider nicht. Kurz nach zwölf muss ich wirklich los, egal wie sehr mich Xanders Blick fesselt. Ich muss meine Tochter aus der Vorschule abholen. Davor versichere ich Xander dreimal, dass ich morgen wiederkomme und den ganzen Nachmittag für ihn Zeit haben werde.

Als Gwen mich zum Spielgarten kommen sieht, rennt sie sofort zu mir ans Tor und bestürmt mich mit einem „Daaaaaaadiiiiie!“.

„Hallo Süße. Na, kann’s losgehen?“

„Fahren wir zu Dylan?“

„Nein mein Schatz. Wir treffen Danny und Vince und gehen Spielsachen einkaufen. Na, wie findest du das?“

„Ich mag lieber zu Dylan in euer Haus.“

Meine Tochter will freiwillig auf einen Nachmittag im Spielzeugparadies verzichten, um bei Dylan zu sein. Ich nehme sie hoch.

„Dylan muss heute arbeiten. Aber ich frag ihn mal, ob wir ihn am Wochenende besuchen dürfen, ja?“

„Mami sagt, du wohnst jetzt nicht mehr in dem schönen Haus.“

„Das stimmt. Ich wohne wieder da, wo wir gewohnt haben, als du noch ganz klein warst.“

„Beim Strand?“

„Genau. Kannst du dich noch erinnern?“

„Weiß nicht. Ich hol meine Tasche.“

Schon windet sie sich frei und saust davon.

Ich rede kurz mit einer Betreuerin, nur das übliche Gelaber. Dann geht’s ab.

Gwen scheint guter Laune zu sein. Sie erzählt viel und zeigt mir immer wieder lustige Dinge, an denen wir vorbeifahren. Ein Auto mit Mausohren zum Beispiel, und ein Werbeschild, das falsch rum angebracht ist. Außerdem singen wir zusammen die Lieder, die sie neu gelernt hat. Meine Tochter ist sehr musikalisch, ganz objektiv betrachtet.

„Hast du Hunger?“, frage ich, als wir vor meinem Block parken.

„Jah!“, brüllt sie wie ein Raubtier.

„Was willst du denn fressen?“, frage ich verschwörerisch.

„Menschenfleisch!“

„Is ja eklig“, lache ich.

„Tiger essen nun mal Menschenfleisch!“, knurrt sie.

Ich schnalle meinen kleinen Tiger erst mal aus ihrem Kindersitz frei.

„Ich hatte eher an Sandwiches gedacht …“

„Menschenfleisch-Sandwiches?“

„Tofu-Sandwiches. Das ist so was ähnliches.“

„Dann okay.“

„Da hab ich ja noch mal Glück gehabt. Ich dachte schon, du frisst mich auf.“

„Aber du bist doch auch ein Tiger, Daddy! Tigerkinder haben Tigerpapas.“

„Ach, so ist das …“

„Da wohnt Janet“, erklärt meine Tochter im Vorbeigehen.

„Stimmt.“

Ria erwartet uns schon. Und auch Xander der Zweite ist hier und spekuliert vermutlich auf Sandwiches.

„So Gwen, das sind meine Mitbewohner. Ria und Xander.“

„Hallo, schön euch kennenzulernen“, erklärt die Kleine geübt und gibt jedem die Hand.

Wo hat sie denn das her?

Dann gibt es erst mal die große Schlacht an den Broten. Jeder schmiert und belegt und mampft so vor sich hin. Gwen braucht meine Hilfe dabei inzwischen überhaupt nicht mehr. Nicht mal die Rinde soll ich ihr abschneiden. Die isst sie mit.

„Ist das das Menschenfleisch?“, fragt sie einmal, auf den Tofu deutend.

Ich ignoriere die irritierten Blicke der anderen, nicke und schneide mir eine Scheibe ab, die ich in Wasabi tunke.

„Was ist das Grüne?“, fragt Gwen.

„Das ist asiatischer Rettich. Ziemlich scharf.“

„Dann lieber nicht.“

„Wann kommt Vince?“, frage ich Ria.

„Jeden Moment. Er und Danny haben schon gegessen.“

„Gut. Ihr lasst ja kaum was übrig“, grinse ich und schiele auf Xanders vollgestopfte Backen.

Ich wünschte mein Xander hätte solchen Appetit. Was er jetzt wohl gerade tut? Vermutlich sitzt er unter seinem Baum und brütet über einem fröhlichen Song.

„Weißt du einen Witz?“, höre ich Gwen fragen.

Sie redet wohl mit mir.

„Hm? Öhm, nö, grad nicht.“

„Warum lachst du dann?“

„Ich hab an was Schönes gedacht.“

„An was?“

„An ein Lied, das ich schreibe.“

„Wie heißt es?“

Mann, die Kleine ist hartnäckig. Das gefällt mir. Ich denke kurz nach.

„Der Vanilla Gorilla.“

„Was isn das für ein Song?“, fragt sie skeptisch.

„Weiß ich noch nicht. Ich hab ihn ja noch nicht geschrieben“, erkläre ich bedeutungsschwanger und die Kleine sieht mich aus großen Augen an.

„Ich will der Vanilla Gorilla sein!“

„Aber du bist doch ein Tiger!“

„Ich will mich aber reimen. Auf Tiger reimt sich nichts.“

„Hm, mal nachdenken. Wie wäre es mit Sieger?“

„Der Sieger-Tiger? Hm … Nein ich bin der Schoko-Tiger.“

„Das reimt sich aber nicht!“

„Aber es schmeckt“, grinst sie.

„Wirklich? Das muss ich doch gleich mal probieren!“

Sie kreischt, als ich auf sie zuschnelle und ein bisschen in ihren Arm beiße.

„Nicht! Große Tiger bekommen Bauchschmerzen von Schokolade!“, erklärt sie schnell.

„Und kleine nicht?“

„Nein, kleine Tiger, so wie ich, brauchen ganz viel Schokolade, damit sie groß und stark werden!“

„Was du nicht sagst. Na mal sehen, wo wir später Schokolade für dich auftreiben können. Aber erstmal wird das Tofusandwich aufgegessen.“

„Da ist doch nicht wirklich Menschenfleisch dabei, oder?“, fragt sie etwas unsicher.

„Nein Schatz, natürlich nicht. … Nur Kleine-Tiger-Fleisch!“

Sie verdreht die Augen und lässt mich wissen, dass sie mir kein Wort glaubt.

Danny und Vince klingeln, Gwen ist nicht mehr zu bremsen und läuft wie ein Löwe, nein, Verzeihung, wie ein Tiger brüllend zur Tür.

„Ich bin der Schokotiger und ich fresse MENSCHENFLEISCH!“, hören wir sie verkünden.

„Na wie gut, dass wir keine Menschen sind, sondern … Orangen-Orang-Utans!“, kontert Vince. „Schnell Danny, kletter dem Tiger davon!“

Ich komme dazu, als Vince seinen etwas verunsichert wirkenden Sohn gerade an sich hochklettern lässt.

„Hallo Affenbande“, grinse ich.

„Hallo Tiger“, grinst Vince zurück und ich bekomme von beiden Affen einen Kuss auf die Wange.

„Heb mich hoch, Daddy! Damit ich sie besser fressen kann!“

„Komisch, ich hätte schwören können, dass Gwen später mal ein Beuteltier wird“, erklärt Vince.

„So, Schluss jetzt mit dem gegenseitigen Auffressen. Gwen, hol deine Tasche und Ria. Abfahrt!!“

Ria wirkt ziemlich verkrampft. Sie sitzt hinten zwischen den Kindern und tut ihr Möglichstes, bei dem Tiger-gegen-Affe-Spiel mitzumischen. Ihr Wahltier, das Zebra, scheint aber nicht so gut anzukommen, bei den Kleinen.

„Ein Zebra kann ja nicht mal klettern!“, heißt es, und „Die Streifen sehen doof aus!“

Das arme Zebra ist sichtlich erleichtert, als die Fahrt vorbei ist.

„Krokodile kommen immer gut“, flüstere ich ihr beim Aussteigen zu.

„Na toll, das wäre vor einer halben Stunde hilfreich gewesen …“

In bunten Lettern prangt das Schild des Spielzeuggiganten über uns.

„Gwen, Hand!“, verlange ich, bevor sie blindlings über den unübersichtlichen Parkplatz auf das Geschäft zurennen kann.

„Also, hier sind die Regeln: Du darfst dir eine große Sache aussuchen. Wir reden von etwas im Rahmen von 50 Dollar. Nicht mehr. Das Ding muss ins Auto passen. Also kein Trampolin, kein Klettergerüst und so weiter. Außerdem darfst du dir drei kleinere Sachen aussuchen. Alle unter 20 Dollar. Und dann hast du noch zehn Dollar für Kleinkram gut. Insgesamt also 120 Dollar. Das ist mehr als genug.“

Ich sehe, wie Ria neben mir schluckt. Ich will gar nicht ausrechnen, wie lange sie für das Geld arbeiten muss. Vince gibt Danny ähnliche Instruktionen. Gwen trällert noch, dass sie ja schon ein Riesentrampolin im Garten hat. Dann kann es losgehen.

Die Glastüren schwingen vor uns zur Seite, drängen uns einen Schwall angenehm kühler Luft entgegen, gepaart mit dem Geruch von frischem Popcorn und Zuckerwatte. Gleich zu Beginn, noch bevor man zwischen den deckenhohen Regalreihen verschwindet, muss man sich durch einen Dschungel aus Süßigkeitenständen schlagen.

„Süßes gibt es, wenn wir wieder gehen“, kommt mir Vince zuvor.

„Aber nur, wenn ihr kein Theater macht, wenn wir was nicht erlauben“, füge ich hinzu.

Es gibt Einkaufswägen in Kindergröße mit Fahnen in verschiedenen Farben dran. Gwen und Danny streiten sich kurz um den letzten Grünen. Ein mahnender Blick reicht, um sie auf Gelb und Blau umsteigen zu lassen, wobei meine Tochter die Jungenfarbe wählt.

„Also, bleibt in den Regalreihen auf der Seite vom Gang“, ich deute nach rechts. „Und es wird nichts selbstständig in den Wagen gepackt. Wenn ihr etwas findet, holt uns und zusammen überlegen wir dann, ob das in eurem Budget drin ist. Alles klar?“

„Jaaaaah! Dürfen wir jetzt?“

Ich werfe einen kurzen Blick zu Vince.

„Na dann ab.“

Die Kids düsen davon.

„Ich bin mal gespannt, wie lang der Frieden anhält“, meint Vince gelassen.

„Na, bis das erste Teil über fünfzig Dollar kostet und wir es nicht erlauben.“

Vince küsst seine Freundin erst jetzt zur Begrüßung.

„Bei dir alles gut?“

„Ja, mach dir keine Sorgen. Ich war nur noch nie in so einem Laden …“, erklärt sie, sich immer noch in alle Richtungen umsehend.

„Schaut euch doch auch ein wenig um“, schlage ich vor. „Ich hab ein Auge auf die Kids.“

Gwen findet tonnenweise süßes Zeug, mit dem sie schnell ihre zehn Dollar beisammen hat. Als ich ihr erkläre, wie viel Zucker in den bunten Drops ist, beeindruckt sie das kein Stück. Danny ist eher ein zögerlicher Einkäufer. Bisher hat er nur einen kleinen Plüschhamster im Wagen, der drei Dollar kostet.

„Wir erlassen euch übrigens die Steuer“, erkläre ich den beiden großspurig.

Damit können sie natürlich nichts anfangen, also informiere ich sie, dass wir an der Kasse mehr zahlen werden müssen, als auf den Etiketten steht. Steuern für unseren Staat.

Wir kommen in die CD-Abteilung, wo es tonnenweise Hörspiele und Kindermusik gibt. Gwen bekommt große Augen.

„Vergiss es, Schätzchen. Die besorg ich dir woanders, da ist es umsonst.“

Zum Glück fragt sie nicht weiter nach. Dass aus dem Internet saugen zwar nicht legal aber trotzdem nicht schlimm ist, würde ich ihr nicht so einfach begreiflich machen können.

Zwischendurch gibt es immer mal wieder Süßigkeiten, die nett aufgebart irgendwo rumliegen und Gwen scheinbar sehr anlachen.

„Liebste Tochter, im Interesse deiner Zähne verbiete ich dir weiteren Süßkram.“

„Aber ich hab doch noch ganz viel Geld übrig!“

„Und das solltest du für etwas ausgeben, von dem du länger was hast, meinst du nicht?“

Vince und Ria stoßen wieder zu uns, als Danny gerade auf einen schweineteuren Kinderlaptop aufmerksam geworden ist.

„Tut mir leid, mein Spatz, aber der ist zu teuer. Und außerdem ist der eher was für ältere Kinder. Aber schau mal, da gibt es noch andere Sachen. Hier kann man Autorennen fahren. Wäre das was für dich?“, fragt Vince diplomatisch.

„Autorennen sind doof.“

„Autorennen sind coooool!“, mischt sich meine Tochter ein. „Wie viel kostet das?“

„Fünfunddreißig Dollar. Das wäre also dann deine einzige große Sache. Und man kann mit dem Teil auch immer nur das eine Spiel spielen. Ich glaub das wird schnell langweilig“, erkläre ich ihr. „Und Josh hat auch noch viel so Kram. Frag ihn mal, ob du dir was leihen kannst.“

„Okay. Das ist ja eh nicht mal in bunt.“

Ria zieht mit den Kindern durch die Puppenabteilung.

„Sie hält sich wacker, oder?“, fragt Vince unsicher.

„Klar. Vor allem, wenn man bedenkt, wie alt sie ist. Mich hätte das damals mehr aus der Fassung gebracht.“

„Oh ja, definitiv. … Also, wie geht’s dir so?“

„Meinem Fuß geht’s gut. Ich nehm keine Pillen mehr und halt es trotzdem aus.“

„Und Dylan?“

„Er ist unverwüstlich, du kennst ihn doch.“

„Wie kommt ihr miteinander aus?“

„Er ist sehr verständnisvoll. Fast zu verständnisvoll. Er kümmert sich um fast alles alleine. Morgen Abend pass ich auf die Zwillinge auf. Er hat so ein Wohltätigkeitsding.“

„Ja, es ist mal wieder Lokalwahlkampf, da hat so was Hochkonjunktur.“

„Ach, wo du gerade davon sprichst, kennst du eigentlich diesen Vuza?“

„Den Kerl, der sich damit brüstet, der erste farbige Schwule im Stadtrat werden zu wollen? Sicher kenn ich den. Wieso?“

„Der ist mir im Studium begegnet. Und, was hältst du von ihm?“

Er atmet tief durch.

„Also generell hört sich das, was er verkauft natürlich gut an. Diversität, Zusammenhalt, Melting Pot eben. Aber ich hab das Gefühl, er ist ne Mogelpackung.“

„Wie das?“

„Er tritt gern mal in afrikanischer Ethnokluft auf, dabei ist er in einem Vorort von San Francisco geboren. Er ist in etwa so äthiopisch, wie ich algerisch. Und er bezeichnet sich selbst ja als Schriftsteller. Naja, Guru trifft es eher. Überhaupt ist er ziemlich spirituell angehaucht. Christlich-spirituell. Welcher Kirche er genau angehört, weiß ich nicht. Mit den Christen kenn ich mich nicht so aus, ich bin froh, wenn ich im Islam halbwegs durchblicke. Naja und dann noch die Schwulen-Sache. Keiner aus der Szene kennt ihn, obwohl er seit zwanzig Jahren in der Stadt lebt. Er war sogar ein paar Jahre mit einer Frau verheiratet, gleich nach dem College. Zumindest hab ich das gehört.“

„Kann doch sein. Ich meine, nicht jeder Schwule treibt sich in der Szene rum.“

„Aber wenn du als Schwuler in die Politik gehst, wo suchst du dann als erstes Rückhalt? Bei den eigenen Leuten, oder?“

Das muss ich einräumen.

Vince fährt fort:

„Ich weiß auch nicht, ist nur so ein Bauchgefühl. So als würde er auf einer hippen Welle mitschwimmen. Obama und so. Aber am meisten stört mich eigentlich, dass er seine Religion nicht aus dem Spiel lässt. Das machen die alten weißen Männer schon nicht. Wenn ich alternativ wähle, dann will ich auch, dass sich wirklich was ändert, weißt du?“

„Ich verstehe. Religion und Staat sollte man einfach trennen. Da bin ich ganz deiner Meinung.“

„Konnte ich dir weiterhelfen?“

„Ja, ich glaub ich kann mir jetzt ein ganz gutes Bild machen.“

Gwen kommt glupschäugig auf mich zu. Oh oh, das bedeutet selten etwas Gutes.

„Daddy … ich hab was Tolles gefunden.“

„Ja? Das ist schön.“

„Aber es gibt da ein kleines Problem …“

„So? Hat das Problem was mit dem Preis zu tun?“

„Ria sagt, dass es fünfundsechzig Dollar kostet.“

„Eine Puppe für fünfundsechzig Dollar?!“

„Nein, keine Puppe. Darf ich’s dir mal zeigen?“

„Gwen, fünfzig Dollar waren abgemacht.“

„Und wenn ich dafür auf eines von den kleinen verzichte?“

„Na gut, lass uns mal schauen.“

Sie führt Vince und mich zielstrebig an den Puppen vorbei, biegt dann scharf rechts ab. Wir stehen vor Danny und Ria. Die Augen meiner Tochter leuchten, als sie ein großes Paket aus dem Regal nimmt und mir entgegenhält.

Eine Kinder-E-Gitarre. Mit kleinem Verstärker. Wow!

„Das willst du? Sicher?“

„Mehr als alles andere! Schau, da ist sogar ein Mikrofon dabei! Und die Farbe ist sooo toll!“

Mintgrün mit verschiedenen Stickern drauf.

„So was kauft man aber nicht, weil man die Farbe so toll findet, Gwen.“

„Nein, aber du hast gesagt, wenn meine Finger lang genug sind, dann bringst du mir Gitarre bei. Und mit einer Kindergitarre sind meine Finger vielleicht jetzt schon lang genug“, erklärt sie ganz richtig und streckt mir ihre Hände entgegen.

„Das ist deine Tochter“, klopft mir Vince auf den Rücken.

„Na gut. Aber wir müssen das erst mal ausprobieren. Da hinten steht eine zum testen.“

„Aber die hat keine schöne Farbe!“

„Nein, aber die gleiche Größe. Hol die mal.“

Sie nimmt das Instrument vorsichtig aus dem Regal und kommt rüber.

„Häng dir mal den Gurt um, warte, ich helfe dir.“

Aber meine Hilfe braucht sie gar nicht. Mann, was für ein Bild!

Als würde er meine Gedanken lesen, knipst Vince mit seinem Handy ein paar Fotos. Gwen posiert ein bisschen, wird dann aber wieder ernst und hängt an meinen Lippen, als ich ihr erkläre, wo ihre Finger hin müssen. Sie muss sich schon noch ganz schön strecken und beschwert sich auch, dass die Stahlseiten wehtun, aber trotzdem schafft sie es nach kurzem, einen fast sauber klingenden e-mol-Akkord zu schrummen.

„Das scheint ja echt zu klappen. Dass es ein bisschen schief klingt, liegt nicht an dir. Das Ding ist nicht richtig gestimmt.“

„Aber meines kannst du mir stimmen, ja?“

„Klar, das machen wir zusammen.“

„Also bekomm ich sie?“

„Lass mich noch lesen, ob der Verstärker was taugt. Das ist der schwarze Kasten. Da kommt dann die Musik raus.“

Sie geduldet sich, während ich die technischen Daten studiere. Gar nicht so schlecht für das Geld. Und zur Not stehen zu Hause ja noch etliche Verstärker rum.

„Also gut, ich bin einverstanden.“

„Juhuuuu! Danke Daddy!“

„Aber da ist kein Gurt dabei. Du musst also noch eines von deinen drei mittleren Budgets opfern, um dir den leisten zu können.“

„Klar! Darf ich mir dann da einen aussuchen?“, fragt sie, auf ein ganzes Bündel deutend.

„Jo.“

Sie entscheidet sich relativ schnell für einen grün-karierten mit Kirschen drauf. Puh, gute Wahl. Es hätte auch ‚Barbie’ und ‚My little Pony’ und so Zeug gegeben.

„Brauch ich sonst noch was?“

„Also ein Übungsbuch ist dabei. Picks kannst du von mir haben und sonst hab ich eigentlich auch alles daheim. Sogar ein cooles Effektgerät mit dem sich alles anhört, als käme es von einem Raumschiff.“

„Cooooool! Wann probieren wir das aus? Wenn wir heimkommen?“

„Das ist alles im alten Haus, weißt du?“

„Dann am Wochenende, wenn wir Dylan besuchen!“

„Ja. So machen wir’s.“

„Das ist sooooo cool! Ich bin der Rock-Tiger!“

Ich lache auf und starte eine Küsschenattacke auf meine coole Tochter.

Das Paket füllt Gwens kompletten Einkaufswagen und sie scheint sowieso kein Interesse mehr an dem restlichen Zeug zu haben. Danny findet einen Basketball mit Sternen drauf und eine Barbiepuppe. Vince erklärt, dass sie davon inzwischen eine ganze Sammlung zu Hause haben.

Nach den Kassen gibt es noch Crepes für alle. Dann packen wir unsere Beute in den Kofferraum und machen uns auf den Heimweg. Danny und Ria beschäftigen sich schon während der Fahrt mit der Puppe. Gwen sitzt daneben, mustert das Ganze eine Zeit lang skeptisch und schläft dann ein.

Die Kleine bekommt kaum mit, wie ich sie samt Sitz und Gitarre in mein Auto umsiedle. Als wir vor Olivers Haus parken, ist sie allerdings schlagartig wieder wach.

„Kannst du gleich Dylan anrufen und ihn fragen, wann er Zeit hat?“

„Okay …“

Ich krame nach meinem Handy und wähle.

„Und zwar gaaaaaanz lang!“

„Okay … Hey Dylan.“

„Du sagst mir für morgen doch nicht ab, oder?“

„Nein, keine Sorge, das steht. Eigentlich würde Gwen gerne wissen, ob du dieses Wochenende mal Zeit für uns beide hast.“

„Klar, am Samstag sieht es schlecht aus. Aber Sonntag vielleicht?“

„Gut. Ich red noch mit Nikki, aber eigentlich sollte das klappen.“

„Wollt ihr schon zum Mittagessen kommen?“

Ich denke an Xander. Wann soll ich ihn dann am Sonntag besuchen fahren? Aber Gwen strahlt mich gerade so an.

„Gut, Mittagessen und danach Gitarrensession.“

„Hm?“

„Gwen ist ein Rock-Tiger.“

Sie kichert auf der Rücksitzbank.

„Ah ja, alles klar. Das kannst du mir morgen ausführlich erklären. Ich muss los. Ich lie…“ Plötzliche Stille in der Leitung.

„Dylan?“

„Tut mir leid.“

„Muss es nicht. Ich lieb dich auch.“

Ich höre ihn lächeln, weiß aber auch, dass er mich nicht falsch versteht und lege auf.

„Du kommst doch noch mit rein, oder? Dann könnten wir die Gitarre wenigstens noch stimmen.“

„Na schön, aber nicht zu lange.“

Ich kläre das wegen Sonntag mit Nikki, lasse mich blöd anreden, weil ich Gwen so viele Süßigkeiten erlaubt habe, und erfahre so nebenbei, dass Josh, Kate und Gwen den halben Sommer mit auf Hawaii sein werden. Toll.

Wir stimmen die Gitarre und üben noch ein bisschen, bis es Abendessen gibt. Ich werde zwar der Höflichkeit halber eingeladen, fühle mich aber nicht besonders willkommen und verschwinde. Gwen sehe ich ja ohnehin in drei Tagen schon wieder. Hachja, mein kleiner Rock-Tiger.

Zu Hause habe ich eigentlich vor, mich durchs Netz zu googeln, auf der Suche nach Infos über diesen Lokalpolitiker / Schriftsteller / Mogelpackung. Aber Ria nimmt mich sofort in Beschlag.

„Ich muss mit dir reden.“

„Okay?“

„Wie fandest du es heute?“

„War ein toller Nachmittag.“

„Ja, für dich. Deine Tochter ist wirklich toll.“

„Dankeschön.“

„Danny ist auch toll. Auf seine ruhige Art.“

„Stimmt. Und was ist jetzt das Problem, Ria?“

„Ich glaub, ich kann das nicht.“

„Was kannst du nicht?“

„Das mit Vince.“

Sie wartet auf eine Reaktion von mir. Aber da wartet sie vergebens. Erst mal hören, was sie zu sagen hat.

„Ich mag ihn wirklich, aber ihr beide … heute ist mir erst richtig klar geworden, wie groß der Unterschied zwischen euch und mir ist.“

„Was für ein Unterschied?“

„Naja, zum einen das Geld.“

„Willst du dich beschweren, weil dein Freund reich ist?“

„Nein … doch … ich weiß auch nicht. Aber hauptsächlich geht es ums Alter.“

„Du weißt doch schon eine Weile, wie alt Vince ist, oder?“

„Schon, aber … Mensch Jordan, ich bin altersmäßig näher an Danny dran, als an Vince. Und ihr seid Väter!“

„Öhm, ja, auch das wusstest du doch schon.“

„Nein, ich meine … ihr seid richtige Väter. Keine Teenager aus meiner Gegend, die versehentlich irgendein Flittchen geschwängert haben. Ihr seid richtige Väter. Ihr kümmert euch, könnt mit Gwen und Danny umgehen, seid gut zu ihnen …“

„Und das hältst du jetzt gegen Vince?“, frage ich verwirrt.

„Dreh mir nicht das Wort im Mund um!“, keift sie. „Es geht darum, dass er ein richtiger Mann ist. Mit einem Leben, einer Familie. Ich bin ein katholisches Mädchen, Jordan. Meine Mama würde mich ohrfeigen, wenn ich mich in eine fremde Familie drängen würde.“

„Collin hat einen Neuen, also …“

„Darum geht es nicht! … Ich bin der Sache einfach nicht gewachsen. Bitte, da hast du’s. Jetzt hab ich’s gesagt.“

Sie stapft spanisch schimpfend durchs Zimmer.

„Du willst keine Verpflichtungen Danny gegenüber eingehen. Aber das verlangt Vince bestimmt auch nicht. Ich glaube nicht, dass er vorhat, für Danny eine Mami zu suchen. Er sucht einen Partner für sich, Ria. Das ist ein großer Unterschied. Also überstürz jetzt nichts, sondern schlaf eine Nacht drüber.“

„Schläfst du bei mir?“

„Das geht nicht, Süße.“

„Ist das dein Geheimnis? Wenn du stundenlang verschwunden bist und nicht sagst, wo du hinfährst, dann fährst du zu einem Kerl, oder?“

„Ja. Aber mehr werde ich dazu vorerst noch nicht sagen. Und jetzt … mach eine entspannende Gesichtsmaske oder so was. Komm erst mal wieder runter, ja?“

Ich google mich eine Weile durch öffentliche und private Homepages. Danach weiß ich, dass man Mister Vuza noch nie in Begleitung eines Mannes gesehen hat und kenne im Groben seine Bio. Vince hat recht. Irgendwas ist an dem nicht ganz koscher. Ein absoluter Dorn im Auge ist mir sein spirituelles Getue. Neunzig Prozent von dem Zeug, das er schreibt, ist aufgeblasener Nonsens. In die Politik passt er also gut.

Ria liegt im Bett und liest. Ich kuschle mich so gut es geht in mein Bettsofa.

„Na, geht’s dir besser?“, frage ich.

„Ich weiß nicht …“

„Als ich mit Vince zusammengekommen bin, war ich ungefähr in deinem Alter.“

„Wow, das ist lange her“, grinst sie.

„Vorsicht, ja? Du wirst auch mal alt, Teuerste. Jedenfalls hat er mir damals eröffnet, dass er bald eine Familie gründen will. Ich war davon total vor den Kopf gestoßen, irgendwie. Das konnte ich mir damals noch nicht mal vorstellen. Vince hat absolut keinen Druck auf mich ausgeübt. Dazu ist er nicht der Typ. Er hat meine Ängste akzeptiert, hat mit mir darüber gesprochen und so. Ich will sagen: Red mit Vince darüber, was dich bewegt. Er weiß, wie jung du bist. Er wird dich verstehen und wenn ihr es beide wollt, dann werdet ihr zusammen eine Lösung finden.“

„Meinst du?“

„Sicher. Und noch was: Mit Kindern umgehen können ist Übungssache. Wir haben alle mal klein angefangen. Das wird schon.“

„Danke Jordan.“

„Gern. Und jetzt brauch ich Schlaf. Der kleine Tiger hat mich heute ganz schön geschlaucht.“

Der Vormittag vergeht mal wieder mit Seminararbeit und Songideen aufschreiben. Gegen Mittag fängt mein Magen an zu kribbeln und kriegt sich im Auto kaum noch ein. Ich kann nur noch an Xander denken.

Er sitzt wieder bei seinem Baum, diesmal aber nicht allein, sondern mit einer seiner Gitarren. Er zupft leise vor sich hin und bemerkt mich erst, als ich direkt vor ihm stehe.

„Hallo mein Schatz.“

„Hey. Na, bist du kreativ?“

„Nicht wirklich. Ich spiel nur altes Zeug.“

Ich setze mich neben ihn und bekomme einen Begrüßungskuss, merke aber, dass die Gitarre ihn lockt.

„Spielst du mir was vor?“, bitte ich.

„Was denn?“

„Irgendwas, das du in den letzten fünf Jahren geschrieben hast.“

„Na schön. Aber singen werde ich hier nicht.“

Seine Finger sind unglaublich flink und wirken, im krassen Gegensatz zum Rest von ihm, sehr lebendig und voller … Lebensfreude. Er spielt komplizierte Riffs und lässt es ganz leicht aussehen. Es hat etwas Magisches, Xander mit einer Gitarre zu sehen.

„Willst du?“, fragt er irgendwann und drückt mir das Instrument in die Hand.

Ich spiele ein paar neuere Ideen vor, singe leise dazu und frage ihn nach seiner Meinung. Er ist restlos begeistert, was nicht sehr konstruktiv ist, aber mich unglaublich freut.

„Gwen hat sich gestern von mir eine Kinder-E-Gitarre schenken lassen.“

„Wirklich? Aber sie ist doch grad mal sechs!“

„Sie hat sie sich selbst ausgesucht. Ein mintgrünes Exemplar mit bunten Aufklebern drauf, musst du wissen. Ihre Finger sind schon lang genug für die meisten Akkorde.“

„Ich wette, sie hat deine langen Finger geerbt“, lächelt er und streichelt über meine Hand.

„Möglich. Sie ist auch ziemlich groß für ihr Alter, sagen die Frauen in der Vorschule. Jedenfalls kann sie schon drei Akkorde, obwohl wir nur ganz kurz geübt haben. Sogar schon im langsamen Wechsel. Und beim Stimmen hat sie ein sehr gutes Gehör bewiesen.“

„Sie schlägt nach dir. Das ist gut.“

„Ich hab ihr gesagt, dass ich gerade an einem Song über den Vanilla Gorilla arbeite.“

„Vanilla Gorilla? Sind das nicht Frühstücksflocken?“

Ich schlage mir mit der flachen Hand gegen die Stirn.

„Daher kenn ich das! Logo! Danke. Du hast mir vermutlich gerade einen Markennamen-Rechtsstreit erspart.“

Er lächelt und meint:

„Wir können ihn trotzdem in einen Song einbauen. Und Choco Crispies und Rice Pops und Cinni Minnies …“

Er zählt noch ein Dutzend Markennamen auf und Reime auf jeden einzelnen. Unterlegt mit viel Shoop-Shoop-Di-Baba und fröhlichem Gezupfe wird das Ganze schnell zu einer guten Songgrundlage. Xander strahlt und meine Wangen tun mir auch schon weh vom Grinsen.

„Das wird toll. Das muss aufs nächste Album“, strahlt Xander.

„Was plant ihr denn jetzt so?“

„Kreative Phase und Aufnahmen ab September. Dann eine Veröffentlichung pünktlich zum Weihnachtsgeschäft.“

„Glaubst du, du schaffst das bis dahin?“, frage ich besorgt.

„Sicher. Jetzt, wo ich dich wiederhabe, schaffe ich alles.“

Wir machen Musik, kuscheln, flüstern uns wunderbare Dinge in die Ohren, lachen und sind glücklich zusammen. Wie immer vergeht die Zeit bis fünf viel zu schnell.

„Kommst du morgen schon am Vormittag?“

„Geht das am Wochenende etwa?“

„Klar. Da ist keine Visite und nur optionale Entspannungstherapie für die, die sonst nichts mit sich anzufangen wissen.“

„Dann steh ich um zehn auf der Matte.“

Morgen werde ich ihm sagen müssen, dass ich weder am Sonntag, noch am Montag kommen kann … Ohjeh.

Die dreiviertel Stunde Fahrt zweimal am Tag nervt. Aber dafür weiß ich, dass Xander, da wo er ist, wirklich geholfen wird. Dafür nehme ich das gerne in Kauf. Zuhause esse ich noch schnell was, rede kurz mit Ria, die gerade aus der Arbeit gekommen ist und ziemlich geschlaucht wirkt, und mache mich auf den Weg zu den Babies.

Um zehn vor sieben schließe ich meine ehemalige Haustür auf. Inzwischen fühle ich mich hier richtig fremd.

„Ah! Gut, dass du schon da bist!“

Dylan steht mit Jake auf dem Arm in schicker Montur im Wohnzimmer und tänzelt hibbelig von einem Fuß auf den anderen.

„Vanessa hat gerade angerufen. Ihr Wagen springt nicht an. Jetzt muss ich sie auch noch abholen. Das wird knapp.“

„Na dann gib mir mal den kleinen Spatz. Nicht dass du dich gleich auch noch umziehen musst.“

Er übergibt mir Jake und streicht sein Hemd glatt.

„Du siehst gut aus. Neue Krawatte?“, frage ich.

„Ach die … ja. Hat mir Vanessa geschenkt.“

Okay … Vanessa schenkt ihm neuerdings Krawatten. Das ist ja interessant. Er schaut sich noch mal in alle Richtungen um.

„Na geh schon. Ich hab hier alles im Griff.“

„Okay. Mach’s gut, Kleiner.“ Er streichelt Jake über den Hinterkopf. „Achso, April schläft übrigens im Keller.“

„Was??“

„Auf der Waschmaschine. Wegen dem Rütteln und so. Sie steht voll drauf. Babyphon ist unten.“

„Okay, alles klar …“

„Also bis heute Nacht.“

Damit bin ich mit meinem Jüngsten alleine. Er sieht mich neugierig an, greift nach meiner Nase, lächelt sogar ein bisschen, wobei ich nicht sagen kann, ob das nicht doch nur zufällige Gesichtsmuskelentgleitungen sind. Jedenfalls wächst er unaufhörlich, was mir ziemlich deutlich macht, was ich alles verpasse. Ich muss dringend mehr Zeit mit den Zwillingen verbringen. Wenn ich erst mal das Kinderzimmer eingerichtet habe, wird das schon werden.

Ich hole die tief schlafende April nach einer Weile nach oben. Mir ist es lieber, die beiden im Blick zu haben. Jake sind inzwischen auch die Augen zugefallen. Ich hab also vorerst nichts weiter zu tun und mache mich auf dem Sofa lang.

Ich träume von der Nacht, als Xander und ich hier saßen. Das war eine der besten und gleichzeitig schlimmsten meines Lebens. Ich hätte gleich mit ihm gehen sollen. Ich sehe ihn noch vor mir, wie er die Hand nach mir ausstreckt und mich Schatz nennt. Wenn Josh nicht gekommen wäre …

Natürlich darf ich meinem Sohn keinen Vorwurf machen. Ich habe den Fehler gemacht. Trotzdem, so vieles wäre anders gelaufen und Xander säße jetzt nicht in dieser Klinik. Ich muss Dylan wirklich sehr dankbar sein, dass er stark und rational genug war, sich von mir zu trennen. Oft hängen Paare jahrelang aneinander und erreichen nichts, als sich gegenseitig unglücklich zu machen, weil sie zu feige sind, noch mal neu anzufangen. Ich habe das eigentlich nie verstanden. Jetzt tue ich es. Ich selbst hätte nicht die Kraft gehabt, mich von Dylan zu trennen.

Um elf werden die Babies munter. Windeln wechseln, füttern, streicheln, in den Schlaf wiegen. Funktioniert alles. April ist gerade wieder am wegdämmern, als ich den Schlüssel in der Tür höre.

„Hey.“

„Hallo.“

Ich höre an seinem Tonfall sofort, dass etwas nicht stimmt.

„Was ist los?“

Er lässt sich neben mich auf die Couch fallen.

„Die Zuschüsse von der Stadt wurden gekürzt. Wir bekommen noch nicht mal mehr zehn Prozent. Dass Einsparungen anstehen, war klar, bei der Wirtschaftslage. Aber das … Wir müssen durchrechnen, ob wir überhaupt noch die laufenden Kosten decken können. Die Neueröffnung hat ein ganz schönes Loch in unser Budget gefressen und die Versicherung hat auch immer noch nicht alles bezahlt. Am Montag bekommen wir es offiziell. Bisher sind es nur Gerüchte. Aber ich befürchte, sie treffen zu …“

„Tut mir leid.“

„Da kann man nichts machen. … Und wie ist es hier gelaufen?“

„Keine besonderen Vorkommnisse. Babies satt, sauber und müde. Jordan auch.“

„Fahr mir ja vorsichtig“, mahnt er.

„So müde auch wieder nicht. Mach dir keine Sorgen.“

„Wow, irgendwie strahlst du richtig“, erklärt er unvermittelt. „Also im Sinne von leuchten … irgendwas ist jedenfalls anders an dir.“

Ich werfe ihm einen unsicheren Blick zu.

„Ah, Xander?“, stellt er mehr fest, als er fragt.

Ich nicke.

„Ihr seid wieder …“

Ich nicke wieder.

„Okay … gratuliere.“

„Das musst du nicht.“

„Ich weiß.“

Einige Sekunden ist es ganz still im Raum. Man hört nur Stans keuchende Atemzüge neben der Couch. Ich lege Dylan den inzwischen schlafenden Jake in den Schoß.

„Ich sollte fahren.“

„Okay, … aber wir sehen uns Sonntag?“

„Gwen kann es kaum erwarten. Sie vermisst dich.“

„Ich vermisse sie auch.“

„Nikki und Oliver entführen sie den ganzen August nach Hawaii.“

„Ich weiß. Josh und Kate auch.“

„Stimmt …“

„Wird ganz schön einsam werden, hier.“

„Ja … das Semester ist ja bis dahin aus. Ich muss dann nur noch die Abschlussarbeit schreiben. Ich kann die Zwillinge also nehmen, wenn du arbeiten musst.“

„Wenn es das Zentrum bis dahin überhaupt noch gibt“, lacht er bitter.

„Ihr findet schon einen Weg. Spenden oder … oder ihr vermietet ein paar der Räume. Euch fällt schon was ein.“

„Hoffentlich. … Ach, Tisha hat gesagt, du schreibst bei ihr eine Arbeit zu Rechtsradikalität?“

„Nur eine kurze. Ich weiß noch gar kein genaues Thema.“

„Vanessa kann dir da sicher weiterhelfen. Sie hat eine Datenbank angelegt mit allen Forschungsarbeiten, die in Kollaboration mit dem Zentrum entstanden sind.“

„Wirklich? Das ist echt mal praktisch. Dann meld ich mich bei ihr, sobald ich weiß, in welche Richtung ich ungefähr gehen will.“

Wieder ein paar Sekunden Stille.

„Ach, wie machen wir das eigentlich mit Biggs und den anderen? Müssen die nur den Schlüssel abgeben, oder wie ist das?“, frage ich.

„Achso, stimmt. Am liebsten würde ich zur Wohnungsabnahme vorbeikommen, wenn dir das recht ist.“

„Klar.“

„Okay, dann mach ich mit ihnen was aus. Und ich bau dir ein neues Türschloss ein. Der Schlüssel ist inzwischen durch so viele Hände gegangen, da ist mir das lieber.“

„Ah, daran hätte ich gar nicht gedacht. Gut, dass ich dich hab. … Also …“

„Ich weiß, was du meinst“, unterbricht er mein Gestammel.

„Danke.“

Er lächelt mich schief an. Jake gähnt und greift um sich. Dylan gibt ihm seinen Finger und schaut ihn ganz verzückt an.

„Weißt du, Jordan … ich fühle mich gar nicht so, als hätte ich versagt oder so. Nicht wenn ich in dieses kleine Gesicht schaue. Dieses Kind verdankt es uns, dass es auf der Welt ist. Und ich bin verdammt froh, dass es da ist.“

„Ich auch. Und ich bin froh, dass es dich in meinem Leben gibt.“

Dylan legt einen Arm um mich.

„Und ich hab auch nicht vor, wieder daraus zu verschwinden.“

Ich wache auf, weil mir mein Nacken wehtut. Zumindest dachte ich das, bis ich die Augen öffne und Josh vor mir steht. Ich brauche einen Moment, um das einzuordnen. Dylan sitzt neben mir. Naja, eigentlich liegt er mehr. Mein Kopf ruht auf seiner Hüfte. Ich schnelle hoch, schaue mich um. Wohnzimmer, Couch, Baby in Dylans Arm. Josh und Kate, die offensichtlich auf eine Erklärung warten.

„Wir … wir sind wohl eingeschlafen“, stammle ich.

Dylan wacht auf. Seine erste Sorge gilt dem Kind in seinem Arm. Er nimmt Jake behutsam hoch, wickelt ihn fester in die leichte Decke. Dann erst wendet er sich an Josh.

„Wie spät ist es?“

„Fast zwei.“

„Wir hatten abgemacht, dass ihr um Mitternacht zu Hause seid.“

„Wir sind um zwölf von der Party weg, keine Sorge. Danach sind wir noch ein bisschen rumgefahren.“

„Darum geht es nicht. Wenn wir verabreden, dass ihr um Mitternacht zu Hause seid, dann …“

„Du hast gesagt, du willst nicht, dass wir uns nach Mitternacht noch auf irgendwelchen Parties rumtreiben. Das haben wir nicht gemacht. Und was ist hier los? Kommt ihr jetzt doch wieder zusammen, oder was?“

„Nur weil wir zusammen auf der Couch eingeschlafen sind? Komm schon Josh, du bist alt genug, um zu wissen, dass es so nicht funktioniert.“

„Ich sollte jetzt wirklich fahren“, erkläre ich.

„Ja, solltest du“, schnappt mein Sohn.

„Du kannst auch hier schlafen, wenn du nicht mehr fahren willst“, schlägt Dylan vor.

„Nein, schon gut. Ich bin wieder wach.“

Mein erbarmungsloser Wecker klingelt um halb neun. Schließlich erwartet mich Xander. Vorsichtshalber nehme ich ein paar Unterlagen aus den Seminaren mit, und die Wochenendzeitung.

Xander ist in seinem Zimmer. Das Frühstückstablett steht unberührt in einer Ecke.

„Hey Schatz. Lass uns gleich raus gehen. Ich hab ein paar tolle Ideen …“

„Ich hab auch eine Idee. Wie wäre es erst mal mit Frühstück?“

„Ich hab doch schon Kaffee getrunken …“

„Das ist kein Frühstück. Komm schon, das Zeug schaut doch wirklich nicht schlecht aus. Die Melonen zum Beispiel.

„Ich mag die Gelben nicht. Und wenn die gemixt sind, schmecken alle nach den Gelben.“

„Was ist mit dem Brot?“

„Da ist Sesam drauf.“

„Dann wenigstens die Tomate?“

„Die sch…“

„Xander!“ Er zuckt zusammen. „Du kannst mir zu allem irgendeine Story erzählen. Fakt ist, dass du was essen musst. Also sag mir, was du willst, und ich besorg’s dir.“

„Du willst noch mal weg?“

„Wenn du auf dem ganzen Krankenhausgelände nichts findest, was dir schmeckt, dann schon.“

„In der Cafeteria gibt es Schokocroissants …“

„Sehr gut. Noch was zu trinken?“

„Sprite …“

„Schokocroissant mit Sprite. Yammi“, grinse ich.

Das Croissant kostet horrende drei Dollar achtzig. Dafür scheint es Xander wirklich zu schmecken.

„Zufrieden?“, lächelt er.

„Das war ein Anfang. Und jetzt will ich dich küssen, solange du noch schokoladig schmeckst.“

Danach machen wir uns samt Gitarre auf in den Park. Da das Gelände so weitläufig ist, müssen wir keine Angst haben, jemanden zu stören. Wir tauschen uns aus, stacheln uns an, bekritteln uns ein wenig und Xander singt sogar leise was von sich vor.

Zum Mittagessen, das in seinem Zimmer serviert wird, muss ich ihn wieder regelrecht drängen. Zumindest Reis isst er, mit etwas Gemüse. Dabei sieht er wirklich so aus, als müsste er sich quälen.

„Seit wann schmeckt dir nichts mehr?“

„Seit ich die Pillen nehme …“

„Kann das eine Nebenwirkung sein?“

„Unter Umständen, aber ansonsten schlagen sie wirklich gut an …“

„Aber so kann das doch nicht weitergehen, Liebling. Du bist wirklich beängstigend dünn …“

„Du hast mich Liebling genannt“, lächelt er selig.

„Du bist ja auch mein Liebling.“

Er springt auf und setzt sich auf meinen Schoß.

„Du schaffst es, mich mit einem kleinen Wort so unglaublich glücklich zu machen, mein Schatz.“

„Und das ist das Wichtigste.“

„Warum hast du eigentlich die Zeitung dabei?“, fragt er unvermittelt.

„Das ist für ein Seminar. Lokalpolitik. Frag nicht.“

„Iiih.“

„Ja.“

„Wobei … natürlich kann man auf lokaler Ebene am ehesten was erreichen.“

„Glaub nicht, dass ich nicht sehe, was du vor hast. Du willst eine Debatte anfangen, damit ich vergesse, dich zu mästen.“

„Irgendwie ist Essen doch was krankes.“

„Was?!“

„Zumindest in unserer Gesellschaft. Ich meine, überleg mal! In unserem Essen ist mehr Chemie als sonst was. Und jeder Scheiß wird als gesunde, vollwertige Kost angepriesen. Die meisten Leute sind übergewichtig und Diabetes und Bluthochdruck und Infarkte kommen von der Ernährung hier. Ich hab echt das Gefühl, mich mit jedem Bissen zu vergiften.“

„Ach komm schon. Man kann sich durchaus auch gesund ernähren. Vor allem, wenn man nicht auf’s Geld achten muss.“

„Ja, aber hier drin kommt alles aus irgendeiner Großküche. Genetisch manipuliertes Gemüse, Pestizide überall und all die künstlichen Aromastoffe! Nirgends kommt die Bigotterie dieses Landes so gut zum Ausdruck, wie in der Ernährung unserer Kinder. Ich meine, überleg mal:“ Er redete sich richtig in Rage. „Wir tun alles, um Jugendliche vor angeblich so schädlichen Einflüssen wie Sex in den Medien zu schützen. Wir stellen strenge Regeln auf, allein schon im Straßenverkehr. Wer an einer Schule mit mehr als zwanzig Meilen die Stunde vorbeifährt und erwischt wird, ist voll am Arsch. Aber wir füttern unsere Kinder mit Dingen, die sie fett und krank machen! Ein qualvoller Tod auf Raten, aber keinen scheint es zu stören!“

„Okay … ja stimmt. Ich meine, ich achte schon drauf, was die Kinder essen …“

„Und was das alles Geld kostet!“, fährt er unbeirrt fort. „Weißt du, was die Leute für Süßkram ausgeben?! Mit dem Geld könnte man dreimal im Jahr in Urlaub fahren! Anderswo hungern Leute! Hier in Amerika! Und der ganze Müll, der entsteht. Alles in portioniertem Plastik! Und dann noch mal verpackt in Plastik mit praktischen Henkeln dran! Das ist doch krank!“

„Und deshalb schmeckt dir das Essen nicht mehr?“

„Das geht mir jedenfalls bei jedem Bissen durch den Kopf.“

„Wow, das ist … heftig.“

Er nickte nur.

„Weißt du … ich glaub, du siehst die Dinge zu … extrem …“, erkläre ich vorsichtig.

Seine warnend funkelnden Augen erinnern mich unweigerlich an Ria.

„Vince ist jetzt mit einer Frau zusammen“, lenke ich ab und genieße Xanders überraschten Blick, bis ich ihn aufkläre.

Danach lesen wir zusammen die Zeitung, dann gehen wir wieder in den Garten, um ein paar Ideen auszuprobieren. Gesellschaftskritisches Zeug. Ich erzähle ihm von Vuza und dem College und komme irgendwann drauf, ihn zu fragen:

„Sag mal, hast du deinen Collegeabschluss jetzt eigentlich gemacht?“

„Nein, dafür hatte ich nie Zeit.“

„Hm …“

„Ich werde nie in meinem Leben wieder arbeiten müssen, Jordan. Ich hab wirklich genug Geld.“

„Ja, das weiß ich.“

„Warum schaust du dann wie meine Mutter, als ich ihr erzählt habe, dass ich abgebrochen habe?“

„Weil College nicht nur für eine Karriere gut ist. Auch zur Horizonterweiterung und so.“

„Findest du meinen Horizont zu beschränkt?“, fragt er frech grinsend.

Ich ziehe ihn auf meinen Schoß und bestrafe ihn mit einem Biss in den sehnigen Hals.

Es wird langsam Zeit, mich zu verabschieden. Und ein Geständnis zu machen. Wir stehen an der Pforte und küssen uns innig. Ich schaffe es kaum, Xander zurückzudrängen, um ihm zu sagen, was ich den ganzen Tag vor mir hergeschoben habe.

„Warte mal. Ich muss dir noch was sagen …“

„Mhm“, macht er und saugt sich an meinem Hals fest.“

„Xander, warte doch mal kurz.“

Ich ziehe sein Gesicht zu mir und gebe ihm einen kurzen Kuss auf die Nase.

„Ich befürchte, ich kann morgen nicht kommen, Xander. Und übermorgen auch nicht. Aber am Dienstag können wir wieder den ganzen Nachmittag miteinander verbringen, und …“

Seine Augen schauen mich überrascht und verzweifelt an.

„ … und wir können telefonieren.“

„Warum?“, fragt er, in einem Tonfall, als würde er wissen wollen, warum ich ihm das Messer in den Rücken gerammt habe.

„Weil ich mit Gwen zum Mittagessen bei Dylan und den Zwillingen bin. Und am Nachmittag wollen wir ihre Gitarre ausprobieren. Ich werd es also nicht schaffen, bevor es hier Abendessen gibt.“

„Und vormittags?“

„Ich muss Gwen spätestens um halb zwölf abholen.“

„Dann könntest du doch von zehn bis elf hier sein.“

Sein Blick ist so flehend.

„Ich müsste um halb elf hier losfahren.“

„Dann eben nur eine halbe Stunde. Bitte.“

Eineinhalb Stunden Fahrt für eine halbe Stunde mit Xander? Er küsst mich noch mal und ich erkenne, dass die Rechnung aufgeht.

„Also gut, ich komme so früh wie möglich her.“

Auf dem Nachhauseweg schneidet mich so ein Idiot und ich fahre ihm beinah hinten auf. Das hätte mir gerade noch gefehlt. Und mein Bein tut auch wieder weh. Und ich bin soooo müde. Ich schaff es zu Hause gerade noch, zu duschen und eine Banane zu essen. Dann falle ich auf das Bettsofa und schlafe durch bis sieben Uhr früh.

Ria ist nicht da. Vermutlich ist sie bei Vince. Gut so. Ich hab noch zwei Stunden, bis ich allerfrühestens zu Xander losfahren kann. Und irgendwie fühle ich mich immer noch müde. Aber ich muss noch so viel für die Seminare morgen vorbereiten. Ich kann nicht schon in der zweiten Woche durchhängen. Eigentlich darf ich mir überhaupt keinen Durchhänger leisten. Ich schaue im Badezimmerspiegel in mein zerknautschtes Gesicht. Meine Haare sehen scheiße aus. Die Farbe ist schon total ausgewaschen und die Ansätze … Ich schere sie kurzerhand ab, auf der längsten Stufe. Jetzt sind wieder alle braun und der Mittelstreifen ist kaum länger als der Rest. Naja, immerhin ist das praktisch.

Kurz nach neun fahre ich los. Ich könnte die Strecke inzwischen mit geschlossenen Augen bewerkstelligen. Ich bin fast allein auf der Schnellstraße. Kein Wunder. Wer fällt sonntags schon vor neun aus dem Bett? Gähnend komme ich an der Pforte an, trapse in das Gebäude, erklimme die Stufen, wobei ich mich mit den Armen am Geländer hochziehe und schwinge die Stationstür auf. Ich grüße ein paar Krankenschwestern und gähne noch mal ausgiebig. Muss Xander mich heute eben wachküssen.

„Mr. Handerson.“

„Ah, guten Morgen, Doktor Garcia.“

„Könnte ich kurz mit ihnen sprechen?“

„Sicher“, antworte ich überrascht.

„In meinem Büro.“

Sie macht eine ausladende Geste in Richtung der Tür zu unserer Rechten.

„Bitte, setzen sie sich.“

Sie tritt um ihren gewaltigen Schreibtisch herum, mit ernster Miene. Ich gehorche und schaue sie fragend an.

„Heute ist kein guter Tag für Xander. Ich bin nicht sicher, ob er Besuch bekommen sollte.“

„Was ist passiert?“, frage ich alarmiert.

„Sehen sie, es ist ganz normal, dass Depressionen mit wellenförmiger Schwere auftreten …“

„Ja, aber gestern ging es ihm doch noch gut.“

„Er hatte eine unruhige Nacht, hat kaum geschlafen. Die Nachtschwester musste ihm stärkere Beruhigungsmittel geben. Er hat versucht …“, sie stockt.

„Was?“

„Er hat versucht sich zu verletzen.“

„Was? Aber … wie?“

„Mit seinen Fingernägeln. Heute ist er in sehr schlechter Verfassung.“

„Ich will zu ihm.“

Ich stehe auf.

„Das verstehe ich, aber ich möchte sie warnen. Er ist sehr verzweifelt.“

„Kann man ihm denn nichts geben?“

„Das würde eventuell die Wirkung seiner Standardmedikamente beeinflussen. Nein, wir haben vor, eher auf Gespräche und Therapien zu bauen. Das wirkt nachhaltiger.“

„Kann ich dann jetzt …?“

„Natürlich. Kommen sie.“

Das nervöse Kribbeln im Bauch steigert sich ins Unaushaltbare als ich ihr über den Flur zu Xanders Tür folge und sie vorsichtig anklopft.

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