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Irrwege

Teil 12 - Premiere

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In einem fremden Bett aufzuwachen, in einem fremden Zimmer, kann sehr irritierend sein. Nicht lange, doch die ersten Sekunden, nachdem man die Augen geöffnet hat und, noch im Halbschlaf, völlig orientierungslos die Umgebung nach etwas Vertrautem absucht und sich Fragen wie Wo bin ich? und Wie bin ich hergekommen? stellt, während die Erinnerung langsam zurückkehrt und man begreift, dass man eine der besten Nächte seines Lebens hinter sich hat und der Tag mindestens genauso klasse werden könnte, diese paar Sekunden können ziemlich unangenehm sein.

Und wenn man dann auch noch bei einer minimalen Bewegung merkt, dass man sich besser nicht im Beisein anderer bewegen sollte, weil sich zwischen der Haut und dem Stoff der Boxershorts diese wohlbekannte, klebrige Masse verteilt hat, gegen die man, wenn man allein ist, nichts einzuwenden hat, weil sie das Ergebnis eines traumhaften Erlebnisses ist, dann wünscht man sich, man wäre gar nicht erst aufgewacht, denn man weiß, dass man nicht allein ist.

Doch Wünsche sind nicht real, und so bleibt mir nichts anderes übrig, als mich mit meinem Missgeschick abzufinden, zu hoffen, dass es Kim nicht auffällt, wie unwohl ich mich in meiner Haut fühle, und eine Möglichkeit zu finden, auf schnellstem Wege zum Auto zu laufen, nach Hause zu brausen und mich dort unter die Dusche zu stellen, während meine Kleidung wieder tragbar gewaschen wird und diese Peinlichkeit zu einer alten Erinnerung verblasst – das sollte doch alles kein Problem sein, oder?

Es sei denn, ich drehe den Kopf nach links und fange den Blick jenes Mannes auf, der, indirekt und unwissentlich leider, für die Pein in der Peinlichkeit verantwortlich ist, und der mich zugleich in eine Wolke von Glückseligkeit wickelt, aus der ich nie mehr entkommen möchte.

„Guten Morgen“, lächelt Kim und beugt sich herunter, um mich zu küssen. „Hast du gut geschlafen?“, fragt er und legt seinen Kopf auf das Kissen, ohne mich aus den Augen zu lassen. Genauso wenig wie ich meinen Blick von ihm abwende, aus Angst, er könne nur eine Einbildung sein, ein Trugbild, das sich in Nichts auflöst, sobald ich für einen Moment wegschaue. Ich strecke meinen Arm aus, meine Finger tasten nach seinen und, als sie sie finden, verhaken sie sich ineinander. Er zieht unsere Hände zu seinen Lippen und küsst meine Finger einen nach dem anderen. Ein schwacher Hauch, ganz zart und zärtlich.

„Er hatte recht, weißt du?“, sagt er leise und spielt mit meinem Ohrläppchen.

„Wer?“

„Ian Harrison.“

„Bitte wer?“

„Der Song letzte Nacht – You are so beautiful. Der Interpret heißt Ian Harrison und er hat vollkommen recht mit seinem Song, du bist schön.“

Das Gleiche könnte ich über ihn sagen, mit dem Unterschied, dass es auf ihn zutrifft und auf mich nicht.

„Danke“, sage ich verlegen, „auch wenn das nicht stimmt.“

Kim lacht. „Wird das jetzt unser erster Streit?“ Die Frage ist rhetorisch, eine Antwort darauf erwartet er nicht, küsst mich stattdessen und unterstreicht damit seine Worte, was meine Verlegenheit noch steigert. Hilflos lausche ich seiner Stimme, unfähig zu entscheiden, was ich erwidern soll. Sage ich ihm, dass er auch schön ist, was der Wahrheit entspricht, dann hört sich das sicher so an, als würde ich es nur nachplappern und nicht ernst meinen. Obwohl ich es tue. Außerdem, sein Ego ist schon groß genug, da braucht es manchmal vielleicht eher einen Dämpfer als einen Booster.

„Markus, wenn dir alles zu schnell geht ...“, deutet er mein Schweigen fehl.

„Tut es nicht“, schüttle ich den Kopf. „Es ist nur ...“

„Du hast ein Problem mit Komplimenten“, kommt ihm die Erleuchtung. „Mit der Zeit wirst du dich daran gewöhnen, und nein, ich erwarte nicht, dass du jedes Kompliment erwiderst …“ Seine Stimme klingt ganz so, als würde er in Gedanken hinzufügen: Aber ab und zu wäre es schon ganz nett.

„Du weißt, dass ich ganz verrückt nach dir bin, nicht?“ Auch eine Art von Kompliment, oder?

Er nickt. „Das heißt, vorausgesetzt ich habe die Hauptrolle in deinem feuchten Traum gespielt.“

So viel dazu, dass Kim es nicht merken soll. Trotz meiner Scham wende ich mein Gesicht nicht von ihm ab, denn seine Direktheit ist mit einer der Gründe, weshalb ich mich zu ihm hingezogen fühle.

„Hast du“, murmle ich. „Wie lange bist du wach und … ähm … siehst mir schon beim Schlafen zu?“

„Eine Weile. Lange genug, um zu duschen und mich umzuziehen und dazu auch noch den Höhepunkt deines Traumes mitzuerleben.“ Das ist mir bisher noch gar nicht aufgefallen, doch tatsächlich, er trägt nicht mehr die gleiche Kleidung wie letzte Nacht, sondern ein schlichtes langärmliges Shirt und eine Schlafanzughose.

„Du hast also alles mitbekommen?“, frage ich mit einem nur halb gespielten, resignierenden Stöhnen.

„So ziemlich“, sagt er. „Ich bin davon aufgewacht.“ Oh Gott! So laut kann ich doch nicht gewesen sein! „Und bevor du, wie es deine Art ist, vor Scham im Boden versinkst, solltest du wissen, dass ich es toll fand!“

Okay, das wird mir jetzt etwas unheimlich. „Du fandest es toll, mir dabei zuzusehen, wie ich im Schlaf meine Klamotten voll...spritze!?“

Lachend schüttelt er den Kopf. „Weiter als bis zur Hose dürfte es wohl nicht gekommen sein, zumindest war es bei mir so, aber nein, das meine ich nicht. Ich war so vermessen, anzunehmen, dass meine Nähe dafür verantwortlich war, was du mir zum Glück bestätigt hast, denn sonst hätte ich mich, ganz ehrlich, gefragt, ob wir wirklich zueinander passen oder doch lieber nur Freunde bleiben sollten.“

„Und zu welchem Ergebnis bist du gekommen?“ Gut, die Frage ist blöd, aber … willkommen in meiner Gedankenwelt.

„Zu diesem“, sagt er, bevor seine Lippen erneut meine finden und mich davon abhalten, noch mehr Unsinn vor mir zu geben.

Fünf Minuten später, während Kim sich um das Frühstück kümmert, stehe ich unter der Dusche und kann nicht so recht glauben, dass mein Leben momentan ziemlich perfekt ist. Freunde, Familie, Studium – alles läuft super. Und jetzt habe ich sogar jemanden gefunden, der ... nun, das mächtige Wort mit L ist zwar noch lange nicht gefallen, doch mein Gefühl sagt mir, dass Kim für mich genauso empfindet wie ich für ihn. Was kann man vom Leben mehr erwarten?

Als ich wieder zu Kim stoße und ihm dabei zusehe, wie er in der Küche mit sicheren Bewegungen eine rote Paprikaschote in dünne Scheiben schneidet, kann ich mich nicht damit zurückhalten, ihm einen Kuss auf die Wange zu drücken, woraufhin er sich zu mir umdreht und mich richtig küsst.

„Ich wünschte, ich hätte heute frei“, sagt er, als wir uns einander gegenüber an den Tisch setzen, und spricht damit genau das aus, was ich denke.

„Ich sehe dich ja bei der Vorstellung heute Abend und danach, wenn du noch Lust hast“, schlage ich vor und hoffe, dass er anbeißt.

„Du siehst sie dir heute wieder an?“, fragt er verwundert.

„Heute und morgen und übermorgen … Ich werde mir jede Vorstellung ansehen. Wenn dir das recht ist“, schiebe ich schnell hinterher.

„Ob … klar! Und hinterher könnten wir unser erstes Date nachholen und in das Restaurant gehen, von dem ich dir erzählt habe.“

„Das ist ein Date!“, sage ich mit vielleicht einer Spur zuviel Begeisterung.


Nachdem wir gemeinsam abgewaschen und ich ihn zum Jugendzentrum gefahren habe, wo wir uns mit einem langen, vielversprechenden Kuss verabschiedet haben, fahre ich nach Hause und laufe zielstrebig der richtigen Person in die Arme.

„Hi Kristin!“

„Der verlorene Sohn kehrt heim“, sagt sie fröhlich. „Lucas sucht dich. Eigentlich suchen wir dich alle. Oder besser gesagt, wir warten seit Stunden darauf, dass du endlich nach Hause kommst und uns alles erzählst.“

Natürlich, klar. „Später vielleicht. Erstmal brauch ich deine Hilfe“, erwidere ich und folge ihr in ihr Zimmer.

„Meine? Sicher, worum geht’s?“

„Ich brauche ein Geschenk. Für Kim. Für heute Abend. Also … wir haben heute unser erstes Date ...“

„Euer erstes? Aber ihr ward doch in den letzten Tagen ständig zusammen unterwegs“, wundert sie sich. „Keine Dates?“, bohrt sie nach, worauf ich mit einem Kopfschütteln antworte. „Okay, ein Geschenk. Eine rote Rose ist ein klassisches Geschenk für ein erstes Date“, denkt sie laut nach.

„Nein, keine Rose. Keine rote … Es muss was Besonderes sein. Ich weiß nur nicht was“, gestehe ich und sehe sie flehend an. „Etwas, was zu ihm passt, weißt du?“

„Verstehe“, nickt sie und greift nach ihrer Jacke. „Dann gehen wir shoppen. Am dritten Adventssamstag, das wird bestimmt lustig!“

Gesagt, getan. Ich rufe den anderen noch kurz zu, dass wir verschwinden, und laufe ihr dann hinterher.

„Wieso hast du's so eilig?“, erkundige ich mich, als ich sie eingeholt habe. „Die Läden machen nicht vor zwanzig Uhr zu und wir haben nicht einmal Mittag.“

Wir haben Glück – nicht nur, dass wir die Bahn erwischen, wir finden sogar noch zwei freie Sitzplätze.

„Du musst mit Lucas reden“, sagt sie kurz angebunden.

„Was hat er denn angestellt?“

„Männer!“, seufzt sie. „Er hat nichts angestellt! Er hat … nur das falsche Fach belegt. Sieh mal, deine Welt sind die Zahlen. Zahlen, Formeln, Theorien – damit spielst du. Deswegen studierst du auch BWL, da gibt’s Unmengen von Formeln und Zahlen. Prima! Aber Lucas' Welt ist das nicht. Er hat das Gleiche wie du belegt, nur um in deiner Nähe zu bleiben. Aber jetzt hat er die Musik wiederentdeckt und er ist verdammt gut darin. Er hat mir erzählt, dass er seit drei Jahren kein Klavier mehr angerührt hat, aber in den letzten Tagen hat er so viel geübt, dass man es ihm fast nicht mehr anhört. Verstehst du, was ich meine?“

Ich nicke vorsichtig und überlege schon mal, wie ich es ihr beibringen soll, ohne ihre Begeisterung für seine Begeisterung zu sehr zu trüben.

„Markus, wir spielen, weil die Musik uns Spaß macht und uns auf andere Gedanken bringt, wenn wir melancholisch sind, dementsprechend klingen unsere Songs auch. Lucas aber lebt in der Musik. Er spielt jede Musikrichtung mit einer unglaublichen Hingabe, er verkörpert die Musik. Ich habe ihm, als wär's ein Scherz, gesagt, er könne zu uns auf die Musikhochschule wechseln, und er hat gelacht, aber ich habe es ernst gemeint, Markus. Rede du mit ihm, überzeuge ihn davon, er hat nämlich das Zeug zu einem großartigen Pianisten.“

„So gut, hm?“ Frau Zoënn konnte es damals auch nicht verstehen, als ich ihr mitteilte, dass Lucas nie wieder ein Klavier sehen wollte. „Das ist nicht so leicht, Kristin“, gestehe ich und beiße mir auf die Unterlippe, bevor ich fortfahre: „Es gibt einen Grund, weshalb er vor drei Jahren damit aufgehört hat, den ich dir allerdings nicht sagen kann. Aber so viel kann ich dir sagen: So schnell wie er sich wieder fürs Spielen hat begeistern lassen, genauso schnell könnte sein Eifer sich erneut in Luft auflösen.“

Doch sie lässt nicht locker. „Wenigstens ein Treffen mit meinem Prof. Ein kurzes Vorspielen nur“, schlägt sie vor.

„Ein Vorspielen“, zögere ich. „Gib mir Zeit bis nach Weihnachten, dann kann ich dir sagen, ob er so weit ist, ob … er bereit ist, sich wieder reinzuknien und ernsthaft Musik zu machen. Und, falls er das ist, dann werde ich ihn überzeugen. Versprochen.“

An ihrem Schweigen merke ich, dass sie mit dem Ergebnis nicht ganz zufrieden ist, doch im Moment kann ich einfach nichts daran ändern. Sie braucht Zeit. Lucas braucht Zeit. Und ich brauche Zeit.

„Zwei Wochen“, sagt sie.

„Okay“, nicke ich. „Zwei Wochen.“ Sie grinst. „Du hast ihm schon einen Vorspieltermin besorgt, oder?“ Das plötzliche Leuchten in ihren Augen hat sie verraten.

Kristin zuckt mit der Schulter. „Nächste Woche wirst du verstehen wieso“, verspricht sie und schließt damit das Thema ab. „Und jetzt lass uns was für Kim finden, nicht dass du womöglich noch zu spät zu deinem ersten Date kommst.“


Nach dem gemeinsamen Mittagessen mit den anderen, ziehen Lucas und ich uns zurück, gehen rüber zu ihm. In den letzten Tagen, in denen ich ihn kaum zu Gesicht bekommen habe, hat sich einiges getan in seinem kleinen Häuschen. Das Wohnzimmer, das letztes Mal noch als solches erkennbar war, hat er in ein Musikzimmer verwandelt: Ein Keyboard, ein Klavier, brusthohe, massige Lautsprecher, eine E-Gitarre, mehrere Mikrofone und ein Schlagzeug-Set mitsamt entsprechendem Kabelsalat füllen jetzt den Raum. Verblüfft wechselt mein Blick von Lucas zu dem ganzen Musikkram und zurück.

„Hast du eine Bank ausgeraubt?“, frage ich, als ich endlich meine Sprache wiedergefunden habe.

„Oh ja, und dann noch im Lotto gewonnen“, kichert er. „Die Sachen gehören mir nicht, sie gehören Kristins Band.“

„Kristin hat eine Band?“ Das also meinte sie vorhin mit Wir.

„Wusste ich auch nicht, bis vorgestern. Dann habe ich die anderen Mädels getroffen. Kristin hat ihnen von mir erzählt und sie wollten mich kennen lernen. Ich glaube, eine von ihnen steht sogar auf mich“, schmunzelt er. Keine Ahnung, was daran lustig sein soll!

„Und was sollen diese ganzen Sachen dann in deinem Wohnzimmer?“

„Einfach – ich lasse sie hier proben und darf dafür in meiner Freizeit mit ihren Instrumenten üben.“

Zuerst nickend, dann kopfschüttelnd lasse ich mich auf die an die Wand gerückte Couch fallen.

„Hast du auch manchmal das Gefühl, dass du nicht mehr mitkommst? Dass du dein eigenes Leben nicht wiedererkennst?“, frage ich ihn, gebe ihm jedoch keine Gelegenheit zu antworten. „Ich meine, vor vier Monaten waren wir noch Kinder, wir haben Peter Pan und Captain Hook gespielt, Lucas! Und gerade die letzten zwei, drei Wochen: Schlag auf Schlag. Oles fehlgeschlagener One-Night-Stand, das Ende deiner jahrelangen Beziehung und deine Rückkehr in mein Leben. Dann deine wiederentdeckte Liebe zur Musik. Basti mit seinem Club – und mit seinem Stück. David – was hat er eigentlich gegen mich? Und, nicht zu vergessen, Kim … Wann soll man das alles verarbeiten?“

„Ich weiß, was du meinst. Das ist es, oder? Das ist es, was es heißt, erwachsen zu sein. Was wir nie werden wollten – und jetzt sind wir's. Wir konnten es nicht verhindern.“ Er lacht und setzt sich zu mir, legt seinen Arm um meine Schulter.

„Heute Morgen, unter der Dusche, war ich noch davon überzeugt, der glücklichste Mensch auf Erden zu sein.“

„Und das bist du, Markus. Dieser Kim, ich weiß nicht viel über ihn, aber das ist mir egal, weil ich sehe, wie du jedes Mal aufblühst, wenn du von ihm sprichst.“

„Weil ich ihn liebe – und genau das macht mir Angst“, beichte ich ihm. „Wenn ich mit Kim zusammen bin, fühle ich mich großartig, dann ist die Angst … sie existiert dann einfach nicht. Wenn ich aber wieder allein bin und darüber nachdenke, dass wir uns im Grunde kaum kennen – was ist schon eine Woche ...“

Er steht auf und sieht mich an, mit diesem Blick, der seine Worte bestätigt – so ernst und nachdenklich, so erwachsen!

„Dann lass es, Markus. Denk nicht drüber nach. Traue deinen Gefühlen, deinem Instinkt. Lass alles auf dich zukommen und genieße es. Und wenn es dann wider Erwarten doch schiefgehen sollte, dann bin ich für dich da, das weißt du. Aber steh dir nicht selbst im Weg, okay?“

Ich schenke ihm ein schiefes Lächeln, das so viel wie Mit einem Freund wie dir kann ja gar nichts schiefgehen heißen soll und wende mich einem weniger unangenehmen Thema zu: „So, dann lass mal hören, was du in letzter Zeit geübt hast, den dunklen Ringen unter deinen Augen nach zu urteilen, hast du mehr Zeit mit Üben als mit Schlafen zugebracht.“

„So ungefähr“, nickt Lucas und setzt sich ans Klavier, während ich es mir auf der Couch bequem mache und meinem ersten ganz privaten Konzert lausche. Und ganz nebenbei sehe ich meinem besten Freund dabei zu, wie er aufblüht und mich davon überzeugt, dass die Zeit reif ist für das Musikgenie in ihm.


Nach dem, für meine Essgewohnheiten zumindest, opulenten Festmahl im Chez Madame Xiao, einem kleinen, unscheinbaren, jedoch nicht nur bei meinem Freund sehr beliebten Restaurant, das, wie der Name vermuten lässt, seiner Tante gehört, machen Kim und ich uns Hand in Hand, unter dem klaren, sternenbehangenen Himmel, gemächlichen Schrittes auf den Weg zu seiner Wohnung und bewundern die festlich geschmückten Häuser und Fenster, an denen wir vorbeischlendern.

Ein gutes Stück von der Hauptstraße entfernt, halten wir vor einem großen Schaufenster, das unsere Blicke wie magisch anzieht. Mit einem scharfen Blick fürs Detail zeigt es die Südstadt im Miniaturformat, von der Vivera bis zur Sonnenallee, vom Narrenplatz über die Regenbogenstraße bis hin zur Südgrenze der Stadt und den dahinterliegenden, verschneiten Wäldern.

„Hierauf freue ich mich jedes Weihnachten. Ich habe sie mir bisher jedes Jahr angeguckt, seit ich nach Deutschland zurück gekommen und mit meiner Tante hierher gezogen bin.“ Kims Worte bringen mich dazu, meine Augen vom Schaufenster abzuwenden und ihn anzuschauen, denn bisher hat er es – ob absichtlich oder nicht, das sei dahingestellt – stets vermieden, über früher zu reden – über seine Kindheit und über seine Eltern. Und auch jetzt geht er nicht weiter darauf ein, daher wende ich mich, trotz meiner wachsenden Neugier, wieder der Miniatur-Südstadt zu.

Größere Gebäude wie das bxd oder das Luxushotel einen halben Kilometer die Straße runter, stechen ganz deutlich hervor, mit funktionierender Außenbeleuchtung und allem drum und dran. Schaut man genauer hin, erkennt man zudem viele Einzelheiten, beispielsweise ein etwas korpulentes Männchen mit gekreuzten Armen und fiesem Blick, das vor dem bxd postiert ist, oder weiter oben einen jungen Mann, der vor dem Eingang zu Kims Wohnhaus steht. Gleich dahinter sieht man einen größeren Platz, auf dem sich an Glühweinständen, Süßwaren- und Spielzeugbuden jede Menge Menschen drängen. Und über diese ganze Miniaturstadt schneit es ununterbrochen feine weiße Flocken, während eine leise im Hintergrund spielende Drehorgel das Weihnachtsfeeling abrundet.

„Einmal müssen wir da hingehen“, sagt Kim und deutet auf den Weihnachtsmarkt.

„Ja, aber nicht heute“, appelliere ich.

„Sicher?“

„Ein Weihnachtsmarktbesuch wäre nur halb so toll ohne Schokobananen und gebrannte Cashews, aber, so gern ich die auch esse, heute kriege ich nichts mehr runter. Also, ja, ganz sicher.“

„Gut“, sagt er grinsend, als wir weitergehen. „Ich habe nämlich sowieso ganz andere Dinge mit dir vor heute Nacht.“

„Heute Nacht?“, frage ich und schaue hoch in den Himmel. „Kein Vollmond, also wirst du dich nicht in einen Werwolf verwandeln.“

„Der Mond scheint schon, jetzt hättest du sowieso keine Chance mehr zu fliehen“, spielt er mit.

„Oh, ich weiß! Du bist ein Vampir und beißt mich nachher. Cool! Wollte schon immer ein Kind der Nacht werden.“

„Ja, das käme der Idee des Ewigen Jungen am nächsten, nicht? Für immer zwanzig – das könnte dir so passen“, lacht er und küsst mich. „Komm, wir gehen hoch“, sagt er, als er die Eingangstür aufschließt und mich an seiner Wohnung vorbei nach oben führt. Er stößt die Tür zum Dach auf und zieht mich hindurch. Unsere Füße hinterlassen Spuren im zentimeterdicken Schnee, als wir uns auf die Balustrade zubewegen. „Hier die Südstadt nochmal in echt, lebendig und in Farbe.“

Nach ein paar Minuten Stille, während der wir uns das Original der Kopie ansehen, dreht Kim sich zu mir um und fragt ernst: „Wenn es möglich wäre, würdest du unsterblich sein wollen?“

„Du weißt, es kann nur einen geben!“, gebe ich zu bedenken.

Er zieht einen Mundwinkel hoch. „Also dafür, dass du so wenig fernsiehst, kennst du dich auf dem Gebiet ziemlich gut aus.“

„Man schnappt überall was auf“, meine ich achselzuckend. „Ich weiß es nicht. Du?“

„Ich weiß nur, was wir jetzt beide brauchen“, weicht er aus, als würde er seine eigene Frage bereuen. „Wärme. Komm mit.“ Verwirrt folge ich ihm die Treppe hinunter zu seiner Wohnung. Sobald wir unsere Jacken und Schuhe ausgezogen haben, legt er beide Arme um meinen Hals und flüstert in mein Ohr: „Menschliche Wärme.“

Wie recht er hat! Seine körperliche Nähe lässt mich alles andere als kalt. Obwohl ich mir größte Mühe gebe, ihn unter Kontrolle zu halten und eine weitere Peinlichkeit wie die von heute Morgen zu verhindern, entwickelt mein Unterleib ein Eigenleben. Dieses Mal jedoch spüre ich, zu meinem Glück, dass ich nicht der Einzige bin, dem es so geht. Von einer Sekunde zur nächsten verflüchtigt sich meine Zurückhaltung und ein noch nie gekanntes Verlangen ergreift Besitz von mir – und Kim scheint es nicht anders zu gehen. Binnen Augenblicken liegen Pullover und T-Shirts auf dem Boden. Haut auf Haut, Hände überall, spielende Zungen und Lippen, gierige Küsse, heißer Atem – pure animalische Begierde.

Als auch die letzten Kleider fallen und wir im Bett landen, ist es hingegen, als würde die Zeit stehen bleiben. Unsere Gesichter einander zugewandt, liegen wir da und atmen tief durch. Schauen uns an, berühren uns zärtlich, vorsichtig, als wären wir zerbrechlich – und in diesem Moment sind wir es. In diesem Moment, der uns sagt, dass uns weit mehr als die körperliche Anziehung von gerade eben vereint. Jede Berührung, jeder Kuss ist ein Versprechen, das uns einander näher bringt, uns aneinander bindet, unsichtbar, doch stark.

Viel später – Stunden, Tage, Ewigkeiten voller Liebe und Liebemachen, liegen wir mit geschlossenen Augen in der Badewanne. Mein Rücken ist Kim zugewandt, seine Arme ruhen auf meiner Schulter, halten mich fest, während seine Finger konzentrische Kreise auf meine Haut zeichnen; seine Küsse, auf meinem Kopf, meiner Schulter und meinem Nacken, wirken wie Impulsblitze, kleine Stromschläge, die eine Mauer in meinem Gehirn einreißen, eine bislang anscheinend verschlossene Tür öffnen, denn, inmitten dieser Wolke aus dampfendem Wasser und Gefühlen, verstehe ich endlich, was Lucas mir all die Jahre begreiflich zu machen versuchte – dass es auch außerhalb meiner Familie Menschen gibt, die mich lieben. Und Kim, da bin ich mir ganz sicher, ist einer von ihnen.

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