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Jan - Jan oder anders anders

Teil 3

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Informationen

Inhaltsverzeichnis

Der Kapuzenpullover

"m, 24 Jahre alt, sucht unkomplizierten m mit einem Faible für Fesselungen. Kein Sex"

Jan las diese Anzeige immer wieder. Er hatte sie den Tag zuvor in einem Schwulenmagazin gefunden. Insbesondere, dass da stand, "kein Sex", klang sehr vielversprechend.

Das mit dem schwulen Sex hatte noch nie richtig funktioniert; Jan hatte inzwischen einige, vor allem auch einige unangenehme Erfahrungen damit gemacht. Es schien nicht seine Sache zu sein, was ziemlich misslich war, da im Umgang mit Schwulen Sex eine nicht unwichtige Rolle spielte.

In der Schwulengruppe hatte er sogar mal jemanden kennen gelernt, der bereit war, es mit ihm zu üben, den schwulen Sex, aber das brachte Jan am Ende auch nicht weiter. Mit jeder neuen Erfahrung wurde immer deutlicher, dass er dafür wirklich nicht kompatibel war und auch dass er dem eigentlich nicht viel abgewinnen konnte. Er war sich inzwischen auch ziemlich sicher, dass sich das nicht mehr ändern würde.

Gerne hätte er hin und wieder mal mit jemandem gekuschelt oder einfach nur zu zweit in einem Bett gelegen - seine Ansprüche waren nicht hoch. Aber das scheiterte regelmäßig an dem Anspruch nach Sex, der früher oder später im Raum stand.

Besonders reizvoll fand er hin und wieder auch den Gedanken, sich von jemandem fesseln zu lassen. Die Vorstellung, gefesselt zu werden, hatte seit seiner Kindheit an Ausstrahlung nichts verloren, im Gegenteil.

Jan lebte aber in dieser Hinsicht völlig abstinent, was seine Lust danach und die Erregung, die die entsprechenden Phantasien in ihm auslösten, zuweilen bis ins Unerträgliche steigerte.

Seine wenigen Versuche, in der Schwulenszene Leute zu finden, von denen er sich fesseln lassen konnte, scheiterten ebenfalls alle daran, dass diese Treffen auch immer mit der Erwartung nach Sex verbunden waren. Nach "normalem" schwulen Sex, bei dem Fesseln obendrein eher als Beiwerk gesehen wurde. Dazu kam es dann auch kein einziges Mal.

Diese Anzeige war im Grunde genommen das Vielversprechendste, was Jan bislang in dieser Hinsicht begegnet war.

Er hatte noch nie auf eine Kontaktanzeige geantwortet und war sich auch unsicher, ob es wirklich funktionieren konnte oder ob es am Ende nicht doch einfach blöde würde. Aber diese Anzeige sprach ihn sehr an, vor allem der Zusatz, "Kein Sex". Auch der Ausdruck "Faible für Fesselungen" gefiel ihm gut; er fand, so wie das formuliert war, musste es von jemandem stammen, der Fesselungen ähnlich erlebte wie er.

Er entschied sich am Ende, spazieren zu gehen und sich während dessen zu entscheiden, ob er antworten würde oder nicht; Spaziergänge waren für ihn das beste Mittel, auf klare Gedanken zu kommen.

Er musste sich überwinden um aufzustehen, denn es war eisig kalt in seinem Zimmer. Das Fenster isolierte so gut wie gar nicht und der Ofen war irgendwann in der Nacht ausgegangen.

Er zog sich mehrere Pullover über, zwei lange Unterhosen, Strümpfe, Hose und am Ende noch seine Mütze, seine schwarze Jan-Mütze. Und natürlich noch seine Halskette und das Armband für das rechte Handgelenk; an seinem linken trug er immer noch das Armband, das ihm Jan geschenkt hatte, und das trug er Tag und Nacht.

Auch die Hose war noch Jans Hose, Jans dunkelgrüne Armeehose. Die Erinnerung an die Zeit mit Jan tat immer noch weh und tauchte immer noch täglich auf, wenn auch mit abnehmender Intensität.

Bevor er ging, feuerte Jan den Ofen an und trank einen Kaffee, bis die Kohle im Ofen richtig glühte. Es war Sonntag und daher sehr ruhig auf der Straße; in ein paar Tagen war sein Geburtstag, der dreiundzwanzigste.

"Auch dieser Geburtstag wird, wie die Geburtstage zuvor, ein ganz normaler Tag sein, ein Tag wie jeder andere auch", dachte Jan, als ihm das mit dem Geburtstag einfiel.

Er konnte an dem Tag, dem Jahrestag seiner Geburt, nichts Besonderes entdecken, im Gegenteil wäre ihm einiges erspart geblieben, wenn es diesen Tag nicht gegeben hätte.

Jan trug seinen Parka nicht mehr, nicht mehr, seit er nach Berlin gezogen war, vor dreieinhalb Jahren.

Die Frage, warum sein Verhältnis mit Jan, dem anderen Jan, nach seinem Umzug so schnell zerbrochen war und sich schließlich gänzlich verlief, beschäftigte ihn in der Zeit nach jener Trennung sehr. Für ihn war klar, dass sich Jan am Ende deswegen für Lasse entschieden hatte, weil es mit dem Sex nicht klappte. Auch wenn Jan es damals bestritten hatte oder vielleicht auch gar nicht wahrhaben wollte, das Thema Sex war auch für ihn wichtig.

Jan dachte auch viel über diese Diskrepanz nach, die zwischen seiner inneren Welt und der äußeren Welt bestand. Seine innere Welt mit den Begegnungen mit Len vor allen Dingen und den damit verbundenen Sehnsüchten, in denen sein Parka mit Fellkapuze eine besondere Rolle spielte; und die äußere Welt, in der es Jan gab und in der er wirkliche Freundschaft erlebt hatte, auch wenn sie nur von begrenzter Dauer war.

In dieser äußeren Welt war Jan fremd und die Vorstellung, dass Jan, der andere, den er liebte, dass er auch zu dieser äußeren Welt gehörte, war schwer erträglich.

Da, wo er zu Hause war, in sich, da war er auch alleine, ganz alleine.

Jan kam zu der Überzeugung, dass die Beziehung, die er mit Jan hatte, an der Unvereinbarkeit dieser Welten scheiterte, seiner inneren und der äußeren Welt. Er kam zu dem Schluss, dass als Konsequenz aus dem Scheitern der Freundschaft mit Jan das Ende der Zeit mit Len kommen musste, das Ende der Diskrepanzen, der heimlichen Leidenschaften und eben auch des Parkas und der Kapuzen.

Stattdessen sollte sein Leben in der wirklichen Welt stattfinden, in einer Welt, in der auch andere Menschen lebten als er. Letzten Endes stellte sich aber gerade dieser Effekt nicht ein.

Auf jeden Fall war dieser Herbst, der Herbst 1986, der Herbst gewesen, in dem Jan beschloss, seinen Parka nicht mehr zu tragen und keine Fellkapuze mehr auf seinem Kopf zu spüren.

Auf eine Mütze konnte er allerdings nicht verzichten, seiner Ohren wegen, die immer noch schmerzten, wenn es zu kalt wurde, aber sie genügte auch ohne Kapuze darüber. Jan trug von diesem Herbst an überhaupt keine Jacken mehr, sondern nur noch Pullover, von denen er im Winter mehrere übereinander schichtete.

Jan dachte oft an diesen kalten Novembertag Ende 1986, den Tag, an dem er sich endgültig von Len verabschiedete. Es war der erste richtig kalte Tag in jenem Winter und er entschied sich, einmal noch seinen Parka zu tragen, ein letztes Mal.

Bevor er ihn anzog, befühlte er ausgiebig das Fell, mit dem er gefüttert war, und genoss es ausgiebig, die Fellkapuze auf seinem Kopf zu spüren. Er erinnerte sich, wie schwer ihm die Entscheidung fiel, ob er die schwarze Jan-Mütze oder die Len-Mütze, die mit dem "Trottel", unter der Kapuze tragen sollte, und wie er sich ein kompliziertes Auslosungsverfahren ausdachte und das Los am Ende auf die Len-Mütze fiel.

Er lief dann eine ganze Weile durch die Stadt, bis er in einem Park einen Winkel fand, wo er stundenlang ungestört sitzen und seinen Gedanken folgen konnte. Die Gefühle, die ihm damals der Parka vermittelte und vor allen Dingen auch die Kapuze über der Len-Mütze, waren überwältigend. Sie waren so stark, dass er sich sogar jetzt noch, über drei Jahre später, so genau daran erinnern konnte, als wenn es gerade ein paar Tage her gewesen wäre.

Aber Len erschien nicht, noch nicht einmal in seiner Phantasie; zu stark war der Schmerz über den Verlust seiner Freundschaft, seines besonderen Verhältnisses mit Jan.

Es fühlte sich gut an, den Parka zu tragen und die Kapuze auf dem Kopf zu spüren, wirklich gut, aber die Zeit dafür, die Len - Jan Zeit, war nun endgültig vorbei. Stattdessen kam eine Zeit, in der er nicht nur im wirklichen Leben, sondern auch in seiner eigenen, inneren Welt alleine war, ganz auf sich selbst gestellt, auf sich, Jan.

Als er schließlich wieder zurückkam in sein Zimmer, sein neues Zuhause, verpackte er den Parka, zusammen mit der Len-Mütze und seiner aller ersten Mütze, die er zusammen mit dem Parka bekommen hatte, in eine Reisetasche, wo sie nach über drei Jahren immer noch waren. Die beiden Mützen legte er dabei in die Kapuze des Parkas, damit sie sich wenigstens in dem Fell wohlfühlen konnten.

Während er durch die Stadt spazierte, dachte Jan intensiv über die Kontaktanzeige nach. Er überlegte sich, wer sich wohl dahinter verbergen konnte, wie er wohl aussah, wie er wohl hieß.

Besonders reizvoll erschien ihm der Gedanke, dass es wirklich jemand sein könnte, der ihm sehr ähnlich war, der ähnlich fühlte wie er, ähnliche Sehnsüchte hatte. Noch nie hatte er jemanden gefunden, mit dem er auch nur annähernd solche Ähnlichkeiten verspürte.

Die einzigen, mit denen er sie zumindest zeitweise glaubte zu spüren, waren Len, Kay und Jan. Aber bei Kay hatte sich dieser Glaube schnell als ein fatales Missverständnis herausgestellt und auch Jan war anders, wie er feststellen musste, und hatte andere Vorlieben, Bedürfnisse und Sehnsüchte. Bei Len war das natürlich unüberprüfbar; Len, dachte er, war eigentlich er selbst und, dass er mit sich selbst solche Gemeinsamkeiten hatte, war auch nicht weiter verwunderlich.

Plötzlich wurden seine Gedanken durchbrochen; er sah etwas Schwarzes auf dem Boden liegen, am Rand des Gehweges.

Er betrachtete es im Augenwinkel, während er daran vorbei lief, um zu erkennen, was es wohl war. Nachdem er ein paar Schritte weiter gegangen war, blieb er stehen; es war offensichtlich ein Pullover.

Jan liebte es, Kleidung auf der Straße zu finden. Alles, was er trug, stammte entweder noch aus seiner Jugendzeit, was inzwischen das wenigste war, oder er hatte es geschenkt bekommen, wie die Armeehose von Jan oder seine Schuhe von einem seiner Mitbewohner in dem besetzten Haus, oder er hatte es auf der Straße gefunden. Die meisten Sachen, die er hatte, hatte er auf der Straße gefunden, so auch alle Pullover, die er jetzt übereinander trug.

Er ging wieder zurück und hob den Pullover auf, der völlig verdreckt und nass war. Als er den Pullover in der Hand hielt, durchfuhr es ihn wie ein elektrischer Schlag:

Der Pullover hatte eine Kapuze; es war ein schwarzer Kapuzenpullover.

Das einzige Kleidungsstück mit Kapuze, das Jan hatte, war sein Parka, den er seit über drei Jahren nicht mehr getragen hatte.

Er kam sich vor wie in einem Traum und war überwältigt von den Bilderfluten, die ihn durchströmten, während er den Pullover mit Kapuze anstarrte und ausgiebig die nasse Kapuze befühlte. Dabei versuchte er sich vorzustellen, wie sich wohl diese Kapuze auf seinem Kopf anfühlen würde, und beobachtete dabei die erregenden Gefühle, die in ihm aufkamen.

Schließlich nahm er ihn mit nach Hause, wo er ihn gleich ausgiebig in heißem Wasser gewaschen und zum Trocknen in seinem Zimmer aufgehängt hatte. Er musste dann immer wieder die feuchte Kapuze des Pullovers befühlen und an dem Pullover riechen; es war wie ein Zwang. Immer wieder kam ihm der Gedanke, dass ihn der Geruch des Pullovers an Len erinnerte, und in seiner Phantasie spielte er die unterschiedlichsten Möglichkeiten durch, wer wohl diesen Pullover einmal getragen haben könnte.

In seiner Euphorie hatte er dann auch keine Mühe mehr, sich dafür zu entscheiden, auf die Kontaktanzeige zu antworten. Es fiel ihm ungewöhnlich leicht, einen Antworttext zu schreiben, den er ähnlich knapp hielt, wie die Anzeige formuliert war:

"Hallo. Ich heiße Jan, bin 22 Jahre alt und habe auch ein Faible für Fesselungen. Ich wohne in einem besetzten Haus, trage gerne Armbänder und bin genauso wie du nicht an Sex interessiert. Über eine Antwort würde ich mich freuen."

Zu diesem Brief legte er ein Foto von sich, das er vor einigen Monaten in einem Fotoautomaten gemacht hatte. Gleich nachdem er den Antwortbrief geschrieben hatte, ging er noch einmal los, um Briefmarken zu kaufen und ihn abzuschicken - mit doppeltem Umschlag, genauso wie es in dem Schwulenmagazin beschrieben war.

Nachdem er wieder zurückkam, verbrachte er den restlichen Tag in seinem Zimmer, zusammen mit seinem neuen Kapuzenpullover. Er konnte sich nicht erinnern, wann er sich das letzte Mal so zufrieden gefühlt hatte wie an diesem Tag. Es war zweifellos ein ganz besonderer Tag.

Jan wohnte immer noch in dem Haus, in das er zog, nachdem er nicht mehr bei Jan wohnen konnte. Es war auch immer noch das gleiche Zimmer, das sein Zuhause bildete, in dem er allerdings nie richtig heimisch wurde.

Eigenartiger Weise hatte sich das Verhältnis zu seinen Mitbewohnern seit seinem Einzug nicht geändert. Sie waren immer noch nett und unkompliziert, aber er war keinem von ihnen näher gekommen und fühlte sich alleine, obwohl er in einem großen Wohnprojekt lebte.

Ab und zu ging er mit seinen Mitbewohnern zu der einen oder anderen Demonstration, deren Reiz für ihn hauptsächlich in der Aussicht bestand, dabei einmal verhaftet und in Handschellen abgeführt zu werden. So etwas war aber bislang nicht geschehen.

Diese Demonstrationsgruppen erinnerten ihn aber zu sehr an die Cliquen früher in der Schule, so wie die Leute darin miteinander umgingen, sodass er damit nicht allzu viel anfangen konnte. Im Gegenteil, auch sie vermittelten ihm in ähnlich subtiler aber unüberwindlicher Weise, wie er es seit seiner Kindheit kannte, das Gefühl, nicht dazu zu gehören und ein Außenseiter zu sein.

Egal wo er war, schien es seine Bestimmung zu sein, die Rolle als Außenseiter.

Bei den Punks war es nicht anders; auch da gab es keine Annäherung, nicht das leiseste Gefühl dazu zu gehören, obwohl er Punk als Lebensform so konsequent lebte wie kaum ein anderer.

Aber immerhin, die Hausbesetzer- und Punkbewegung war ein Ort, an dem er geduldet wurde und an dem sein Anderssein akzeptiert wurde, manchmal sogar auch bewundert.

Seit er in dem besetzten Haus lebte, hatte er keine richtigen Kontakte zu anderen Menschen und lebte ganz für sich, "sein eigenes Leben", wie Jan es ausgedrückt hatte. Es war nicht schön, sein eigenes Leben zu leben, aber es funktionierte immerhin irgendwie.

Nach seinem Einzug in das besetzte Haus fand er einen Job, der vergleichsweise gut bezahlt war, sodass er nur wenig arbeiten musste, um seinen Lebensunterhalt zu bestreiten. Er begann auch zu studieren, Mathematik und Physik, was er immerhin bis zum Vordiplom durchhielt.

Danach ließen seine psychischen Krisen kein Studium mehr zu, was sehr schade war, weil es gerade anfing, interessant zu werden, vor allen Dingen die Quantentheorie.

Die Depressionen, die er immer häufiger bekam, wurden aber immer heftiger und machten ihm zusammen mit den Angstzuständen sein Leben immer unerträglicher und unplanbarer. Oft kam er tagelang nicht aus seinem Zimmer heraus, aß nichts mehr, weil er keinen Appetit mehr auf irgendetwas verspürte, und konnte nur auf niedrigstem Niveau überhaupt so etwas wie einen Alltag aufrecht erhalten.

Das "eigene" Leben war in Wirklichkeit ein Leben am Boden des Trichters, in den er trudelte, als er damals aus Jans Zimmer verbannt wurde. Aus diesem Trichter war er nicht mehr herausgekommen, bis jetzt nicht; es war ein Leben in fast vollkommener Isolation.

Zu der Zeit, als er sein Studium abbrach, brach er auch den Kontakt mit seinen Eltern ab. Der Kontakt mit Jan war schon vorher abgerissen. Er war einfach zu sehr mit sich selbst, mit seinen Depressionen und seiner Isolation beschäftigt, als dass er sich noch hätte auf irgendjemanden einlassen können; auch nicht mehr auf Jan, den er vor über zwei Jahren das letzte Mal gesehen hatte.

Irgendwie hatte Jan dennoch das Gefühl, die schlimmste Zeit überstanden zu haben. Wenigstens die Angstzustände hatten schon deutlich nachgelassen und die Depressionen, die ihn regelrecht erdrückten, wichen einem Gefühl der Gleichgültigkeit und Gefühllosigkeit.

Es kam ihm manchmal vor, als hätte die Fähigkeit verloren, Schmerzen zu spüren, dafür aber die Fähigkeit erworben, alles erdulden und überstehen zu können, was das Leben an Schmerzhaftem und Verletzendem bereithielt, wirklich alles.

Das Schwierigste an allem waren die Erfahrungen, die Jan mit Schwulen und der Schwulenszene machte. Er besuchte immer wieder die Schwulengruppe, mit der ihn Jan früher bekannt gemacht hatte, und ging auch immer wieder in Kneipen, in denen sich Schwule aus dem linken politischen Spektrum und auch schwule Punks trafen.

Berlin war zum Glück groß genug, dass er dabei Jan nur sehr selten begegnete, seit zwei Jahren sogar überhaupt nicht mehr. Er wusste noch nicht einmal, ob Jan noch in seiner früheren Wohnung wohnte, und mutmaßte, dass er vielleicht dort weggezogen war. Vielleicht war aber auch seine Beziehung zu Lasse so eng geworden, dass er gar nicht mehr ausging.

Jan ärgerte sich jedes Mal darüber, wenn er sich dabei ertappte, dass er über Jan nachdachte, was oft, viel zu oft geschah.

Er hatte sich viel vorgenommen, als er damals Len aus seinem Leben verbannte und den Parka. Er wollte alles hinter sich lassen, was zwischen ihm und einem wirklichen Leben zu stehen schien: Seine abstrakten und unerfüllbaren Sehnsüchte, Jan, den Parka und die Kapuzen.

Er dachte, dass es sich dann von alleine ergeben musste, dass er irgendwas wurde, ein ganz normaler schwuler Punk etwa, irgendetwas auf jeden Fall, was ihn nicht so isolieren würde von anderen Menschen. Es konnte nicht sein, dachte er sich, dass er etwas war, was sonst kein anderer war, was auch immer das sein sollte.

Er fühlte sich, als wenn er von einem entfernten Planeten durch irgendwelche unglücklichen Zufälle in diese ihm äußerst fremde Welt kam, und seine Erfahrungen schienen dieses Gefühl ausnahmslos zu bestätigen; das fand er faszinierend und beängstigend zugleich.

Irgendwie konnte das aber nicht sein, es durfte einfach nicht sein.

Jans größtes Anliegen war, endlich das Problem mit der schwulen Sexualität zu lösen. Schließlich war dieses Problem sehr wahrscheinlich entscheidend an dem Scheitern seines Verhältnisses mit Jan beteiligt.

Aber es erwies sich als sehr hartnäckig gegen jeden Versuch, es zu lösen; im Gegenteil hatte Jan das Gefühl, sich immer mehr von einer Lösung zu entfernen, je mehr er sich damit beschäftigte.

Die Bücher, die er zum Thema las, waren ziemlich ernüchternd, da sie ausnahmslos Ansichten darstellten, die er aus dem Sexualkundeunterricht in der Schule kannte und die ihm nach wie vor sehr befremdlich vorkamen.

Auch seine Versuche, sich durch praktische Erfahrungen dem schwulen Sex anzunähern, blieben erfolglos bis kontraproduktiv.

Seine Bemühungen förderten obendrein noch mehr zu Tage. Er konnte mit dem, was scheinbar alle Schwule als sexuell erregend empfanden, nicht nur nichts anfangen und war stattdessen eher an Fesselungen und Kapuzen interessiert, sondern hatte obendrein noch eine verengte Vorhaut.

Dadurch wurden seine Experimente mit schwulem Sex endgültig zu im Wesentlichen unangenehmen oder sogar schmerzhaften Erfahrungen.

Als Schwuler unfähig zu schwulem Sex zu sein, fand Jan schon ziemlich absurd; überhaupt fand er sein Leben absurd, so absurd, dass es im Grunde genommen niemandem vermittelbar war.

Darin bestand seine Isolation: Es war schlicht nicht möglich, zwischen ihm und der wirklichen Welt zu vermitteln, weder konnte er sie verstehen, noch sie ihn; nichts brachte diese Tatsache, die er bereits als Kind gespürt hatte, so auf den Punkt, wie seine Auseinandersetzungen mit schwulem Sex.

Es war eine hoffnungslose Tatsache, ohne Aussicht, dass sie sich je ändern ließe, aber er war dennoch entschlossen, sie zu widerlegen; wie, wusste er allerdings nicht.

Nach Jans (Jan, der andere) Geburtstagfeier vor dreieinhalb Jahren hatte er ihn nicht mehr oft gesehen. Wenn sie sich getroffen hatten, ging es ihm immer schlecht, vor allem auch hinterher, und Jan bekam jedes Mal ein schlechtes Gewissen und Schuldgefühle. Irgendwann rief er ihn nicht mehr an und Jan kam folglich auch nicht mehr. Danach hatten sie sich noch ab und zu zufällig getroffen, aber seit über zwei Jahren nicht mehr.

Jans Platz hatte seine Hose eingenommen, die er ihm geschenkt hatte, die Armeehose. Er hatte sich sehr an sie gewöhnt und trug sie immer noch häufig, fast immer.

So war er ihm nahe geblieben, Jan Jan.

Als Jan aufwachte, fiel sein Blick sofort auf den neuen schwarzen Kapuzenpullover, der an der Wäscheleine hing. Heute könnte er vielleicht trocken sein, dachte er, was gut dazu passte, dass dieser Tag sein Geburtstag war, der dreiundzwanzigste.

Die Zahl 23 sagte ihm allerdings nichts. Die 19 war die letzte Zahl, die eine besondere Bedeutung hatte, an seinem 19. Geburtstag. Bis dahin war es ihm immer wichtig gewesen, Jahr für Jahr herauszufinden, dass die Zahl, die diesen Tag, den Geburtstag, markierte, auch wirklich eine besondere Zahl war. Bis einschließlich der 19 waren die Zahlen auch immer besondere Zahlen, nicht zuletzt deswegen, weil jede Zahl eine besondere Zahl war und es nur darauf ankam, jeweils eine Eigenschaft zu finden, die diese Zahl auszeichnete.

Die 20, die 21, die 22 und jetzt die 23 hatten sich allerdings nicht als besondere Zahlen herausgestellt, schon allein deswegen nicht, weil sich Jan gar nicht erst bemühte, es herauszufinden. Das hatte er bei seinem 19. Geburtstag zum letzten Mal getan.

Er stand auf, um nachzusehen, ob der Kapuzenpullover wirklich schon trocken war; er war fast trocken und Jan zog ihn sich über.

In seinem Zimmer war es eisig kalt, da der Ofen wieder einmal nicht die Nacht durchgebrannt hatte. Jan zog den Kapuzenpullover wieder aus, um sich mehrere Pullover darunter zu ziehen; zwei lange Unterhosen und die Armeehose - der Tag konnte beginnen.

Jan war erstaunt, wie gut es sich anfühlte, diesen schwarzen Kapuzenpullover zu tragen, vor allem mit der Kapuze, die er auf dem Kopf hatte statt, wie üblich, die Mütze. So ein intensives Gefühl der Erregung, das durch seinen ganzen Körper ging, hatte er schon lange nicht mehr verspürt.

Nach einer Weile kam ihm der Gedanke, dass es in seinem Zimmer eigentlich so kalt war, dass er gut auch noch die Mütze unter der Kapuze tragen konnte. Jan war ein wenig überrascht festzustellen, was es in ihm auslöste, als er sich die Kapuze über die Mütze zog.

Spontan kam ihm in den Sinn, dass er noch die Mütze mit "Trottel" hatte, die Len-Mütze, die in seiner Sporttasche, in der weichen Fellkapuze seines Parkas ihren mittlerweile über drei Jahre andauernden Winterschlaf hielt.

Es kostete ihn etwas Überwindung, die Sporttasche zu öffnen, und als er die beiden Mützen in der Kapuze liegen sah, wurde er von Erinnerungen regelrecht überflutet.

Erinnerungen an Len, an Jan, an sich selbst mit Mütze und Kapuze auf dem Hochsitz und vor der Schule. Es war, wie wenn diese Erinnerungen in der Sporttasche begraben waren und er sie nun exhumieren würde.

Nach einigem Zögern probierte er es aus, die Len-Mütze unter der Kapuze zu tragen, aber sie fühlte sich doch ziemlich irritierend an, auch weil der "Trottel" deutlich spürbar war.

Jan ging dieses Wort immer wieder durch den Kopf, wie auch die Bilder, als er mit seiner Mutter den Parka gekauft und sie ihm eine Mütze dazu geschenkt hatte.

Schließlich kam die Len-Mütze wieder an ihren Platz zurück, neben seine erste Mütze in die Fellkapuze, und die Tasche wurde wieder verschlossen. Jan zog sich dann die Kapuze ohne Mütze über den Kopf.

Er dachte daran, wie er einige Jahre an seinen Geburtstagen Schokolade kaufen ging, um auf dem Supermarkt Parkplatz auf Len zu warten. Bis zu seinem achtzehnten Geburtstag hatte er es getan, bis er Jan zum zweiten Mal begegnete; und jedes Mal in seinem Parka, mit Len-Mütze und Kapuze.

Ob es außer ihm überhaupt Menschen gab, die das nachvollziehen konnten, die Liebe und Sexualität womöglich ähnlich erlebten wie er?

Jan entschied sich, das Ritual, das Len-Ritual, an diesem Geburtstag, dem dreiundzwanzigsten, wieder fortzuführen. Allerdings nicht im Parka und auch nicht mit der Len-Mütze, sondern mit schwarzem Kapuzenpullover und schwarzer Mütze, der Jan-Mütze, und in Jans Armeehose.

Vorher trank er aber noch einen Kaffee und feuerte den Ofen an.

Draußen zu sein und sich zu bewegen, fühlte sich lange nicht so kalt an, wie in einem Zimmer zu sitzen, das nur unwesentlich wärmer war. Obendrein fühlte es sich mit Kapuze über der Mütze deutlich wärmer an als ohne.

Jan war sehr zufrieden mit seinem neuen Kapuzenpullover. Nicht nur, dass es sich so unerwartet gut anfühlte, ihn zu tragen, der Pullover war mit seiner Tasche auch ein sehr praktisches Kleidungsstück und Jan fand, dass er gut darin aussah.

Ähnlich wie früher an seinem Parka faszinierte ihn an dem Kapuzenpullover die Kombination aus Wärme und erregenden Gefühlen, die er ausstrahlte.

Eine Kapuze auf dem Kopf zu spüren war schon etwas Besonderes.

Jan mochte den Pullover wirklich; es war sozusagen eine Liebe auf den ersten Blick.

Er lief schon einige Zeit durch die Stadt, bis ihm einfiel, dass er eigentlich auf dem Weg zu einem Supermarkt war, um dort das Geburtstagsritual zu vollziehen. Es war nicht leicht, einen Supermarkt zu finden, der wenigstens eine leichte Ähnlichkeit zu dem in seinem Dorf hatte und vor allen Dingen auch einen Parkplatz.

Schließlich fand er einen, für den er sich nach einigen Überlegungen entscheiden konnte.

Auch das mit der weißen Schokolade war ein wenig schwierig. Eigentlich mochte Jan keine weiße Schokolade, aber sie gehörte zum Ritual dazu; er hatte es immer mit weißer Schokolade vollzogen, weil Len mit ihm eine weiße Schokolade geteilt hatte.

Er verbrachte Ewigkeiten vor dem Schokoladenregal, bis er sich endlich entschieden hatte, diesmal eine Nussschokolade zu kaufen.

Die bezahlte er an der Kasse mit einem Markstück, nahm sich die Mütze aus der Tasche, die der Kapuzenpullover praktischer Weise hatte, zog sie sich auf und die Kapuze darüber.

Dann ging er an den Rand des kleinen Parkplatzes, um dort die Schokolade mit sich selbst zu teilen.

Während er die Schokolade aß, kamen ihm die Bilder in den Sinn, wie er Len getroffen hatte, Len an der Kasse, auf dem Parkplatz, mit Mütze und Kapuze, sein Parka und seine Stimme, "Lennart Adrian."

"Ganz heiße ich Lennart Adrian."

Jan war fasziniert, wie deutlich er Lens Stimme hören konnte, und vor allem, wie deutlich er sein Gesicht erkennen konnte.

Dieses Gesicht war so deutlich und so klar in seiner Erinnerung wie kein anderes; Jan konnte sich nicht daran erinnern, jemals ein Gesicht so deutlich und so klar gesehen zu haben, wie er jetzt in Gedanken Lens Gesicht sah. Weder als Erinnerung, noch in der wirklichen Welt.

Er fand den Gedanken faszinierend, dass sich die Wirklichkeit offenbar dadurch auszeichnete, dass sie ganz und gar unwirklich wirkte.

Es war noch recht früh am Morgen und Jan kam es merkwürdig vor, ohne vorher etwas anderes gegessen zu haben, Schokolade zu essen. Nachdem er die Hälfte der Tafel gegessen hatte, steckte er sie in die Tasche des Kapuzenpullovers und ging wieder nach Hause.

Inzwischen war sein Zimmer einigermaßen warm geworden und er konnte den Kapuzenpullover alleine, ohne weitere Pullover darunter, tragen.

Die Kapuze behielt er aber auf.

Jan frühstückte und entschied sich, den restlichen Tag im Wald zu verbringen. Er richtete sich ein paar Brote und fuhr mit der S-Bahn Richtung Grunewald.

Den Tag im Wald zu verbringen, vor allem auch die ganze Zeit mit Mütze und Kapuze, war für Jan ein besonderes Erlebnis, eines, das er schon lange nicht mehr hatte. Eingetaucht in seine, seine eigene Welt, seine Gedanken und Bilder, fühlte er sich richtig wohl, fast schon zu Hause.

Er hatte sich schon viel zu lange nicht mehr wohl gefühlt, dachte sich Jan, als er schließlich abends über diesen unerwartet ungewöhnlichen Tag nachdachte.

Gut verschnürt

Ein paar Tage später erhielt er eine Antwort von dem Autor der Kontaktanzeige, auf die er geantwortet hatte.

Malte hieß er, "Malte", ein Name, den Jan noch nicht kannte; das machte ihn auf jeden Fall ziemlich interessant.

Er schrieb Jan ausführlich über seine Interessen und Hobbies, dass er die Schwulenszene nicht mochte und dass er wirklich kein Interesse an Sex hatte, sondern ausschließlich an Fesselungen.

Ein Foto hatte er auch mitgeschickt. Jan fand, er sah gut aus auf dem Foto, ein rothaariger Typ mit kurzen Haaren und graublauen Augen.

Er schrieb, dass ihm Jan einen Vorschlag für ein Treffen machen sollte, was Jan dann auch umgehend tat. Nach einem weiteren Briefwechsel war klar, dass er, Malte, zu Jan kommen würde.

Jan war sehr aufgeregt und die Aufregung steigerte sich immer mehr, bis es endlich soweit war.

Gegen Mittag klopfte Malte an Jans Zimmertür und fragte, als er hereinkam, "Bist du Jan?"

"Ja, und du bist bestimmt Malte."

"Ich bin schon in drei Zimmern gewesen; das ist gar nicht so einfach, dich hier zu finden."

Er sah wirklich so aus wie auf dem Photo und trug eine graublaue Daunenjacke, passend zu seiner Augenfarbe.

Jan war allerdings irritiert von dem Geruch, den er verbreitete. Er konnte ihn nicht zuordnen, vielleicht eine Mischung aus Körpergeruch und Deo, auf jeden Fall fand er den Geruch ziemlich irritierend.

Jan fragte, ob er auch einen Kaffee trinken mochte. Malte mochte lieber Tee, was aber auch kein Problem war. Als sie zusammen in Jans Zimmer saßen und Kaffee beziehungsweise Tee tranken, wollte zunächst kein Gespräch aufkommen; Jan war viel zu aufgeregt, um irgendetwas erzählen zu können.

"Du bist ja ziemlich schweigsam", stellte Malte schließlich fest, "Ist aber auch ok; wir sind ja auch nicht zum Reden verabredet."

Jan pflichtete ihm bei.

Als ihn Malte fragte, ob er sich denn häufig in der Schwulenszene aufhalten würde, verneinte er.

"Die finde ich alle ziemlich aufgesetzt, die Szeneschwulen; die tun so, als wären sie unglaublich frei und locker, und am Ende steckt da nichts dahinter", sagte Malte.

"Wie hältst du es denn so mit Fesselungen?"

Jan wusste nicht, was Malte mit dieser Frage meinte.

"Ich meine", erklärte dieser, "dass es sehr wichtig ist, dass das auch alles stimmt. Irgendwelche Inszenierungen brauche ich nicht, so etwas interessiert mich gar nicht, aber die Fesselungen müssen stimmen. Es ist gar nicht so einfach, jemanden richtig zu fesseln."

Er bekräftigte noch einmal, dass er absolut keine sexuellen Interessen hegte und dass der es überhaupt nicht mochte, wenn Fesseln nur als Beiwerk zum Sex angesehen wurde.

Jan war fasziniert von der Klarheit, die Malte ausstrahlte. Sie vermittelte ihm ein Gefühl von Sicherheit, allerdings auch die Befürchtung, zu versagen und als Anfänger entlarvt zu werden.

Nach einer kurzen Pause fragte Malte, "Und was hast du so für Erfahrungen gemacht?"

Jan gab zu, dass er nicht so sehr erfahren war; er verschwieg aber, dass die einzigen Erfahrungen, die er überhaupt mit Fesselungen hatte, aus seiner Kindheit stammten.

Malte schien die Antwort nicht zu gefallen, "Das hättest du ruhig schreiben können, dass du eher unerfahren bist. Naja macht auch nichts. Vielleicht zeigst du mir einfach mal dein Equipment, dann können wir langsam mal anfangen."

Jan war von Maltes Fragen und Reaktionen ziemlich verunsichert und spürte, wie er vor Angst, irgendetwas falsch zu machen, zunehmend verkrampfte.

"Equipment?"

"Sag bloß, du hast nichts. Das wär' ja blöd; dann hätten wir uns lieber bei mir getroffen."

"Ich habe ein Seil, das mag ich ganz gerne", sagte Jan und holte ein langes, raues Hanfseil unter seinem Bett hervor.

Es war fast 20 Meter lang; Jan hatte es kurz nach seinem Einzug in dem besetzten Haus im Keller gefunden und mochte es, weil es so intensiv roch und sich so rau anfühlte.

"Das ist ja stark", sagte Malte, der sichtlich beeindruckt war,

"Mit so einem Seil, das finde ich ja ehrlich gesagt am Besten. Wollen wir anfangen? Das Beste wird wohl sein, wenn ich dich fessele; dann siehst du mal, wie es richtig gemacht wird."

Jan war erleichtert, dass sein Seil bei Malte so gut ankam; er hätte kaum Alternativen anbieten können.

Einen kurzen Moment dachte Jan, dass er jetzt noch eine letzte Gelegenheit hatte, nein zu sagen, aber er sagte, "Ja."

"Ja, fangen wir an."

Er war sich unsicher, was Malte von ihm jetzt erwarten würde, und fragte, "Soll ich mich aufs Bett setzen?"

"Ja, am Besten kniest du dich auf das Bett und ziehst dich aber vorher aus, das ist dann bequemer für dich. Die Unterhose kannst du ja anbehalten"

Jan zog sich den Kapuzenpullover und die Armeehose aus, während Malte das Seil begutachtete. Obwohl noch nichts passiert war, fühlte sich Jan von der Situation reichlich erregt; die Spannung war eigentlich kaum mehr zu steigern.

Schließlich hatte er nur noch seine Unterhose an, stieg auf sein Bett und kniete sich hin.

"Das Seil ist wirklich gut", sagte Malte, dessen Stimme jetzt viel leiser und ruhiger geworden war.

Er strich mit einem Seilende über Jans Rücken, "Fühlt sich gut an, was?"

"Ja!"

Es fühlte sich unbeschreiblich gut an, das raue Seil auf dem Rücken zu spüren; nach und nach lösten sich dabei die Verkrampfungen, bis Jan spürte, wie Malte ein Seilende wohl zu einer Schlinge verknotete und danach mit seinen Händen über seine Arme strich, die er seitlich herunterhängen hatte.

Als Malte an seinen Handgelenken angekommen war, sagte er, "Die finde ich wirklich geil, deine Armbänder, aber jetzt muss ich sie abnehmen", und nahm Jan die Armbänder ab.

Auch das Jan-Armband an seinem linken Handgelenk, das er seit vier Jahren nicht ein einziges Mal abgenommen hatte.

Danach führte Malte mit sanftem Druck Jans Hände auf seinen Rücken und legte sie dort über Kreuz zusammen, sodass die Handflächen nach Außen zeigten. Jan konzentrierte ganz darauf zu spüren, wie er ihm die Schlinge, die er in das Seil geknotet hatte, um die Handgelenke legte und schließlich zuzog.

Dann wickelte er das Seil mehrmals um die Handgelenke und knotete es zusammen. Jans Hände waren fest, wirklich fest, über Kreuz zusammengebunden.

"Ist es ok so?", fragte Malte und erklärte,

"Es muss fest sein, aber gerade nicht so fest, dass die Hände taub werden."

Jan bewegte seine Hände; sie waren nicht taub.

Dann band ihm Malte das Seil um seinen Bauch, sodass seine Hände fest auf seinem Rücken fixiert waren, so fest, dass er sie gar nicht mehr bewegen konnte.

Malte ging wieder zum Tisch zurück und schenkte sich eine Tasse Tee ein. Während er den Tee trank und dabei Jan ununterbrochen beobachtete, spürte Jan, wie er langsam anfing zu schwitzen, obwohl es nicht so warm war in seinem Zimmer und er außer seiner Unterhose nichts anhatte.

Malte redete die ganze Zeit kein einziges Wort und Jan konzentrierte sich darauf, die Fesselung zu spüren und die unglaublich erregenden Gefühle, die sie in ihm auslöste. Diese Mischung aus Beruhigung und Erregung, die durch seinen Körper flutete, empfand er als sehr angenehm.

Er kniete bestimmt schon eine halbe Stunde mit gefesselten Händen auf dem Bett, als Malte ihn fragte, "Kannst du noch?", und mit einem Handtuch den Schweiß von Jans Körper wischte.

Als Jan bejahte, gab er ihm einen sanften Stoß, sodass er vornüber auf das Bett fiel und auf dem Bauch liegen blieb.

Malte strich ihm zuerst mit dem langen Seilende über den Rücken und die Oberschenkel und fasste dann Jans Fußgelenke, um seine Beine anzuwinkeln.

Jan dachte daran, wie ihm Kay einmal so Hände und Füße zusammengebunden hatte und wie er dabei ejakulierte, was ihm damals extrem peinlich war.

Malte band ihm mit dem langen Seilende die Füße zusammen und verkürzte die Verbindung zu seinen Händen so, dass Jans Körper richtig gespannt war, ziemlich genau so wie ihn Kay damals gefesselt hatte.

Jan konnte sich kein bisschen mehr bewegen, so wie er jetzt auf dem Bauch lag. Die erregenden Gefühle, die ihn jetzt erfüllten, überwältigten ihn völlig. Er fing auch richtig kräftig an zu schwitzen und spürte nach kurzer Zeit, wie er ejakulierte, ohne dass er es hätte unterdrücken können.

Was Malte währenddessen machte, bekam er überhaupt nicht mehr mit; lediglich, dass er immer wieder kam, um ihm den Schweiß abzutrocknen, seine Hände und Füße zu befühlen und zu fragen, ob alles noch in Ordnung war.

Jan konnte kaum mehr richtig antworten und nickte bloß.

Malte ließ ihn sehr lange so liegen; zwei bis drei Stunden bestimmt.

Am Ende kam sich Jan wie völlig berauscht vor und sein ganzer Körper war von einem beständigen Beben erfüllt; er hatte bestimmt einige Male ejakuliert.

"Ich denke, das ist jetzt genug", sagte Malte schließlich und fing an, ihn nach und nach loszubinden, wobei er sich Zeit ließ. Das Gefühl berauscht zu sein und das Beben blieben auch dann noch, als Jan vollständig befreit war.

Er blieb eine Weile noch auf dem Bett liegen, bis er sich fähig fühlte, wieder aufzustehen. Schließlich zog er sich die Armeehose und seinen Kapuzenpullover an und setzte sich zu Malte an den Tisch.

"Und fandest du es gut?"

"Ja. Das heißt, ich fand es unglaublich, ich habe es, glaube ich, noch nie so intensiv erlebt, gefesselt zu sein", antwortete Jan.

Malte erklärte, dass es eine Kunst sei, jemanden richtig fest zu fesseln, ohne dass ihm dabei die Hände oder Füße einschliefen.

"Dein Seil ist aber auch wirklich gut; es ist optimal für Fesselungen"

Dann saßen beide schweigend am Tisch; Jan dachte an seine Erlebnisse mit Kay, damals, und versuchte sich zu erinnern, ob er es als Kind auch so empfunden hatte wie jetzt, gefesselt zu sein.

Er war etwas irritiert, als ihm plötzlich einfiel, wie er einmal im Kindergarten an eine Bank gebunden wurde und dass er es da schon ziemlich spannend fand. Es war ihm gar nicht so bewusst gewesen, dass seine Vorliebe für Fesselungen so weit in seine Kindheit zurückreichte.

"Ich fand es auch ganz schön, dich so daliegen zu sehen; du siehst wirklich gut aus, wenn du gefesselt bist", sagte Malte in die Stille.

"Aber sei mir nicht böse, ich bin eben ein ehrlicher Typ, der sagt, was er denkt; ich finde dich nett und wirklich auch schön, aber du bist nicht wirklich mein Typ; zu kompliziert irgendwie. Außerdem hättest du schreiben sollen, dass du Anfänger bist, dann hätte ich mich besser darauf einstellen können. Das war schon ok heute, wirklich, aber wir sollten es dabei belassen."

Jan war ein wenig überrascht, das zu hören, bis ihm einfiel, dass in der Anzeige tatsächlich etwas von einem "unkomplizierten" Fesselungspartner stand. Das hatte er nicht bedacht.

Aber genau genommen war Malte auch nicht ganz Jans Typ; vor allen Dingen das deutlich und nicht gerade angenehm zu riechende Deo, das er benutzte, fand Jan ziemlich störend. Zumindest als sie zusammen am Tisch saßen; während er gefesselt war, war es ihm nicht so sehr aufgefallen.

"Ok, kein Problem", sagte er, "Kann ich dir noch was anbieten?"

"Danke nein; ich werde jetzt wieder gehen. So viel haben wir uns ja auch nicht zu sagen."

Jan gefiel es, dass Malte so direkt und scheinbar locker mit der Situation umging, und bedankte sich für den spannenden Nachmittag, als er schließlich ging.

Langsam fühlte sich Jans Körper, vor allem seine Arme und Beine, immer mehr an, als wären sie verkatert. Er entschied sich, den restlichen Tag zusammen mit dem Seil im Bett zu verbringen und in seinen Gedanken dem Gefühl nachzuspüren, fest zusammengeschnürt zu sein. Einen solchen Genuss hatte er schon sehr lange nicht mehr gehabt, eigentlich seit er von Kay gefesselt wurde nicht mehr.

Die Erinnerung an diese Fesselung war ihm noch einige Tage sehr präsent gewesen; er dachte darüber nach, wie schön es wäre, wenn er öfter in den Genuss kommen würde, gefesselt zu sein.

Einige Tage später entschied er sich, Handschellen zu kaufen, die er in einem schwulen Sexshop im Schaufenster gesehen hatte. Das war ziemlich spannend, weil er bis dahin noch nie in einem Sexshop war, aber letztlich dann doch überraschend unspektakulär.

Er übte dann, sich selbst die Handschellen so anzulegen, dass er sich mit dem Schlüssel auch selbst wieder befreien konnte. Zuerst mit den Händen vorne und dann, als das zuverlässig funktionierte, mit den Händen auf dem Rücken.

Es funktionierte eben gerade und Jan benötigte das ein oder andere Mal mehrere Versuche, sich selbst die Handschellen wieder aufzuschließen. Dieser Rest an Unsicherheit gab diesen Selbstfesselungen zwar zusätzlich einen besonderen Reiz, aber es wäre ihm doch sehr unangenehm gewesen, wenn er seine Mitbewohner darum hätte bitten müssen, ihn zu befreien.

Suche nach einem Partner

Jan lag, wie häufig, abends im Bett und konnte nicht einschlafen. Eigentlich war es schon nachts, es war nach zwei Uhr morgens, und er hatte bereits letzte Nacht höchstens drei bis vier Stunden geschlafen. Müde zu sein und gleichzeitig nicht schlafen zu können, fühlte sich ziemlich unangenehm an.

Wie immer in solchen Nächten kam Jan zunehmend ins Grübeln, vor allen Dingen über die Frage, was sein Leben zu dem machte, was es war. Warum ihm viele Dinge so schwer fielen, die alle anderen scheinbar mühelos bewältigten und warum er sich so unentrinnbar in seiner Isolation gefangen fühlte, in sich selbst.

Es war auch immer so, dass nach längerem Nachdenken die Erkenntnis im Raum stand, dass es in seinem Leben ein sehr grundlegendes und scheinbar auch unlösbares Problem gab. Eines, das sich als sehr unzugänglich zeigte und das er eigentlich nicht kannte, allenfalls vielleicht erahnen konnte.

Vor allen Dingen machten ihm die Gefühle der Isolation und des Fremdseins zu schaffen. Die kannte er von Kindheit an und es war ihm auch klar, dass sie etwas anderes waren, etwas grundlegend anderes, als die Gefühle von Isolation und Fremdsein, die mehr oder weniger alle Menschen irgendwie kannten.

Es schien auch ein Zusammenhang zu bestehen zu der übermächtigen Rolle, die sein Denken in seinem Leben spielte, und zu den ein oder anderen Eigenheiten seiner Wahrnehmung. Eigenheiten, wie das mit den Gesichtern oder, dass ihm die Orientierung besonders schwer fiel, wenn es um ihn herum viele Geräusche gab, vor allem wenn zu viele Leute redeten.

Er lebte irgendwie in einer anderen Welt, die allerdings nicht ein Produkt seines Denkens war, sondern eher seiner Wahrnehmung; er lebte zweifellos in derselben Welt wie alle anderen auch, aber sie stellte sich ihm offensichtlich anders dar.

In Wirklichkeit, so kam es ihm vor, lebte er in zwei Welten, die voneinander unvorstellbar verschieden waren. Die eine Welt war seine Welt, die, in der er zu Hause war, aber zugleich auch vollkommen alleine und isoliert, wie in einer Glaskugel. Dagegen war die andere Welt die wirkliche, die Welt, in der er mit Menschen kommunizieren konnte, in der er aber auch sehr fremd war und in die er offensichtlich nicht so richtig hinein passte.

Das alles verdichtete sich zunehmend in solchen Nächten, in denen Jan müde im Bett lag und nicht schlafen konnte.

Er dachte auch daran, wie viel Mühe es ihn kostete, seinen Alltag aufrecht zu erhalten, obwohl er bereits auf das Allernotwendigste reduziert war. Eigentlich, dachte er, war er nicht überlebensfähig; was er lebte, war kein Zustand, der dauerhaft aufrechterhalten werden konnte.

Plötzlich kam ihm in dieser Nacht der Gedanke, dass er jemanden brauchte, um seinem Leben eine Wendung zu geben; jemanden, der eigentlich nichts anderes zu tun hatte, als seine Isolation zu durchbrechen, als gewissermaßen eine Störung zu sein in dem Kräftefeld, das ihn in sich gefangen hielt.

Irgendwie waren das die Hoffnungen, die er auch schon in Kay und in Jan gelegt hatte und die am Ende doch enttäuscht wurden. Aber diesmal hatte er die Idee, einen anderen Ansatz zu versuchen: Nicht die "großen Gefühle" sollten ihn diesmal leiten, sondern einzig und alleine der Verstand.

Dieser Gedanke war neu.

Seit sich Jan von ihm getrennt hatte, dachte er überhaupt nicht mehr ernsthaft daran, in einer Beziehung leben zu wollen. Er empfand sich selbst als zu eigen, zu "verschroben", um in eine Beziehung zu passen. Im Gegenteil, er war überzeugt, dass er viel Freiraum brauchte, um seine Eigenheiten so leben zu können, dass er sich nicht ständig fremdbestimmt fühlte.

Aber das Argument, dass er mit einem passenden Partner seine jetzige Situation überwinden könnte, was ihm alleine offensichtlich nicht gelang, dieses Argument war sehr stark; es war unumgänglich.

Er überlegte sich, dass er in nächster Zeit häufiger das, was er an Schwulenszene kannte, besuchen sollte. Dabei wäre es wohl das Beste, wenn er sich gleich von Anfang an jemanden aussuchte, um mit ihm einen ersten Kontakt zu versuchen. Er überlegte sich auch, dabei mit Leuten anzufangen, die er wenigstens vom Sehen her kannte.

Es war bereits tiefster Herbst, als Jan wieder einmal in eine Schwulenkneipe ging, auf der Suche nach einem potentiellen Beziehungspartner. Es war eine Kneipe in Kreuzberg, die hauptsächlich von Schwulen aus dem Umfeld der Punk- und Hausbesetzerbewegung besucht wurde und in die er eigentlich immer ging, wenn er überhaupt in eine Kneipe ging.

Diesmal gab es dort niemanden, der ihm auffiel und mit dem er hätte versuchen wollen, Kontakt aufzunehmen. Er blieb aber trotzdem, obwohl es ihm da nicht besonders gefiel.

Überhaupt mochte er keine Kneipen, weil er nicht wusste, was er da tun sollte. Einfach nur herumzusitzen war blöde und unterhalten mochte er sich meistens auch nicht, schon gar nicht mitten in einem Gewirr aus Stimmen und Musik.

Aber es gab ansonsten nicht viele Möglichkeiten, auf Schwule zu treffen, die besser geeignet gewesen wären, potentielle Partner zu finden. Manchmal fragte er sich, ob es solche Möglichkeiten überhaupt gab, denn in der Schwulenkneipe hatte er noch niemanden wirklich kennen gelernt. Wenn er mal mit jemanden ins Gespräch kam, ging es in der Regel darum, dass der Betreffende mit ihm schlafen wollte, also eben genau um die Art von Sex, mit der Jan nichts anfangen konnte.

Jan fand solche Erlebnisse ziemlich frustrierend und fragte sich dabei auch das eine oder andere Mal, ob er wirklich schwul war.

Sein Schwulsein war eher negativ definiert, dachte er, denn es war die Konsequenz daraus, dass er auf keinen Fall hetero sein konnte; davon war er auf jeden Fall deutlich weiter entfernt als davon, schwul zu sein.

Was sollte er aber sein, wenn er weder schwul noch hetero war?

Am Ende war es doch besser schwul zu sein, auch wenn es vielleicht nicht in jeder Hinsicht passte; es passte zumindest besser als alles andere.

Wenn er Glück hatte, zeigten sich die miteinander unvereinbaren Vorstellungen über den weiteren Verlauf des Abends bereits in der Kneipe. Häufiger wurde das aber erst dann deutlich, wenn er mit seiner neuen Bekanntschaft im Bett lag und sich die ganze Unterschiedlichkeit ihrer sexuellen Vorstellungen offenbarte.

Jan probierte die unterschiedlichsten Strategien, mit diesem Problem umzugehen, fand aber keine, die zu befriedigenden Erlebnissen führte. Es einfach zu verbergen, ging definitiv nicht, vom Thema abzulenken und darauf zu hoffen, dass es vielleicht doch einen schönen Abend ohne Sex gab, funktionierte immer nur kurzzeitig und die Strategie, offensiv darüber zu reden, kam in der Regel auch nicht gut an.

Bis zu diesem Abend hatte er bereits einige Versuche hinter sich, in der Kneipe jemanden zu finden, der zu ihm passen könnte; allerdings scheiterten alle dieser Versuche, in der Regel am Thema Sexualität.

Daher überlegte sich Jan, vielleicht einfach nachmittags den ein oder anderen zu besuchen, den er vom Sehen kannte. Da ging es vielleicht nicht gleich darum, miteinander ins Bett zu gehen, und die Treffen könnten daher einen anderen, befriedigenderen Verlauf nehmen.

Aber Jan war zugegebener Maßen kein guter Gesprächspartner, da ihm in der Regel nicht viel einfiel, worüber er reden konnte. Auf diese Weise verebbten die Gespräche oft schon nach kurzer Zeit und führten daher auch diese Versuche nicht zu den gewünschten Ergebnissen. Dennoch war er fest entschlossen, sich nicht von seinem Vorhaben abbringen zu lassen.

Er war sich sicher, dass ihm irgendwann ein Geeigneter begegnen würde und das in nicht allzu langer Zeit; er fühlte es.

Er fühlte bereits an seinem letzten Geburtstag, als er den schwarzen Kapuzenpullover gefunden hatte und ihm Len wieder erschienen war, dass für ihn andere Zeiten anbrechen würden.

An diesem Abend war es aber so, dass Jan wieder einmal alleine an einem Tisch saß und sein Bier trank.

Als er schon daran dachte wieder aufzubrechen, setzte sich jemand, der ungefähr in seinem Alter war, zu ihm an den Tisch.

"Ist doch ok, wenn ich mich zu dir setze, oder?", fragte er.

Jan hatte eigentlich bereits beschlossen, zu gehen, sobald er das Bier zu Ende getrunken hatte, sagte aber, "Ja, klar."

"Kommst du öfter hierher?"

"Nö, eigentlich nicht."

Jan war sich noch nicht sicher, ob er sich auf ein Gespräch einlassen wollte. Er dachte, das ist bestimmt wieder so ein Typ, der ihn abschleppen will und den er dann wieder abwimmeln musste, wenn er sich erst auf ihn eingelassen hatte.

Andererseits war es ein Abend, an dem er regelrecht ein Bedürfnis verspürte, mal wieder mit jemandem zu reden; es kam nicht häufig vor, an diesem Abend war es aber so, dass er sich insgeheim einen Gesprächspartner wünschte.

"Ich finde es ziemlich öde hier", sagte er und sein Gegenüber antwortete,

"Öde ist genau das richtige Wort. Überhaupt kann ich mit dieser schwulen Subkultur und auch mit dieser typischen Anmache nichts anfangen. Ich fühle mich hier reichlich deplatziert; auch wenn ich schwul bin, sollte ich mir eigentlich sowas nicht antun."

Das empfand Jan nicht anders.

"Ich heiße übrigens Niklas, mit k", sagte er schließlich und Jan antwortete, "Nik".

Dabei hörte er Lens Stimme,

"Nik ist eine Abkürzung für Niklas."

Richtig wäre eigentlich "Nick" mit "ck", dachte Jan, aber für ihn war es wichtig, dass Abkürzungen von Namen drei Buchstaben hatten, so wie "Len" und "Jan". Namen, die sich mit drei Buchstaben abkürzen ließen, waren besondere Namen, Namen mit einem besonderen Klang.

Daher war "Niklas" mit "k" ein guter Name, fand Jan, er klang: "Jan - Nik", "Jannik".

"Niklas ist ganz ok", erwiderte Nik, "und du?"

"Jan"

Es stellte sich heraus, dass Nik noch nicht sehr viele Erfahrungen als Schwuler hatte, sondern gerade dabei war, sich der Schwulenszene anzunähern. Von "Coming-out" hielt er nicht viel:

"Eigentlich ist es doch völlig egal, ob ich mich jetzt als schwul oder hetero oder als was auch immer bezeichne", sagte er,

"In jedem Fall ist es schließlich nichts weiter als ein gesellschaftliches Konstrukt."

Jan stimmte zu und geriet nach und nach in eine interessante politische Diskussion mit ihm.

Nik war der Meinung, dass auch das mit der Individualität bloß ein solches Konstrukt darstellte; in Wirklichkeit waren die Menschen alle mehr oder weniger gleich und, was sie unterschied, waren in erster Linie die ökonomischen Bedingungen in denen sie lebten. Das empfand Jan allerdings anders.

"Du kannst dir den Luxus leisten, dich als individuell zu empfinden und dich entsprechend zu verhalten", sagte Nik, "weil du eben in einer Gesellschaft lebst, die dir die ökonomischen Voraussetzungen dafür schafft. Wenn du von früh bis spät arbeiten müsstest, um zu überleben, würdest du gar nicht auf solche Gedanken kommen"

Jan beharrte aber auf seinem Standpunkt, dass, egal wie die Umstände auch sein mochten, sein Anderssein und damit seine Individualität deutlich hervortreten würde - ob er wollte oder nicht.

Nik stellte sich als wirklich angenehmer und interessanter Gesprächspartner heraus. So lange wie an diesem Abend war Jan noch nie in der Schwulenkneipe geblieben.

Er erfuhr auch, dass Nik Politik studierte und erst seit diesem Sommer in Berlin wohnte. Jan hatte bereits an diesem Abend keinen Zweifel: Nik war genau die Begegnung, auf die er gewartet hatte.

Jemand, mit dem er sich angeregt und entspannt unterhalten konnte, der keine irritierenden sexuellen Anspielungen machte und der obendrein mit beiden Beinen auf dem Boden der Wirklichkeit zu stehen schien. Es passte.

"Es ist schon spät", sagte Nik schließlich, "Ich denke, ich werde nach Hause gehen"

Jan sagte, dass es auch für ihn Zeit wäre zu gehen, und sie brachen zusammen auf.

Als sie vor der Tür standen, zeigte Nik nach links, "Ich gehe jetzt diese Richtung; und du? Wohin gehst du?"

Jan war unsicher, ob er das als Einladung verstehen sollte, mit zu ihm nach Hause zu kommen.

"Ich weiß nicht", sagte er, "Vielleicht gehe ich einfach ein Stück mit dir"

Zu dem besetzten Haus, in dem er wohnte, war es genau die andere Richtung, aber er wollte jetzt auf keinen Fall loslassen; wer weiß, ob sie sich sonst wieder treffen würden.

"Ok", sagte Nik, "Du kannst natürlich auch bei mir übernachten, wenn du möchtest, aber ich muss dich vorwarnen: Es ist ein bisschen eng bei mir."

Jan zog sich die Kapuze über und folgte Nik zu seiner Wohnung.

Er wohnte in einer WG, die zu Fuß keine fünf Minuten von der Kneipe entfernt war. Die Wohnung war voll von politischen Plakaten und Aufklebern und Niks Zimmer war wirklich winzig klein. Mit dem kleinen Schreibtisch, einem Stuhl und einem sehr schmalen Bett war es komplett ausgefüllt.

Obendrein war das Fenster offen und in dem Zimmer war es daher auch nicht wärmer als draußen. Jan behielt seine Pullover an und die Kapuze auf, bis sich Nik ins Bett unter die Decke gelegt hatte.

"Und das Fenster?", fragte er.

"Das kann ruhig offen bleiben. Hier unter der Decke ist es warm, du wirst nicht erfrieren."

Jan zog sich schnell seine Sachen aus, um dann gleich unter die dicke Bettdecke zu kriechen, die Nik bereits ein wenig aufgewärmt hatte.

Das Bett war so schmal, dass sie sich eng aneinander kuscheln mussten, um darin Platz zu finden.

"Magst du dich nicht umdrehen?", fragte Nik, als Jan im Bett lag.

Er hatte ihm den Rücken zugekehrt, weil er befürchtete, sonst aus dem Bett zu fallen, wenn er die Kante nicht sah.

Als er sich umdrehte, sah er in ein Gesicht, das ein Lächeln zeigte, das ihn unmittelbar an Len und an Jan erinnerte.

"Lass uns noch was kuscheln, ok?", sagte Nik und fing an, Jan zu streicheln.

Jan spürte deutlich, dass Nik einen "Steifen" hatte, und dachte, dass jetzt der Moment der Wahrheit gekommen wäre.

Wie würde er wohl reagieren, wenn er merkte, dass Jans Sexualität nicht dem entsprach, was bei Schwulen üblich war?

"Du musst ein wenig vorsichtig sein", fing Jan an zu erklären, "Das mit dem Sex ist ein bisschen schwierig, weil, naja, weil ich eine Phimose habe"

Jan hatte erst vor kurzem gelernt, dass eine verengte Vorhaut "Phimose" hieß, und fand, dass dieses Wort gut geeignet war, die Eigenheiten seines sexuellen Empfindens kurz und prägnant zu beschreiben.

Niks Gesicht zeigte unbeirrt das gewinnende Lächeln und seine Reaktion wischte alle Befürchtungen, die Jan hatte, einfach weg.

"Ist schon in Ordnung", sagte er, "Ich bin ganz vorsichtig."

Seine sanfte Stimme und sein Lächeln wirkten auf Jan sehr beruhigend; es fühlte sich sehr vertraut an, neben Nik im Bett zu liegen und sich seinen Berührungen hinzugeben.

Ungewöhnlich war auch, dass Jan dabei kein einziges Mal zuckte - es war, wie wenn die beiden sich schon sehr lange kennen würden.

Nachdem sich Nik einen 'runtergeholt hatte, sagte er schließlich, dass es Zeit wäre zu schlafen.

Jan durfte seinen Platz mit Niks tauschen und an der Wand schlafen, um nicht aus dem schmalen Bett herauszufallen. Er lag auf der Seite, eingequetscht zwischen der Wand, Niks Körper und einer schweren Daunendecke.

Jan lag noch eine ganze Weile wach und dachte über diese unerwartete Begegnung an diesem Abend nach. Er war erstaunt darüber, wie viel Vertrautheit und auch Vertrauen er gegenüber Nik verspürte. So etwas hatte er noch nie erlebt, nicht annähernd, eigentlich noch nicht einmal mit Jan, damals.

Keine irritierenden Gedanken, keine unangenehmen oder schmerzhaften Berührungen, kein Zucken; stattdessen einfach nur die Berührungen dieser Hand zu genießen und diesen Körper zu erforschen, wie er sich anfühlte. Es war ein wahrer Zauber; es passte so gut, dass es sich schon wieder ziemlich unwirklich anfühlte, wie ein Traum.

Die entscheidende Hürde war mit Nik also überwunden; spätestens hier waren in aller Regel Jans Versuche gescheitert, einem schwulen Menschen nahe zu kommen.

Wenn es um Sex oder auch nur um Berührungen ging, zeigte sich nicht nur, dass er ein anderes Empfinden hatte, als offenbar üblich war und allgemein erwartet wurde. In der Regel erwiesen sich diese unterschiedlichen Sensibilitäten obendrein als überhaupt nicht kompatibel. Jan wusste oft nicht, wie er sich verhalten sollte, wann von ihm was erwartet wurde, und fühlte sich nach kurzer Zeit wie gelähmt von dieser Unsicherheit.

Umgekehrt lösten die Reaktionen, die er wahrnahm, in ihm zusätzliche Irritationen aus, sodass er am Ende so sehr damit beschäftigt war, sich auf das Geschehen zu konzentrieren, dass er dabei nichts mehr genießen konnte, sondern stattdessen immer mehr verkrampfte.

So waren im Wesentlichen seine sexuellen Erfahrungen. Selbst wenn es mal gelang, dabei nicht ganz so angespannt zu sein, waren oft die Berührungen, die er spürte, schwierig; mal kitzelte es, mal zuckte er zusammen.

Und auch umgekehrt schien die Art und Weise, wie er sein Gegenüber berührte, oft nicht wirklich passend zu sein. Es war so, als wenn die Weise, wie er Berührungen empfand, sich ziemlich von dem unterschied, wie Berührungen von anderen empfunden wurden, von scheinbar allen anderen.

Mit Nik war das alles wohltuend anders: Jan fühlte sich völlig entspannt dabei, sich von Nik streicheln zu lassen, es tauchten auch keinerlei Irritationen auf; es hatte etwas sehr Selbstverständliches. Selbst das mit seiner Vorhaut stellte überhaupt kein Problem dar.

Normalerweise wurde es als eigenartig oder sogar abstoßend empfunden, dass Jans Vorhaut zu eng war, um beispielsweise so etwas zu praktizieren, wie "Geschlechtsverkehr". Schon dieses Wort drückte aus, dass es ganz und gar unnormal war, daran - wie Jan - keinerlei Interesse zu zeigen.

Immerhin aber war die Phimose, wie eine verengte Vorhaut medizinisch hieß, ein konkreter und handfester Ausdruck der Andersartigkeit von Jans Sexualität. Deswegen führte er sie auch immer an, wenn es darum ging, im Vorfeld die vorhandenen sexuellen Differenzen zu erklären.

Jan war sehr glücklich, dass diesmal seine Erklärungen nicht zu Irritationen geführt hatten, dass Niks Berührungen ihn nicht kitzelten und zucken ließen, sondern im Gegenteil sehr angenehm waren, und dass er sich dabei so unerwartet entspannt fühlen konnte. Es fühlte sich vor allem auch richtig gut an, eingeklemmt zwischen Nik und der Wand zu liegen, unter der schweren Bettdecke, unter der es angenehm warm war, im Gegensatz zum restlichen Zimmer.

Während Jan einschlief, bemerkte er, wie der Druck zwischen seinen Beinen stärker wurde und sich zu seinen Gefühlen tiefster Zufriedenheit zunehmend auch erregende Gefühle mischten.

Nik schlief schon längst und hielt ihn dabei mit seinem Arm fest. Als Jan am nächsten Morgen aufwachte, war er alleine im Bett. Nik saß in der Küche und war gerade dabei zu frühstücken, als Jan dazukam.

"Hast du gut geschlafen?", fragte er, als sich Jan zu ihm setzte.

"Ich muss gleich zur Uni; du kannst aber in Ruhe frühstücken"

Dann stand er schon auf, um ein paar Sachen in eine Tasche zu packen und sich seine Jacke überzuziehen.

"Nik", sagte Jan, "Ich fand das sehr schön mit dir, wirklich."

"Du kannst mich ruhig Niklas nennen; ich habe kein Problem mit meinem Namen", antwortete Nik,

"Ich fand's auch schön. Wenn du magst, kannst du dich gerne wieder bei mir melden; du weißt ja jetzt, wo ich wohne."

Dann ging er. Jan frühstückte noch zu Ende und wusch das Geschirr ab, bevor er nach Hause ging. Er hatte in dieser Nacht nicht viel geschlafen und war so müde, dass er sich zuhause gleich in sein Bett legte und ausschlief.

Niklas

Die Begegnung mit Nik ging Jan nicht mehr aus dem Kopf; seit dieser Nacht dachte er an nichts anderes mehr und je mehr er über Nik nachdachte, desto glücklicher fühlte er sich dabei. Er schien genau der zu sein, den Jan suchte, genau die Begegnung, auf die er schon lange gewartet hatte.

Jan war verblüfft, wie unspektakulär das alles ablief, wie ihn Nik einfach so ansprach und es sich ebenfalls einfach so ergeben hatte, gleich diese wundervolle Nacht bei ihm zu verbringen. Es gab keinen Zweifel: Jan war verliebt.

Am liebsten hätte er Nik gleich am selben Tag wieder getroffen, aber er entschied sich, ein paar Tage abzuwarten, um am Ende nicht als aufdringlich zu erscheinen.

Zwei Tage später war es dann soweit: Jan entschied sich, ihn am frühen Nachmittag zu besuchen.

"Oh, du. Komm 'rein", sagte Nik, als er die Tür öffnete, "Du hast Glück, dass ich hier bin; heute ist nämlich ein Seminar ausgefallen"

Jan setzte sich in die Küche und beobachtete Nik, wie er Kaffee kochte. Er wusste nicht so recht, wie er das Gespräch beginnen sollte, und fühlte sich ein wenig unbehaglich, weil Nik auch nichts sagte.

"Was machst du eigentlich? Studierst du auch?", fragte Nik, als der Kaffee fertig war.

"Nein, ich habe mal studiert, Mathe und Physik, aber das habe ich abgebrochen"

"Mathe und Physik? Das hätte ich, glaube ich, auch abgebrochen. Da finde ich die Sozialwissenschaften wesentlich interessanter; da geht es um Wissen, das wichtig ist, wenn man politisch etwas bewegen will."

"Ich finde so etwas nicht so wichtig; entscheidend ist doch, wie man lebt und was man lebt, oder nicht?", erwiderte Jan.

"Das sehe ich anders; für mich ist Bildung das Wichtigste überhaupt. Es ist der Schlüssel zu gesellschaftlichem Einfluss; ohne bleibt man bedeutungslos."

Nik war entschlossen, sein Studium als Doktor zu beenden, um dann seine Ideen in gesellschaftliche Veränderungen umzusetzen. Dafür bekam er Bafög. Jan hatte für sein Studium keine Unterstützung erhalten, weil sein Vater dafür zu viel verdient hatte.

Während des Gespräches dachte Jan darüber nach, wie er Nik erklären sollte, dass er in ihn verliebt war; er war sich unsicher, ob es überhaupt gut wäre, es zu erwähnen, wo sie sich eigentlich noch gar nicht richtig kannten.

Schließlich fragte er, "Hast du eigentlich schon mal einen Beziehungspartner gehabt?"

"Beziehungspartner? Nein, ich halte nicht viel von Beziehungen. Ich finde es ganz gut so, auf meinen eigenen Beinen zu stehen. Du? Hattest du schon einmal einen Freund?"

"In gewisser Weise ja; ist aber schon ein paar Jahre her."

Niks Antwort, dass er von Beziehungen nichts hielt, irritierte Jan; er war ja im Gegensatz zu Nik sehr an einer Beziehung interessiert.

Nach einigen wenigen Überlegungen kam er zu dem Schluss, dass er diese Unsicherheit nicht bestehen lassen konnte. Er sollte Nik eröffnen, dass er darauf aus war, einen Partner zu finden, und Nik für einen idealen Kandidaten dafür hielt.

"Nik", sagte er, "Ich muss dir was sagen."

"Warum nennst du mich immer Nick? Ich mag das, ehrlich gesagt, nicht; ich heiße Niklas und nicht Nick oder Nico oder sonst etwas."

"Ok, Entschuldigung, Niklas."

"Schon in Ordnung. Es ist nur, weil viele mich gerne Nick oder Nico nennen und ich so etwas halt blöde finde. Außerdem klingt mir Nick zu amerikanisch - da ist mir Niklas lieber."

"Mir gefällt Nik", erwiderte Jan, "Ist halt 'ne Abkürzung, so wie Jan auch."

"Ach, tatsächlich? Wofür denn?"

"Meine Eltern haben mich Johannes genannt."

"Johannes?", Nik lachte, "Jan soll eine Abkürzung für Johannes sein?"

Jan wusste nicht, was er erwidern sollte. Sein eigentliches Ansinnen, Nik zu sagen, dass er ihn liebte, war irgendwie verpufft. Stattdessen nahm das Gespräch einen Verlauf an, der ihm ganz und gar nicht gefiel.

"Johannes", wiederholte Nik, "Ich muss ehrlich sagen, das gefällt mir besser als Jan."

Danach saßen beide schweigend am Tisch.

Jan nahm sich vor, Niks Wunsch, "Niklas" genannt zu werden, in Zukunft zu respektieren; schließlich wäre er auch nicht damit einverstanden gewesen, von Nik "Johannes" genannt zu werden, nur weil es ihm besser gefiel als "Jan".

"Ich wollte dir jetzt nicht auf den Schlips treten", sagte Niklas, um das Schweigen zu durchbrechen, "Wenn du magst, können wir ein bisschen kuscheln; ich fand es ja ganz schön vorgestern"

Jan fand die Idee auch gut und sie gingen in Niklas' Zimmer, in dem das Fenster zwar offen war, aber es ihm lange nicht so kalt vorkam wie beim letzten Mal. Niklas hatte sich schnell ausgezogen und lag schon im Bett, als Jan noch dabei war, seinen Kapuzenpullover auszuziehen.

"Was ist denn mit deiner Sexualität?", fragte Niklas.

"Mit meiner Sexualität?"

"Ja, was du letztes Mal erzählt hattest. Ich habe es nicht richtig verstanden."

Jan war inzwischen ausgezogen und kuschelte sich zu Niklas ins Bett.

"Ach so, ja, ich habe eine Phimose, das habe ich gesagt."

"Eine was?"

"Eine Phimose; das ist eine verengte Vorhaut. Es tut weh, wenn man versucht, sie zurückzuziehen."

"Oh; naja, macht ja nichts, oder?"

In Niklas' Gesicht sah Jan wieder dieses Lächeln, das er von Len und Jan kannte. Es war also wirklich wahr: Auch Niklas hatte ein besonderes Gesicht, zumindest wenn er lächelte.

"Ich finde es ok. Aber es gibt Schwule, die es nicht ok finden", antwortete Jan und Niklas sagte,

"Mir ist es egal, ehrlich gesagt. Ich habe mir darüber noch nie Gedanken gemacht."

Mit Niklas zu kuscheln war wieder sehr entspannend und vertraut; Jan fühlte sich richtig wohl dabei. Es war genau das Gefühl, das er jetzt brauchte, genau die Energie, die notwendig war, um ein neues Leben zu beginnen, dachte er.

"Ich glaube, ich mag dich", sagte er und Niklas erwiderte, "Ich mag dich auch", und fügte hinzu, "So wie du bist."

Jan war sehr glücklich, dass er das sagte, vor allen Dingen auch, "So wie du bist"; es war wie ein Zauberwort.

"Vielleicht sollten wir eine Beziehung anfangen?", fragte Jan weiter.

"Eine Beziehung? Ich glaube, das ist ein bisschen voreilig; wir kennen uns ja noch gar nicht richtig", antwortete Niklas, "Außerdem kommt für mich eine Beziehung eher nicht in Frage. Ich fühle mich ganz wohl so, wie es jetzt ist, um ehrlich zu sein. Das muss ja aber nicht heißen, dass wir nicht befreundet sein können."

"War ja auch nur ein Gedanke; ich weiß selbst auch nicht, ob eine Beziehung für mich das Richtige ist."

Jan sah ein, dass das mit der Beziehung tatsächlich zu voreilig war. Niklas hatte vollkommen Recht, dass sie sich überhaupt erst kennen lernen mussten.

"Und da ist noch etwas, was ich dir sagen sollte", Niklas schob die Bettdecke zurück und setzte sich auf.

"Ich werde nach Australien gehen, um dort zu studieren; für ein Jahr."

Jan fühlte sich wie vom Blitz getroffen; für einen Moment brach in ihm alles zusammen, was er sich für seine Zukunft ausgemalt hatte.

"Das heißt, wenn's klappt", erläuterte Niklas, "was aber sehr wahrscheinlich ist. Dann werde ich in drei Monaten nach Australien gehen und dort zwei Semester studieren."

"Nach Australien?" Jan fühlte sich sehr hilflos, "Du kannst doch nicht einfach nach Australien gehen."

"Siehst du? Das ist genau das, was ich meine."

Niklas stand auf und fing an, sich wieder anzuziehen.

"Natürlich kann ich einfach nach Australien gehen und das will ich auch gar nicht ändern, dass ich das kann."

Jan sah ein, dass Niklas irgendwie Recht hatte; "So wie du bist", das musste natürlich auch für ihn gelten.

Niklas beruhigte ihn, indem er erläuterte, dass es ja nichts daran ändern würde, dass sie sich mochten. Wenn sie sich wirklich mochten, dann würde es auch funktionieren, wenn Niklas ein Jahr weg wäre.

Jan stand auch wieder auf und half Niklas dabei, etwas zu essen zu kochen. Sie aßen zusammen und verbrachten den Abend damit, Wein zu trinken und zu reden. Jan erfuhr dabei, dass Niklas schon einmal ein Jahr im Ausland war, in England. Als er nach Hause ging, war er ziemlich betrunken.

Jan dachte die folgenden Tage viel darüber nach, was er davon halten sollte, dass Niklas vorhatte, für ein ganzes Jahr weg zu gehen; auch noch so weit weg.

Je mehr er aber darüber nachdachte, desto eher kam er zu dem Schluss, dass es vielleicht gar nicht so schlecht war. Auf diese Weise hätten beide Gelegenheit, genau zu überprüfen, ob es für sie wirklich das Richtige war, miteinander eine Beziehung einzugehen.

Jan hatte mit Niklas verabredet, dass Niklas sich diesmal bei ihm melden würde. Obwohl aber mehr als eine Woche verging, bis er an Jans Tür klopfte, widerstand Jan der Versuchung, sich entgegen der Verabredung bei Niklas zu melden.

"Ist ja nicht einfach, dich hier zu finden", sagte er, als er ins Zimmer kam.

Es war Sonntagvormittag und Jan war noch nicht lange wach. Über Nacht hatte es geschneit, was Anfang Dezember nicht häufig vorkam. Er hatte sich eigentlich schon entschieden, noch vor dem Frühstück durch den Schnee zu spazieren, mit dem grünen Kapuzenpullover, den ihm erst vor ein paar Wochen einer seiner Mitbewohner geschenkt hatte.

Der wollte ihn wegwerfen, weil er mit Farbe bekleckert war, aber Jan hatte ihn mehrere Tage lang eingeweicht und anschließend gründlich gewaschen. Danach waren nur noch leichte dunkle Schatten zu erkennen, wo vorher die Farbe war, was Jan aber nicht störte. Im Gegenteil, die Flecken hatten genau den gleichen Farbton wie seine Armeehose, während der Pullover sonst einen etwas helleren Grünton hatte.

In dem neuen, grün gefleckten Kapuzenpullover zusammen mit seiner Armeehose gefiel sich Jan extrem gut.

"Hast du schon gefrühstückt? Ich hatte die Idee, dich zum Frühstücken einzuladen", sagte Niklas und schlug vor, dazu in eine alternative Kneipe zu gehen, wo es für wenig Geld ein gutes Frühstück gab.

"Das passt gut", antwortete Jan, "Ich wollte gerade an die frische Luft und gefrühstückt habe ich auch noch nicht."

Er zog sich noch einen Pullover unter den grünen Kapuzenpullover, die schwarze Mütze auf und ging mit Niklas los.

Als sie zur Haustür herausgegangen waren, zog er sich die Kapuze über die Mütze. Niklas hatte eine dicke Daunenjacke an, ohne Kapuze; er hatte auch keine Mütze auf.

Am meisten wunderte sich Jan, dass er es auch gar nicht erwartet hatte; im Gegenteil, er wäre wahrscheinlich sehr erstaunt gewesen, Niklas mit Mütze und Kapuze zu sehen; irgendwie passte es nicht.

"Ist dir kalt?", fragte Niklas. "Es geht; wieso?"

"Weil du zwei Mützen aufhast."

Jan war etwas irritiert, dass Niklas "zwei Mützen" sagte, und überlegte sich kurz, ob es wirklich übertrieben war, Mütze und Kapuze auf zu haben; schließlich lag Schnee.

Er erklärte dann aber, dass er als Jugendlicher eine Mittelohrentzündung hatte und seitdem seine Ohren gegen Kälte empfindlich waren und sich leicht entzündeten.

Während dem Frühstück erzählte Niklas ausgiebig von seinen Erfahrungen mit Schwulen und schwulem Sex. Er hatte schon in früher Jugend Erfahrungen mit einem seiner Klassenkameraden, mit "richtigem Sex", so wie es im Sexualkundeunterricht dargestellt wurde.

Dafür wurde ihm erst vor einem Jahr richtig klar, dass er schwul war. Jan erzählte von seinen Erfahrungen, hauptsächlich von denen mit Jan, und auch von seinen Problemen mit Sex, dass es häufig nicht passte.

Von Kay erzählte er nichts, überhaupt erzählte er nichts von seiner Vorliebe, gerne gefesselt zu werden. Er glaubte nicht, dass Niklas etwas mit Fesselungen anfangen konnte; wahrscheinlich fand er so etwas eher merkwürdig, so wie Jan damals.

Nach dem Frühstück gingen sie noch spazieren; Jan genoss es, seine Kapuze über der Mütze zu spüren und mit grüner Hose und passendem Kapuzenpullover neben Niklas durch den Schnee zu laufen.

Bis Niklas sagte, dass es ihm kalt wurde, und vorschlug, wieder zurück zu Jan zu gehen. Als sie in Jans Zimmer waren, machte Niklas gleich auch den Vorschlag zu kuscheln, was sehr schön und angenehm war, wie schon die beiden Male davor.

Niklas fuhr über Weihnachten und Neujahr zu seinen Eltern. Er fuhr schon Mitte Dezember los und wollte drei Wochen bei seinen Eltern bleiben, um erst kurz nach Neujahr wieder nach Berlin zurück zu kommen. Das hieß vor allen Dingen, dass er bis dahin für Jan keine Zeit mehr hatte, weil er noch einiges für die Uni tun musste.

Jan fuhr nicht zu seinen Eltern, sondern blieb in Berlin. Er würde höchstens vielleicht über Silvester für ein paar Tage zu einer Landkommune fahren, die er kannte, aber das war noch sehr unsicher.

Niklas hatte dort, wo seine Eltern wohnten, Freunde, noch aus der Schulzeit, und seine Geschwister, Cousins und Cousinen traf er auch. Jan dagegen traf niemanden.

Niklas hatte aber keinem von ihnen erzählt, dass er schwul war; er war dort, bei sich zu Hause, einfach "normal". Auch das war bei Jan anders. Alle wussten, dass er schwul war, vermutlich sogar länger als er selbst wusste; zumindest dass er nicht "normal" war, war allen klar, denn das war unübersehbar.

Der Johannes eben, dem "einer abgeht", wenn er gefesselt wird; Jan bekam immer noch eine Gänsehaut, wenn er an diese Begebenheit auf dem Pfadfinderfest dachte. Der verträumte Hannes mit den empfindlichen Ohren und der Fellkapuze.

Jan dachte oft darüber nach, dass er und Niklas doch ziemlich verschieden waren. Das, was sich mit Niklas anbahnte, war etwas anderes als Len oder Jan - Jan, etwas sehr anderes.

Doch gerade dadurch hatte es etwas Wirkliches, etwas, was sich nicht plötzlich, von einem Moment auf den anderen, einfach als Traum erweisen und verschwinden konnte; so wie es mit Jan damals war, als sich zeigte, dass ihre Beziehung nicht funktionierte.

Bei Niklas spürte er einen Widerstand, anders als bei Jan oder Len. Bei ihnen gab es keinen Widerstand - er durchdrang sie, ohne es wirklich zu spüren, und sprach mit ihnen, wie er im Traum sprach, mit sich selbst. Die Wirklichkeit setzte sich im Traum fort und der Traum in der Wirklichkeit, sodass es ihm schwer fiel, beides auseinander zu halten. So erlebte er die Zeit mit Jan, aber auch mit Len war es nicht anders.

Niklas und Jan sprachen aber ganz offensichtlich nicht die gleiche Sprache, sprachen nicht miteinander wie im Traum. Niklas war wirklich, anders wirklich als das, wohin Jan seine Sehnsüchte trieben.

Er hatte diesen Gedanken zum ersten Mal so klar vor Augen: Die Wahrheit war, dass seine Sehnsüchte ihn in die Irre führten.

Aber jetzt gab es eine andere Sehnsucht, die mit den Sehnsüchten aus seiner Kindheit konkurrierten, die Sehnsucht nach Niklas. Ob Niklas auch Sehnsucht nach ihm hatte?

Einmal rief er an, etwa eine Woche nachdem er gefahren war, um sich zu erkundigen, wie es Jan ging. Er sagte, dass er sich freuen würde, ihn wieder zu sehen, und dass er Sehnsucht nach ihm hätte.

Dennoch waren ihm die drei Wochen bei seinen Eltern wichtiger, als diese Sehnsucht; so etwas war für Jan unvorstellbar. Er hätte keinen Augenblick gezögert, alle seine Planungen umzustellen, nur um bei Niklas zu sein. Niklas war in dieser Hinsicht anders und Jan nahm sich vor, es zu akzeptieren.

Nachdem, was er erlebt hatte, drängte sich ihm die Notwendigkeit regelrecht auf, sich auf etwas neues, etwas anderes einzulassen, etwas wie Niklas. Und es fühlte sich nicht schlecht an, wenn auch noch etwas ungewohnt.

Jan fuhr an Silvester doch nicht aufs Land, sondern blieb die ganze Zeit in Berlin. Er war viel alleine in dieser Zeit, was er durchaus auch genießen konnte. Er fühlte sich gut, so gut wie schon lange nicht mehr, und konnte es kaum erwarten, Niklas wiederzusehen.

Er träumte jeden Abend von ihm, beim Einschlafen, und erforschte dabei das Gesicht, das er in seinen Gedanken sah. War es auch wirklich ein besonderes Gesicht, so wie Lens oder Jans, eines, das er sich für Jahre ins Gedächtnis einprägen konnte, ganz anders als alle anderen Gesichter, die bereits nach wenigen Wochen völlig verblassten und undeutlich wurden?

Niklas' Lächeln war zweifellos ein besonderes Lächeln, aber sein Gesicht? Jan konnte sich bis zuletzt, bis er Niklas schließlich wiedersah, nicht zu einer endgültigen Antwort durchringen.

Jan war schon frühzeitig am Bahnhof, um Niklas abzuholen. Der Zug hatte eine ganze Stunde Verspätung, sodass er mehr als anderthalb Stunden am Bahnhof Zoo warten musste.

Auf dem Bahnsteig war es ziemlich kalt und windig und Jan saß die Zeit über mit Mütze und Kapuze auf einer Bank und las in einer Zeitung, die er im Müll gefunden hatte. Er trug seine grüne Armeehose und seinen grünen Kapuzenpullover; so würde er Niklas sicher am besten gefallen.

Endlich kam der Zug und es stiegen auch nur wenige Leute aus, sodass Jan ihn gleich sah und begrüßen konnte. Die Begrüßung war nicht besonders herzlich; Niklas wirkte ziemlich angespannt und fluchte über die Verspätung und sein Gepäck. Er sagte, dass er noch ein Referat für die Uni vorbreiten musste und dass er überhaupt die Zeit bei seiner Familie ziemlich anstrengend fand.

Als sie in seiner Wohnung ankamen, sah Niklas, dass seine Mitbewohner auch verreist waren und obendrein die Wohnung in einem unaufgeräumten Zustand hinterlassen hatten; vor allen Dingen die Küche, in der sich unabgewaschenes Geschirr türmte.

"Ich habe es satt, mich ständig um andere kümmern zu müssen", sagte er, "Nicht genug, dass ich mich bei meiner Familie immer um alles kümmern muss, hier ist es auch nicht anders. Schau dir das an; ich bin doch hier nicht die Putzfrau."

Er fing gleich an, Staub zu saugen, und hörte dabei nicht auf, vor sich hin zu schimpfen. Jan traute sich nicht, irgendetwas zu sagen, und hoffte, dass sich Niklas' Laune wieder bessern würde. Er kam sich blöde vor, Niklas beim Saubermachen und Schimpfen zuzusehen, und fing an, das Geschirr abzuwaschen.

"Was machst du da?", fragte Niklas, als er in die Küche kam und Jan beim Abwaschen sah.

"Ich spüle das Geschirr"

"Aber doch nicht so, mit den Töpfen zuerst"

Jan hatte die Töpfe zuerst abgewaschen, weil sie am meisten Platz nahmen und mehr Platz für das übrige Geschirr vorhanden war, nachdem sie gespült waren.

"Du hast deinen Eltern wohl nie viel im Haushalt helfen müssen", sagte Niklas, "Lass es am Besten stehen; ich mache es dann schon selbst."

Jan ging in Niklas Zimmer und setzte sich dort auf das Bett, um weiter in der Zeitung zu lesen. Schließlich kam Niklas auch in das Zimmer und sagte, dass Jan aufstehen sollte, damit er das Bett ausschütteln konnte. Jan wollte in die Küche gehen, um sich dort an den Tisch zu setzen.

"Nicht in die Küche", rief Niklas, "Da habe ich gerade gefeudelt"

"Wohin dann", fragte Jan verzweifelt.

Er fand das Gefühl, Niklas im Weg zu stehen, unerträglich.

Als Niklas antwortete, "Ich weiß auch nicht", entschied sich Jan zu gehen.

"Dann gehe ich wieder nach Hause", sagte er und Niklas antwortete,

"Ja, ist vielleicht das Beste."

Das war für Jan zu viel; er hatte sich so sehr gefreut, Niklas wiederzusehen, und jetzt war er in eine so blöde Situation gekommen. Als er sich angezogen hatte und gehen wollte, kamen ihm die Tränen.

"Was ist denn jetzt?", fragte Niklas.

"Ich habe mich so gefreut, dich zu sehen, und jetzt sowas."

"Ich habe halt noch andere Sachen zu tun", erwiderte Niklas, "Da kann ich mich nicht auch noch um dich kümmern. Schließlich kann ich ja nicht für alle unselbstständigen Männer um mich herum die Mutter spielen."

"Ich brauche keine Mutter und so eine wie dich schon gar nicht", sagte Jan und öffnete die Tür. Er kämpfte gegen den Drang an, vor Wut und Enttäuschung richtig loszuheulen.

"Warte", sagte dann Niklas und fasste ihn am Arm, "Das habe ich nicht so gemeint. Ich freue mich ja auch, dass du hier bist."

"Davon habe ich noch nicht viel gemerkt", entgegnete Jan, der sehr froh war, dass Niklas ihn doch nicht gehen ließ.

Niklas sagte nur, "Komm", und zog ihn wieder in die Wohnung. Er ging mit ihm in sein Zimmer und sie setzten sich auf das frisch ausgeschüttelte Bett.

Niklas fing an, Jan auszuziehen, wobei ihn Jan unterstützte. Es fühlte sich gut an, wieder neben Niklas unter der Bettdecke zu liegen. Während sie kuschelten, ejakulierte Niklas schon nach kurzer Zeit und fragte dann, "Und du?"

"Was meinst du?"

"Willst du nicht auch? Du hast noch nie abgespritzt bei mir; noch nicht mal einen steifen Schwanz hast du bekommen. Mache ich etwas verkehrt? Du musst mir sagen, was ich tun soll, damit du auch auf deine Kosten kommst."

Jan wusste nicht so recht, was er antworten sollte; der Ausdruck "steifer Schwanz" gefiel ihm irgendwie.

Er war versucht zu sagen, dass Niklas ihn fesseln sollte, aber er sagte, dass er durchaus "auf seine Kosten" kam, wenn er mit ihm im Bett lag.

"Ich finde es wirklich schön, mit dir zu kuscheln", ergänzte er und Niklas antwortete, "Dann lass es mich auch spüren."

Dabei zeigte er wieder sein Lächeln, sein Len - Jan - Nik Lächeln, nach dem Jan drei Wochen lang Sehnsucht hatte. Einen "steifen Schwanz" bekam er aber auch diesmal nicht.

Seit Niklas wieder von seiner Familienfahrt zurück war, sahen sie sich oft und regelmäßig, in der Regel an drei bis vier Tagen in der Woche. Meistens waren sie bei Niklas, weil er sich in Jans Zimmer nicht so wohl fühlte, da es nicht sehr aufgeräumt und auch nicht sauber war.

"Du hast es nie gelernt, deinen Alltag richtig zu organisieren", sagte Niklas häufig.

Er war dagegen wirklich sehr organisiert, nicht nur, was seinen Haushalt anging, auch in seinem Studium und bei seinen anderen Aktivitäten.

Jan war beeindruckt, wie leicht es Niklas fiel, sein Leben zu regeln und all die Dinge zu machen, die ihm selbst sehr schwer fielen, sei es Putzen und Waschen oder Einkaufen und Kochen oder das Einhalten von Terminen. Niklas machte keinen Hehl daraus, dass er Jan als ziemlich unpraktisch empfand.

"Du glaubst, dass du Probleme nur durch Nachdenken lösen kannst", sagte er gerne, "Aber durch Nachdenken alleine wäscht sich keine Wäsche und kocht sich kein Essen."

Jan kam sich manchmal vor wie ein kleines Kind, dem erklärt werden musste, wie die Welt funktionierte. Es ging dabei aber um jene Welt, in der Niklas mit beiden Beinen stand, und nicht um seine Welt.

Der Unterschied allerdings war, dass Niklas' Welt offen war für Jan; Niklas konnte erklären, wie sie funktionierte und Jan konnte es verstehen. Jans Welt war dagegen überhaupt nicht offen; Jan hatte keine Idee, wie er sie erklären sollte, und wenn er sie erklären würde, davon war er überzeugt, würde Niklas sie wohl auch nicht verstehen; niemand würde sie verstehen können.

Niklas konnte Jans Welt einfach ignorieren; er brauchte davon nichts zu wissen und wusste wahrscheinlich auch nichts davon. Umgekehrt kam aber Jan nicht an Niklas' Welt vorbei - es war diese Welt, nicht Jans, die den Anspruch erheben konnte, wirklich zu sein.

Jan fand diese Ungleichheit ungerecht, auch wenn er es gut fand, sich mit Niklas' Welt auseinander zu setzen. Besonders dann, wenn diese Auseinandersetzungen kontrovers waren, was nicht selten der Fall war, fiel Jan diese Ungleichheit ganz besonders auf.

Er war immer das kleine Kind, dem Niklas erklären musste, wie dies oder jenes funktionierte, wie man sich in welcher Situation verhalten sollte - es war nie umgekehrt. Besonders wenn Niklas sagte, das sei jetzt wieder einmal "typisch Jan", oder wenn er sich so aufregte, dass er ihn "Johannes" statt "Jan" nannte, war Jan über diese Rollenverteilung ziemlich verzweifelt.

Es kam manchmal auch vor, dass er einfach anfing zu weinen, weil ihm nichts einfiel, das er Niklas' Vorwürfen entgegnen konnte. Dann sagte Niklas aber immer, dass es nicht so gemeint war und dass er in Wirklichkeit Jan mochte, und zwar so, wie er war.

Oft war Niklas damit beschäftigt, Referate oder Hausarbeiten für die Uni fertig zu stellen, während Jan bei ihm war und ein Buch las oder manchmal auch Texte schrieb. Diese Texte sollten seine Welt beschreiben, die unsichtbare, unerklärbare Welt, in der er lebte und die seine Heimat war.

Sie gingen aber auch immer wieder zusammen aus, meistens zusammen mit Freunden von Niklas oder mit seinen Mitbewohnern. Manchmal gingen sie auch zusammen auf eine Demonstration oder sogar spazieren.

Anders als Jan war Niklas allerdings kein begeisterter Spaziergänger. Da er auch weder Mütze noch Kapuze trug, wurde es ihm immer nach kurzer Zeit zu kalt und drängte ihn, wieder nach Hause zu gehen.

Den Genuss, beim Gehen die Gedanken schweifen zu lassen, den Schnee unter den Füssen zu spüren, der die Geräusche dämpfte, und die Kapuze auf dem Kopf zu haben, das schien er nicht zu kennen. Das war eher Jans Welt; aber immerhin, Niklas verweigerte sich ihr nicht, auch wenn er sich ihr nur sehr zögerlich annäherte.

Anfang Februar, kurz nach seinem Geburtstag, ging Jan früh aus dem Haus, weil er mit Niklas verabredet war, zu einer Demonstration zu gehen. Diese Demonstration war auch in dem besetzten Haus, in dem er wohnte, seit Tagen schon Gesprächsthema gewesen. Es wurde von allen erwartet, dass sie sich zu einer heftigen Auseinandersetzung mit der Polizei entwickeln würde. Daher war es günstig, möglichst frühzeitig dort zu sein.

Jan ging ganz in schwarz, schwarze Hose, schwarzer Kapuzenpullover, schwarze Mütze und schwarzes Tuch, um damit sein Gesicht zu verdecken.

Als er zu Niklas aufbrach, war es noch dunkel draußen; schließlich wollten sie noch zusammen frühstücken, bevor sie sich in die Schlacht begaben. Der Frühstückstisch war bereits gerichtet, als Jan bei Niklas ankam.

Niklas erklärte, dass er endlich den Brief aus Australien erhalten hatte, auf den er schon länger wartete.

"Jetzt ist es definitiv", sagte er, "In drei Wochen bin ich dort unten."

Drei Wochen; das war wirklich nicht mehr viel.

Niklas war sich unsicher, ob sie wirklich an der Demonstration teilnehmen sollten. Es wurde ein wirklich beeindruckendes Polizeiaufgebot für das Ganze erwartet. Am Ende entschied sich Niklas, wie geplant zu gehen und sich genauso wie Jan ganz in schwarz zu kleiden. Allerdings ohne Kapuze oder Mütze, aber mit einem großen Palästinensertuch stattdessen.

Als sie beim Treffpunkt eintrafen, waren schon einige Leute versammelt, obwohl die Demonstration erst in einigen Stunden offiziell beginnen würde. Um sie herum war bereits ein beachtliches Polizeiaufgebot zu sehen.

Niklas wickelte sich das Palästinensertuch um Mund und Nase und Jan vermummte sich mit seinem Tuch ebenfalls. So beobachteten sie das Treiben um sie herum, wobei Niklas immer wieder Bekannte traf, mit denen er sich unterhielt.

Jan traf niemanden, während die Menschenmenge, in der er sich befand, rasant anwuchs.

Als die Demonstration offiziell begann und losging, hatte es bereits Rangeleien mit der Polizei gegeben, und schon kurz nach Beginn war die Lage ziemlich unübersichtlich. Immer wieder gelang es einzelnen Polizeieinheiten, in den Demonstrationszug einzudringen und auf diese Weise für allgemeinen Aufruhr zu sorgen.

Niklas und Jan befanden sich mitten in diesem Getümmel. Plötzlich drang so ein Polizeitrupp auch dahin, wo die beiden liefen und riss Jan auf den Boden, als er versuchte, sich ihm entgegenzustellen.

Als Jan wieder aufstand, waren die Polizisten wieder weg, Niklas aber auch. Den sah er dann außerhalb des Demonstrationszuges zusammen mit anderen Demonstranten umringt von Polizei. Er beobachtete, wie ihm Handschellen angelegt wurden, die Hände auf dem Rücken, und er gefesselt in einen Polizeibus bugsiert wurde.

Das fand Jan reichlich spannend; er fand, dass Niklas mit Handschellen überraschend gut aussah.

Dummerweise fühlte er sich alleine ziemlich unsicher in dem allgemeinen Schlachtengetümmel. Nicht dass er befürchtet hätte, auch verhaftet zu werden, im Gegenteil; nichts wäre spannender gewesen, als ebenfalls in Handschellen in einen Polizeibus verfrachtet zu werden.

Dennoch nutzte er die nächste Gelegenheit, sich von der Veranstaltung zu entfernen und nach Hause zu gehen. Dort waren einige seiner Mitbewohner bereits beschäftigt, sich um die Situation der Festgenommenen zu kümmern. Jan erfuhr dort, dass erwartungsgemäß die Betroffenen recht schnell wieder freigelassen würden.

Er war ein wenig enttäuscht darüber, dass er nicht wie Niklas das Glück hatte, in den Genuss einer sozusagen "amtlichen" Fesselung zu kommen.

Am späten Nachmittag kam Niklas zu ihm, gleich nachdem er wieder freigelassen wurde. Er erzählte lediglich, dass das Ganze ziemlich unspektakulär gewesen war und außer der Aufnahme seiner Personalien nichts geschah. Er war allerdings ziemlich erschöpft und fragte Jan, ob er nicht Lust hatte, mit ihm zu kuscheln.

Jan war auch ein bisschen müde, zumal er ja sehr früh aufgestanden war, und legte sich zusammen mit Niklas ins Bett.

Das regelmäßige Kuscheln war zweifellos das Schönste in ihrem Verhältnis. Es war zum festen Bestandteil ihrer Treffen geworden, jedes Mal, wenn sie sich sahen.

Niklas hatte sich in den Kopf gesetzt, Wege zu finden, die Jan dazu brachten, einen "steifen Schwanz" zu bekommen und auch "abzuspritzen", wie Niklas es nannte. Jan fand nach wie vor den Ausdruck "ejakulieren" besser und vor allen Dingen auch angemessener; "abspritzen" klang ihm zu vulgär.

Jan entwickelte die Strategie, sich weniger auf das Kuscheln zu konzentrieren und sich stattdessen in Gedanken vorzustellen, gefesselt zu werden; das funktionierte ganz gut.

Wenn er sich selbst einen 'runterholte, dachte er auch immer daran gefesselt zu werden und ejakulierte meistens in dem Moment, in dem er in Gedanken die Hände auf dem Rücken hatte und an den Fesseln zerrte.

Es passierte aber auch oft, dass sich andere Bilder in diese Phantasien mischten, beispielsweise wie er von den Pfadfindern an den Baum gebunden wurde, die sehen wollten, ob es ihn erregte, gefesselt zu sein, oder wie Kay ihm sagte, dass es nicht normal sei, von Fesselungen erregt zu werden.

Manchmal kamen ihm auch ziemlich absurde Bilder in den Sinn, etwa wie seine Mutter ihn an einem Stuhl festband oder wie er in der Uni gefesselt ein Referat halten musste. Dann flaute die Erregung rapide ab und hinterließ ihn in einem ziemlich unbefriedigenden Zustand.

Zusammen mit Niklas war es nicht anders, eher noch schwieriger, weil Jan sehr leicht davon abgelenkt wurde, sich darauf zu konzentrieren, dass die Bilderfolgen in seinen Gedanken einen erwünschten Verlauf nahmen.

Oft genügte eine unvorhergesehene Berührung oder, dass Niklas dabei irgendetwas sagte oder die Bettdecke verrutschte, um den Fluss der Bilder in seinen Gedanken zu unterbrechen.

Mit der Zeit klappte es immer besser, der Sex, und nach einiger Zeit gelang es sogar, dass Niklas ihm einen 'runterholte und er dabei "abspritzte". Zumindest manchmal.

Niklas hatte die Idee, dass Jan auf einem Zettel die Erfolge und Misserfolge beim Sex notierte: Ein Strich bedeutete, dass es nicht geklappt hatte, ein Kreuz, dass er einen steifen Schwanz hatte und es auch genießen konnte, und ein Kreuz in einem Kreis, dass er sogar ejakuliert hatte.

Der Zettel sah nach kurzer Zeit schon aus, als wenn er eine Fieberkurve darstellen würde, da Jan das Symbol umso höher malte, je intensiver er das jeweilige Erlebnis empfand.

Das wirklich Besondere war aber, dass Niklas ihn anfassen konnte, und zwar überall, an jeder Stelle seines Körpers, ohne dass es sich unangenehm anfühlte und ohne dass Jan zucken musste.

Zwar blieb es für Jan einfacher, sich selbst einen 'runterzuholen, so wie er es gewohnt war, aber er war dennoch sehr zufrieden, sich mit Niklas' Hilfe dem schwulen Sex so sehr anzunähern, wie er es bis dahin noch nicht geschafft hatte.

Erst kurze Zeit zuvor machte Jan eine spannende Entdeckung: Niklas war sehr kitzelig und er brauchte ihn nur ein wenig zu kitzeln, um einen Ringkampf mit ihm zu provozieren.

Mit Niklas zu ringen, fand er ziemlich erregend, ganz besonders an jenem Abend, an dem der Ringkampf damit endete, dass Niklas auf ihm saß, ihm die Hände festhielt und neben seinem Kopf auf das Bett drückte.

"Was spüre ich denn da?", fragte er, während er Jan festhielt, "Das macht dich wohl an, wenn ich dich ein bisschen härter anfasse?"

Jan spürte deutlich den Druck zwischen seinen Beinen und nickte.

"Hey, nicht einschlafen", sagte Niklas und Jan schreckte auf.

Er war tatsächlich so sehr in seinen Gedanken versunken, dass er nicht mehr daran dachte, dass Niklas neben ihm lag und mit ihm kuscheln wollte.

"Zeig mir lieber mal, wie ich es schaffen kann, dich anzumachen" Niklas hatte dabei das Len - Jan Lächeln, das er immer zeigte, wenn er Jan danach befragte.

Üblicher Weise kuschelte sich Jan als Antwort eng an ihn heran, doch diesmal fiel seine Antwort anders aus. Er legte sich auf den Rücken und legte dabei seine Hände neben seinen Kopf. Niklas fing an, ihn zu kitzeln, und der Ringkampf endete nach kurzer Zeit damit, dass er auf ihm saß und ihm die Hände festhielt, so wie Jan es ihm vorher gezeigt hatte.

Jan hätte in diesem Moment am Liebsten gesagt, dass Niklas ihn so festbinden sollte, die Hände rechts und links an den Bettpfosten, aber er traute sich am Ende doch nicht.

Er befürchtete, dass Niklas damit doch nicht so viel anfangen konnte und ihn am Ende noch nicht einmal festhalten würde, wenn ihm klar wurde, dass für ihn das Fesseln im Zentrum seiner sexuellen Phantasien stand. Stattdessen dachte er an Niklas, wie er in Handschellen abgeführt wurde. Ihn in Gedanken so zu sehen, war außerordentlich reizvoll.

Reizvoll war auch die Vorstellung, selbst verhaftet zu werden und dabei Handschellen angelegt zu bekommen. Jan konnte es sich lebhaft vorstellen, mit den Händen auf dem Rücken in der Polizeiwache zu sitzen, zusammen mit anderen Demonstranten, die alle gefesselt waren, und mit Niklas.

Das Kuscheln war diesmal wieder ganz besonders spannend; auf dem Zettel notierte Jan, wie schon beim letzten Mal, als Niklas ihn festhielt, ein Kreuz mit zwei Kreisen, ganz oben.

Die drei Wochen, bis Niklas nach Australien ging, vergingen sehr schnell. Schließlich war der letzte Abend gekommen, den sie miteinander verbringen konnten, und Niklas war schon deutlich aufgeregt.

"Eigentlich haben wir jetzt eine Beziehung", sagte Jan, "So oft, wie wir zusammen sind."

Niklas wehrte diesen Gedanken nach wie vor ab. Seiner Meinung nach waren sie gegenseitig keinerlei Verpflichtung eingegangen.

"Wer weiß, wie es ist, wenn ich in einem Jahr zurückkomme? Vielleicht hast du dann einen neuen Partner oder ich; das kann alles sein."

Jan konnte es sich überhaupt nicht vorstellen, einen anderen Partner zu haben. Er war davon überzeugt, dass es für ihn keinen geeigneteren Partner geben konnte als Niklas. Schließlich einigten sie sich darauf, dass sie eine Beziehung auf Probe hätten, aus der vielleicht eine richtige Beziehung werden könnte, wenn sie es nach Niklas' Rückkehr immer noch wollten.

Jan begleitete ihn zum Flughafen und war sehr irritiert zu sehen, dass Niklas beim Abschied weinte und sagte, "Ich werde dich vermissen." Es passte irgendwie gar nicht zu Niklas, zu weinen und Jan so etwas zu sagen.

Als er wieder zu Hause war, in seinem Zimmer, überfiel ihn mit aller Wucht die Trauer darüber, dass diese intensive Zeit mit Niklas jetzt vorüber war. Er hielt es nicht lange in seinem Zimmer aus und ging spazieren, ganz in grün, mit Mütze und Kapuze, und kam erst wieder zurück, als es dunkel wurde.

Ihm fiel mit aller Deutlichkeit auf, wie sehr er sich verändert hatte in den letzten zwei bis drei Monaten, wie sehr ihn vor allen Dingen Niklas verändert hatte. Er hatte das Gefühl wiedergefunden, wirklich zu leben, ein Gefühl, das er zuvor lange Zeit nicht hatte; zu leben und nicht einfach nur zu überleben.

Mit Niklas war etwas in sein Leben gekommen, was wirklich war, kein Traum, und was dennoch etwas war, das er bejahen konnte, was ihm entsprach. Niklas war wie eine Brücke zwischen den Welten, die ansonsten miteinander unvereinbar und unvermittelbar waren.

Len und Jan, die besondere Rolle, die Kapuzen in seinem Leben spielten, das sollte jetzt der Vergangenheit angehören und den Platz freigeben für etwas neues, für Niklas.

Jan und Niklas hatten eine Zeit verabredet, zu der Niklas versuchen würde, ihn anzurufen, am Tag nach Niklas' Abreise. Jan saß in der Küche neben dem Telefon und wartete auf den Anruf, auf Niklas' Stimme, die sehr weit weg klang.

In Australien war es zu dieser Zeit sehr heiß, während in Berlin frostige Temperaturen vorherrschten. Nach dem Telefongespräch hatte Jan die Idee, in Zukunft auf Mütze und Kapuze zu verzichten und wie Niklas ohne etwas auf dem Kopf durch die Kälte zu gehen.

Doch schon der erste Versuch machte ihm klar, dass diese Idee nicht sehr vernünftig war. Er bekam dabei schon nach kurzer Zeit Ohrenschmerzen und in den Tagen danach sogar eine Mittelohrentzündung, die erst nach Wochen wieder abklang.

Es blieb bei diesem einen Versuch und Jan war eigentlich ganz froh darüber, dass es nach wie vor handfeste Gründe gab, Kapuzen zu tragen, und wenn es kalt war, am Besten auch noch mit einer Mütze darunter, mit seiner Jan-Mütze.

So einfach war es offenbar doch nicht, die eigene Vergangenheit abzulegen und ein neues, anderes Leben zu beginnen.

Max

Jan wohnte ziemlich genau fünf Jahre in dem besetzten Haus, in das er kurz nach seinem Umzug nach Berlin gezogen war, als er von seinen Mitbewohnern aufgefordert wurde, zu einer Hausversammlung zu kommen.

Er ging selten zu Hausversammlungen, weil er sie ziemlich uninteressant fand und er es auch überhaupt nicht mochte, mit so vielen Leuten in einem Raum zu sein. Er hatte nicht den Eindruck, dass ihn die besprochenen Themen etwas angingen, oft verstand er sie auch gar nicht richtig, und empfand diese Treffen als Zeitverschwendung.

Diesmal, so wurde ihm mitgeteilt, wäre es aber wichtig, dass er käme. Auf der Hausversammlung sagte dann einer seiner Mitbewohner,

"Wir haben uns überlegt, dass wir mal über dich sprechen müssen, Jan",

und, "Du wohnst jetzt 5 Jahre hier und wir finden, das geht so nicht weiter."

Jan war ziemlich überrascht, so etwas zu hören, und hatte keine Idee, was damit gemeint war, dass es so nicht weiterginge.

"Obwohl du jetzt so lange hier bist, bist du uns immer irgendwie fremd geblieben; es ist eigentlich immer noch so, wie als du frisch bei uns eingezogen warst."

"Wir sind uns nicht näher gekommen, du beteiligst dich nur wenig an den gemeinsamen Aktionen."

"Es ist, wie wenn du ein Geist wärst. Ich glaube nicht, dass du dich hier richtig wohl fühlst."

Bis eben hatte sich Jan in dem Haus recht wohl gefühlt, aber nachdem er mit diesen Vorhaltungen konfrontiert wurde, fühlte er sich tatsächlich extrem unwohl.

Vor allen Dingen auch, weil er nicht verstand, was seine Mitbewohner genau meinten; was hätte er anders tun sollen?

"Versteh uns nicht falsch, wir wollen dich nicht 'rausschmeißen. Aber wir denken, du solltest dich entscheiden, ob du dich hier mehr einbringen willst oder ob du vielleicht doch woanders wohnen solltest. Vielleicht solltest du dir überlegen, ob unser Haus wirklich der richtige Platz für dich ist."

Jan war ziemlich irritiert über diese Aufforderung; er konnte sich vor allen Dingen nicht vorstellen, was seine Mitbewohner von ihm erwarteten. Es war offensichtlich, dass sie etwas von ihm erwarteten und in ihren Erwartungen enttäuscht wurden.

Jan entschied sich, aus dem Haus auszuziehen. Es war nicht einfach, eine angemessene Alternative zu dem Zimmer zu finden, an das er sich ziemlich gewöhnt hatte. Aber schließlich fand er einen Bauwagenplatz, der einen Bauwagen frei hatte und der ihn auch aufnehmen wollte.

Doch bereits kurz nachdem Jan auf den Platz gezogen war, traf er auch dort auf Erwartungen, die an ihn gerichtet waren und denen er nicht genügend nachkam. Die betrafen vor allen Dingen sein politisches Engagement, das nicht dem entsprach, was auf dem Bauwagenplatz scheinbar üblich war.

Die Bewohner des Platzes forderten ihn aber nicht auf zu gehen; es waren vielmehr Anmerkungen und einzelne Diskussionen, über die er mitbekam, dass er auch hier nicht "dazugehören" würde.

Jan fühlte sich daher von Anfang an nicht wohl auf dem Platz und vermied es, sich dort aufzuhalten, soweit es ging. Stattdessen war er viel unterwegs, ging in der Stadt spazieren und übernachtete bei Bekannten, manchmal auch in dem besetzten Haus, in dem er vorher wohnte.

Kurz vor Weihnachten '91 war Jan mit der Bahn unterwegs, Bekannte zu besuchen, die in einer Landkommune in der Nähe von Berlin wohnten. Er hatte erst vor kurzem entdeckt, wie erholsam es sein konnte, ein paar Tage auf dem Land zu sein und die Zeit hauptsächlich mit Spaziergängen zu verbringen.

Die Bahnfahrt in einem Nahverkehrszug, der alle 10 bis 15 Minuten hielt, zog sich ziemlich in die Länge, zumal Jan einmal umsteigen musste und dabei ziemlich lange auf den Anschlusszug wartete.

Er wartete da in einem kleinen, verlassenen Bahnhof und war schon nach kurzer Zeit ziemlich durchgefroren, obwohl er warm angezogen war. Er trug zwei Kapuzensweater, den schwarzen und darüber den braunen, den er erst seit Kurzem hatte, und beide Kapuzen über seiner Mütze. Aber es war an diesem Tag nicht nur kalt, sondern auch ziemlich windig, besonders auf diesem Bahnhof.

Nach einer Zeit, die ihm ewig vorkam, fuhr endlich der Zug ein. Als der Zug stand, schaute ihn aus dem Abteil, das genau vor ihm zum Stehen kam, ein junger Typ an, der ihn spontan so faszinierte, dass seine Blicke von ihm kaum abrücken konnten.

Er war so gebannt von dem Gesicht, das ihn durch das Fenster hindurch ansah, dass er nicht anders konnte, als es genauestens zu betrachten, obwohl ihm diese Situation fast schon unangenehm wurde. Jan wunderte sich darüber, wie sehr er sich von dem Gesicht dieses blondhaarigen Jungen angezogen fühlte, der wohl höchstens zwanzig Jahre alt war, so wie er aussah.

Er war vor allem auch deswegen verunsichert, weil er sich sehr selten von einem Menschen derartig faszinieren ließ, schon gar nicht von jemandem, den er nicht kannte. Wahrscheinlich, dachte er, war es allein die Tatsache, dass ihn jemand so direkt ansah, was in ihm eine solche Faszination auslöste.

Er hatte das Gefühl, in das Gesicht dieses Menschen regelrecht zu starren, das er durch die verdreckte Scheibe eher erahnen als richtig sehen konnte. Der Junge hinter der Scheibe allerdings starrte ihn ebenso an, ohne seinen Blick auch nur einen Moment von seinem Gesicht zu lösen.

Sie sahen sich eine ganze Zeit lang gegenseitig an, sahen sich auch in ihre Augen, bevor sich Jan besann und in den Zug stieg.

Dieser Moment hatte ihn ganz schön durcheinander gebracht. Ihm kamen Fluten von Bildern und Erinnerungen in den Sinn, vor allen Dingen Erinnerungen an Lens Gesicht und an Jans Gesicht, an die vertrauten Gesichter in seiner vertrauten Welt, die so weit, so unvorstellbar weit entfernt war von der wirklichen Welt.

Seine Sehnsüchte danach, in einer wirklichen Welt zu leben, in der er sie finden konnte, wiederfinden konnte, die Gesichter, die ihm Vertrautsein vermittelten und Nähe, weil sie ihm nicht fremd waren. Die scheinbar unüberbrückbare Distanz, die Jan zwischen sich selbst und der Welt, in der er lebte, verspürte, war wie eine Wunde, in die seine Sehnsüchte und Träume ihre Finger legten. Ganz besonders in Momenten wie diesem jetzt auf dem Bahnsteig.

Ihm kam bereits die Wartezeit auf dem Bahnhof merkwürdig surreal vor, der eigentlich nur ein Bahnsteig war mit einem kleinen abgeschlossenen Gebäude. Er war der einzige, der dort wartete, und hatte bisweilen den Eindruck, da würde sich nie wieder ein Zug hin verirren, während er trotz Mütze und zwei Kapuzen immer mehr fror.

Spätestens jetzt, nachdem diese Gesicht aufgetaucht war, das ihn spontan so faszinierte, dachte er, das Gefühl, wieder einmal gänzlich in seine Traumwelt eingetaucht zu sein, würde so schnell nicht wieder weichen.

Der Zug war ziemlich leer und so ging Jan zunächst an dem Abteil vorbei, in dem der Junge saß, um gleich - wie er es üblicher Weise tat - ein leeres Abteil anzusteuern.

Als er sich in das Abteil setzen wollte, kam ihm aber der Gedanke, dass er unmöglich in diesem Zug mit diesem Jungen reisen konnte, ohne dass sich aus dieser Blickbegegnung, die ihn derart elektrisiert hatte, weiter etwas ergab.

So stand er kurz entschlossen wieder auf, kaum dass er saß, und ging mit einem einfachen "Hallo" in das Abteil, in dem dieser junge Typ saß, der ihn vorhin so direkt in die Augen gesehen hatte.

Dieser erwiderte lächelnd mit einem betont lockeren "Hi".

Er hatte kurze, blonde Haare, trug eine sichtlich teure Jeans und so ein blaues "Marco Polo" Poloshirt - das fand Jan ja reichlich daneben; obendrein noch ganz in himmelblau der Typ, dachte er, sogar die Jacke, die neben ihm hing. Wenigstens hatte er die Haare nicht gegelt; Gel in den Haaren fand Jan richtig widerlich.

Der erste Blick war nun doch ein wenig ernüchternd; dieser Junge sah zwar schon nicht schlecht aus, er war aber überhaupt nicht Jans Typ. Dafür wirkte er zu glatt; im ersten Moment dachte Jan, "sonnenstudiogebräunt" - darauf stand er ja überhaupt nicht.

Ihm lagen da eher rauere, punkig gestylte Typen näher, so wie er selbst einer war; davon hatte der Junge in dem Abteil wirklich gar nichts.

Trotzdem fiel es Jan schwer, seine Blicke von ihm zu lösen, und das Gefühl, dass irgendetwas Besonderes mit diesem Jungen war, lies ihn nicht los. Er war ziemlich aufgewühlt und fühlte sich obendrein noch unsicher, ob und wie er reagieren sollte.

Er bemerkte, dass der Junge ihn genau beobachtete, wie er sich die Kapuzen vom Kopf zog und anschließend die Mütze und seine ganzen Pulloverschichten auszog.

An einem Tag, an dem es so kalt und windig war wie an diesem, waren es meistens zwei Pullover, zwei Kapuzensweater und ein T-Shirt, die er übereinander anhatte und immer zusammen an- und auszog, wie wenn sie ein einziges Kleidungsstück wären.

Er setzte sich dem Jungen gegenüber ans Fenster und versuchte, die Gedanken, die mit ihm durchgingen, zu verbergen, indem er beharrlich aus dem Fenster auf den leeren Bahnsteig schaute, während der Zug wieder anfuhr. Jan befürchtete, dass der Junge ihn fragen könnte, warum er ihn die ganze Zeit so ansah, dachte aber, er könnte ihn umgekehrt das Gleiche fragen.

Die Blicke des Jungen wichen keinen Moment von ihm; ihm war es fast schon unangenehm, so intensiv gemustert zu werden. Um aus Verlegenheit irgendwas zu sagen, sagte Jan, "Ganz schön kalt heute."

Eigentlich ging ihm eher durch den Kopf, den Jungen zu fragen, warum er ihn so ansah, ob irgendwas an ihm merkwürdig war oder ähnliches; er fühlte sich aber erleichtert, stattdessen etwas Unverfängliches gefunden zu haben.

Auf diese Bemerkung antwortete der Junge prompt, "Du bist auch gut eingepackt gewesen."

Was meinte er damit? Jan stand zwar da draußen halbwegs vermummt, das Halstuch bis über das Kinn gezogen mit Mütze und Kapuze darüber, aber es war schließlich auch kalt und vor allen Dingen windig draußen.

Bevor ihm dazu eine Antwort einfiel, fügte der Junge hinzu, "Du hast geile Klamotten, das gefällt mir, wirklich."

Er führte dies dann auch gleich weiter aus, "Die sind mir sofort aufgefallen, als ich dich draußen gesehen habe, besonders das Kapuzenshirt. Das sieht echt klasse aus, vor allem weil du die Kapuze auf hattest und noch 'ne Mütze drunter. Läufst du immer so 'rum?"

Jan fiel spontan keine Antwort ein; natürlich hatte er im Sommer nicht Mütze und Kapuze auf, aber Kapuzenpullover trug er fast immer, wenn es nicht so warm war, dass ein T-Shirt reichte.

Er hatte den Jungen darauf hin wohl ziemlich verdutzt angestarrt, sodass dieser nachhakte, "So mit Kapuzenshirt und Pullovern drunter, meine ich. Ist doch ok, wenn ich das frage, oder?"

Tatsächlich fühlte sich Jan auf merkwürdige Weise ertappt, zumal er ja Kapuzensweater durchaus erotisch anziehend fand, nicht nur, wenn sie von anderen Jungs getragen wurden, sondern auch, wenn er sie selbst trug.

Bis dahin war es seine ganz private, intime Leidenschaft; es gab niemanden, mit dem er sie wirklich geteilt hatte. Es war ein Geheimnis, das er bislang niemandem mitgeteilt hatte, und er war überzeugt, dass es außer ihm niemanden gab, der ein ähnliches Geheimnis hatte; zumindest nicht mit Kapuzen.

Überhaupt sollte dieser Junge im Zug der einzige bleiben, der von Jans Leidenschaft für Kapuzenpullover wusste, und erst recht der einzige, der sie in gewisser Weise auch teilte.

Jan lebte diesen Teil seiner Erotik ausschließlich, indem er selbst Kapuzenpullover trug, was im Winter immer am Besten war, weil sich die Kapuzenshirts mit mehreren Pullovern darunter ganz besonders anfühlten. So wie an diesem Tag, mit zwei Kapuzen und noch einer Mütze darunter, war es natürlich das Größte.

Jetzt traf er im Zug einen Typen, der es nicht nur schafft, ihn völlig zu verunsichern, indem er ihn - wie es so schön hieß - mit seinen Blicken förmlich auszog, sondern sich obendrein von seiner eigenartigen Vorliebe scheinbar angesprochen fühlte.

Jan antwortete, "Ja, natürlich ist das ok", und erzählte, dass ihm Kapuzenpullover auch sehr gefallen würden, weswegen er eigentlich immer welche anhatte.

"Jacken sind nicht so mein Ding", erklärte er, "Pullover finde ich auch im Winter wesentlich angenehmer, außer vielleicht, wenn es regnet."

Jan hatte selten jemanden im Winter gesehen, der wie er nur mit Pullovern bekleidet und Kapuze auf unterwegs war. Er erklärte dann auch, dass er es praktisch, angenehm und überhaupt ganz gut fand, Kapuzenpullover zu tragen.

"Mir gefällt das auch mit dem Kapuzenshirt; besonders, wenn du die Kapuze auf hast. Das sieht wirklich geil aus", bekräftigte der Junge.

Jan war einigermaßen irritiert, so etwas zu hören, vor allen Dingen, dass der Junge "geil" sagte.

Es kam ihm vor, als wenn sich seine Traumwelt und die andere, die wirkliche Welt, wieder einmal in unerlaubter Weise mischen würden, als wenn es eine Art Verwechslung zwischen diesen Welten gegeben hätte.

Er wusste nicht, was er darauf antworten sollte, und fragte sein Gegenüber nach seinem Namen, um das Gespräch nicht abbrechen zu lassen.

"Max", sagte er, "eigentlich Maximilian; ist ein blöder Name, der klingt so nach Bayern. Aber meinen Alten ist scheinbar nichts Besseres eingefallen; man kann es sich leider nicht aussuchen. Und du, wie heißt du?"

"Jan"

"Jan ist ja toll; das ist wirklich ein schöner Name, den mag ich"

Jan blieb fair und erklärte ihm, dass er sich selbst so "getauft" hatte und in Wirklichkeit Hannes hieß.

"Ist auch nicht viel besser als Max", sagte er, obwohl er dachte, dass Max als Name schon ziemlich eigenartig klang; wie kann man nur einen Jungen "Maximilian" nennen?

Allerdings war er mit seinem "richtigen" Namen, "Johannes", auch nicht wirklich zufrieden; "Hannes" klang wenigstens ein bisschen nach etwas, aber "Jo-hannes"?

Sie stellten dann fest, dass sie beide in Berlin wohnten, wenn auch Max erst einen Monat zuvor dort hingezogen war, direkt von seinen Eltern. Er hatte vor, Design zu studieren, was von seinen "Alten", wie er sie nannte, finanziert wurde.

Das passte in Jans Bild; er musste sich nach der Schule selbst seinen Unterhalt verdienen, was ihm seitdem auch eher schlecht als recht gelungen war. Von den Eltern gab es kein Geld. Selbst, wenn sie ihm welches gegeben hätten, hätte Jan es nicht haben wollen. Ihm war seine Unabhängigkeit sehr wichtig.

Er erzählte Max, dass er bis vor kurzem in einem besetzten Haus gewohnt hatte und zurzeit teils auf einem Bauwagenplatz, teils bei Freunden lebte. Er genoss es ein wenig, Max mit seinen Erzählungen von einem freien und ungebundenen Leben zu beeindrucken. Dass es dabei auch Tiefpunkte gab - und das nicht zu knapp, ließ er dabei in den Hintergrund treten.

Max schien von Jan fasziniert zu sein, weil er den Eindruck hatte, er würde ein freies und obendrein aufregendes Leben leben; eines, das ihm vielleicht auch gefallen würde, das er sich aber nie trauen würde, zu leben.

Umgekehrt war Jan von Max fasziniert, weil er mit seiner Vorliebe für Kapuzen einen so ungezwungenen Umgang zu pflegen schien, wie es sich Jan von sich selbst nie vorstellen konnte.

Er dachte darüber nach, dass er überhaupt keine Probleme hatte, sozusagen öffentlich schwul zu sein, aber in Bezug auf seine Vorliebe für Kapuzenpullover doch eingestehen musste, eigentlich etwas verklemmt zu sein. Nie würde er sich beispielsweise trauen, jemanden ansprechen und zu sagen, dass ihn sein Kapuzenpullover anmachen würde. Das fand Jan ziemlich bemerkenswert: Auf Kapuzenpullover abzufahren war scheinbar etwas anderes als schwul zu sein - für ihn jedenfalls.

Diese Situation im Zug, von jemanden derartig direkt und zwanglos auf seine Kleidung angesprochen zu werden, fand er ziemlich erregend, aber gleichzeitig auch mit einer fast abgründigen Furcht vor Peinlichkeiten durchzogen.

Etwas provozierend fragte er, auch um von dem Thema abzulenken, "Und du verbringst jetzt Weihnachten im Schoss deiner Familie oder wo fährst du hin?"

Max nickte, "Ja, zu meinen Alten."

Er erzählte, dass er schon lange den Wunsch hegte, ein Kapuzenshirt zu haben und zu tragen, aber seine Eltern sehr konservativ waren und er sich nicht mit ihnen über seine Klamotten streiten wollte; schließlich erhielt er auch Geld von ihnen.

Schade, dachte Jan.

Dann fragte Max, "Darf ich ihn mal anziehen?"

Jan musste einen Moment darüber nachdenken, ob er jetzt tatsächlich meinte, dass er seine Klamotten anziehen wollte, aber Max bekräftigte sogleich, "Dein braunes Kapuzenshirt; ich würde gerne mal ausprobieren, wie es mir steht; darf ich?"

Jan zog dann die Pullover, die noch darin steckten, aus dem Kapuzensweater und gab ihn ihm: "Steht dir ganz sicher gut"

Es war zu dieser Zeit sein Lieblingspullover: dunkelbraun mit einem schwarzen T-Shirt darüber, das ein keltisches Muster und reichlich Löcher hatte. Das trug er mit einer schwarzer Hose, schwarzem Halstuch und schwarzer Mütze in diesem Jahr den ganzen Winter über, fast ohne Ausnahme. Wenn es, wie jetzt, besonders kalt war, noch mit einem anderen Kapuzenpullover darunter.

Den braunen Kapuzenpullover hatte er erst letzten Sommer auf einem Flohmarkt erstanden; ein echtes Fundstück, in das er sich regelrecht verliebt hatte.

Als Max den Pullover anhatte, sagte er, "Hey, Jan, das fühlt sich ja richtig geil an", und zog sich die Kapuze über den Kopf.

Es sah wirklich gut aus - "gut" war gar kein Ausdruck dafür. In Jans Augen war Max wie verwandelt mit dem Kapuzenpullover, und dieser Anblick ließ ihn förmlich Schauer durch den Körper jagen.

Der Gedanke, er wäre in einem Tagtraum gelandet und seine Phantasien würden mit ihm durchgehen, ließ ihn die ganze Zeit über nicht los.

Wie dem auch sei, dachte er aber, da saß jedenfalls ein hübscher junger Mann ihm gegenüber, der seinen Lieblingskapuzensweater mit Kapuze über dem Kopf trug; Jan war hin und weg.

Max roch an dem Sweater - Jan hatte ihn eine Weile nicht gewaschen - und lehnte sich behaglich zurück und grinste ihn an.

Jan sagte, "Viel fehlt nicht mehr und du siehst aus wie ein echter Punk."

Er konnte es sich auch nicht verkneifen, ihm zu erklären, dass er, wenn er das wirklich leben und ungebunden sein will, auch auf das Geld seiner Eltern verzichten müsste und dann wohl auch auf das Studium.

Gleichzeitig stellte er sich vor, wie Max auf dem Bauwagenplatz auftauchte, in seiner Jeans, der man den Preis sofort ansah, und - ganz stolz - mit einem nagelneuen leuchtend blauen Kapuzensweater. Wie er dann in den Bauwagen käme und Jan ihn an den Hüften hielt und an sich drückte.

Max erklärte aber sehr bestimmt, dass er gar nicht vorhatte, Punk zu werden, dass er es vielmehr vorzog, wie er sagte, verantwortlich zu leben, vor allem auch sich selbst gegenüber.

"Was machst du denn in zehn Jahren zum Beispiel? Hast du dir darüber schon mal Gedanken gemacht?", fragte er.

Jan wusste es nicht.

Er hielt es für besser, das Thema zu wechseln und sagte, "Du siehst trotzdem gut aus in dem Pullover."

"Ja, kommt wirklich gut", antwortete Max und stellte dann ganz überraschend die Frage, "Hast du eigentlich 'ne Freundin?"

Jan antwortete mit einem entschiedenen "Nein" und dem Hinweis, dass er schwul war und auch keinen Freund hatte.

Max stutzte und sagte, dass er das schon vermutet hatte, und meinte, "Fairerweise sollte ich dir aber sagen, dass du dir besser keine Hoffnungen machst; ich bin eigentlich stockhetero"

Obwohl es nicht stimmte, sagte Jan, dass er da gar nicht so ambitioniert war, aber doch etwas erstaunt darüber, dass Max sich so eindeutig als hetero einstufte.

"Dafür dass du hetero bist, bist du doch ganz schön offensiv auf mich zugegangen."

Max machte ein ernstes Gesicht; die ganze Zeit über hatte er ständig gelächelt oder gegrinst, aber jetzt sah er richtig nachdenklich aus.

"Dich finde ich auch anziehend irgendwie", sagte er dann, "vor allem in diesen Klamotten. Das macht mich schon an, wie du aussiehst; und nett bist du auch. Aber das heißt überhaupt nicht, dass ich schwul bin."

Nach einer Pause schloss er, "Du gefällst mir einfach und das ist alles; mehr gibt es da nicht"

Jan entgegnete, dass die Frage, ob schwul oder hetero, vielleicht nicht das Entscheidende war, sondern es eher darauf ankam, ob man Lust aufeinander hat, und dann irgendwas daraus macht, was auch immer das dann sein würde. Max brach das Thema dann ab, indem er sagte, dass er nicht weiter darüber reden will.

"Ich habe dir gesagt, dass ich hetero bin; da will ich nicht drüber diskutieren."

Er zog dann den Kapuzenpullover wieder aus und gab ihn Jan zurück.

Nun gut, dachte Jan, das musste er wohl so hinnehmen. Sie saßen dann schweigend in dem Abteil und Jan schaute aus dem Fenster, um sich nicht den Vorwurf einzuhandeln, aufdringlich zu sein.

Er spürte durchaus das Bedürfnis, Max näher kennen lernen zu wollen, und dachte darüber nach, wie er es ihm mitteilen könnte, ohne dass er seine Ambitionen als Anmache verstehen würde. Es fiel ihm aber keine geeignete Möglichkeit ein. Max sagte weiterhin kein Wort und wirkte sehr distanziert; es sah ganz so aus, als würde es bei dieser einen Begegnung hier im Zug bleiben.

Um die Konversation wieder zu beginnen, sagte Jan schließlich, "Wenn ich dir zu nahe getreten bin, tut's mir leid. Es geht mir wirklich nicht darum, dich anzubaggern."

Max zeigte aber keine Reaktion und Jan ergänzte, "Ich bin nicht so einer, der gleich mit allen ins Bett will; so bin ich wirklich nicht drauf."

Als er dann noch sagte, dass er ihn einfach nur nett fand und mehr nicht dahinter steckte, lächelte Max ihn wieder an und meinte, "Ist schon gut; ich bin da halt ein bisschen empfindlich, das ist alles."

Der Gesprächsfaden war danach allerdings wieder abgerissen, kaum dass er aufgenommen wurde. Obwohl er angestrengt nach einem geeigneten Thema suchte, fiel Jan absolut nichts zu sagen ein und Max schien es nicht anders zu gehen.

Jan sah Max immer wieder an und war verwundert über das, was er in ihm auslöste: Ein Typ mit bescheuerten Ansichten, einem eigenartigen Namen, in einer Hose, die bestimmt mehr gekostet hatte, als er in seinem ganzen Leben für Klamotten ausgegeben hatte, und dann noch dieses blaue Poloshirt.

So gesehen entsprach Max so gar nicht seinen Vorstellungen von jemandem, den er erotisch anziehend fand. Aber dennoch faszinierte er ihn so sehr, dass ihm der Gedanke, ihn nicht wieder zu sehen, keine Ruhe ließ.

Nach einiger Zeit fiel Jan ein, dass er noch einen Kapuzensweater eingepackt hatte, einen hellgrauen. Den hatte er für die Bekannten, die er besuchen wollte, genauer für ihren halbwüchsigen Sohn, mitgenommen. Den grauen Kapuzenpullover hatte er auf der Straße gefunden, aber nie getragen, weil er ihm einfach zu hell war; hellgrau war nicht seine Farbe.

Dieser Kapuzenpullover würde eigentlich ganz gut zu Max passen, dachte er, viel besser auf jeden Fall als sein brauner Pullover mit dem gruftigen T-Shirt darüber. Er hatte den Pullover sogar frisch gewaschen, damit er nicht so muffig roch.

Jan entschloss sich, seinem Gegenüber den grauen Kapuzenpullover einfach zu schenken. Er packte ihn aus seiner Tasche aus, reichte ihn Max und fragte,

"Gefällt er dir? Ich wollte ihn eigentlich jemand anderem schenken; jetzt schenke ich ihn dir."

Er meinte ein Leuchten in seinen Augen gesehen zu haben, aber Max antwortete sofort, "Das ist nicht dein Ernst. Nein, das kann ich nicht annehmen, wirklich nicht."

Jan bekräftigte aber, "Doch, ich trage ihn selbst gar nicht, weil ich eher auf dunkle Klamotten stehe. Zieh' ihn mal an."

Mit einem fast schon förmlichen "Danke, ist wirklich sehr nett von dir" nahm Max den Kapuzenpullover und zog ihn sich über.

So sah er wesentlich Fall besser aus als mit diesem Poloshirt, dachte Jan, und vor allem auch nicht mehr ganz so blau. Er wartete darauf, dass Max sich wieder die Kapuze über den Kopf zog, was er allerdings nicht getan hatte.

"Und? Ich finde er passt ganz gut zu dir."

"Ja, fühlt sich an. Ich glaube, der gefällt mir."

Sie redeten auch weiterhin kaum mehr; Jan beobachtete den Jungen in dem grauen Kapuzensweater und überlegte sich immer wieder, was ihn an ihm derart faszinierte. Nach einer Weile fragte ihn Max, "Kann ich ihn wirklich haben, den Kapuzensweater?"

"Ja", antwortete Jan, "allerdings nur, wenn du ihn auch tragen wirst."

"Ja, klar. Den werde ich gleich anbehalten. Ich habe mir immer gewünscht, so einen Kapuzensweater zu haben."

Max erzählte, dass er sich kaum vorstellen konnte, dass seine "Alten" es gut fänden, ihn mit Kapuzenpullover zu sehen.

"Aber jetzt bin ich ja in Berlin; da können die mir keine Vorschriften mehr machen, was ich tragen darf und was nicht."

Jan träumte vor sich hin und genoss die Gefühle, die in ihm aufkamen, während er daran dachte, dass er mit einem Jungen in einem Abteil saß, der Kapuzenpullover "geil" fand.

Max wirkte in seinem neuen Pullover sehr zufrieden.

Nach kurzer Zeit brach er plötzlich die Stille und sagte, er würde am nächsten Bahnhof aussteigen.

Er nahm seine Tasche aus dem Gepäcknetz und kramte eine Mütze heraus; in blau - er hat wirklich einen Blau-Tick, dachte Jan und war auch ein wenig entsetzt zu sehen, dass es eine Pudelmütze war, mit weißem "Trottel".

Jan dachte an seine Len-Mütze, die er immer noch hatte und die er auch als Jugendlicher nur selten getragen hatte; er störte sich zu sehr daran, dass das Knäuel auf der Mütze drückte, wenn er die Kapuze seines Parkas darüber zog.

Er beobachtete gebannt, wie Max seine Jacke überstreifte, sich die Mütze aufsetzte und gleich danach auch die Kapuze des Sweaters darüber zog, den er ihm geschenkt hatte.

Jan war erstaunt, wie sehr Max sich für ihn veränderte, wenn er einen Kapuzenpullover trug und die Kapuze auf hatte. Während er ihn - mit Mütze und Kapuze - betrachtete, spürte er zunehmend einen Druck in seiner Hose.

Er sah Max an, als ob er dieses Bild als Erinnerungsfoto in seinem Gedächtnis haften lassen wollte: Dieser Mensch, der auf eigenartige Weise seine geheimen erotischen Phantasien ansprach: blaue Jeans, blaue Jacke, blaue Mütze und die hellgraue Kapuze darüber; das Bild war perfekt - bis auf die Jacke vielleicht und vor allen Dingen die Farbe; dass es ausgerechnet blau sein musste.

Max setzte sich noch einmal hin und Jan überlegte sich, wie er einen Weg finden könnte, ihn vielleicht doch wieder zu treffen. Sein Blick haftete regelrecht an diesem Gesicht und an der Kapuze, unter der die blaue Mütze zu sehen war.

Der "Trottel" von Max' Mütze beulte die Kapuze erkennbar aus; Jan dachte daran, dass er sich mit diesem Wort, "Trottel" nie anfreunden würde. Dennoch ist ihm noch kein anderes für das begegnet, was beispielsweise an Max' Mütze hing.

Jan traute sich nicht so recht, sein Bedürfnis auszusprechen, ihn wiederzusehen, aber er war dennoch entschlossen, es zu tun. Schließlich sagte er, dass er ihn gerne wieder treffen wollte, aber bekräftigte sogleich, "ohne irgendwelche Hintergedanken, das verspreche ich dir."

"Ich weiß nicht so recht; vielleicht treffen wir uns ja mal in Berlin."

"Naja; dass wir uns zufällig treffen, ist wohl nicht sehr wahrscheinlich. Ich gebe dir einfach die Telefonnummer von einem Freund, über den du mich erreichen kannst. Was du damit machst, ist dann deine Sache."

Jan schrieb Max schließlich die Telefonnummer eines Bekannten auf, den er einigermaßen regelmäßig traf, "Da kannst du für mich eine Nachricht hinterlassen."

Dann fing der Zug schon an zu bremsen und Max stand auf und zog den Reisverschluss seiner Jacke bis obenhin zu. Er verabschiedete sich mit einem "Mach's gut und danke noch mal für das Kapuzenshirt" und stieg aus.

Jan sah ihm durch das Fenster nach, wie er die Unterführung auf dem Bahnsteig ansteuerte und war dabei fast ein wenig erschrocken über die Sehnsucht, die er spürte, und den Wunsch, diesen Jungen wiederzutreffen. Er öffnete das Fenster, um sich hinauszulehnen.

Da drehte Max sich noch einmal um, winkte ihm kurz zu und rief, "Hey, wie heißt du noch mal? Hannes? Jan? Cooles Kapuzenshirt, wirklich."

Jan hatte dann noch eine halbe Stunde zu fahren und war die restliche Fahrt über in Gedanken ganz bei dieser Begegnung. Er dachte dabei auch die Begegnung mit diesem Jungen im Parka, die er als Kind hatte, mit Len. Die Zugfahrt mit Max hatte etwas ähnlich Flüchtiges, Irreales und Traumartiges wie seine Begegnung mit Len, dachte er.

Er konnte auch die folgenden Tage kaum an etwas anderes denken, als an Max, der so plötzlich wieder aus seiner intimen Welt der Phantasien verschwand, wie er aufgetaucht war. Die Weihnachtsfeiertage verbrachte Jan bei seinen Bekannten auf dem Land. Ursprünglich hatte er vor, bis nach Silvester bei ihnen zu bleiben, aber er konnte sich überhaupt nicht auf die Situation dort einlassen und fuhr schon drei Tage später wieder zurück nach Berlin.

Unerwarteter Besuch an Silvester

Die Tage zwischen Weihnachten und Silvester waren ein wenig trist und sehr kalt obendrein; kaum jemand war zu Hause und mangels anderer Schlafgelegenheiten musste Jan die Zeit im zugigen Bauwagen verbringen. Tagsüber war er meistens unterwegs, lief einfach so durch die Gegend und besorgte dies oder das. Zwei oder drei Male versuchte er auch, den einen oder anderen seiner Bekannten anzutreffen, allerdings ohne Erfolg.

Er hatte beschlossen, an Silvester gar nicht zu feiern, sondern, wie jeden anderen Abend auch, im Bett zu liegen und zu lesen oder Musik hören. Als Highlight sollte es an diesem Tag Haschisch geben; dann konnte er auch besser schlafen, bei dem Lärm, der zu erwarten war.

Als er an Silvester nachmittags zu seinem Bauwagen ging, um das Geld dafür zu holen, hing an der Tür ein Zettel. Auf dem stand, dass "ein Schickie mit blauer Jacke" nach ihm gefragt hatte und vielleicht später noch mal kommen wollte.

Jan war sofort klar, wer damit gemeint war; er war mit einem Mal in helle Aufregung versetzt. Ob dieser Abend noch eine unerwartete Wendung nehmen würde?

Er nahm das Geld und ging los, das Haschisch zu besorgen. Er dachte daran, dass Max sicher entsetzt sein würde, wenn er den Bauwagen von innen sehen würde; er war völlig unaufgeräumt und voll mit Müll, den Jan noch nicht weggebracht hatte.

Plötzlich entdeckte er vor sich in der Ferne eine Gestalt von hinten, ganz in blau: blaue Hose, blaue Jacke und blaue Pudelmütze; aus der Jacke hing eine helle Kapuze heraus.

Jan beschleunigte seinen Schritt und war sich nach kurzer Zeit ganz sicher: das war Max. Als er nach ihm rief, drehte Max sich um und grinste ihn an, wie er es schon im Zug getan hatte.

"Einen coolen Kapuzensweater hast du da an", sagte Max zur Begrüßung. Es war derselbe braune, den Jan bei seiner ersten Begegnung mit Max trug.

Jan sagte, dass er gleich in der Nähe noch etwas besorgen wollte; dann könnten sie zusammen zu ihm gehen.

Max wartete auf der Straße, während Jan das Haschisch besorgte; als Jan wieder kam, hatte er die Kapuze seines grauen Kapuzenpullovers übergezogen.

Jan war erstaunt darüber, wie anziehend er ihn fand und musste daran denken, dass er im Zug noch das Gefühl hatte, Max sei so gar nicht sein Typ; wie schnell sich so etwas ändern konnte.

Jan fragte ihn, ob er eine gute Zeit hatte bei seinen Eltern, und Max erzählte gleich darauf los, wie es dort bereits bei seiner Ankunft zum Eklat kam.

"Wegen dir!", sagte er.

Jan fiel nicht so recht ein, was er damit meinen konnte und fragte ganz erstaunt, "Wieso denn wegen mir?"

"Meine Alten haben vor dem Bahnhof schon auf mich gewartet und haben mich richtig angemacht, wie ich denn aussehen würde."

Jan musste lachen.

"So mit Mütze und Kapuze", setzte Max fort, "das fanden sie überhaupt nicht gut"

Er erzählte, dass seine Eltern ihn unentwegt genervt hätten.

"Sie meinen, dass es nicht gut ist, dass ich in der Stadt wohne; wegen dem schlechten Einfluss. Vor allem sagten sie ständig, ich soll den Kapuzenpullover wegwerfen sollte. Stell' dir das vor.“

Jan zuckte mit der Achsel; eigentlich konnte er sich so etwas nicht vorstellen.

"Irgendwann ist mir das zu viel geworden. Dann bin ich einfach wieder zurückgefahren, nach Berlin, in meine Wohnung.“

Max erklärte, dass diese Geschichte wahrscheinlich sein Verhältnis zu seinen Eltern ziemlich belasten würde.

"Und dann habe ich gedacht, Silvester alleine ist ja ziemlich dröge, vielleicht schaue ich mal, was du denn so vorhast. Ich kenne ja noch keinen hier, in Berlin"

Jan bereitete ihn auf dem Weg schon auf den Zustand vor, in dem er den Bauwagen vorfinden würde, und erklärte ihm, dass er in letzter Zeit nur selten dort gewesen wäre. Max sollte nicht den Eindruck bekommen, er würde generell im Dreck leben; zurzeit aber tat er es und es ließ sich auch kaum verheimlichen.

Es war eiskalt im Wagen und Jan feuerte gleich den Ofen an, wodurch es nach kurzer Zeit schon spürbar wärmer wurde. Er war dennoch ziemlich durchgefroren und behielt seine Pullover erst mal an.

Max zog seine Jacke aus und setzte sich auf das Bett; die Kapuze und die Mütze behielt er aber auf. Jan setzte sich dicht neben ihn und sagte, "Jetzt ist mir vielleicht kalt."

Dabei legte sich sein Arm auf Max' Schulter.

"Ist ok so mit deinem Arm", sagte Max.

Er wandte sich Jan zu, mit diesem ernsten Blick, den er im Zug schon hatte, als Jan Zweifel an seinem Heterosein äußerte. Dabei zog er sich die Kapuze und die Mütze vom Kopf

"Jan, ich muss dir was sagen", sagte er und klang dabei sehr förmlich.

"Das, was du mir im Zug gesagt hast, das stimmt. Als ich dich da auf dem Bahnhof gesehen hatte, dann noch in diesen Klamotten, mit Kapuze und Mütze, da war ich wirklich hin und weg. Ich habe insgeheim auch gehofft, dass du dich dann zu mir setzt. Und als ich dann bei meinen Eltern war, wurde mir klar, dass ich mich ein bisschen in dich verliebt habe."

Damit hatte er Jan wirklich überrascht. Er sah ihm ins Gesicht und legte im Geiste das Bild von ihm darüber, das er im Zug "abfotografiert" hatte: Max mit seiner blauen Mütze und der hellen Kapuze darüber lächelt ihm zu: es passte.

Jan überlegte, was Max wohl damit meinte, "ein bisschen verliebt"; "verliebt sein" kannte er nur als etwas, was man war oder nicht, aber ein bisschen - darunter konnte er sich nichts vorstellen.

Dennoch, fand er, klang es gut.

Max erzählte, dass er einen Zwillingsbruder hatte, der vor kurzem ihm und seiner Familie erklärte, dass er schwul war und einen Freund hatte. In seiner Familie hatte das ein regelrechtes Erdbeben ausgelöst und er war auch sehr davon getroffen, weil er ein sehr enges und auch kuscheliges Verhältnis zu seinem Bruder hatte

"Ich weiß nicht genau, aber vielleicht habe ich ihn geliebt, ich weiß nicht", sagte Max.

"Jedenfalls als mein Bruder mir erzählte, dass er einen Freund hat, hatte mich das regelrecht umgeworfen."

Seine Eltern konnten das Schwulsein seines Bruders überhaupt nicht akzeptieren, so dass er ein paar Wochen später zu seinem Freund gezogen war.

"Als er sagte, dass er ausziehen würde, fühlte ich mich von ihm völlig im Stich gelassen und ich sagte ihm, dass ich ihn auch nicht mehr wieder sehen wollte. Und seitdem habe ich ihn auch nicht mehr gesehen. Einmal habe ich ihn angerufen, um mich zu entschuldigen. Aber er hat blöde reagiert und wir haben uns nur gestritten."

Max schwieg und starrte auf den Boden.

"Ich will jetzt nicht weiter darüber reden; das macht mich nur depressiv", schloss er das Thema dann ab.

"Du meinst, ich könnte dein neuer Zwillingsbruder sein?", hörte Jan sich sagen.

Er war ein wenig darüber verwundert, dass ihm so etwas dazu eingefallen war. Auch Max schien ein wenig verwundert über diese Frage zu sein.

"Vielleicht", sagte er leise und nach kurzem Zögern, "Mein Bruder fehlt mir schon sehr, das stimmt."

Jan gingen viele Dinge gleichzeitig durch den Kopf, eine Mischung aus dem Gefühl, einfach nur glücklich zu sein und unzähligen Abers und der Befürchtung, sich emotional auf eine schwierige Geschichte einzulassen, die am Ende sehr verletzend für ihn enden könnte.

Es war inzwischen richtig warm geworden und Jan zog sich seine Pulloverschichten vom Leib. Er fing an, den Müll, der im Bauwagen verteilt war, in einen großen Müllsack zu packen, um ihn dann vor die Tür zu stellen.

Während er das tat, fragte ihn Max, warum er Punk geworden war. Jan erzählte ihm, dass er das freie ungebundene Leben mochte und vor allen Dingen auch die Ästhetik, die damit zusammenhing.

"Kultig finde ich das auch", sagte Max, "kultig", was für ein merkwürdiges Wort.

"Aber so leben möchte ich nicht. Gar nicht mal, weil es so schmuddelig ist, sondern, weil ich es wichtig finde, an die Zukunft zu denken und für sich selbst auch Verantwortung zu tragen."

Schon wieder diese Argumentation; das ärgerte Jan ein wenig.

Er antwortete, dass Verantwortung für ihn aber auch hieß, den eigenen Bedürfnissen entsprechend zu leben und nicht einfach nur das zu tun, was andere von einem erwarteten.

Max brach die Diskussion dann ab, indem er sagte, "Ja, ist ja auch deine Sache, was du machst. Letztlich muss jeder seinen eigenen Weg finden"

Er fragte Jan, was er denn an diesem Abend vorhatte, und Jan antwortete,

"Nichts, eigentlich bin ich heute überhaupt nicht gut drauf und hatte vor, einfach im Bett zu bleiben. Und wozu hast du Lust?"

"Mit dir hier abzuhängen ist ganz ok, glaube ich", antwortete Max, "ich bin heute den ganzen Tag unterwegs gewesen, da ist Abhängen ganz gut."

"Dass du gekommen bist, hat mir den Abend gerettet", sagte Jan.

"Um ehrlich zu sein, nachdem wir uns im Zug kennen gelernt haben, habe ich zwar gehofft, dich wieder zu treffen, aber ich habe nicht ernsthaft damit gerechnet."

"Bist du in mich verliebt?", fragte Max.

Jan wusste nicht, was er darauf antworten sollte und sagte, dass er auf jeden Fall sehr fasziniert von ihm war und seit ihrer ersten Begegnung ständig an ihn gedacht hatte.

Er hatte den Müllsack inzwischen gefüllt und vor die Tür gestellt und setzte sich wieder neben Max auf das Bett.

Im Scherz sagte er, dass er ja davon ausgegangen war, dass Max "stockhetero" wäre.

Max antwortete, das hatte er auch geglaubt, bis er erfahren hatte, dass sein Bruder schwul war, was wohl noch nicht so lange her gewesen sein konnte.

"Eigentlich dämmert es mir jetzt erst so nach und nach, dass ich vielleicht auch schwul bin."

Er erzählte, dass er mit seinem Bruder häufig Ringkämpfe ausgefochten hatte und es ihm erst im Nachhinein, nach seinem Auszug, auffiel, dass ihn das ja ganz schön angemacht hatte. Aber er hatte nie ernsthaft daran gedacht, schwul zu sein, und fand es jetzt ganz schön schwierig, sich mit diesem Gedanken anzufreunden.

Das war bei Jan anders; ihm war schon sehr früh klar, dass sich seine erotischen Phantasien und Gefühle ausschließlich mit Jungs beschäftigten, und er hatte überhaupt keine Probleme, sein Schwulsein zu akzeptieren.

Nachdem Jan ihm von seinem schwulen Coming-out erzählt hatte und von der Beziehung, die er mit Jan hatte, fragte ihn Max, "Stehst du auf Kapuzensweater?"

Wie schon im Zug war Jan von dieser Frage etwas peinlich berührt und fragte ausweichend, "Und du?"

Max erzählte, dass vor ein paar Jahren einer seiner Klassenkameraden anfing, sich für Hip-Hop zu interessieren.

"Der trug dann nur noch solche Kapuzenteile, und das hatte mich völlig angemacht. Ich dachte nur noch an Jungs in Kapuzensweatern und träumte nachts sogar davon, wirklich."

Seine Eltern waren aber sehr konservativ, besonders auch was Kleidung anging. So kam es bislang nie dazu, dass er selbst mal einen getragen hatte - bis er Jan getroffen hatte.

"Früher hätte ich mich nicht getraut, was anzuziehen, was meine Alten nicht gut fanden. Und jetzt; ich hab' dir ja erzählt, wie sie reagiert haben. Wahrscheinlich finden die es fast so schlimm, dass ich im Kapuzensweater durch die Gegend renne, als wenn ich gesagt hätte, dass ich auch schwul bin, wie mein Bruder."

Er lachte, "Dann bräuchte ich mich bestimmt nicht mehr dort blicken lassen“

“Und du?", fragte er dann, "Du stehst doch auch drauf, oder?"

"Na ja", sagte Jan, "ich finde es ganz angenehm und mag auch das Gefühl mit der Kapuze auf dem Kopf."

"Angenehm", wiederholte Max und grinste dabei.

Jan fand es in diesem Moment ziemlich eigenartig, dass er es nicht fertig brachte, zu sagen, wie es war, nämlich, dass er Kapuzenpullover nicht nur ganz angenehm sondern richtig erregend fand.

"Naja, angenehm ist nicht der richtige Ausdruck", sagte er nach einigem Überlegen.

"Und wenn ich ehrlich bin: Es macht mich schon richtig an; vor allem auch mit Mütze und Kapuze."

Jan erzählte, wie er zu seinem fünfzehnten Geburtstag seinen Parka bekommen hatte, mit Fellkapuze, und dass er erst seit zwei Jahren Kapuzenpullover trug.

"So einen richtigen Armeeparka?", fragte Max.

"Bundeswehr; mit Deutschlandabzeichen drauf. Das hatte ich aber gleich abgemacht, als ich ihn bekommen hatte."

"Armeeklamotten finde ich ja auch ziemlich stark. Aber ich glaube, zu mir passt das überhaupt nicht. Dich dagegen könnte ich mir gut in Armeehose und Parka vorstellen."

Jan fand die Vorstellung, Max in Armeehose und Parka zu sehen, ziemlich spannend.

"Ich glaube schon, dass dir das gut stehen könnte; wir können es ja mal ausprobieren."

Max war damit einverstanden. Schon alleine die Vorstellung, dass dieser blondhaarige Junge seine Kleidung trug, versetzte Jan in Aufregung.

"Du kannst dich ja schon mal ausziehen", sagte er während er anfing, in seiner Klamottenkiste zu wühlen. Er beobachtete dabei im Augenwinkel, wie Max sich tatsächlich auszog.

Als er seine Hose herunterzog, war Jan entsetzt zu sehen, dass er Schiesser Feinripp Unterhosen trug - eine lange und eine kurze. Er warf ihm sogleich eine schwarze Unterhose zu, die schon ein bisschen zerrissen war. Max tauschte seine Unterhosen gegen Jans und dann auch die Socken.

Inzwischen hatte Jan die übrigen Sachen herausgesucht: Die grüne Armeehose mit braunem Tarnmuster, die er selbst zwar gerne, aber nicht sehr oft trug, weil sie zu sehr nach Militär aussah; und dann seinen schwarzen Kapuzenpullover und zwei T-Shirts: eins unter, das andere über den Pullover.

Während Jan Max ansah, wie er mit nacktem Oberkörper vor ihm stand, spürte er einen starken Impuls, ihn berühren zu wollen. In Gedanken befühlte er mit beiden Händen die Seiten seines Körpers, seine Brust, die Taille, seine Lenden; es war, wie wenn er wirklich seine Haut berührt hätte.

Doch er traute sich nicht, Max anzufassen, und setzte sich stattdessen auf das Bett, um ihm zuzusehen, wie er sich anzog. Jan war völlig fasziniert, seine Verwandlung zu beobachten. Er dachte daran, wie Max im Zug auf ihn wirkte, in seinen blauen Klamotten, jetzt eben nackt und ganz anders, und gleich in seinen Klamotten; wirklich spannend.

Max nahm die Hose, zog sie sich über und knöpfte sie zu. Jan sah ihn sich von oben bis unten an: Mit Armeehose und nacktem Oberkörper; Max gefiel ihm immer mehr, und er fing an sich Sorgen zu machen, wohin ihn das führen sollte. Er konnte sich nicht erinnern, sich von jemanden auch nur annähernd so angezogen gefühlt, wie jetzt von Max; vielleicht noch nicht einmal von Jan, seiner großen Jugendliebe.

"Max", selbst dieser Name klang inzwischen in seinen Ohren, "Max".

Er zog sich dann das T-Shirt über und den Kapuzensweater; die Kapuze behielt er auf, damit er noch das T-Shirt mit dem neckischen Fantasy-Totenkopf Motiv darüber ziehen konnte. Jan fand, dass ihm diese Klamotten wirklich gut standen, besonders die Armeehose und natürlich der Kapuzenpullover, vor allem weil er die Kapuze aufhatte.

Er spürte einen solchen Druck in seiner Hose, dass er sich sicher war, dass es Max gar nicht entgehen konnte, wie ausgebeult sie war.

"Klasse", sagte er, "gefällt mir gut so, wirklich."

Max steckte seine Hände in die Hosentaschen. Jan kam es so vor, als wenn seine Hose auch ausgebeult gewesen wäre; sicher war er sich allerdings nicht.

"Mir gefällt es auch", sagte Max, "Fühlt sich auf jeden Fall gut an; wie es aussieht, weiß ich ja nicht."

Er nahm seine Hände aus den Hosentaschen und zog sich die Kapuze herunter.

"Das macht schon einen Unterschied, was für Klamotten man trägt; wenn ich mir vorstelle, dass meine Alten mich so sehen würden - sie wären starr vor Schreck." Er lachte.

"Vor ein paar Monaten hätte ich mich wahrscheinlich nicht getraut, sowas überhaupt anzuziehen; jetzt habe ich eigentlich kein Problem damit, so herumzulaufen. Zumindest in Berlin nicht; bei mir zu Hause wär' das natürlich was anderes."

Jan fühlte, dass es jetzt Zeit wurde, einen Joint zu rauchen. Er hatte diesen Moment lange heraus gezögert, weil er ein wenig Max' Reaktion fürchtete, wenn er mitbekam, dass er gerne auch mal Haschisch rauchte.

Er stand auf, packte das Stück, das er am Nachmittag erstanden hatte, aus und fing an, den Joint zu drehen.

"Was machst du da?", fragte Max und setzte sich dabei neben ihn auf die Bettkante.

"Ich drehe einen Joint."

"Einen was?"

"Eine Zigarette mit Haschisch drin."

"Oh", sagte Max, "Du hast ein Drogenproblem?"

Genau das hatte Jan befürchtet, dass er zu so einer Diskussion genötigt würde.

"Nein", antwortete er, "Ich rauche lediglich gerne hin und wieder mal einen Joint; das ist alles."

Max machte dann keine weiteren Anmerkungen und sah Jan beim Drehen genau zu.

Nachdem er sich den Joint angezündet hatte, sagte Max, "Ist ja auch deine Sache, was du machst und wie du lebst."

"Ja genau, das ist es", dachte Jan.

Er überlegte sich, ob Max es wohl schaffen könnte, ihn und sein Leben völlig umzukrempeln. Er war zwar jünger als Jan, aber irgendwie auch stärker und offensichtlich wesentlich selbstsicherer. Seiner direkten Art, wie er mit ihm umging, fühlte sich Jan fast hilflos ausgeliefert; je mehr er sich von ihm angezogen fühlte, desto wehrloser fühlte er sich dabei.

Jan kam sich ein wenig komisch vor, den Joint zu rauchen, während Max ihm mit ernstem Blick dabei zusah und wahrscheinlich dachte, "Was für ein Idiot, dass er sein Leben so ruiniert."

Er fragte, "Das hältst du wahrscheinlich auch nicht für besonders verantwortungsvoll, dass ich ab und an kiffe?"

Max antwortete, "Nein, überhaupt nicht. Du solltest es bleiben lassen; egal, wie man darüber denkt, gesund ist es auf keinen Fall"

Um vom Thema abzulenken, fragte Jan, "Was liebst du denn genau an mir?"

"Deine Klamotten", antwortete Max und fing an zu lachen.

Er legte seinen Arm um Jans Hüfte und sagte, "Deine Art mag ich irgendwie auch; wie du drauf bist. Du bist schon ein besonderer Typ, nicht nur weil du Kapuzenpullover trägst"

Jan war hin und weg; ihm kamen die Bilder in den Kopf, wie er Max angesehen hatte im Zug, als er seinen brauen Kapuzensweater anzog und die Kapuze aufsetzte.

"Aber ich finde trotzdem, dass du dich nicht so gehen lassen solltest. Warum studierst du nicht noch mal oder lernst wenigstens was für einen vernünftigen Job. Du kannst ja trotzdem Punk bleiben und deine geilen Klamotten tragen. Aber so wie du jetzt lebst, das kann doch auf Dauer nicht gut gehen; dann noch mit Drogen."

Irgendwo hatte Max auch Recht, dachte Jan; aber Studium oder gar eine Lehre - das war beides unvorstellbar und kam überhaupt nicht in Frage.

Jan hatte allerdings keine Lust, mit Max dieses Thema auszudiskutieren, und sagte, auch um das Thema zu wechseln, "Hast du nicht auch noch Lust auf einen Spaziergang?"

Was für eine blöde Idee, dachte er, kaum dass er den Vorschlag ausgesprochen hatte, draußen war Silvester sozusagen schon in vollem Gang und die Straßen voll von Leuten in Partystimmung.

Andererseits war es in dieser Nacht klar und eisig und Jan mochte es sehr gerne, so eine eisige Winterstimmung zu spüren; noch dazu, wenn, wie an diesem Tag, fast Vollmond war.

"Ins Getümmel stürzen mag ich jetzt allerdings nicht", fuhr Jan fort, "Aber wir könnten Richtung Treptow gehen, durch den Park; da gibt es ein paar Ecken, wo auch heute bestimmt nicht so viel los ist."

"Ist ziemlich kalt draußen", sagte Max, "Aber ein Spaziergang ist vielleicht gar nicht verkehrt, nachdem du mich hier mit deinem Haschisch eingeräuchert hast. Da können wir auch gleich lüften."

Er zog sich die Armeehose aus, um eine von Jans langen Unterhosen darunter zu ziehen.

"Die kann ich doch anbehalten, oder?"

"Ja, klar."

"Dann brauche ich noch eine Jacke, die dazu passt; mit meinem blauen Anorak sieht das sicher blöd aus"

Jacke war schwierig, da Jan keine Jacken trug und auch keine hatte. Außer seinem Parka, der immer noch in der Sporttasche verstaut war. Was für ein spannender Gedanke: Max in seinem Parka, der für ihn das Kleidungsstück schlechthin war, auch wenn er ihn schon lange nicht mehr getragen hatte.

"Und der Parka, von dem zu erzählt hast", fragte Max, "Hast du den nicht mehr?"

Jan zögerte einen Moment, ob er ihm wirklich seinen Parka geben sollte, sagte dann aber, "Der ist auch das einzige an Jacke, was ich dir bieten kann."

Er zog die Sporttasche unter seinem Bett hervor und öffnete sie. Als er die beiden Mützen in der Kapuze liegen sah, kamen ihm lauter Bilder und Erinnerungen in den Sinn, an Jan und an Len.

"Der ist ja klasse, ein richtiger Bundeswehrparka mit Fell gefüttert", sagte Max, als er den Parka nahm. Dabei strich er mit seiner Hand über das Fell.

"Ich mochte ihn früher auch sehr gerne, gerade wegen dem Fell", antwortete Jan.

Er fühlte sich von Max' Reaktion – wieder, wie im Zug - auf eine merkwürdige Weise ertappt. Das mit dem Parka war für ihn wirklich eine ziemlich intime Angelegenheit.

"Hier hast du auch eine passende Mütze", sagte er und gab ihm eine Wollmütze, die er noch nicht lange hatte, eine mit braun-schwarzen Streifen; sie war sehr warm. Die Mütze hatte er nie getragen, obwohl sie ihm gefiel, aber sie war aus Wolle und kratzte unangenehm auf der Haut.

Max legte die Mütze auf das Bett und begutachtete den Parka; er war sichtlich beeindruckt.

"Solche Klamotten zu tragen, wäre für mich der einzige Grund, zur Bundeswehr zu gehen", sagte er und zog sich den Parka über.

"Warum trägst du den denn nicht mehr? Das kann ich wirklich nicht verstehen"

"Früher hatte ich den fast immer getragen. Aber jetzt trage ich gar keine Jacken mehr, sondern nur noch Pullover."

"Ich glaube, du würdest mir damit richtig gut gefallen", sagte Max und zog sich den Parka wieder aus.

"Zieh' du ihn mal an; ich will mal sehen, wie du darin aussiehst."

Jan hatte den Parka seit über fünf Jahren nicht mehr angezogen; alleine die Vorstellung, wie sich das wohl anfühlen würde, löste regelrecht magische Gefühle in ihm aus. Er kam sich vor wie in einem Traum: Dieser Junge in Armeehose und schwarzem Kapuzenpullover experimentierte sozusagen mit diesem magischen Kleidungsstück, mit dem sich seine intimsten Geheimnisse verbanden.

Jan zog sich den Parka über, fädelte den Reisverschluss ein und zog ihn nach oben.

"Mach' ihn richtig zu", forderte ihn Max auf und in Gedanken hörte Jan Lens Stimme:

"Mach' ihn richtig zu und setz' die Kapuze auf. Es ist kalt."

Er knöpfte sich von unten nach oben die Jacke zu und zog sich die Kapuze über den Kopf. Das Fell der Kapuze auf seinem Kopf zu spüren, versetzte ihn in höchste Erregung.

Sein Gefühl zu und in diesem Armeeparka war auch nach all den Jahren das gleiche geblieben. Der Rausch, in den ihn diese angenehmen, erregenden Gefühle versetzten und die Bilder aus seiner Jugend, als er von seinen Eltern den Parka bekam und nicht oft genug tragen konnte, wurde von dem Joint, den er geraucht hatte, ins Unerträgliche gesteigert.

"Wow, das gefällt mir wirklich", sagte Max.

Jan war die Situation ziemlich unheimlich, diese Wiederbegegnung mit seinem Parka und den damit verbundenen Erinnerungen.

"Trag du ihn lieber", sagte er und zog ihn wieder aus.

"Das macht dich richtig an, stimmt's?", bemerkte Max, während er sich den Parka wieder anzog, "Das kann ich gut verstehen, mit der Fellkapuze."

Jan zog sich die üblichen zwei Wollpullover an und dann zwei Kapuzenpullover darüber. In gewohnter Weise zog er sich nacheinander die beiden Kapuzen über den Kopf, um sie passend ineinander zu stecken.

"Ich bin dann auch soweit"

Dann nahm er die Wollmütze, die noch auf dem Bett lag, setzte sie Max auf und schob ihm die Fellkapuze darüber.

Das war das erste Mal, dass er sich frei fühlte, zu zeigen, was ihn - in intimster Weise - erregte; nicht nur Max gegenüber, sondern überhaupt. Und Max, dieser Junge in gefleckter Armeehose und Armeeparka, mit Mütze unter der Kapuze, das war genau das Bild, das diesen intimsten Gefühlen und dieser Erregung, entsprach.

Jan setzte sich auch seine Mütze auf, warf beide Kapuzen auf einmal darüber und wickelte sich noch einen langen Schal um, bis über den Mund, "Los, gehen wir"; dann gingen sie.

So vermummt zu sein, mit zwei Kapuzen und Mütze darunter, fühlte sich unglaublich gut an; dann noch mit Max neben ihm, diesem wirklich hübschen Jungen, der mit ihm seinen Kapuzenfetisch teilte - es wirkte sehr unwirklich. Max war eindeutig etwas, was sich in Jans Traumwelt abspielte und Jan spürte deutlich den Wunsch, dass dieser Traum nie aufhören sollte.

Es war wirklich sehr kalt; sie liefen eine Weile wortlos nebeneinander her, während um sie herum Silvester unüberhörbar auf seinen Höhepunkt zuging. Nach einiger Zeit erreichten sie die zugefrorene Spree; sie hatten bis dahin kein einziges Wort miteinander geredet.

Max durchbrach das Schweigen, sagte, "Schau mal, das Eis, wie es im Mondlicht glänzt", und blieb stehen.

Jan ging zum Ufer und schaute gebannt auf das Eis, übertönt von dem Silvesterböllern - das kam ihm richtig unwirklich vor, wie in einem Traum. Er bemerkte dann wie Max ganz dicht hinter ihm stand und seine Arme um ihn legte, um seine Hände zu seinen in die Tasche des Kapuzensweaters zu stecken.

"Ich glaube, ich habe mich noch nie so gut und so frei gefühlt wie jetzt, mit dir", sagte er.

Jan antwortete ohne nachzudenken, "Genau das gleiche wollte ich gerade sagen. Es ist wie ein Traum für mich".

"Ja", sagte Max, "du hast Recht, es ist wirklich wie ein Traum. Vielleicht träumen wir beide aus irgendwelchen Gründen den gleichen Traum, aber in Wirklichkeit ist alles ganz anders. Nur weil wir beide das Gleiche träumen, kommt es uns so real vor. Aber irgendwann wacht einer von uns auf, und dann..."

Jan fand diese Vorstellung sehr beunruhigend. Er drehte mich um und musterte Max' Gesicht; er spürte wie seine Blicke magisch angezogen wurden von Max' Kapuze und der Mütze, die er darunter trug, unter der Kapuze des Parkas, den Jan vor zehn Jahren bekommen hatte, wegen seiner Ohrenentzündung.

Er berührte sein Gesicht und sagte, "Ich glaube aber nicht, dass du nur ein Traum bist."

Dabei kam er ihm gerade in diesem Moment ganz und gar so vor, als wäre er ein Traum. Es kam ihm vor, als wäre er Len, der wie aus dem Nichts in seinen Gedanken erschienen war. Len war für Jan weit entfernt, auch der Klang dieses Namens, "Lennart Adrian"; das war alles tief in seinen Erinnerungen vergraben.

An diesem Abend tauchte er wieder aus den Tiefen seiner Erinnerungen auf mit einer Klarheit, die ihn erschreckte. Zu erkennen, wie sich bestimmte Momente, bestimmte Verdichtungen im Leben wiederholten, wie sich Träume und das sogenannte Reale ineinander verschränkten und auf strategische Weise ineinander wirkten. Das erschreckte Jan und ließ in ihm ein starkes Gefühl der Unentrinnbarkeit aufkommen.

Unentrinnbar gefangen in der eigenen Welt, den eigenen Phantasien, der eigenen Isolation.

Seine Begegnungen mit Len waren immer einsame Begegnungen gewesen, es waren alleine seine Begegnungen, seine Träume. Dass ihn dabei jetzt jemand begleitete und dass Max sich obendrein als sehr umsichtiger und sensibler Begleiter erwies, irritierte Jan ziemlich.

Sie gingen schließlich weiter und liefen noch einige Zeit durch die Nacht, durch ihren gemeinsamen Traum, bis sie wieder auf dem Bauwagenplatz ankamen.

"Jetzt bin ich hundemüde", sagte Max, als Jan die Bauwagentür öffnete. Sie waren auch einige Zeit durch die Nacht gelaufen. Jan legte noch ein paar Stücke Holz in den Ofen, sodass es schnell warm wurde, und setzte sich danach auf das Bett, um die Kapuzen- und Wollpullover auszuziehen.

Max zog den Parka aus, dann auch gleich die Hose und den Kapuzensweater und legte sich in langer Unterhose und T-Shirt unter die Bettdecke. Jan zog sich ganz aus, schlüpfte auch unter die Decke und kuschelte sich an Max.

"Willst du dich nicht auch ausziehen?", fragte er, und Max fing sofort an, sich auszuziehen. Er drehte sich dann zur Seite, mit dem Rücken zu Jan, der sich an ihn heran kuschelte.

"Hast du schon viele Erfahrungen mit Sex?", fragte Max und Jan fragte zurück,

"Wie meinst du das?"

"Na, mit Jungs eben."

Das war ein schwieriges Thema. Jan hatte noch keine wirklich befriedigenden sexuellen Erfahrungen mit einem anderen Jungen gemacht; vielleicht mit Niklas, aber auch das war sicher nicht das, was sich Max unter "Sex" vorstellte.

"Wenn du mit Sex das meinst, was die meisten denken, wenn sie an schwulen Sex denken, dann muss ich sagen: nein!"

"Was meinst du denn, wenn du an schwulen Sex denkst?"

"Du meinst meine Vorlieben?"

"Ja."

"Naja."

Jan war ein wenig zögerlich, was er ihm jetzt erklären sollte. Er entschied sich zu erklären, wie es eben war, wie seine Sexualität halt funktionierte.

"Das, was man landläufig unter Sex versteht, Analverkehr, Blasen und so weiter - das wirst du ja auch kennen - das interessiert mich alles nicht. Was ich mag ist, so wie jetzt zu kuscheln oder zum Beispiel miteinander zu ringen, sich zu berühren und so."

Das mit den Fesselungen wollte er allerdings lieber verschweigen.

"Und Kapuzen", ergänzte Max und setzte sich plötzlich auf und fragte, "Das ist für dich Sex?"

Jan war ein wenig erschrocken über diese Reaktion; es kam ihm vor, als hätte er etwas Falsches gesagt.

"Ich dachte, das ist bei Schwulen anders. Bei meinem Bruder ist es ganz bestimmt anders", ergänzte Max.

"Bestimmt", antwortete Jan, "Ich habe ja gesagt, dass es bei mir anders funktioniert."

"Bei dir funktioniert wohl alles anders", antwortete Max und lachte dabei. Jan fragte sich, ob das als Vorwurf gemeint war.

"Ja; das habe ich mir aber nicht ausgesucht. Du hast wahrscheinlich keine Vorstellung davon, was das heißt, in fast jeder Beziehung anders zu sein. Ich habe mir schon oft gewünscht, einfach 'normal' zu sein, aber es klappt noch nicht einmal, ganz normal schwul zu sein, oder ganz normal Punk, oder was auch immer."

Max strich ihm über die Haare und grinste, "Jetzt übertreibst du aber."

Er schob die Bettdecke zurück und begann Jan zu streicheln. Der schloss die Augen und genoss es, Max' Hand zu spüren. Nach einer Weile hörte er damit auf und legte sich unter die Decke.

"Ich bin müde", sagte er dabei und Jan sagte, "Ich auch" Er kuschelte sich wieder eng an Max heran.

Jan war schon im Halbschlaf, als er Max' Stimme hörte, "Jan".

Er sagte leise "Max", um zu zeigen, dass er noch zuhörte.

"Ist ja schon irgendwie blöd, das mit deiner Sexualität."

"Wie meinst du das?", fragte Jan.

"Naja, ich weiß nicht", sagte Max und nach kurzem Zögern, "Ich glaube, ich bin jetzt einfach nur müde,"

Er war auch gleich danach eingeschlafen. Jan war zu sehr aufgewühlt, um schlafen zu können, und dachte über "das mit deiner Sexualität" nach; wie Max es ausgedrückt hatte.

Er stand schließlich auf, drehte sich einen extrastarken Joint und sank wieder neben Max ins Bett, nachdem er den Joint geraucht hatte.

"Jan, Jan", Jan hörte diese Stimme immer näher kommen und sah nach einer Weile ein verschwommenes Gesicht vor seinen Augen, "Jan, wach auf,"

Das war Max' Stimme und Max' Gesicht; Jan realisierte, dass er halb aufrecht im Bett saß und Max ihn an den Schultern stützte.

"Was ist?", fragte er.

"Du hast wohl schlecht geträumt. Du hast am ganzen Körper gezittert und geschwitzt und gewimmert hast du auch"

"Gewimmert?"

"Ja,"

Max hatte recht, Jan war völlig nassgeschwitzt und das Bett auch. Er wusste, dass er manchmal Angstträume hatte, an die er sich hinterher meistens nicht mehr erinnern konnte. Manchmal war er auch im Schlaf aktiv geworden, was an den Spuren zu erkennen war, die seine Aktivitäten dann hinterlassen hatten. Erinnern konnte er sich hinterher nie an etwas. Er dachte eigentlich, es wäre jetzt besser geworden; dass Max so etwas mitbekam, war ihm ziemlich unangenehm.

"Was hast du geträumt?", fragte Max, "Ist alles ok bei dir?"

"Ja, ist ok; das kommt ab und zu mal vor", sagte Jan und, "Ich weiß nicht, was ich geträumt habe,"

In seinen Gedanken herrschte ein wildes Durcheinander, und immer wieder tauchte dieser Satz auf, "Bei dir funktioniert wohl alles anders"; er fühlte sich, als müsste er gleich losheulen, und versuchte, mit aller Kraft dieses Gefühl zu unterdrücken.

Max legte ihn vorsichtig wieder hin und deckte ihn zu. Er legte sich unter die Decke und kuschelte sich an Jan.

"Hey, bist du wirklich ok?", fragte er noch einmal, und für Jans Tränen gab es kein Halten mehr.

Max drückte ihn an sich und flüsterte, "Hey, wein doch nicht. Du bist doch so stark."

Er hielt Jan sehr fest, was ihn so sehr entspannte, dass er gleich danach wieder eingeschlafen war.

Als er aufwachte, hatte er rasende Kopfschmerzen und fühlte sich ziemlich verspannt; er machte die Augen gar nicht erst auf, spürte aber, dass Max wohl nicht mehr im Bett lag. Es war kalt geworden im Bauwagen; er zog sich die Bettdecke über den Kopf.

"Bist du wach?", hörte er Max' Stimme und antwortete, dass er sich schrecklich fühlte.

"Das kommt von dem Haschisch", hörte er und spürte, wie Max sich auf die Bettkante setzte; er spürte seine Nähe.

"Was kommt von dem Haschisch?"

"Na, dass du dich so fühlst und deine Albträume; du hast geschwitzt und am ganzen Körper gezittert. Woher soll das sonst kommen?"

Jan nahm sich wieder die Decke vom Gesicht und versuchte, vorsichtig die Augen zu öffnen; sein Kopf dröhnte und anfangs sah er alles völlig verschwommen.

Dann sah er Max dicht neben ihm sitzen. Er hatte den schwarzen Kapuzensweater an, den er ihm gestern gegeben hatte, die Kapuze auf und seine blaue Mütze darunter.

"Ich habe Kopfschmerzen", sagte Jan und Max strich ihm sanft über den Kopf und fing an, seine Stirn zu massieren.

Jan schaute ihm dabei ins Gesicht, betrachtete die Kapuze, die er übergezogen hatte und die Mütze, die er darunter trug.

"Das mit diesen Albträumen ist seit meiner Kindheit so, seit ich denken kann", fing er dann an zu erklären. "Es ist auch schon immer so gewesen, dass ich mich danach am nächsten Morgen so mies fühle wie jetzt. Das kommt nicht vom Haschisch."

Max hörte sich das kommentarlos an.

"Geht's dir jetzt besser?"

"Wenn du in meiner Nähe bist und mich obendrein so liebevoll streichelst und massierst, dann kann es mir nur besser gehen"; Jan lachte und fühlte sich wirklich besser.

"Ich glaube, ich gehe gleich", sagte Max dann, während er Jan noch weiter massierte.

"Du kannst gerne noch bleiben", erwiderte Jan.

"Das war jetzt ganz schön viel gestern", sagte Max, "und ich glaube, ich muss das erst mal richtig verarbeiten."

Er hatte recht; es war ganz schön viel - auch für Jan. Max hatte seine blaue Jeanshose an, Jans schwarzen Kapuzensweater und die blaue Mütze, mit Kapuze darüber; was für ein toller Junge, dachte Jan.

"Darf ich mir den ausleihen? Bis zum nächsten Mal?"

"Den Kapuzenpullover? Ja, klar, wenn du mir versprichst, dass du den beim nächsten Mal auch trägst"

"Versprochen", Max grinste, nahm seine Jacke und zog sie sich über. Jetzt war er wieder ganz in blau; bis auf die schwarze Kapuze.

"Ich gehe jetzt", sagte er, nachdem er den Reisverschluss bis oben zugezogen hatte.

Die Situation wirkte auf Jan ziemlich merkwürdig, wie wenn ein Traum vor dem Aufwachen sagen würde, "Ich bin jetzt zu Ende."

Bevor er ging, sagte Max, "Hey, was ich noch sagen wollte: Pass' auf dich auf; ich mag dich wirklich gerne."

Er schaute Jan mit einem ernsten Gesicht an und wartete wohl auf eine Antwort.

"Ich mag dich auch gerne"; etwas anderes fiel Jan nicht ein; nach kurzem Zögern sagte er noch "Max" hinterher.

Der Name hatte wirklich Klang bekommen, "Max", "Maximilian". Max grinste und sagte "Hannes".

Nachdem Max gegangen war, stand Jan auf, um den Ofen anzuheizen. Im Nu war der Bauwagen warm, aber auch vollgequalmt. Jan legte sich wieder ins Bett und träumte im Halbschlaf von diesem Jungen, der seine Kapuzenklamotten trug, ganz in blau.

Einzelgänger

Inzwischen war über ein Monat vergangen, ohne dass sich Max wieder gemeldet hatte. Jan lag schon eine Weile wach im Bett und dachte darüber nach, dass Max seit Silvester nicht wieder aufgetaucht war. Er hatte keine Möglichkeit, ihn zu kontaktieren; er hatte nicht daran gedacht, Max nach einer Adresse oder wenigstens nach einer Telefonnummer zu fragen.

Im Bauwagen war es kalt und Jan hatte obendrein schlecht geschlafen, so schlecht, dass er sich krank fühlte. Es kostete ihn einige Überwindung, um aufzustehen und den Ofen anzufeuern.

Der Bauwagen sah richtig schlimm aus, alles lag auf verschiedenen Haufen verteilt auf dem Boden. Jan entschied sich, den Wagen aufzuräumen. Gleich nachdem er sich einen Kaffee gekocht hatte, begann er, die Haufen auf dem Boden zu sortieren.

Das meiste war seine Kleidung, die üblicher Weise in verschiedenen Kisten unter seinem Bett verstaut war. Einiges davon musste gewaschen werden; um Wäsche zu waschen, suchte er in der Regel ein besetztes Haus auf, aber das würde er an diesem Tag nicht tun.

Der Parka lag auch auf dem Boden, immer noch, seit Silvester. Dass er da lag und nicht in der Sporttasche, war für Jan ein Beweis dafür, dass jener Abend mit Max auch wirklich stattgefunden hatte und nicht nur ein Traum war.

Jan war erstaunt darüber, welche Sehnsucht dieser Junge in ihm geweckt hatte, wie schwer es ihm inzwischen fiel, an etwas anderes zu denken als an Max. Er überlegte sich, was er davon halten sollte, dass immer wieder Jungs, die in irgendeiner Weise besonders waren, in seinem Leben auftauchten - und wieder verschwanden. Max, Jan, Len und auch Kay.

Ein Leben ohne solche Begegnungen konnte er sich nicht vorstellen, aber sie hatten auch den Effekt, dass sie Jan seine Isolation überdeutlich vor Augen führten. "Liebe heißt Isolation", ging ihm durch den Kopf, so ließen sich seine Erfahrungen treffend zusammenfassen.

Er nahm den Parka in die Hand und setzte sich auf das Bett. Vielleicht, dachte er, war es mal wieder Zeit für ein Len-Ritual, ein richtiges diesmal, mit Parka. Sein Geburtstag war zwar schon vor einigen Tagen, aber das war nun nicht entscheidend.

Jan brauchte nicht lange, um zu entscheiden, dass er dafür die Sachen anziehen würde, die Max am Silvesterabend getragen hatte: Die Hose mit dem Tarnfarbenmuster, den Parka und die gestreifte Wollmütze, die er ihm gegeben hatte.

Als er sich die Hose überzog und zuknöpfte, kamen ihm die Bilder in den Kopf, wie sich Max an Silvester diese Hose angezogen hatte und in dieser Hose mit freiem Oberkörper vor ihm stand. Den Parka schließlich anzuziehen, versetzte Jan genau wie an dem Silvesterabend in eine starke innere Aufruhr. Jan dachte, dass er diese mysteriöse Verbindung, die dieses Kleidungsstück zu Max, oder früher zu Jan oder zu Len herstellte, ziemlich merkwürdig fand.

Aber es war so und es war auch lange nicht das einzige, was er an seinem Leben merkwürdig fand.

Er riss sich aus seinen Träumen, setzte sich die Mütze auf den Kopf, die Kapuze darüber und ging aus dem Bauwagen. Unterwegs konnte er an nichts anderes mehr denken, als an die Fellkapuze, die er auf seinem Kopf spürte, und daran, dass er die gleichen Sachen trug wie vor einiger Zeit Max.

Obendrein fühlte sich die Mütze unter der Kapuze ziemlich unangenehm an. Sie war aus Wolle und Wolle konnte er auf der Haut nicht vertragen. Das irritierte ihn nach einer Weile so sehr, dass er entschied, auf den Rest des Rituals zu verzichten und wieder zurück zu gehen, ohne eine Schokolade gekauft und gegessen zu haben.

Nachdem er wieder zurück war, räumte Jan seinen Wagen gründlich auf und war am Ende sehr zufrieden darüber. Der Parka kam endgültig wieder zu den anderen Sachen, genauso wie die beiden Mützen, die zusammen mit ihm Winterschlaf gehalten hatten.

Wenige Tage später klopfte es an der Bauwagentür und Jan war sprachlos vor Erstaunen, als er die Tür öffnete: Es war Max, ganz in weiß, in weißer Jeans, weißen Turnschuhen und weißem Anorak mit Kapuze. Fast ganz; der Anorak hatte ein paar dünne, hellgraue Streifen vorne und auf den Ärmeln. Die Kapuze, die er aufhatte, war so groß, dass Jan nicht erkennen konnte, ob er eine Mütze darunter trug.

"Ich hätte dich ja fast nicht wiedererkannt", begrüßte er Max.

"Der ist klasse nicht? Schau mal", sagte Max und nahm die Kapuze ab, unter der keine Mütze zum Vorschein kam, "Mit Fell innen"; der Anorak hatte innen tatsächlich ein hellgraues Kunstfell.

Max ging in den Bauwagen und zog sich den Anorak aus, bevor er sich auf das Bett setzte. Unter dem Anorak kam Jans schwarzer Kapuzenpullover zum Vorschein.

"Deinen Kapuzensweater habe ich nicht vergessen. Bekomm' ich den grauen wieder, wenn ich dir den gebe?"

"Den hellgrauen?", fragte Jan, "Den habe ich nicht mehr. Hatte ja nicht mehr damit gerechnet, dass du noch mal kommst"

"Im Ernst?"

Max schien durch diese Antwort verunsichert zu sein. Jan zog eine Kiste unter dem Bett hervor und gab Max den hellgrauen Kapuzenpullover; er hatte ihn natürlich noch.

Während er die Pullover tauschte, fragte Max, "Du bist doch nicht sauer, weil ich erst jetzt wieder gekommen bin, oder?"

"Sauer bin ich nicht, nein. Aber gewundert habe ich mich schon. Ich fand's wirklich extrem schön an Silvester und dachte, dir hätte es auch mit mir gefallen. Aber scheinbar war es wohl nicht so"

Jan fühlte sich tatsächlich verletzt, auch wenn er sehr froh darüber war, Max wieder zu sehen.

"Überhaupt nicht. Ich fand das unglaublich toll, wirklich. Ich war auch schon mal hier, vor zwei Wochen, aber da warst du nicht zu Hause"

"Ist ja auch ok", sagte Jan.

Er kam sich dann doch ein bisschen blöde vor, dass er Max nötigte, sich zu rechtfertigen. Er setzte sich neben ihn auf das Bett.

"Ich hatte halt keine einfache Zeit", fing Max an zu erzählen.

"Es gab Schwierigkeiten mit meinem Vermieter und nächsten Monat ziehe ich in eine andere Wohnung; die ist gar nicht weit weg von hier. Und dann meine Eltern, die haben sich noch ganz schön angestellt. Aber jetzt ist es für sie endgültig ok, dass ich nach Berlin gegangen bin."

"Und sie bezahlen?", fragte Jan.

"Ja."

"Hast du ihnen erzählt, dass du schwul bist?"

"Natürlich nicht. Wenn ich das täte, dann wäre alles vorbei, nach dem, was mit meinem Bruder passiert ist. Außerdem bin ich mir da auch selbst noch nicht richtig sicher"

"Das klang an Silvester aber noch anders"

"Naja, das war für mich auch ziemlich aufregend: Einen echten Punk auf einem Bauwagenplatz zu besuchen, der obendrein noch schwul ist und auf Kapuzen steht."

Max lachte, "Wenn ich daran denke, wie ich wohl ausgesehen habe, mit deiner Armeehose und dem Parka, bekomme ich immer noch eine Gänsehaut."

"Mir hat es gefallen", erwiderte Jan.

"Ja, mir auch; es ist aber nicht meine Welt. Ich bin halt kein Punk; das passt irgendwie nicht zu mir."

"Ist auch egal", sagte Jan, "Ich find's jedenfalls schön, dass du dich wieder hast blicken lassen."

Egal war es Jan allerdings nicht. Max hatte durchaus Recht, sie lebten wirklich in verschiedenen Welten, und es gab keinen Anlass für die Erwartung, er würde in seine Welt kommen und auch schwuler Punk werden. Warum auch? So toll war es schließlich auch wieder nicht, schwuler Punk zu sein, zumal, wenn man sich weder der Schwulen- noch der Punkszene wirklich zugehörig fühlte.

So betrachtet schien die gemeinsame Vorliebe für Kapuzenpullover reichlich unbedeutend zu sein, angesichts der Unterschiede, die es zwischen ihnen beiden gab.

Jan überlegte, ob die Gefühle, die er Max gegenüber empfand nicht vielleicht auf der unter Umständen falschen Vorstellung beruhten, dass die Vorliebe für Kapuzen eine alles entscheidende Gemeinsamkeit darstellte, ähnlich wie es auch mit dem Fesseln war.

"Ich mache mir nicht so viele Gedanken über unterschiedliche Welten. Wahrscheinlich leben alle Menschen in Welten, die voneinander viel verschiedener sind, als sie es sich vorstellen können", sagte er schließlich.

"Das hast du schön gesagt. Ich glaube, du hast Recht", antwortete Max. Dabei legte er seine Hand um Jans Hüfte.

Max stand nach kurzer Zeit auf und zog sich die Hose und den Kapuzenpullover zurecht.

"Ich kann auch nicht lange bleiben. Ich fahre nachher noch zu meinen Eltern, mein Vater hat morgen Geburtstag"

Jan saß noch auf dem Bett und betrachtete diesen Jungen in weißer Hose und hellgrauem Kapuzenpullover, der ihm immer besser gefiel, je länger er ihn kannte. Max nahm seine Jacke in die Hand.

"Du hast noch gar nichts zu meinem neuen Anorak gesagt."

Er zog ihn sich über, "Ich finde ihn klasse, in weiß, mit weißer Hose, das gefällt mir gut."

"Ja, schick. Weiß ist zwar nicht meine Farbe", antwortete Jan und überlegte erst einen Moment, bevor er fortfuhr, "Aber zu dir passt es, finde ich, du siehst wirklich gut aus damit."

"Vielleicht hast du Lust, mich zu begleiten? Dann kann ich dir zeigen, wo ich bald hinziehen werde. Das ist gar nicht so weit weg von hier."

Jan war einverstanden, "Ich muss mich aber erst mal für draußen anziehen."

Er zog sich dann eine lange Unterhose unter die Hose und zwei Wollpullover unter seinen braunen Kapuzenpullover.

"Den trägst du immer", bemerkte Max, "den braunen Kapuzensweater. Sieht auch wirklich cool aus mit dem T-Shirt darüber und der Armeehose"

"Ja, ich mag ihn auch gerne. Manchmal ziehe ich aber auch einen anderen an."

Jan setzte sich seine Mütze auf und schob die Kapuze darüber, "Ich bin soweit."

Er beobachtete, wie Max sich die weiße Kapuze mit dem Fell über den Kopf zog.

"Gehen wir", sagte Max und öffnete die Bauwagentür.

Als sie schon eine Weile unterwegs waren, fragte Max, "Sag mal, bist du eigentlich wirklich in mich verliebt?"

Jan fühlte sich von dieser Frage ein wenig überrumpelt; er hatte das Gefühl, nur etwas Falsches sagen zu können.

"Warum fragst du das?"

"Es wirkt halt schon so und ich weiß nicht, was ich davon halten soll."

"Und du, bist du in mich verliebt? An Silvester hast du das jedenfalls gesagt"

"Naja, das sagt mal halt so, wenn man jemand mag. Und mögen tue ich dich, wirklich."

"Ok, ich mag dich auch", versuchte Jan das Thema abzuschließen.

"Das glaube ich dir nicht. Das ist mehr als nur mögen."

Jan konnte tatsächlich nicht sagen, was es war; mögen, verliebt sein, lieben, war das nicht alles das Gleiche, zumindest annähernd?

"Ich weiß es nicht", sagte er schließlich, "Aber es stimmt schon: Ich habe oft an dich gedacht und ich hatte auch Sehnsucht, dich wieder zu sehen. Zufrieden?"

"Ich hab' ja nur nachgefragt", erwiderte Max, "Es macht mich ja auch an, bei dir zu sein, und es sind nicht nur deine Klamotten. Ich weiß auch nicht genau."

Jan kam plötzlich der Gedanke, mit ihm aufs Land zu fahren; vielleicht zu der Landkommune, die er an Weihnachten besucht hatte. Die Vorstellung, wieder mit Max in einem Zug zu sitzen, so wie er ihn kennen gelernt hatte, war überaus reizvoll.

"Vielleicht hast du Lust mit mir mal aufs Land zu fahren. Ich kenne da ein paar Leute, da kann man immer hingehen. Die sind völlig unkompliziert."

Max zögerte eine Weile, bis er sagte, "Warum nicht? Das ist eigentlich keine schlechte Idee. Meinst du wirklich, das geht bei deinen Bekannten?"

Das war wirklich nicht das Problem. Sie entschieden sich, gleich am folgenden Sonntag zu fahren.

"Hier ist es", sagte Max kurze Zeit später und blieb stehen, "Hier werde ich ab März wohnen."

Zu Fuß war es vielleicht zwanzig Minuten von Jans Bauwagenplatz entfernt, das war wirklich nicht weit. Jan gab ihm zum Abschied einen Kuss und lief beschwingt wieder zurück zu seinem Bauwagen. Auf dem Platz wurde er von einem der Platzbewohner gefragt, "Was hast du denn da für einen aufgegabelt?" Er gab keine Antwort.

Sie hatten sich am Sonntag sehr früh verabredet, bei Max. Max hatte eine Zugverbindung herausgesucht, mit der sie nicht ganz zweieinhalb Stunden unterwegs waren. Der Zug ging um halb neun los, sodass ihn Jan um halb acht abholen sollte.

Das Schwierigste war an diesem Morgen die Entscheidung, was Jan für diesen Ausflug anziehen würde. Zuerst hatte er, wie in letzter Zeit üblich, seine Hose mit Tarnfarbenmuster und den braunen Kapuzenpullover angezogen.

Dann fiel ihm ein, wie Max bemerkte, dass er immer den gleichen Pullover anhatte, und er entschied sich für den schwarzen Kapuzenpullover und eine schwarze Hose.

Schließlich kam ihm die Idee, Jans Hose zu tragen, die Hose, die ihm damals Jan geschenkt hatte, kurz nachdem er nach Berlin kam. Das war auch eine Armeehose, was Max sicherlich gefiel, wenn auch nur einfarbig, grün. Passend dazu hatte er noch einen grünen Kapuzenpullover und mit dem schwarzen T-Shirt, das einen roten Stern aufgedruckt hatte, war es perfekt.

Jan stellte den Spiegel auf, der sonst hinter dem Bett verstaut war, um zu sehen, wie er aussah. Er beobachtete sich im Spiegel, wie er seine schwarze Mütze aufsetzte und die Kapuze darüber zog, und ging dann los.

Max stand schon auf der Straße, als er bei ihm ankam, mit einer leuchtend blauen Kapuze auf dem Kopf. Ansonsten war er wie beim letzten Mal ganz in weiß gekleidet.

"Als ich den gesehen hatte, konnte ich nicht widerstehen; ist das nicht eine geile Farbe?", sagte er, als ihn Jan auf den neuen Kapuzenpullover ansprach.

Blau war immer noch nicht Jans Farbe, genauso wenig wie weiß; er konnte sich überhaupt nicht vorstellen, selbst blaue oder weiße Sachen zu tragen, aber er musste zugeben, dass Max damit wirklich gut aussah. Es passte zu ihm.

Max zeigte ihm auch die Mütze mit schwarz weißem Norwegermuster, die unter der blauen Kapuze zu sehen war und die ebenfalls neu war.

"Die hat keinen Bommel, der drückt, wenn ich die Kapuze darüber trage", erklärte er.

"Bommel?"

"Ja, so heißt das doch, oder?"

Max zog die Kapuze herunter, um zu zeigen, dass an der Norweger-Mütze nichts dranhing, und warf sie gleich wieder mit einem Schwung darüber.

Jan fand das Wort "Bommel" ungefähr genauso komisch wie "Trottel"; er dachte darüber nach, wieso es Dinge gibt, für die die deutsche Sprache scheinbar kein adäquates Wort kannte.

Als sie endlich im Zug saßen, packte Jan die Käsebrote aus, die er für die Fahrt mitgenommen hatte.

"Ich muss die ganze Zeit daran denken, wie ich dich auf diesem Bahnhof gesehen hatte, als wir uns kennen lernten", sagte Max, "Da hattest du den braunen Kapuzensweater an und die Kapuze ganz zugezogen. Als du mich dann noch so angestarrt hattest, war ich wirklich hin und weg und hatte schon befürchtet, du würdest gar nicht einsteigen."

"Du hattest mich angestarrt", sagte Jan und Max erwiderte, "Du mich aber auch."

Die Fahrt verging recht schnell und zur Landkommune war es dann nur noch ein kurzer Fußweg. Anders als in Berlin lag dort überall Schnee, nicht viel, aber genügend, um die Landschaft in ein winterliches Weiß zu kleiden. Jans Bekannte waren sehr nett und luden die beiden erst einmal zum Kaffee ein.

Max war begeistert; er war noch nie in einer Landkommune. Die hier bestand aus über zwanzig Leuten, Kinder inbegriffen. "So leben könnte ich ja nicht", sagte er, "Aber ich finde es toll, dass das auch wirklich funktioniert. Das hätte ich nicht gedacht."

Max und Jan gingen nach dem Kaffee spazieren. Als Ziel hatten sie sich einen See empfehlen lassen, der auch im Winter sehr malerisch sein sollte. Jan war trotz Kaffee ziemlich müde und genoss es, sich ganz seinen Gedanken hinzugeben während sie durch die Felder liefen. Auch Max war in Gedanken versunken und hatte offensichtlich nicht das Bedürfnis, viel zu reden.

Nach etwa zwei Stunden hatten sie endlich den See erreicht.

"Ich bin hundemüde", sagte Max, "Was meinst du, können wir nicht wieder zurückgehen und uns dort was hinlegen?"

"Das geht bestimmt. Die haben auch ein Gästezimmer, in dem ich immer übernachte, wenn ich hier bin. Aber lass' uns wenigstens einen Moment lang den See anschauen, bevor wir wieder gehen."

Der See war mit einer dünnen Eisschicht überzogen, auf dem eine dünne Schicht Schnee lag, eine weiße Fläche, die riesig wirkte. Jan spürte eine Sehnsucht nach der Ruhe und Unaufgeregtheit, die solche Landschaften auf ihn ausstrahlten. Das war etwas ganz anderes als die Stadt. Auf der anderen Seite sah er auf dem Land gar keine Chance, den Lens, Jans und Max' zu begegnen, die Ausdruck einer sehr viel stärkeren und tiefer liegenden Sehnsucht waren, oder gar einem Niklas.

Er legte seinen Arm um Max' Hüfte und spürte zufrieden, wie Max seinen Arm auch um seine Hüfte legte. Nach kurzer Zeit gingen sie wieder zurück.

"Wie viele Kapuzensweater hast du eigentlich?", fragte Max, als sie den Hof fast wieder erreicht hatten.

"Vier", antwortete Jan, "Einen braunen, den grünen, den ich jetzt anhabe und zwei schwarze."

"Mir gefällt der braune am Besten. An den olivgrünen, den du jetzt trägst, habe ich mich erst gewöhnen müssen, aber jetzt finde ich ihn auch ok."

Als sie endlich im Gästezimmer waren, zog Max seinen Anorak aus und legte sich auf die Matratze, die dort auf dem Boden lag.

"Ist ja ganz schön siffig hier", sagte er und Jan antwortete, "Ich find's ok; mich stört das nicht."

"Mich stört es gerade auch nicht."

Max sah Jan zu, wie er sich die Pullover auszog und sagte dann, "Zieh' den Kapuzenpulli aber wieder an."

Das hätte Jan ohnehin getan, nachdem er die Wollpullover herausgezogen hatte. Als er sich neben Max legte, zog dieser ihm die Kapuze über dem Kopf, "Das sieht echt gut aus so."

Es fühlte sich auch gut an, sehr gut sogar.

"Weißt du, was ich komisch finde?", fragte Max, "Dass du schwul bist und keinen schwulen Sex magst."

"Ich steh' halt auf Jungs, deswegen bin ich schwul. Das hat mit meinen sexuellen Vorlieben erst mal nicht viel zu tun, oder?"

"Ich dachte immer für Schwule ist das mit dem Sex besonders wichtig; bei meinem Bruder ist es, glaube ich, schon so."

"Bei mir ist es aber nicht so. Es müssen auch nicht alle Schwule gleich sein. Es sind ja nicht alle Schwule auch Punks oder stehen auf Kapuzenklamotten."

"Das stimmt allerdings."

Max wirkte ziemlich nachdenklich und fragte weiter, "Und was gefällt dir an mir? Ich meine, wenn es dir gar nicht um Sex geht?"

"Deine Klamotten", antwortete Jan und lachte.

"Ich weiß es ehrlich nicht. Das Gefühl, dass uns irgendwas verbindet vielleicht. Aber frag mich nicht, was es ist; das mit den Kapuzenpullovern wäre das einzige, was mir einfallen würde. Ich fühle mich einfach gut, wenn du in meiner Nähe bist, richtig gut, wie ich mich sonst nicht fühle. Warum, weiß ich nicht."

"Vielleicht weil wir beide eher Einzelgänger sind, vom Typ her."

Daran hatte Jan noch nicht gedacht, aber spontan kam ihm diese Erklärung plausibel vor.

"Bist du das?", fragte er, "Ein Einzelgänger?"

"Ja, schon. Mit Freunden und Cliquen und so, das war nie meine Welt. Mein Bruder war eigentlich der einzige Freund, den ich hatte, und der hat jetzt einen anderen."

Jan dachte über die Möglichkeit nach, dass sie sich vielleicht deswegen voneinander angezogen fühlten, weil sie beide Einzelgänger waren. Irgendwie klang es widersprüchlich, fand er, aber es war durchaus auch so, dass er sich vielleicht gerade als Einzelgänger umso mehr als einsam und isoliert empfand, was sich nicht gut anfühlte.

Einzelgänger zu sein, dachte er, war nicht etwas, was man sich aussuchte. Es war einfach so und man musste sich damit arrangieren, irgendwie. Zumindest bei ihm war es so.

Neben Max zu liegen war sehr entspannend, aber die Zeit war viel zu kurz, bis sie zum Abendessen gerufen wurden. Max war tatsächlich eingeschlafen, während Jan ihn ausgiebig erspürte und betrachtete, mit seinem leuchtend blauen Kapuzenpullover.

Nach dem Abendessen fuhren sie wieder zurück nach Berlin. Obwohl er geschlafen hatte, war Max auf der Rückfahrt nicht munterer und träumte die ganze Zeit vor sich hin.

Er behielt die ganze Fahrt über seine Mütze und die Kapuze auf, sodass Jan ausgiebig Gelegenheit hatte, ihn zu betrachten, den hübschen Jungen mit der leuchtend blauen Kapuze über der gemusterten Mütze.

Als sie in Berlin ankamen, fragte Jan, ob er noch mit zu ihm kommen durfte. Max zierte sich aber und bot an, mit zu Jan in den Bauwagen zu kommen. "Am Ende findest du meine Wohnung spießig oder so", sagte er.

Max schlief im Bauwagen schnell ein und Jan drehte sich von dem Haschisch, das noch von Silvester übrig war, einen Joint, bevor er sich neben ihn legte.

Niklas kommt zurück

Jan wachte mitten in der Nacht auf, Max lag neben ihm im Bauwagen. Ihm fiel ein, dass Niklas heute zurückkommen würde und er ja versprochen hatte, ihn vom Flughafen abzuholen, und zwar in zwei Stunden. Der Wecker zeigte fünf Uhr morgens an und um sieben Uhr sollte Jan spätestens in Schönefeld sein; das konnte er noch schaffen.

Er stand auf und zog sich an. Dabei wurde Max wach, "Was machst du?"

"Ich muss los. Ich habe einem Freund von mir versprochen, dass ich ihn vom Flughafen abholen werde. Das hatte ich völlig vergessen."

Max schaute auf den Wecker, "Es ist viertel nach fünf; du bist verrückt. Was für ein Freund?"

"Niklas. Der war jetzt ein ganzes Jahr weg, in Australien."

Max schlief wieder ein und Jan lief los zur nächsten U-Bahn Haltestelle. Die Fahrt nach Schönefeld zog sich endlos hin, aber am Ende war Jan noch gut in der Zeit, als er endlich am Flughafen ankam.

Allerdings bemerkte er, dass er keinerlei Anhaltspunkte hatte, wo genau in diesem Flughafen er Niklas treffen würde. Irgendwie schien er die Vorstellung gehabt zu haben, dass es eindeutig einen Ort gäbe, wo man eben die Leute traf, die man abholen wollte. So ein Ort war aber weit und breit nicht zu entdecken.

Jan war sich obendrein ziemlich unsicher, ob er Niklas überhaupt erkennen würde, wenn er ihm begegnete; es war immerhin ein ganzes Jahr her, als er ihn das letzte Mal gesehen hatte. Jan rannte verzweifelt durch die Gebäude und nach einiger Zeit wurde ihm klar, dass er kaum eine Chance hatte, Niklas zu treffen.

Nachdem er alle Hallen mehrmals durchlaufen hatte, gab er auf und kehrte zurück. Er war sich sehr unsicher, was er jetzt tun sollte und verzweifelt obendrein. Das hätte nicht passieren dürfen, dass er Niklas am Flughafen verpasste.

Erst vor ein paar Tagen hatte er noch einmal angerufen und Jan gemahnt, dass er es nicht vergessen sollte, ihn abzuholen. "Ich kenne dich doch", hatte er gesagt.

Er hatte so viel Gepäck, dass er es nicht alleine tragen konnte; alleine deswegen war es richtig blöde, dass es nicht geklappt hatte, Niklas am Flughafen zu treffen. Dass immer alles so kompliziert sein musste; es war definitiv nicht seine Welt, die, in der er lebte, in die er verbannt wurde - so fühlte es sich meistens an und ganz besonders auch an diesem Morgen.

Jan entschied sich, zunächst nach Hause zu fahren, um erst einmal Niklas anzurufen. Er hätte auch gleich zu ihm gehen können, aber nach diesem Missgeschick war es ihm zu riskant, sozusagen völlig ungepuffert auf Niklas zu treffen. Wenn er ihn vorher anrief, wusste er wenigstens, wie übel er es ihm nahm.

Als Jan in den Bauwagen kam, war Max schon wach, lag aber noch im Bett.

"Da war eben so ein Typ hier", sagte er, "Ich glaube es war der, den du vom Flughafen abholen solltest."

Das war wieder so ein Tag, an dem wohl alles schief ging. Jan hatte sich sehr auf Niklas' Rückkehr gefreut und jetzt war alles gründlich verpatzt; nicht genug, dass er ihn verpasste, Niklas traf auch noch auf Max - in seinem Bett.

Jan ging gleich in den Küchenwagen, um Niklas anzurufen. Es stellte sich heraus, dass er sich in der Zeit vertan hatte und Niklas bereits um sechs Uhr angekommen war.

"Das habe ich mir gleich gedacht", sagte Niklas, "Das ist typisch Du. Egal. Ich habe mir halt ein Taxi geleistet und das ging dann auch."

Jan war froh, dass sich Niklas am Ende doch versöhnlich zeigte und sagte, dass er ihn vermisst hätte, "trotzdem". Er ging zu seinem Wagen zurück, um sich von Max zu verabschieden. Der saß inzwischen auf dem Bett, mit Mütze und Kapuze. Es war auch recht kalt im Wagen.

"Ist es ok, wenn ich dich jetzt hier sitzen lasse? Du kannst ja auch noch einen Kaffee trinken oder frühstücken", sagte Jan, während er ein paar Sachen zusammenpackte.

"Ich wollte jetzt ohnehin gehen", antwortete Max, "Was war das für ein Typ vorhin, aus Australien?"

"Ein Freund. Erzähle ich dir ein andermal; ich muss jetzt wirklich los."

Jan legte seine Hand auf Max' Kapuze und gab ihm einen Kuss. Max kochte sich noch einen Kaffee mit dem Wasserkocher, den Jan in seinem Bauwagen hatte, und ging dann auch nach Hause.

Es war ziemlich genau ein Jahr her, dass Niklas nach Australien gegangen war. Jan und er telefonierten regelmäßig und schrieben sich oft Briefe. Niklas erzählte von seinen Erlebnissen auf der anderen Seite der Welt und Jan schrieb über seinen Alltag und über seine Gedanken.

Niklas schrieb auch fast in jedem Brief, dass er Jan vermissen würde und sich darauf freute, ihn wiederzusehen. Am meisten schienen Niklas die Briefe zu gefallen, in denen Jan von seinen Alltagserlebnissen schrieb. Auf die antwortete er immer ausführlich, schrieb, dass ihm das, was Jan geschrieben hatte, ziemlich "typisch" vorkommen würde. Dann schilderte er wieder seine Erlebnisse in Australien.

Am meisten irritierte Jan Niklas' Reaktion auf den Brief, in dem er von seinem Auszug aus dem besetzten Haus erzählte. Niklas konnte die Haltung seiner Mitbewohner durchaus nachvollziehen und schrieb, dass es typisch sein für Jan, solche Konflikte nicht zu führen, sondern einfach zu gehen. Niklas kannte den Bauwagenplatz, auf den er gezogen war, und hatte die Einschätzung, dass Jan dort bestimmt auch nicht besser zurecht kommen würde.

Auf die Briefe, in denen Jan versuchte, seine innere Welt, seine Einsamkeit und Isolation zu beschreiben, ging er dagegen nicht ein. Solche Probleme schien er nicht zu kennen; im Gegenteil: So wie es seinen Briefen zu entnehmen war, hatte er in Australien scheinbar keine Probleme, schnell viele Leute kennen zu lernen und auch Freundschaften zu finden.

Niklas engagierte sich auch dort politisch und fand scheinbar gleich entsprechende Gruppen, die ihm gefielen. Anders als Jan stand er dort, in Australien, wie auch hier in Berlin mit beiden Beinen auf dem Boden.

Am meisten beschäftigte Jan, dass es Dinge gab, über die er Niklas nichts mitteilen konnte, wie seinen braunen Kapuzenpullover, in den er regelrecht verliebt war, oder auch Max. Er war sich sicher, dass Niklas es nicht verstehen würde, dass es Dinge aus einer Welt waren, die er nicht mit ihm teilen konnte.

Aber es war auch in Ordnung so, denn dafür kam Niklas aus einer wirklichen Welt und war nicht wie ein Traum, der einfach so zu Ende sein konnte, so wie Jan früher oder wie Len.

Jan schöpfte sehr viel Kraft aus dem Verhältnis mit Niklas; auch als Brieffreundschaft war es für ihn fast wie eine wirkliche Beziehung und gab ihm vor allen Dingen das Gefühl, nicht alleine zu sein. Er fand Gefallen am Schreiben und fing an, auch Texte zu schreiben, die nur für ihn selbst gedacht waren und die niemand sonst lesen sollte.

Für ihn war klar, dass sich mit Niklas sein Leben genau so entwickelte, wie er es sich vorstellte. Immer wieder beunruhigte ihn die Frage, wie es wohl nach Niklas' Rückkehr sein sollte. Niklas schrieb zwar, dass er ihn mochte und vermisste, aber darauf, eine richtige Beziehung einzugehen, mochte er sich dennoch nicht festlegen.

Jan machte sich sehr viel Gedanken darüber, wie so eine Beziehung aussehen könnte; es sollte vor allen Dingen eine Beziehung sein, die ihre Verschiedenheit berücksichtigte und es ihnen ermöglichen sollte, jeweils ihr eigenes Leben zu führen.

Das war für Jan eine entscheidende Veränderung im Vergleich zu früher: Früher, mit Jan, da wollte er gar nicht sein eigenes Leben leben, er wusste noch nicht einmal, was es bedeuten sollte, "sein eigenes Leben" zu leben. Jetzt hatte er ein wesentlich deutlicheres Gespür für sein Leben, sein "eigenes" Leben, und ein klares Bedürfnis, es zu erhalten, auch in einer Partnerschaft.

Niklas ging es scheinbar nicht viel anders. Auch er wollte seine Eigenständigkeit nicht aufgeben. Daher waren seine Reaktionen auf Jans Beziehungswünsche eher verhalten. Seiner Meinung nach sollten sie erst einmal sehen, ob es überhaupt funktionieren könnte mit einer Beziehung und ob ihre Vorstellungen wirklich zusammenpassten.

Er befürchtete auch, dass Jan sich zu sehr von ihm abhängig machen könnte und am Ende zu viel Verantwortung auf ihm lastete. Doch davon ließ sich Jan nicht allzu sehr verunsichern. Sein Gefühl gegenüber Niklas und seinem neuen Leben war so stark und so deutlich, dass er eigentlich keinen Zweifel daran hegte; es musste einfach funktionieren.

Während er ein paar Sachen zusammenpackte, um sie zu Niklas mitzunehmen, war Jan noch im letzten Moment eingefallen, dass er ja ein Geschenk für Niklas hatte, nämlich Handschellen.

Jan musste immer wieder über den Abend nachdenken, an dem ihm Niklas die Hände neben seinem Kopf festgehalten hatte und dabei bemerkte, dass er es sichtlich erregend fand, so festgehalten zu werden. Er dachte gerne immer wieder daran, wie es sich anfühlte, als Niklas auf ihm saß und seine Hände so fest hielt, dass er keine Chance hatte sich aus seinem Griff zu befreien.

Er hätte viel deutlicher sagen sollen, wie sehr es ihm gefiel; nicht nur die Ringkämpfe, sondern vor allem auch, festgehalten zu werden. Er hätte auch sagen sollen, dass es ihm noch viel mehr gefallen würde, wenn ihm Niklas die Hände nicht nur festhalten, sondern festbinden würde.

Doch er war sich zu unsicher, wie Niklas wohl darauf reagieren würde. Insgeheim war Jan sogar davon überzeugt, dass er damit, mit Fesseln, nicht so viel anfangen konnte.

Aber Niklas war zumindest davon angetan, dass Jan so deutlich darauf reagierte, festgehalten zu werden, und auf diese Weise mit Sicherheit einen "steifen Schwanz" bekam.

"Jetzt weiß ich endlich, was ich tun muss, damit du auch auf deine Kosten kommst", hatte Niklas gesagt.

Im Nachhinein kam Jan zu dem Schluss, dass Niklas durchaus wissen sollte, wie er noch mehr "auf seine Kosten" kommen würde, nämlich gefesselt. Jan dachte über diese Begebenheit immer wieder nach, und je mehr er darüber nachdachte, desto häufiger kam er zu dem Schluss, dass er Niklas' Anmerkungen durchaus auch so verstehen konnte, dass er es vielleicht doch spannend finden konnte, ihn festzuhalten oder gar zu fesseln.

Irgendwann kam ihm schließlich die Idee, Niklas zu seiner Rückkehr Handschellen zu schenken. Solche, wie er bereits welche hatte, um sie sich selbst anzulegen. Diese Idee brauchte einige Zeit, um soweit zu reifen, dass daraus ein Entschluss wurde und Jan tatsächlich Handschellen für Niklas kaufte.

Er hatte sie gleich nach dem Kauf ausprobiert und für tauglich befunden. Es waren zwar recht einfache Handschellen, aber für ihren Zweck waren sie ausreichend. Jan zumindest konnte sich ohne Schlüssel nicht aus ihnen befreien; das hatte er ausprobiert.

Schließlich packte er sie in Geschenkpapier ein, und so eingepackt lagen sie fast ein dreiviertel Jahr in seinem Bauwagen und wurden im entscheidenden Moment auch noch fast vergessen.

Als er das Geschenk in die Tasche steckte, wurde Jan wieder sehr unsicher, wie dieses Geschenk bei Niklas wohl ankommen würde. Vielleicht fand er es sehr merkwürdig, dass Jan ihn auf diese Weise aufforderte, ihn zu fesseln. Würde er überhaupt sich überhaupt darauf einlassen, Jan die Handschellen anzulegen?

Andererseits, dachte Jan, machte Niklas auch keinen Hehl aus seinen Vorlieben; überhaupt schienen die Menschen in der Regel kein Problem zu haben, anderen ihre Vorlieben mitzuteilen, zumindest nicht Schwule. Jans Vorlieben waren vielleicht etwas ungewöhnlich, aber das war ja kein Grund, sie zu verschweigen. Es war auf jeden Fall einen Versuch wert; die Vorstellung, dass ihm Niklas Handschellen anlegen würde, war schließlich extrem spannend.

Jan war noch ganz in Gedanken versunken, als Niklas ihm die Tür öffnete. Es gab kein Kuss zur Begrüßung, keine Umarmung, noch nicht mal ein "Hallo", sondern ein barsches "Komm 'rein".

Jan fing sofort an zu erzählen, wie es ihm auf dem Flughafen ergangen war und wie er verzweifelt die Hallen nach Niklas abgesucht hatte. Niklas fragte daraufhin, "Warum hast du nicht nachgefragt?"

"Nachgefragt?" Jan wusste nicht genau, was Niklas damit meinte.

"Ja, nachgefragt, an einem Schalter zum Beispiel; so viele Flugzeuge kommen ja nicht gleichzeitig aus Sydney an"

Daran hatte Jan in der Tat nicht gedacht; jetzt wo es so im Raum stand, klang es durchaus plausibel: Er hätte einfach fragen können. Hatte er aber nicht getan.

"Ist ja auch egal", setzte Niklas fort, "Du warst ja ohnehin zu spät. Wer war denn eigentlich dieser Typ vorhin in deinem Bett?"

Jan fühlte sich ziemlich in die Ecke gedrängt; das mit Max jetzt plausibel zu erklären, würde bestimmt nicht gelingen.

"Welcher Typ?"

"Na der in deinem Bett lag. Oder war ich womöglich im falschen Bauwagen?"

"Das war Max, den habe ich letztes Jahr kennen gelernt, im Zug."

"Ich glaube, das interessiert mich jetzt nicht, wie du ihn kennen gelernt hast", sagte Niklas.

"Ich meine, wir haben ja keine feste Beziehung und ich habe auch wirklich nicht die Erwartung, dass du monogam lebst. Meinetwegen hättest du letztes Jahr jede Nacht mit jemand anderem in deinem Bett schlafen können; damit hätte ich wirklich kein Problem gehabt. Aber ausgerechnet in der Nacht, in der ich zurückkomme; dass ich auch noch zu dir gehe und dann dieses Jüngelchen in deinem Bett sehe, das mir erzählt, dass du 'irgend so einen Typen' vom Flughafen abholst, das gibt mir ja schon zu denken."

"Ich habe einfach nicht dran gedacht."

"Wie an so vieles nicht. Überhaupt scheinst du ja nie über nahe liegende Dinge nachzudenken, sondern immer nur an Sachen, an die sonst niemand denkt."

"Niklas, bitte", Jan war verzweifelt, "Wenn du mich so schlimm findest, dann sag mir, dass ich gleich wieder gehen soll, aber hör jetzt mit diesen Vorhaltungen auf."

"Ja ok, ich will mich auch nicht ärgern. Immerhin kann ich mich darauf verlassen, dass außer Kuscheln wohl nicht viel gelaufen ist."

Niklas ging dann in die Küche, um das Frühstück zu richten. Jan fühlte sich wie gelähmt und stand noch in Niklas' Zimmer, als Niklas aus der Küche rief, "Jetzt zieh' dich aus und komm. Du hast bestimmt auch noch nichts gegessen."

Es fiel ihm erst jetzt auf, dass er immer noch seine Pullover anhatte und sogar noch Mütze und Kapuze auf. Er zog sie aus und anschließend die Wollpullover aus dem Kapuzenpullover, den er dann wieder überzog.

Als er sich an den Tisch setzte, stellte sich Niklas hinter ihn und begann, seine Schultern zu massieren.

"Weißt du was", fing er an und machte eine Pause; Jan war sehr gespannt, was Niklas wohl sagen würde.

"Manchmal denke ich mir, dass du mir irgendwie autistisch vorkommst, ein bisschen so wie Rainman vielleicht."

Jan hatte solche Gedanken tatsächlich auch schon. Die Isolation, die er spürte, dieses Gefühl, wie unter einer Glasglocke zu leben, diese vertrackte und verwirrende Kommunikation mit anderen Menschen. Das hatte ihn in letzter Zeit schon mehrmals zu diesem Begriff, "Autismus", geführt.

Es war ungefähr ein halbes Jahr her, als dieses Wort das erste Mal auftauchte, Jan wusste es nicht mehr genau. Er fühlte sich fremd und unpassend in dieser Welt, als wenn er durch einen blöden Zufall, durch einen Unfall hierher gekommen wäre.

Es war natürlich möglich, dass mehr oder weniger alle Menschen ihr Verhältnis zu ihrer Welt so empfanden, aber Jan glaubte das nicht. Dafür hatten die Menschen, die er bislang kennen gelernt hatte, viel zu wenig mit der Art von Problemen zu kämpfen, die seinen Alltag bestimmten.

Jan hatte definitiv das Gefühl, dass in seinem Leben etwas Grundlegendes nicht stimmte, ganz besonders an einem Tag wie diesem. Aber was das sein konnte, darüber hatte er kaum eine Vorstellung. Das Wort "Autismus" hatte einen Klang; es klang besonders auch, wenn er über sich nachdachte, über dieses Fremdsein und diese Isolation, die ihn durch sein Leben begleiteten. Deswegen fühlte sich Jan von ihm irgendwie angezogen.

Aber er fand dennoch die Vorstellung, autistisch zu sein, irgendwie absurd. Das hätte doch irgendjemand bemerken müssen, seine Eltern, die Lehrer. Jan konnte sich nicht vorstellen, dass jemand autistisch sein konnte, ohne dass es auffallen würde.

Vielleicht war es auch so, dachte er sich, dass er Kind autistisch gewesen war, später aber wohl nicht mehr; das wäre auch eine Erklärung dafür, dass seine Eltern oft geheimnisvolle Andeutungen machten, wenn es in Gesprächen um seine Kindheit ging.

"Kaffee?", fragte Niklas; Jan nickte.

Es war für Jan ziemlich merkwürdig, nach einem Jahr Niklas wieder zu begegnen Es war sehr vertraut, so sehr, dass es sich anfühlte, als wären sie seit Jahren zusammen und Niklas nie weg gewesen, aber gleichzeitig war es auch, als wenn sie sich gerade erst kennen gelernt hätten.

Dieses Gefühl, richtig glücklich zu sein, wie er es nach der ersten Begegnung mit Niklas vor über einem Jahr empfand, war sehr präsent. Es war das erste Mal gewesen seit langer Zeit, dass Jan auch nur annähernd so etwas verspürt hatte, wie glücklich zu sein. Das Gefühl, verstanden und wahrgenommen zu werden, einfach so, ohne Erklärungen, das war mehr, weit mehr, als er sich zu erträumen wagte.

Es war ein Ausweg aus der Isolation, der sich im Grunde genommen völlig unerwartet zeigte. Jan beobachtete, wie diese Gefühle in ihm aufkamen und wie er sich dabei wie in einem Traum vorkam; aber es war kein Traum, diesmal ganz bestimmt nicht.

Jan dachte darüber nach, dass Niklas, obwohl sie sehr unterschiedlich waren, ihm gegenüber eine erstaunliche Sensibilität zeigte und wusste, wie er mit ihm umgehen konnte, wie er ihn anfassen konnte, ohne dass darüber geredet werden musste. Er fragte sich, wieso er das alles wusste, obwohl er so anders war, wieso sie trotz aller Unterschiedlichkeit scheinbar so gut zusammenpassten.

Gerade auch, dass Niklas ein so feines Gespür für seine Sensibilität hatte, die in fast allen Bereichen deutlich anders zu sein schien als die der anderen Menschen, fand er ziemlich erstaunlich. Niklas kannte das alles scheinbar, woher auch immer.

Obwohl er überhaupt nichts von Len hatte oder von Jan, Jans "Jugendliebe", weder Kapuzenpullover trug noch Jacken mit Kapuzen, kein Punk war und auch kein Einzelgänger, ganz im Gegenteil.

Niklas hatte viele Freunde, befand sich mitten in seinem Studium, hatte Perspektiven für seine Zukunft. All das, was bei Jan nicht oder nur sehr schwer funktionierte, bekam Niklas hin, und das mit einer faszinierenden Leichtigkeit. Das betraf auch seine Sexualität, und dennoch akzeptierte er Jans Empfindlichkeiten und Eigenheiten, auch die verengte Vorhaut einfach so, ohne dass sie darüber viel geredet hatten.

Jan fielen die Auseinandersetzungen ein, die er dennoch immer wieder mit Niklas hatte. Vor allem, dass Niklas der Meinung war, Jan würde sein Anderssein zu sehr in den Vordergrund stellen oder Jans Umgang mit alltäglichen Dingen wäre nicht nur unkonventionell sondern auch unpraktisch. In solchen Auseinandersetzungen nannte ihn Niklas meistens "Johannes", was ihn ziemlich ärgerte.

Jan sah aber auch ein, dass er oft zu sehr auf sich selbst konzentriert war und Niklas mit seinen Vorwürfen zumindest nicht ganz Unrecht hatte. Häufig endeten solche Auseinandersetzungen damit, dass Jan sagte, "Wahrscheinlich sind wir einfach zu unterschiedlich", und Niklas daraufhin erwiderte, dass er das nicht so sah.

"Ich mag dich so, wie du bist", sagte er dann meistens, was für Jan wie eine Zauberformel klang, die alles wieder in Ordnung brachte.

Er wollte von ihm lernen, lernen, mit beiden Beinen im Leben zu stehen und dabei die Leichtigkeit zu spüren, die Niklas nach Außen zeigte. Lernen, wie das mit dem schwulen Sex funktionierte und wie Jan seine Isolation durchbrechen konnte. Niklas war wirklich ein Geschenk, dachte Jan, eines, für das er nicht dankbar genug sein konnte.

"Träumst du?", fragte er.

"Was?"

"Träumst du?"

"Ich denke nur nach", antwortete Jan, "Ich freue mich, dass du wieder hier bist."

"Weißt du, was ich mir überlegt habe?", begann Jan nach einer kurzen Pause, "Wir sollten unsere Probezeit beenden und eine richtige Beziehung werden."

Das mit der "Probezeit" war Niklas' Idee. Auf mehr, als sich erst einmal nur auf eine Partnerschaft auf Probe einzulassen, ganz unverbindlich, konnte sich Niklas nicht durchringen. Dennoch wurde es gerade in der Zeit, als Niklas in Australien war, immer deutlicher, dass sie auf zumindest etwas Beziehungsähnliches zusteuerten. Nachdem Jan dieses Thema immer wieder in seinen Briefen ansprach, verständigten sie sich auf diesen Kompromiss der "Partnerschaft auf Probe".

"Das sagst du nach dem, was du dir heute schon geleistet hast?", fragte Niklas.

"Vielleicht gerade deswegen", antwortete Jan.

"In Ordnung", sagte Niklas, "Wenn ich ehrlich bin, habe ich eigentlich vorgehabt, dich dasselbe zu fragen. Dann beenden wir die Probezeit - allerdings unter einer Bedingung, dass wir gleich nach dem Frühstück zusammen kuscheln. Ich bin vollkommen ausgehungert, nachdem ich ein Jahr darauf warten musste."

Jan dachte über das nach, was er für Niklas empfand; er würde es ohne weiteres auch "Liebe" nennen, obwohl es etwas ganz anderes war, als er vor Jahren für Jan empfand, auch etwas ganz anderes als das, was Max in ihm ausgelöst hatte. Es war diesmal keine Liebe, die den Anspruch hatte, sich selbst im Anderen wiederzufinden; es war eine Liebe, die den Grundsatz hatte, sich gegenseitig in seinem Anderssein zu akzeptieren.

"Einverstanden", sagte Jan, "auf Kuscheln habe ich auch Lust."

Dass Niklas so auf seinen Wunsch reagiert hatte, fühlte sich richtig gut an. Jan kamen die Erinnerungen in den Kopf, wie Niklas und er zusammen auf diese Demonstration gegangen waren, bei der Niklas verhaftet wurde. Wie Niklas ihn vorher abgeholt hatte und er etwas enttäuscht darüber war, dass Niklas selbst zu so einem Anlass nichts mit Kapuze anhatte.

Die Demonstration verwandelte sich schon nach kurzer Zeit in ein einziges Schlachtengetümmel mit der Polizei. Obwohl Jan sehr darauf achtete, immer in Niklas' Nähe zu sein, hatten sie sich verloren, als sie mitten in ein Handgemenge mit Polizisten gerieten.

Er hatte ihn kurz danach noch gesehen, wie ihm hinter einer Polizeikette Handschellen angelegt wurden und er mit den Händen auf dem Rücken in ein Polizeiauto verfrachtet wurde. Jan war dann ohne Begleitung auf der Demonstration, was er ziemlich blöde fand. Er blieb noch kurze Zeit, auch in der Hoffnung, so wie Niklas verhaftet und in Handschellen abgeführt zu werden, und ging dann nach Hause.

Niklas kam einige Stunden später zu ihm, nachdem er wieder freigelassen wurde. Er erzählte, wie chaotisch es auf der Polizeiwache zuging, dass die Polizisten noch nicht einmal die richtigen Schlüssel hatten, ihre Handschellen wieder zu öffnen und sie deswegen die ganze Zeit gefesselt warten mussten, bis - nach Stunden - ihre Personalien aufgenommen wurden.

Jan war wirklich fasziniert; an Niklas' Handgelenken waren sogar noch die Abdrücke der Handschellen zu erkennen.

Warum konnte nur ihm so etwas nicht passieren, mit auf den Rücken gefesselten Händen in einer Polizeiwache zu sitzen. Schon alleine den Gedanken fand er reichlich anregend.

"Bist du fertig mit frühstücken?", fragte Niklas.

"Dann lass' uns zum nächsten Programmpunkt übergehen, bevor du dich gänzlich in Gedanken verloren hast."

Niklas stand auf, nahm Jan an der Hand und führte ihn zum Bett. Jan entging nicht, dass Niklas' Hose deutlich ausgebeult war. Niklas zog ihm die Hose und die Unterhose herunter und schob ihn ins Bett, wo er sich den Kapuzenpullover auszog.

Bei ihm beulte sich nichts aus, aber er wusste, dass Niklas sich davon nicht irritieren ließ. Der zog sich dann ebenfalls aus und legte sich neben Jan unter die Bettdecke.

Es fühlte sich sehr vertraut an, neben Niklas im Bett zu liegen und mit ihm zu kuscheln. Jan fühlte sich richtig wohl und vor allen Dingen auch sehr entspannt. Ihm fiel das Geschenk, das er für Niklas mitgebracht hatte, ein: Es lag noch neben dem Bett, in seiner Hosentasche.

Er dachte, es wäre jetzt genau der richtige Moment, es zu überreichen, aber hatte keine Idee, wie er es ansprechen sollte. Vielleicht hätte er es übergeben sollen, bevor sie sich hingelegt hatten; er war sich sehr unsicher.

"Jetzt musst du mir sagen, was ich tun kann, um das Ganze auch für dich spannend zu gestalten", sagte Niklas schließlich.

Das war für Jan die Gelegenheit, sein Geschenk endlich zu überreichen, sein Stichwort sozusagen.

"Warte mal", sagte er und holte die eingepackten Handschellen aus der Hosentasche, "Ich habe dir was mitgebracht."

Niklas nahm das Geschenk und befühlte es, bevor er es öffnete.

"Da bin ich ja gespannt, was du dir ausgedacht hast"

Er war sichtlich erstaunt, als er die Handschellen in der Hand hielt, "Oh, Handschellen. Und was soll ich jetzt damit tun?"

"Du könntest sie mir vielleicht anlegen", sagte Jan und spürte deutlich, wie ihn diese Situation deutlich erregte.

"Das macht dich wirklich an, wenn ich dir Handschellen anlege?", fragte Niklas.

Jan nickte, "Ich dachte, vielleicht findest du es ja auch spannend."

"Naja, ich weiß nicht; ich glaube, fesseln ist nicht so mein Fall", Niklas fing an zu Grinsen, "Aber ich merke schon, dich macht es wirklich an."

Er schob die Bettdecke ein Stück zurück und setzte sich hin.

"Dann streck mal deine Hände aus"

Jan setzte sich auch auf, drehte dann aber Niklas den Rücken zu und nahm seine Hände nach hinten, "Auf den Rücken"

"Auf den Rücken, wirklich?"

"Ja."

Jan spürte, wie Niklas ihm die Handschellen erst um das eine, dann um das andere Handgelenk legte und zudrückte. Er drückte sie ziemlich fest zu, zu fest, da sich obendrein Jans rechtes Handgelenk darin verkantet hatte.

"Zu fest?", fragte er.

Jan überlegte sich kurz, was er sagen sollte, und entschied sich, die ohnehin nicht ganz unheikle Situation nicht zu verkomplizieren.

"Ist schon ziemlich fest, aber ok", sagte er.

Tatsächlich aber war es nicht nur unangenehm, sondern wirklich schmerzhaft; der Schmerz, den Jan an seinen Handgelenken spürte konkurrierte hart mit den Gefühlen der Erregung darüber, die Hände auf dem Rücken gefesselt zu haben.

"Und das macht dich wirklich an?", fragte Niklas noch einmal und Jan nickte.

Niklas konnte offenbar nicht sehr viel damit anfangen, dass Jan gefesselt war; er berührte ihn zaghaft und fragte dann, "Und jetzt?"

Jan dachte darüber nach, dass er mit ihm eigentlich üben müsste, wie die Handschellen richtig anzulegen sind.

"Wie und jetzt?", fragte er zurück.

"Naja, ich meine, was soll ich jetzt mit dir machen?", erklärte Niklas, "Da fehlt doch vielleicht so etwas wie eine Inszenierung. Dass du jetzt Handschellen trägst, kann es ja alleine noch nicht sein, oder?"

Für Jan war aber tatsächlich genau das das Entscheidende, Handschellen zu tragen, und das genügte eigentlich auch.

"Ich weiß nicht", sagte er; ihm fiel auch keine passende Inszenierung ein, zumal er sich darüber noch nie Gedanken gemacht hatte.

Obendrein war er auch darauf konzentriert, seine Hände so zu halten, dass die Handschellen nicht gar so sehr drückten.

"Ich glaube ich mache dich wieder los, oder?", sagte Niklas schließlich und Jan antwortete,

"Das musst du entscheiden."

Niklas nahm ihm die Handschellen wieder ab, die deutliche Spuren an den Handgelenken hinterlassen hatten.

Sie kuschelten dann noch ausgiebig miteinander und Jan war dabei auch deutlich erregter als sonst. Schließlich lagen sie entspannt und auch erschöpft nebeneinander im Bett; sie hatten beide nicht viel geschlafen letzte Nacht.

"Wie bist du denn auf den Gedanken gekommen, mir Handschellen zu schenken?", fragte Niklas.

"War einfach 'ne Idee", antwortete Jan, "Mir gefällt so etwas und ich dachte, vielleicht magst du es auch."

"Ich bin mir da nicht so sicher; irgendwie kommt mir das schon merkwürdig vor. Auf jeden Fall werden wir aber noch üben müssen", sagte Niklas, während er mit den Handschellen spielte.

"Ja, das stimmt", antwortete Jan, "Vor allem darfst du sie nicht zu fest zudrücken; das sollten wir wirklich mal üben"

Er setzte sich auf und legte seine Hände auf den Rücken, "Probier doch noch mal."

Niklas zögerte kurz, legte ihm dann aber die Handschellen an und drückte sie diesmal nicht so fest zu, sodass es sich wesentlich besser anfühlte als beim ersten Mal.

"Sitzen sie gut so?"

"Ja, perfekt."

"Diesmal lasse ich sie aber dran, als Strafe für den tollen Empfang, den du mir heute bereitet hast."

In Gedanken sah Jan sich selbst auf einer Bank sitzen, mit seinen Händen auf dem Rücken. Das Bild war wie in einen hellen Nebel getaucht, der alle Konturen verwischte und die ganze Szenerie ziemlich unwirklich wirken ließ. Allmählich zeichneten sich die Konturen von jemandem ab, der neben Jan auf der Bank saß. Jan konnte nicht erkennen, wer es war; war es Niklas oder Max oder gar Jan, der andere Jan, oder Len?

"Wenn du nicht weißt, was du mit mir teilen willst, kann ich auch mit dir nichts teilen", sagte er plötzlich und stand auf.

In diesem Moment erkannte ihn Jan an seiner Stimme, es war er selbst; er sah sich selbst zwei Mal. Sein "anderes ich" ging in den Nebel, blieb nach ein paar Schritten stehen, drehte sich um und sagte,

"Die Handschellen behältst du dran, als Strafe."

Dann ging er weiter und verschwand schließlich im Nebel. Jan sah sich wieder alleine auf der Bank sitzen, mit den Händen auf dem Rücken. Er war darüber ziemlich irritiert, dass dieses Bild auftauchte.

Noch viel mehr über diese merkwürdige, unverständliche Bemerkung, "Wenn du nicht weißt, was du mit mir teilen willst, kann ich mit dir auch nichts teilen."

Immer wieder ging ihm dieser Satz durch den Kopf und verdichtete sich dabei, wie wenn er sich zu einer Spirale aufrollen würde. Am Ende mündete er in den Gedanken,

"Einmal im Leben einem Menschen begegnen, wirklich begegnen, einem wirklichen Menschen wirklich begegnen."

Dass er jetzt, wo neben ihm Niklas im Bett lag und er eigentlich überaus glücklich sein müsste, einen solchen Gedanken hatte, machte ihn traurig.

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