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Emotional Hardcore

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„Knut… schen, knut… schen, knut… schen…“, brüllten die Mädels im Chor.

Die umhersitzenden Jungs, die sowas wie meine Freunde waren, pfiffen und johlten.

Okay, jetzt musste ich bestehen oder sterben!

Mein Knutschpartner war Leslie, der hieß und heißt natürlich nicht wirklich so, weil eigentlich niemand sein Kind freiwillig so nennen würde. Es sei denn, dieser Jemand geht davon aus, dass das Kind sicher mal schwul wird, wenn es groß ist.

Also… Leslie robbte ein Stückchen näher an mich ran und strich sich ein paar lange, schwarze Ponysträhnen aus dem Gesicht. Ich klemmte meine langen, schwarzen Ponysträhnen hinters Ohr. Wieso ich mich auf diesen Scheiß hier eingelassen hatte… who knows?! Richtige Emojungs knutschen miteinander… wusste Nora und als sie das rausposaunt hatte, da wussten es plötzlich alle. Warum gerade Leslie und ich ausgesucht wurden, das zu demonstrieren, wird wohl für immer ein Geheimnis bleiben.

Na gut. Ich atmete noch mal tief ein und wieder aus, befeuchtete meine Lippen ein wenig und drückte sie schließlich auf Leslies Schmollmund.

„Oh, wie süß“, quietschte Nora ganz aufgeregt, während mir Leslie seine Zunge in den Mund schob.

Cool, jetzt bin ich ein richtiger Emojunge, verdammte Scheiße… schoss mir durch den Kopf. Wenigstens sabberte Leslie nicht beim Küssen. Das wäre ja wohl das Allerletzte gewesen! Allerdings kicherte er in meinen Mund, das spürte ich ganz deutlich. Waren meine Knutschkünste so ein Witz für ihn? Eigentlich hielt ich mich für einen ausgezeichneten Küsser, auch wenn ich auf diesem Gebiet kaum Erfahrung hatte. Erbost schubste ich ihn weg.

„Sehr lustig, Arschloch“, zischte ich.

Leslie zog die Nase kraus. „Entschuldige, deine Haare haben mich gekitzelt.“

„Mir doch egal“, grummelte ich, griff nach der Flasche mit dem Wodka-Orangensaft-Mix und genehmigte mir einen üppigen Schluck.

„Und?“, fragte Kai giggelnd. „War es aufregend?“

„Hab mich schon mehr amüsiert.“

Leslies Ringelsockenfuß schubberte an meinem Hosenbein.

„Willst du jung sterben?“

Schwuppdiwupp zog sich der Fuß zurück.

„Mach dich locker, Jo-Jo“, riet Nora, die ich augenblicklich hasste. Erstens, weil sie es war, die Leslie angeschleppt hatte und zweitens, weil sie es war, die mir diesen Mist eingebrockt hatte. Fritte wollte nämlich von mir wissen, ob ich einen Ständer gekriegt hatte.

Ich muss wohl nicht erwähnen, dass die gesamte Runde über mich lachte, oder? Besonders, weil ich, Hirni, auch noch blödsinnig an mir runterschaute, was natürlich so wirkte, als hätte ich mich vergewissern müssen.

Wieso fällt einem übrigens nie etwas super Cooles, Schlagfertiges ein, wenn’s drauf ankommt?

Egal.

Ich trank einfach noch ein bisschen Wodka und hoffte, dass ich möglichst bald besoffen umkippen würde.

„Okay, machen wir weiter“, grinste Nora unheimlich und ließ ihre schwarzen Fingernägel über die leere Flasche gleiten. „Wer war noch nicht dran?“

Die Jungs waren schlagartig still und bibberten vermutlich vor Angst.

„Kai“, verkündete sie, „und… Fritte.“

HAHAHAHAHAHAHA!!!!!!!!!!!!!!

Die beiden versuchten gar nicht erst, sich davor zu drücken. Nora war so was wie die Chefin und was sie sagte, wurde halt gemacht.

„Wir haben besser ausgesehen“, behauptete Leslie.

„Logisch“, nickte ich.

Kai und Fritte küssten sich arg dilettantisch. Viel zu schnell und… es sah ganz schön eklig aus.

Was im weiteren Verlauf des Abends passierte, entzieht sich bis heute ein bisschen stark meiner Kenntnis, weil mich der Orangensaft-Wodka-Mix ziemlich wegballerte.

Halbwegs klar bin ich erst wieder geworden, als jemand versuchte, in meinen Schlafsack zu gelangen. Wie ich in den Schlafsack hineingeraten war… keine Ahnung.

„Mach doch mal Platz“, nuschelte es an meinem Ohr.

Bevor ich irgendwem Platz machte, rieb ich erstmal meine Augen und blickte mich um. Wir befanden uns auf Noras Dachboden, wo nach Partys gerne mal übernachtet wurde. Kai und Fritte lagen einträchtig zusammen auf der abgeschmackten Matratze und schlummerten friedlich. Nora schlief selbstverständlich eine Leiter und eine Treppe tiefer allein in ihrem Zimmer. Die anderen Leute waren anscheinend nach Hause gegangen… oder von Aliens entführt worden oder sie hatten sich spontan in Luft aufgelöst.

Leslie wartete noch immer darauf, dass ich ihn in meinen Schlafsack ließ, woran ich nicht einmal im Traum dachte. Unsanft schob er mich ein Stück zusammen und quetschte sich mit seiner Decke hinter mich.

„Hast du ’n Rad ab?“, fauchte ich.

„Schhhht… nicht so laut, oder willst du, dass Kai und Fritte uns dabei zusehen?“

Äh??

„Wobei?“

Seine Hand fummelte an meinem Shirt und suchte offensichtlich Knopf und Reißverschluss meiner Jeans.

„Hör sofort auf damit“, keifte ich gedämpft und drehte mich um.

„Au… ramm mir doch am besten dein Knie in die Eier, Blödmann. Du schaffst es noch, dass ich deinetwegen keine Kinder mehr zeugen kann.“

Ich beschloss, dass ich viel zu besoffen für so eine Unterhaltung war… und für das, was vielleicht danach noch kommen sollte, also stellte ich mich schlafend.

„Netter Versuch“, giggelte Leslie.

„Was zur Hölle willst du?“

„Ein bisschen rummachen“, erklärte er, als sei es das Normalste auf der Welt.

„Erstens bin ich nicht schwul. Zweitens bin ich nicht scharf auf dich. Und drittens mache ich so was nicht, wenn zwei Meter entfernt Leute ihren Rausch auspennen.“

„Erstens und zweitens ist gelogen. Drittens kann ich leider momentan nicht ändern. Müssen eben leise sein.“

„Du bist ein Entsprungener, oder? Ich meine, du…“, weiter kam ich nicht, weil er mich einfach küsste. Seine Hand glitt zwischen meine Beine.

„Zweitens is voll gelogen“, murmelte er und knutschte weiter.

Mh, das merkte ich auch grad. Au weia!!

Keine Ahnung, wie wir es in der Beengtheit schafften, einige Klamotten auszuziehen.

Na ja, wenn man will, geht bekanntlich alles… irgendwie.

Leslies Hand stellte sich äußerst geschickt an, meine war anfangs noch etwas zaghaft.

„Mehr“, keuchte er prompt.

„Waaaahhhh… was macht’n ihr da? Ficken?“, ertönte eine versoffene Stimme aus der Ecke.

Auch das noch!

Meine Hand wurde langsamer.

„He, Jo-Jo… konzentrier dich bitte auf mich, ja?“, forderte Leslie. „Und du, halt dein Maul dahinten“, rief er.

„Ich kann so nicht“, entgegnete ich genervt.

„Ich beweise dir das Gegenteil“, wisperte Leslie.

So war das also damals, vor drei Jahren, und seitdem sind Leslie und ich ein Paar. Nee, kleiner Scherz. Wir sind beste Freunde. Das mit Leslie war mein erster und einziger Ausflug in die Homosexualität. Zum Glück, kann ich da nur sagen, weil meine Eltern erwarten, dass ich irgendwann heirate, einen gut bezahlten Job habe und eine Familie gründe. Und meine Eltern sind diesbezüglich sehr streng. Mein Vater besonders. Wenn ich beispielsweise eine schlechte Note (also eine Drei) nach Hause bringe, erzählt er mir stundenlang, was für eine Enttäuschung ich bin. Dann krieg ich Hausarrest und muss bis zur völligen Erschöpfung lernen. Schließlich soll aus mir was werden. Ich soll Abitur machen und danach studieren.

BWL oder so. Eben etwas, wofür ich mich null interessiere. Aber was Papa und Mama sagen, wird gemacht. Keine Widerrede. Du musst immer und überall der Beste sein, deine persönlichen Wünsche, Träume, Befindlichkeiten interessieren uns einen Scheiß… das sind meine Eltern!

Schwules gibt es in deren leistungsorientierter Welt nicht. Schwules ist igitt. Homos bringen es zu nichts, weil die viel zu weich sind. Homos werden Friseur, Künstler oder Klappenstricher.

Als ich Papa mein letztes Zeugnis mit der Eins in Kunst zeigte, da beglückwünschte er mich nicht, sondern haute mir eine runter, weil ich in Mathe bloß ein „Ausreichend“ hatte. Die Ferien waren somit komplett gestrichen. Während Leslie sämtliche Hauptstädte Europas besuchte, bekam ich sechs Wochen lang Nachhilfe.

Mit dem Thema „Schwul“ befasse ich mich übrigens wegen Leslie. Der hat nämlich manchmal eine Vorliebe für Typen und unterstellt mir andauernd Selbiges. Nur weil wir einmal ein bisschen rumgemacht haben. Ich halte das für Unfug, denn immerhin hab ich seit fünf Monaten eine Freundin. Merle ist siebzehn und sieht gigantomanisch gut aus. Wie ihr Papa liebt sie exotische Tiere. Der Keller des Hauses ist voll mit Schlangen und irgendwelchen Echsen. Wohl auch, weil der Papa im Ort total bekannt ist und bei ihm öfter mal Tiere abgegeben werden, wenn die Besitzer überfordert sind oder die Viecher nicht vernünftig gehalten wurden.

Prinzipiell finde ich Schlangen super, solange die nicht giftig sind und mich nicht würgen. Puh, aber die Essgewohnheiten… mir tun die armen Futtermäuse- und ratten halt leid. Wenn gefüttert wird, bin ich nie da unten im Keller.


„Hey, Süße“, rufe ich die Kellertreppe runter.

„Komm schon her… die Leute hier sind alle satt“, antwortet mir Merles lachende Stimme.

Sie macht sich übrigens grad an einer Box zu schaffen, die auf dem Tisch steht.

„Was’n?“, frage ich. „Neues Tier?“

Merle öffnet den Deckel. „Wurde eben hier abgegeben. Dem Besitzer war das Tier wohl nicht so geheuer. Armes Baby“, säuselt sie und hebt einen kleinen Königspython aus der Box.

„Solltest du nicht warten, bis dein Vater wieder da ist?“

„Nee, der Kleine muss es jetzt warm haben und außerdem…“, sie beäugt ihn kritisch und legt ihn auf den Boden, „hilf mir mal, der häutet sich.“

„Aber essen muss der jetzt nicht“, hoffe ich.

„Du bist ein Waschlappen, Jo-Jo“, lacht sie.

Ich hocke mich neben sie und beginne vorsichtig, die Hautfetzen vom Schlangenkörper zu entfernen. Normalerweise machen das Schlangen alleine, aber wenn die gestresst sind oder so, dann muss man eben schon mal ein bisschen dabei helfen. Das hab ich bereits gelernt. Es scheint dem Python auch nicht unangenehm zu sein, er züngelt relativ genüsslich vor sich hin.

Nachdem die Haut runter ist, kommt Merles Papa.

„Na, der sieht doch ganz munter aus“, bemerkt er und setzt das Vieh in ein Terrarium. „Hatte schon Schlimmeres befürchtet.“

„Die letzte Schlange, die wir bekommen haben, war in einem erbärmlichen Zustand. Wollte ewig nicht fressen und so“, faselt Merle.

„Na ja, die Umstellung dauerte zwar, aber irgendwann nahm sie ohne zu murren Frostfutter“, erklärt Papa stolz. „Und bei dem Kleinen hier versuchen wir es von Anfang an damit.“

Glücklicherweise wird es nicht gleich versucht. Merle und ich gehen erstmal in ihr Zimmer.

Kaum ist die Tür zu, fällt sie auch schon über mich her. Das heißt, sie gibt mir einen Begrüßungszungenkuss. Allerdings hat sie danach mal wieder bloß ihr Lieblingsthema drauf. Schlangen, Echsen, Spinnen. Sie hätte gerne Vogelspinnen, aber ihre Mutter ist komplett dagegen. Ich finde, Merles Mama hat Recht. Spinnen sind Ekelzeugs! Und dann auch noch Vogelspinnen… die werden ja groß wie verfluchte Ufos!!

„Die Avicularia versicolor wird nur vier bis sechs Zentimeter groß“, behauptet Merle und zeigt mir irgendeine Internetseite, „und die adulten Tiere bekommen dann diese schöne, rötliche Bein- und Brustbehaarung, die eigentlich mehr rosa aussieht. Also die totale Spinne für Mädchen“, grinst sie.

Schöne Behaarung?! Die hat ein Rad ab!! Angeekelt starre ich auf den Monitor und habe spontan das Gefühl, dass etwas auf mir herumkrabbelt.

„Oh mein Gott… da steht, dass die Dinger springen und Feinde mit Kot beschießen. Das ist ja mal unsympathisch.“

„Wenn dir einer blöd kommt, haust du ihm doch auch eine rein“, zuckt sie die Schultern.

Mit Merle kann man einfach nicht vernünftig reden.

„Mach das weg, mich juckt’s überall.“

Lächelnd strubbelt sie mir durch die Haare und schaltet den Computer aus.

„Gehen wir übrigens am Wochenende ins Subway?“

Merle zieht eine Grimasse. „Ist Leslie auch da?“

„Vermutlich.“

„Weiß nicht. Wenn der besoffen ist, gräbt der sicher wieder an dir rum. Das muss ich nicht haben.“

„Leslie gräbt doch nicht an mir rum“, rege ich mich sofort total auf. „Und selbst wenn… du solltest eigentlich wissen, dass mich das kalt lässt.“

„Vor drei Jahren bist du aber super drauf angesprungen.“

Logischerweise hat Leslie ihr das erzählt. Ich würde mit derartigen Ausrutschern niemals hausieren gehen.

„Da war ich vierzehn. Außerdem kann ich mich kaum noch dran erinnern. Also worüber regst du dich auf?“

„Du wärst auch angepisst, wenn ich noch mit meinem ehemaligen Sexpartner befreundet wäre“, entgegnet sie.

„Wäre ich nicht.“

Sie sieht mich kritisch an. „Vielleicht liegt genau da das Problem, Jo-Jo.“

„Was für ein Problem?“

„Vergiss es“, seufzt sie. „Wir gehen am Wochenende mit Leslie ins Subway. Alles in Ordnung.“


„Sag mal… findest du, ich müsste eifersüchtiger sein?“

Leslie stiert mich blöde an.

„Merle hat so was angedeutet“, erkläre ich.

„Ich finde“, sagt Leslie, schlägt die Beine übereinander und beißt in einen Schokoriegel, „dass du deine Beziehung insgesamt mal überdenken solltest.“

„Ah ja, und wieso?“

„Jo-Jo“, stöhnt er genervt, „wenn du überlegst und ganz doll ehrlich zu dir bist, dann kommst du unweigerlich zu dem Ergebnis…“

„Zu welchem? Versuchst du mir schon wieder einzureden, dass ich schwul bin? Bloß, weil wir einmal rumgemacht haben? Kannst du das bitte endlich vergessen?“

„Würde ich ja, aber du erinnerst mich ständig daran“, grinst er. „Muss ziemlich toll für dich gewesen sein.“

„War es nicht“, zische ich finster.

„Übrigens bist du auch derjenige, der immer vom Schwulsein redet.“

„Weil du schon wieder behauptest…“

„Okay“, unterbricht er mich, „dann erklär mir doch mal, was das alles für youtube-Clips sind, die du als Favoriten gespeichert hast. Beziehungsweise, warum du dir Clips ankuckst, in denen halbnackte Jungs mitspielen.“

Mir wird augenblicklich ekelhaft im Magen. „Woher weißt du…?“

„Hab ich neulich zufällig entdeckt, als dein Computer an war und du aufm Klo warst.“

„Du schnüffelst heimlich in meinen Angelegenheiten rum?“, brülle ich wütend.

„Kann ich was dafür, wenn du so lange weg bleibst? Außerdem wusste ich nicht, dass du solche Geheimnisse gespeichert hast.“

Shit, wieso hab ich nicht besser aufgepasst?

„Und wenn schon… das heißt überhaupt nichts.“

„Warum gibst du’s nicht einfach zu? Ich meine… klar, du willst nicht, dass es deine Eltern erfahren, weil sie dich sehr wahrscheinlich ein paar Mal umbringen würden… aber ich bin dein bester Freund, Jo-Jo. Und ich weiß es doch schon längst.“

„Einen Scheiß weißt du. Schließlich hab ich eine Freundin.“

„Ja? Wie oft schläfst’n mit ihr?“

„So oft es geht“, lüge ich.

„Und in Wirklichkeit?“

„Leck mich. Ich bin grad mal ein paar Monate mit Merle zusammen. Da rammelt man doch nicht gleich wie verfluchte Karnickel.“

„Auf die Dauer wird dich deine ewige Verleugnung nicht glücklich machen“, sagt er ernst.

„Und Merle gegenüber ist es auch nicht fair.“

„Hör mal“, antworte ich und versuche, ruhig zu bleiben, „es ist ja vollkommen in Ordnung, dass du ab und zu auf Typen stehst… allerdings muss es deswegen nicht zwangsläufig jedem so gehen, ja? Und wenn du mich mit dem Thema noch weiter nervst, hau ich dir eine rein.“

„Ja, okay“, gibt er sich endlich geschlagen, „aber eine vernünftige Erklärung für die nackten Jungs-Clips konntest du mir noch nicht liefern.“

Verdammt!!

Als Leslie weg ist, lösche ich erstmal meine Favoritenliste. Leider ist das Problem damit nicht wirklich gelöst. Die Wahrheit sieht nämlich ungefähr so aus, dass ich tatsächlich manchmal nicht genau weiß… na ja, was mich anmacht. Das heißt, ich achte manchmal vielleicht doch mehr auf Jungs, als es normal ist. Bis jetzt fand ich das eigentlich gar nicht so schlimm, weil ich in echt natürlich niemals was mit einem Typen anfangen würde und was sich in meinem Kopf abspielt, geht ja keinen etwas an. Aber Leslie hat nicht Unrecht. Die Beziehung zu Merle ist… problematisch. Verstehen tun wir uns super, bloß, wenn es körperlich wird, stimmt’s nicht mehr. Dabei strenge ich mich immer ganz doll an. Händchen halten, schmusen, Komplimente ins Ohr flüstern, aufmerksam sein, kleine Geschenke… hab ich alles drauf. Allerdings fühlt es sich wie eine einstudierte Rolle an. Beim Sex ist’s ungefähr ähnlich. Ich mache, was von mir erwartet wird. Jedenfalls lief es das erste Mal so. Und ganz ehrlich: einmal Geschlechtsverkehr in fünf Monaten ist eine verflixt miese Quote! Vielleicht sind Merle und ich nicht richtig für einander. Ich hab nämlich oft den Eindruck, dass sie sich auch nicht grad ein Bein ausreißt, um mit mir zu schlafen. Wenn man wirklich bis über beide Ohren verliebt ist, ist man doch auch scharf aufeinander, oder? So andauernd. Bei Merle und mir ist das eher kaum der Fall. Na ja, und dass ich tatsächlich wenig bis überhaupt nicht eifersüchtig bin, das ist sicher auch kein gutes Zeichen.


Ins Subway zu gehen war eine beschissene Idee. Leslie wollte im besoffenen Kopp mit mir knutschen, ich hab heimlich nach fremden Jungs geschielt, während meine Freundin neben mir stand, und… ach, ja… Merle hat fremdgebumst. Also nicht im Subway, sie hat mir das bloß da erzählt. Dachte wahrscheinlich, in der Öffentlichkeit würde ich ihr keine Szene machen. Hab ich auch nicht. Ich bin nach Hause gegangen und versuchte, das alles irgendwie einzuordnen. Am nächsten Tag rief ich Merle an und wollte wissen, mit wem sie es getrieben hat, aber sie meinte, dass ich den Typen eh nicht kennen würde. Zwei Tage später kam Leslie vorbei und als ich ihm die Merle-Geschichte erzählte hatte, outete er sich nach langem Zögern als der Typ, den ich angeblich nicht kennen würde.

Also, mein bester Freund vögelt mit meiner Freundin! Logisch, dass ich mit beiden nix mehr zu schaffen haben will, oder?!

Aus lauter Frust hab ich mir wieder die gesamten Halbnackte-Jungs-Clips bei youtube zusammengesucht, mir ein bisschen Mut angetrunken, bin auf so eine komische Homo-Seite gegangen und über Flo gestolpert. Der ist zweiundzwanzig und steht total auf Circus Contraption. Ist das nicht unglaublich?! Eigentlich kennt die immer niemand, was schon fast ein Skandal ist, weil die nämlich wahnsinnig toll sind. Außerdem ist Flo schwul und hat keinerlei Probleme damit. Dass er schwul ist, interessiert mich allerdings erstmal gar nicht, weil er nämlich ansonsten super nett und lustig ist. Dass ich mich theoretisch für Jungs interessiere, habe ich ihm selbstverständlich verschwiegen und stattdessen erzählt, ich hätte nach Circus Contraption gesucht und halt ihn gefunden. Jedenfalls chatten wir seitdem ab und zu…. mehr oder weniger regelmäßig.

„Hallo“, piepst es durch die geschlossene Tür. „Darf ich rein kommen?“

„Nein.“

Merle latscht trotzdem in mein Zimmer. Fassungslos starre ich sie an.

„Lass uns darüber reden, Jo-Jo.“

„Es gibt nichts zu reden“, antworte ich kalt.

„Doch, gibt es“, behauptet sie und setzt sich auf mein Bett.

„Erzählst du mir jetzt, mit wem du noch rumgevögelt hast, während wir zusammen waren?“

„Es war nur Leslie. Ein einziges Mal.“

„Okay, und jetzt tut’s dir leid, du versprichst mir, dass es nie wieder vorkommen wird und möchtest, dass wir es noch mal miteinander versuchen? Das kannst du vergessen.“

Merle streicht sich eine blonde Strähne hinters Ohr. „Es tut mir leid und es wird nie wieder vorkommen, weil… Jo-Jo, das mit uns hat doch eh nicht so richtig funktioniert.“

„Leslie gräbt dich immer an“, äffe ich sie nach. „War ja wohl der Witz des Jahrhunderts.“

„Deshalb bist du sauer, ja? Weil er mit mir ins Bett gegangen ist und nicht mit dir.“

Man, ist der unterwegs irgendwas Schweres auf die Rübe gefallen oder warum faselt die so eine Scheiße?

„Gleich sagst du mir noch, dass ich an allem Schuld bin.“

„Das ist doch Quatsch“, schüttelt sie den Kopf. „Aber ich hab halt gemerkt, dass du nie wirklich bei der Sache warst, wenn wir… du weißt schon… uns geküsst haben und so.“

„Ich wette, Leslie war total bei dir Sache als ihr… du weißt schon…“, lächele ich horrorartig.

„Er hat nicht an irgendwelche Jungs gedacht, während er mit mir geschlafen hat.“

„Raus!“

„Jo-Jo…“

„Verpiss dich!“, brülle ich.

„Was soll denn der Krach?“, brüllt plötzlich mein Vater und reißt die Tür auf. „Merle… was ist hier los?“

Der hat mir grad noch gefehlt!

„Ich muss nach Hause“, murmelt sie und schiebt sich an ihm vorbei.

„Was hat das zu bedeuten, Johannes?“, fragt er.

„Sie muss nach Hause, hast es doch gehört“, erkläre ich genervt.

„Nicht diesen Ton, ja? Und hör auf, die Augen zu verdrehen, wenn ich mit dir spreche. Hast du für die Mathearbeit nächste Woche gelernt oder sind dir deine Mädchengeschichten mal wieder wichtiger?“

„Nein, ich meine, ja, hab ich.“

„Ich warne dich, Freundchen. Wenn sich deine Noten nicht bald verbessern, kommst du ins Internat. Da werden sie dir schon Disziplin beibringen“, schreit er und knallt die Tür hinter sich zu.

Au je! Mein Vater droht schon seit geraumer Zeit, mich ins Internat zu schicken. Weil ich ein faules Stück bin, nicht genug lerne… blablabla. Disziplin. Bei dem Wort kommt mir die Kotze hoch. Sicher hat er sich einen Laden ausgesucht, der ungefähr mit einem Bootcamp vergleichbar ist. Paps meint nämlich, dass seine Erziehung an mir abprallt und im Internat hätten die ganz andere Mittel, damit die Leute spuren, und da würde ich mich noch gewaltig umkucken. Ich finde, schlimmer als seine Mittel können die im Internat auch nicht sein. Mein Vater hatte immer schon eine relativ lockere Hand, wenn ich ihm grad nicht passte. Früher hat er mir den Hintern versohlt, heute gibt es „nur noch“ Ohrfeigen. Für meine Mutter scheint das in Ordnung zu sein. Aber wahrscheinlich traut sie sich einfach nicht, eine andere Meinung zu haben. Kann ich sogar verstehen. Ich traue mich ja auch nicht, gegen Paps aufzumucken. Oder anders ausgedrückt, ich mache, was er sagt und hab meine Ruhe. Deshalb stecke ich meine Nase in die Bücher, obwohl ich genau weiß, dass aus mir niemals ein Mathegenie wird. Genauso wenig wie aus mir ein Fußballer, Handballer, Volleyballer, Schwimmer, Leichtathlet geworden ist. Ich musste das echt alles ausprobieren, war allerdings immer nur mittelmäßig bis schlecht… also wieder eine Enttäuschung für meinen Vater. Nachdem er eingesehen hat, dass der Junge eben nicht zur Sportskanone taugt, soll er jetzt wenigstens in der Schule der Beste sein. Ich nehme an, er hätte es gerne gesehen, wenn ich so schlau gewesen wäre, dass ich mal eine Klasse hätte überspringen können. War ich aber nicht, weil ich in den wichtigen, naturwissenschaftlichen Fächern halt auch bloß durchschnittlich bin.

Sein Spruch vorhin mit den Mädchengeschichten war bestimmt nicht so gemeint, denn er findet es, glaube ich, ganz gut, dass ich wenigstens auf dem Gebiet nicht komplett versage.

Zum Glück weiß er nicht, dass mich meine super hübsche Freundin mit meinem besten Freund betrogen hat.

Irgendwann abends nach tausend Stunden Lernerei öffnet sich meine Zimmertür.

„Willst du mir jetzt bis in alle Ewigkeit aus dem Weg gehen?“, fragt Leslie.

„Hatte ich eigentlich vor, aber offensichtlich bin ich nicht einmal in meinem eigenen Zimmer sicher vor dir.“

„Mich schmeißt du jedenfalls nicht raus.“

„Hat meine Exfreundin sich bei dir ausgeheult? Weil ich so böse war? Hast du sie zum Trost noch mal durchgebumst?“

„Genau das, Arschloch.“

„Solltest du dich nicht eigentlich entschuldigen, anstatt mich zu beschimpfen?“

„Mein einziger Fehler besteht darin, dass ich nicht gewartet habe, bis Merle mit dir Schluss gemacht hat“, behauptet er.

„Du bist ein Schwein“, finde ich.

„Weil ich mit einem Mädel geschlafen hab, das du nicht liebst? Wenn eure Beziehung super toll gewesen wäre, hätte ich das niemals gemacht, das weißt du ganz genau, Jo-Jo.“

„Wie schön, dass du so genau darüber Bescheid weißt, wen ich liebe und wen nicht.“

„Okay“, seufzt er, „mal ehrlich, ich verstehe total, dass du dich hintergangen fühlst und so… es war eine scheiß Aktion von Merle und mir… aber du siehst nicht unbedingt aus, als würde es dich kaputt machen. Vielleicht ist jetzt der Zeitpunkt, dir endlich einzugestehen…“

„Ja, verdammt“, unterbreche ich ihn, „du brauchst es nicht noch auszusprechen.“

„Du gibst es zu?“, fragt er ein bisschen entgeistert.

„Na und? Dir ist das doch eh schon seit drei Jahren klar. Warum bist du so überrascht?“

„Ob es mir klar ist, spielt keine Rolle, Jo-Jo. Du musst das akzeptieren. Und du musst dich trauen, dich richtig zu verlieben. Deine Internetclips sind vielleicht prima Wichsvorlagen, aber umarmen kannste die nicht.“

„Du und Merle… seid ihr zusammen?“, wechsele ich das Thema.

Er schüttelt den Kopf. „Nee. Es war mehr so die klassische Situation. Sie war mies drauf, ich war mies drauf… blablabla. Du solltest dich mit ihr vertragen. Sie hat dich echt gern, auf eine völlig unsexuelle, unromantische Art.“

„Kommt mir irgendwie bekannt vor“, gebe ich zu.

„Eben. Und du solltest dich mit mir vertragen“, grinst er, „ich lieb dich nämlich auch auf eine völlig unromantische und… äh… jedenfalls meistens unsexuelle Art.“

Um weiterem Stress aus dem Weg zu gehen, sage ich Leslie, dass alles wieder in Ordnung ist.


Heute ist Noras Geburtstagsparty, die traditionell im Schrebergartenhaus ihrer Eltern stattfindet. Seitdem ich nicht mehr so sehr emomäßig unterwegs bin, treffen wir uns eher selten, aber ich würde schon sagen, dass wir noch befreundet sind. Das heißt, wir können uns wochenlang nicht gesprochen haben, sind jedoch sofort wieder völlig auf einer Wellenlänge, wenn wir uns dann sehen.

„Jo-Jo“, begrüßt Nora mich, haucht mir einen Kuss auf die Wange und setzt einen Finsterblick auf, als sie Leslie sieht.

„Hast du die Seuche mitgebracht?“

Ich zucke unkomfortabel die Schultern. „Alles Gute zum Geburtstag… Geschenk hab ich zu den anderen auf den Tisch gelegt.“

„Happy Birthday“, säuselt Leslie vergnügt und will sie umarmen, aber Nora schubst ihn weg.

„Was’n?“, fragt er.

„Gar nichts“, schnauft sie kopfschüttelnd.

„Kann es sein, dass du immer noch sauer bist?“

„Du hast dich auf meinen Arsch gesetzt und dafür gesorgt, dass mein Freund Schluss gemacht hat“, legt sie los.

„Ich hab dich ganz harmlos massiert. Kann ich was dafür, dass dein Freund dermaßen eifersüchtig reagiert?“

„Und du bist auf dem Dach vom Auto meiner Eltern gefahren, wolltest aus dem Fenster pinkeln und hättest Kaugummi ins Zündschloss geklebt, wenn ich dir nicht vorher eine geklebt hätte.“

„Nora, das ist so lange her“, stöhnt er.

„Das ist grad mal ein paar Monate her. Und du bist ein verantwortungsloses Stück Müll. Der totale Antichrist. Du bist einer, vor dem ich meine Tochter… oder meinen Sohn warnen würde.“

Au weia, ich verpisse mich mal schnell. Schnappe mir eine Flasche Desperados, setze mich auf die Couch und glotze die Leute an. Kai und Fritte sind da, ansonsten kenne ich niemanden. Wie schon erwähnt, bewege ich mich nicht mehr so in Emo-Kreisen. Während ich also trinke und glotze, bleibt mein Blick an einem Typen hängen, der mit seinem Bier in der Ecke steht und irgendwie aus dem Rahmen fällt, denn er trägt keine Emo-Klamotten, sondern eine schwarz-grün karierte Bondagehose und einen engen, schwarzen Wollpulli, der größtenteils aus wabenartigen Löchern besteht. Seine Haare sind braun oder schwarz…kann ich in der schummrigen Beleuchtung nicht genau erkennen… kurz und fransig mit langen Ponysträhnen. Komischerweise beginnt mein Herz plötzlich einen Tick heftiger zu klopfen. Wohl auch, weil der Typ gerade in meine Richtung sieht und wahrscheinlich mitbekommt, dass ich ihn anstarre. Oder angestarrt habe, weil ich natürlich ratzfatz wegkucke.

„Hey, wen siehst’n da?“, fragt Leslie und wirft sich neben mich aufs Sofa.

„Wieso… äh… niemanden“, antworte ich hastig.

Leslie grinst blöde. „Schnuckelig, mh?“

„Wovon zum Teufel redest du?“, murmele ich schwächlich.

„Von grün-schwarz karierten Hosen und viel, viel nackter Haut, Jo-Jo“, erklärt er in diesem beknackt mitleidigen Tonfall, für den ich ihm sofort in den Arsch treten möchte.

„Hast du dich mit Nora vertragen?“, wechsele ich das Thema, damit Leslie nicht auf dumme Ideen kommt.

„Nora liebt mich. Sie ist bloß tierisch sauer, weil sie mich nicht haben kann.“

„Sie hält dich für Müll.“

„Kann ich mit leben, schließlich kenne ich ja die Wahrheit. Was ist? Soll ich den Typen mal anquatschen, oder so?“

„Wenn du scharf auf ihn bist“, tue ich unbeteiligt.

„Ich meinte eigentlich, ob ich ihn für dich anquatschen soll.“

„Bist du besoffen?“

„Noch nicht, aber auf einem guten Weg. Jo-Jo, was soll der Kack? Du bist offensichtlich an dem Kerl interessiert. Also…“

„Halt die Fresse, Leslie“, fauche ich, „ernsthaft.“

„Ich gehe mal rüber zu ihm. Möglicherweise hat er dich ja auch schon bemerkt.“

Und schon ist er aufgestanden und schlendert zu dem Typen. Mir ist vor Entsetzen ganz schlecht. Wenn Leslie dem irgendeinen Scheiß erzählt… sprenge ich mich augenblicklich in die Luft. Bevor er den Typen allerdings erreicht, entscheidet er sich zum Glück anders und gesellt sich zu Kai und Fritte, die in der Nähe stehen. Mein Herz bollert mir bis in den Schädel. Und Wollpulli kuckt schon wieder in meine Richtung, nimmt einen Schluck aus seiner Flasche und leckt sich die Lippen. Mir wird heiß und… oh mein Gott!! Leslie stellt sich neben ihn und labert ihm was ins Ohr, worauf der Typ lächelt. Und zwar mich an. Hektisch krame ich alibihalber Zigaretten und Feuerzeug aus meiner Tasche, lasse mir sehr viel Zeit damit und als ich vorsichtig wieder hoch schaue, sind beide verschwunden. Ich kann mir ungefähr vorstellen, was die jetzt machen. Leslie ist ein alter Aufreißer! Na und? Mir doch egal. Ich finde Jungs bloß theoretisch toll. Leider bin ich mir diesbezüglich überhaupt nicht mehr sicher, denn in meinem Bauch kribbelt es immer noch. Alkohol. Ich brauche dringend Alkohol!

Normalerweise weiß ich, was ich vertrage und kann aufhören, bevor es unangenehm wird. Heute hab ich den Zeitpunkt ziemlich verpasst. Nach dem soundsovieltem Bier ist mir unglaublich übel und wenn ich nicht bald aufs Klo komme, breche ich in die Knabberschale vor mir und werde zum Partygespött.

Wankend mache ich mich auf den Weg und hab das Pech mit Löffeln gefressen. Das Außenklo ist besetzt. Also um die Ecke, noch ein paar Schritte weiter und schon kommt es mir hoch. Alles. Auch das, was ich vor einer Woche gegessen habe... jedenfalls fühlt es sich so an.

„Bah... ist das eklig“, höre ich eine ärgerliche Stimme dicht neben mir.

Ich kotze erstmal weiter.

„Mann, bist du besoffen, oder was?“

Für so eine blöde Frage hab ich momentan wenig übrig, bemerke aber, dass mich jemand grob anstößt.

„Um ein Haar hättest du mir auf die Schuhe gekotzt.“

„Sorry“, murmele ich. Als das Würgen vorbei ist und ich meinen Kopf hebe, möchte ich fast noch mal losbrechen. Mich erschlagen. Erhängen. In Luft auflösen. Neben mir steht der Typ mit der grün-schwarz karierten Bondagehose und dem Löcherpulli.

„Tut mir echt leid. Ich... mir ging’s nicht gut.“

„Du hast Kotze am Kinn“, sagt er angewidert und geht.

Toll, Jo-Jo. Hast wirklich einen famosen Eindruck hinterlassen! Ausgeschlossen, dass ich noch länger hier bleibe. Nicht nach dieser Aktion. Ohne mich zu verabschieden, schleiche ich nach Hause.

Wieso passieren mir eigentlich andauernd so unbeschreiblich bekloppte Sachen? Ich bin von Natur aus total vorsichtig, überlege genau, was ich sage und mache und wie ich auf andere wohl wirken könnte. Eine verdammte unachtsame Sekunde und das Unheil nimmt seinen Lauf. Ich blamiere mich bis auf die Knochen. Das ist schon seit der Grundschule so. Da saß neben mir ein Kind, das seine Schulbrote für gewöhnlich unter dem Tisch aufbewahrte. Auf den Broten war fiese Abartigkeitswurst. Einmal war der Gestank besonders gemeingefährlich, dass mir übel wurde und ich nicht früh genug aus dem Klassenzimmer kam. Ich kotze lang über den verdammten Tisch und meine Mitschüler waren für den Rest des Jahres total angeekelt. Eigentlich war das nicht unbedingt meine Schuld. Schließlich kann ich bis heute nichts dafür, dass ich bei widerwärtigen Nahrungsmitteln würgen muss. Und dass der Löcherpulli-Typ ausgerechnet im Weg herumstand, als ich mich erbrach... na ja, okay, hätte die Finger vom Alkohol lassen sollen.


Hey, das ist nicht lustig, ja? , tippe ich ein bisschen beleidigt. Der Typ war…na ja und ich bin jetzt für alle Zeit der mit der Kotze am Kinn.

War was? , schreibt Flo zurück.

Hä?

Der Typ war was?

Nix. Es war mir eben peinlich.

Verstehe. Trotzdem, so was kann doch jedem passieren und der Typ hätted dir ruhig ein Taschentuch reichen können. Hat wohl keine Manieren, was?

Bei Kotze hören die Manieren auf.

Aber es ging dir schlecht. Wäre ich da gewesen hätte ich deine Stirn gehalten.

Echt?

Na klar. Und dir die Haare aus dem Gesicht gestrichen. Es gibt nichts Widerlicheres als Haare, die nach Erbrochenem riechen.

Du machst dich lustig über mich *schmoll*

Jaaaa...aber nur ein bisschen ;-) Ich muss los, bin noch verabredet. Wir hören von einander, ja?

Okay, bis dann, verabschiede ich mich.

Flo hat’s gut. Der trifft sich andauernd mit hübschen Jungs, die sich alle sofort in ihn verlieben und mit ihm ins Bett wollen, und er muss sich keine Gedanken darüber machen, was sein Vater zu all dem sagen würde. Flo hat sich nämlich längst vor seiner Familie geoutet und wohnt inzwischen eh nicht mehr bei seinen Eltern. Eigentlich sollte ich den Kontakt zu ihm schleunigst abbrechen, weil ich blöderweise gemerkt habe, dass ich ihn toller finde, als ich es mir selber erlaube. Warum musste er mir aber auch ein Foto von sich schicken? Und warum muss der so sagenhaft phantastisch gut aussehen? So gut, dass meine Phantasie manchmal völlig mit mir durchgeht und ich mir vorstelle, wie er… mit mir…

„Schick ihm endlich deine Telefonnummer und sag ihm, dass du ihn treffen willst.“

„Argh“, kreische ich und klicke reflexartig Flos Foto weg. Ich muss echt besser aufpassen. Wenn sich jetzt nicht Leslie, sondern mein Vater so rangeschlichen hätte… ach du Scheiße!!

„Ich will ihn nicht treffen“, erkläre ich, nachdem sich mein Herzschlag ein bisschen normalisiert hat.

„Weiß er, dass du beim Wichsen nur noch an ihn denkst?“

„Na, sicher. So was schreibe ich fremden Leuten immer gleich am Anfang. Macht einen guten Eindruck. Vollidiot.“

„Auf jeden Fall solltest du vorsichtiger sein. Stell dir mal vor, dein Vater hätte sich eben so angeschlichen.“

„Ist er da?“

„Ja“, antwortet er und lässt sich auf mein Bett fallen, „hab ihm gesagt, dass wir zusammen lernen… wie immer.“

„Das trifft sich gut, ich muss nämlich bis Montag mein kack Referat fertig haben.“

Leslie grinst meschugge. „Referat, mh? Über hübsche blonde Gayboys?“

„Sehr witzig. Über den Deutschen Herbst.“

„Aha. Warum gerade über den? Und wieso nicht Sommer… oder Winter?“

Ich bin irgendwie fassungslos. Leslie hingegen lacht sich kaputt.

„RAF, Schleyer-Entführung, Flugzeug-Entführung, Todesnacht von Stammheim und zum Schluss musste Schleyer dran glauben… hältst du mich für total ungebildet, oder wie?“

„Entschuldige, aber die meiste Zeit redest du über Sex, Musik, Klamotten, Filme, Bücher.“

„Eben. Hättest dir mit mir den Baader-Meinhof-Komplex ankucken sollen. Obwohl… der Film ist irgendwie ziemlich für’n Arsch. Der gibt keine Antworten, sondern rasselt bloß die Aktionen runter. Aber gerade bei so einem schwer verständlichen Thema macht das überhaupt keinen Sinn. Es sei denn, das Ziel ist, einen coolen Actionstreifen zu drehen, was ich den Machern jetzt einfach mal unterstelle.“

„Ja, wahrscheinlich“, seufze ich.

„Also, wenn ich dir jetzt helfe, darfst du dann am Wochenende mit mir ausgehen?“

„Kommt drauf an, ob mein Vater gute Laune hat.“

„Dein Vater ist ein Arschloch“, bemerkt er.

„Ist mir noch gar nicht aufgefallen.“

„Deshalb sag ich’s dir ja. Jetzt lass uns dein kack Referat schreiben.“

Man, Leslie weiß echt eine ganze Menge über Terroristen. Der tut immer so, als würde er sich nur für Spaß und Vergnügen interessieren, aber in Wirklichkeit ist er ziemlich gescheit. Und ich komme mir neben ihm grad ziemlich dumm vor. Vielleicht sollte man sich mal mehr mit Politik und Geschichte befassen. Ist doch irgendwie wichtig, oder? Die Ereignisse von 1977 gehören ja vermutlich sogar zur Allgemeinbildung… damit ist es bei mir offenbar nicht weit her. Dafür kenne ich durch meine Aufenthalte in verschiedenen Vereinen die Regelwerke diverser Ballsportarten. Leider ist das kein besonders nützliches Wissen. Es sei denn, man sitzt zufällig bei „Wer wird Millionär?“ und kriegt eine Frage dazu gestellt. Aber wie realistisch ist das denn?!

„Das sollte mindestens eine Zwei Plus geben“, erklärt Leslie. „Damit wird dein Vater ja wohl zufrieden sein.“

„Denkst du, das reicht? Hätte man nicht mehr auf… mh, die Ideologie der RAF eingehen müssen und wie die auf den ganzen kranken Scheiß gekommen sind? Schließlich will ich ja nicht einfach nur die Aktionen runterrasseln.“

„Das ist ein Referat für popeligen Geschichtsunterricht, keine Doktorarbeit. Wenn es dein Lehrer noch umfangreicher haben will, soll er sich den Aust reinziehen.“

„Ich werd’s ihm ausrichten.“

„Also, am Samstag gehen wir ins Subway.“

„Meinetwegen“, nicke ich.

„Schön, ich will dir nämlich meinen neuen Freund vorstellen.“

Au je, ich kippe beinahe vom Stuhl. „Du hast… einen…“

„Freund, Jo-Jo. Warum denn auch nicht? Bin schließlich ein netter, geselliger Mensch.“

„Wenn du ihn mir offiziell vorstellst, muss das ja was super Ernstes sein“, überlege ich.

„Man wird sehen, wie es sich entwickelt, aber… ich bin überzeugt davon, dass er der Richtige ist“, lächelt er.

Das ist wirklich eigenartig, denn Leslie verliebt sich normalerweise nicht in Jungs.

„Hat Mr. Right auch einen Namen?“

„Hat er. Kim.“

„Und… wie ist er so?“

„Umwerfend.“

„Cool, jetzt weiß ich alles über ihn.“

„Wirst ihn ja Samstag kennen lernen“, zuckt er die Schultern.

Jau, ich freue mich wie hulle auf einen Pärchenabend, zu dem ich mitgeschleppt werde! Ey, wenn die permanent knutschen, das halte ich nicht aus.


Im Subway ist es viel zu voll, zu laut, zu heiß, zu stickig und ich fühle mich irgendwie kotzig. Flo hat mir heute per Mail mitgeteilt, was er gestern getrieben hat. Getrieben! Er hat es mit einem Kerl getrieben, den er kaum kennt. Logisch, dass ich schlecht gelaunt bin, oder?!

„Ich hab dir doch gesagt, triff dich mit ihm“, brüllt Leslie. „Das haste davon, dass du nie auf mich hörst. Dein Schnuckelchen bumst einen Anderen.“

„Flo ist nicht mein Schnuckelchen“, entgegne ich aggressiv.

„Der Typ ist eh nix für dich. Viel zu abgewichst.“

„Ach ja? Woher willst’n das wissen? Und was soll das überhaupt heißen?“

„Na, dass es ihm hauptsächlich um Sex geht. Soll so einer etwa dein erster Freund werden?“

„Wo ist denn dein Freund?“

„Keine Angst, der kommt schon noch.“

„Fein, ich hol mir solange eine Cola.“

An der Theke hab ich erstmal wieder die Peinlichkeit gepachtet. Als ich nämlich mit meiner Cola zu Leslie zurück gehen will, stolpere ich und beschütte aus versehen einen Typen mit meinem Getränk.

„Fuck! Entschuldige“, bölke ich und mache mich schleunigst aus dem Staub. Nicht, dass der mir noch die Fresse poliert. Sein schwarz-rot gestreiftes Shirt hat eine ganze Menge Cola abgekriegt. Na toll… Leslie ist verschollen. Angestrengt suche ich die Tanzfläche nach ihm ab. Vergeblich. Okay, dann ist er sicher aufs Klo. Ich warte einfach.

Irgendwann tippt mir jemand auf die Schulter. Leslie. Neben ihm steht ein schwarz-rot gestreiftes Shirt mit diversen Reißverschlüssen dran, einem dunklen Fleck auf der Brust und ich hab das unangenehme Gefühl, dass ich den Gipfel der Peinlichkeit noch längst nicht erreicht habe.

„Jo-Jo, das ist Kim. Kim, das ist Jo-Jo“, stellt Leslie uns höflich vor.

Mir wird schlecht. Kim ist der Junge, den ich auf der Schrebergartenparty beinahe angekotzt hätte. Man, vielleicht erinnert er sich ja nicht mehr.

„Erst Kotze, dann Cola… bin echt gespannt, was du dir fürs nächste Maul ausdenkst, wenn wir uns treffen“, grinst er.

Schade.

„Tut mir leid“, murmele ich.

„Was?“, schreit er und kommt mit seinem Kopf ein Stück näher.

„Es tut mir leid“, wiederhole ich lauter. Ein schwerer Fehler, weil sich meine Stimme total kieksig anhört. Ey, warum erschießt mich denn keiner?

„Nicht so schlimm“, behauptet er. „Solange du dich nicht gleich noch auf mein Shirt übergibst…“

Könnte durchaus passieren. In meinem Magen rumort es wie wild und mein Körper fängt an zu kribbeln, weil Kim aus der Nähe noch ungefähr tausendmal schöner aussieht, ganz schwach nach Jasmin riecht und… weil er Leslies Freund ist. Er ist mit Leslie zusammen und ich gerate hier in Verzückung. Das geht ja mal gar nicht! Jedenfalls weiß ich jetzt hundertpro, was die auf der Party gemacht haben und warum das Außenklo besetzt war, als ich brechen musste. Das erinnert mich augenblicklich an Larry Flynt… Sex mit seiner Mutter auf einem Außenklo… da haben Leslie und ich uns noch drüber kaputtgelacht. Ich frage mich, ob die vielen Reißverschlüsse echt sind, also ob man, wenn man die aufzieht, Kims nackte Haut… okay, Jo-Jo, komm mal langsam wieder runter!

„Umwerfend, mh?“, wispert Leslie mir ins Ohr.

Ein bisschen pisst es mich an, dass er sich ausgerechnet Kim geangelt hat. Ich meine… er schläft mit meiner Freundin, schnappt sich den Typen, den ich im Gartenhaus heimlich angehimmelt habe, fehlt nur noch, dass er es nächste Woche mit Flo treibt. Super passend läuft grad ein alter Bates-Klassiker.

…she’s the girl that I’m dreaming of
but I know I’ll never get her
never
she’s my best friend’s girl…*

Leider ist Kim kein Girl, sondern ein Boy. Na und? Mir doch egal. Und haben will ich ihn auch nicht. Never! Schließlich finde ich Jungs immer noch nur theoretisch toll und daran wird sich bestimmt nichts ändern. Auch wenn mein Körper von der Kopfhaut bis zu den Zehenspitzen kribbelt, weil Kim dicht neben mir steht und offenbar Bates mag, denn er singt den Text leise mit.

„Die Bates sind geil, oder?“

Ich nicke schwach. Kims Lippen haben soeben beim Sprechen hauchzart mein Ohr berührt.

„Nach Zimbls Tod konnte ich die ewig nicht mehr hören, aber jetzt geht’s wieder.“

Ich nicke erneut, weil ich mich erinnere, dass Leslie vor drei Jahren, kurz nachdem wir uns kennen gelernt haben, eine ganze Zeit in schwarz rumlief… weil Zimbl gestorben ist. Logischerweise ist das nicht besonders aufgefallen, weil Leslie sowieso meistens schwarze Klamotten getragen hat. Trägt er heute auch noch. Hä? Wo ist der überhaupt? Schon wieder verschollen. Hat der einen Sprung in der Schüssel, mich mit seinem hübschen Freund einfach so hier stehen zu lassen?

„Ich werd mal Leslie suchen“, erkläre ich.

Lange dauert das nicht. Er hängt mit irgendeinem mir fremden Mädchen zusammen. Relativ eng zusammen.

„Ja?“, fragt er, als ich ihn anschubse.

„Äh… also dein Freund steht dahinten und… reißt du hier grad ein Mädel auf?“

„Du meine Güte“, stöhnt er. „Wart mal kurz“, ruft er dem Mädchen zu und zerrt mich nach draußen in eine ruhige Ecke. „Hast du’s immer noch nicht kapiert, Jo-Jo?“

„Nee. Was denn?“, entgegne ich verwirrt.

„Ich hab nichts mit Kim.“

Mein Hirn ist überfordert.

„Aber… du hast gesagt, dass er dein Freund ist.“

„Du bist auch mein Freund. Haben wir deshalb was miteinander? Nein. Ich dachte, wenn du ihn kennen lernst, verliebst du dich und…“

„Soll das etwa eine Art Verkupplungsaktion werden? So Blind-Date mäßig? Bist du nicht ganz gescheit?“

„Wieso? Er gefällt dir doch.“

„Du hast echt den Arsch auf“, zische ich. „Oh, shit… was hast du Kim erzählt, um ihn hierher zu locken?“

Leslie kuckt ein wenig zerknirscht drein. „Ähem… ungefähr das, was ich dir erzählt habe?“, schlägt er vor. „Vielleicht mit dem kleinen Zusatz, dass du noch keine Erfahrung mit Jungs hast und er dein erster Freund wäre.“

„Das ist ein Scherz“, hoffe ich.

„Was ist so schlimm daran? Kim fand dich auf Noras Party auch süß.“

„Wahrscheinlich bevor mir Kotze vom Kinn tropfte.“

„Hör doch mal mit deiner blöden Kotze auf und geh wieder rein zu ihm.“

„Das ist aber jetzt ein Scherz“, bin ich mir sicher.

„Was ist dein Problem, Johannes? Ich präsentiere dir den Typen quasi auf einem silbernen Tablett und du nervst hier rum.“

„Du bist mein Problem. Halt dich zukünftig doch bitte einfach aus meinem Leben raus, ja? Einen schönen Abend noch“, wünsche ich und mache, dass ich von dem Verrückten wegkomme.

Zuhause in meinem Zimmer bin ich viel zu wütend und aufgeregt, um zu schlafen, deshalb hocke ich mich vor den Computer und sehe, dass Flo grad online ist. Fein.

Ich hatte einen abartigen Abend, teile ich ihm ohne Umschweife mit.

Ein freundliches ’Hallo’ wär auch nett gewesen ;-)

Mir ist nicht nach Nettigkeit!

Wow… sogar mit Ausrufezeichen. Was’n passiert?

Leslie hat heute versucht, mir einen Typen anzudrehen. Dreimal darfste raten, was für einen.

Sag’s mir, ich mag nicht raten.

Kotze im Schrebergarten … klingelt’s?

Bin etwas verwirrt. Du stehst auf Jungs??

Super, Jo-Jo! Na ja, was soll’s?!

Sieht ganz so aus.

Cool. Dann will ich sofort auch ein Foto von dir :-)

Wozu denn?

Ja… wozu denn wohl?

Keine Ahnung?!

Damit ich weiß, wie du aussiehst und ein bisschen von dir träumen kann …

Mein Schädel glüht. Flirtet der etwa mit mir? Au je!!

Ich sehe aber gar nicht zum Träumen aus.

Lässt du mich das bitte selber entscheiden?!

Nee. Hinterher brichst du angeekelt den Kontakt ab.

Bist du so ein hässlicher Kobold?

Yep! Ich hab ein kleines, rotes, pickliges Gesicht…und wenn du nicht aufpasst, zwicke ich dich ins Ohr ;-)

Ahhhh…Brieftauben, mh? Fand ich früher ziemlich geil. Okay, zwick mich…aber nicht ins Ohr.

Sondern?

*rrrrr* da wüsste ich schon einige Stellen …

Mir ist mittlerweile ganz kunterbunt im Magen. Und Flo ist ungeduldig.

He … ich bin immer noch ungezwickt …

Nee, das wird mir jetzt zu heikel.

Ich werd mal schlafen gehen, ziehe ich mich aus der Affäre.

Spielverderber! Okay, schlaf gut und… schick mir ein Foto!

Na, da hab ich mir ja was eingebrockt.



*
The Bates
„Best friend’s girl“
(Zimmer/Moeller/Klubescheidt)
Midway-Music Musikverlag Walter Holzbaur

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