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5Mose32

Vengeance is mine

Teil 1

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Informationen

Inhaltsverzeichnis

Vorwort:

Alle Personen, Orte und Handlungen sind weitgehend frei erfunden, Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind möglich, stellenweise sehr wahrscheinlich, aber nicht unbedingt beabsichtigt.

Einige Situationen sind aus meinen eigenen Erlebnissen abgeleitet. Die Namen wurden selbstverständlich geändert.

Weiterhin werden Handlungen sexueller und/oder gewalttätiger Art beschrieben. Wer damit nicht klarkommt, sollte diese Geschichte besser nicht lesen. Außerdem sind die entsprechenden Szenen keinesfalls gewaltverherrlichend gemeint oder gar zur Nachahmung empfohlen. Körperverletzung ist und bleibt ein Verbrechen!

Es sind eigentlich mehrere einzelne Episoden in loser Reihenfolge; vielleicht könnt ihr ja eine Verbindung zwischen ihnen erkennen …

Ach ja, noch was: Die Geschichte spielt im Ruhrgebiet. In der einen oder anderen Story ist die wörtliche Rede evtl. in einem 'Slang' verfasst. Das ist authentisch, da das Ruhrgebiet 'multi-kulti' ist. Ich kann und will meine Herkunft aus dem 'Revier' eben nicht verleugnen.

Über Feedbacks von Euch würde ich mich jedenfalls freuen – egal, ob ihr mich liebt, auslacht oder verteufelt.

BigT., März 2009

Tony

Ganz allmählich lichtet sich die Dunkelheit; ein endlos langes Gewölbe – Nebel wabert durch den Raum – ganz am Ende strahlende Helligkeit. Ich schwebe ganz langsam auf dieses Licht zu. Der Nebel verflüchtigt sich nach und nach. Es wird allmählich heller.

Undeutliche, verschwommene Gestalten schweben im Licht – winken mir zu. Ich fühle mich unendlich wohl, fast schon glücklich und nähere mich den Gestalten immer weiter.

Ein monotones Summen ist überall. Eine einzelne Gestalt löst sich von den Anderen und schwebt mit ausgestrecktem Arm gezielt auf mich zu. Sie hat zwar kein Gesicht, aber ich weiß genau, wer es ist. Meine Freude wird unfassbar groß. Ich strecke meine Hand aus und kann die Gestalt schon fast berühren …

Plötzlich verdunkelt sich der Raum, und in einem jäh auffrischendem Wind verwirbeln die restlichen Nebel, die Gestalten, das strahlende Licht – und ich bin wieder allein in meinem dunklen Gewölbe. Das Summen erstirbt abrupt und Stille umgibt mich.

Ich sehne mich nach dem Licht und der einzelnen Gestalt.

Ich fühle mich plötzlich unglaublich traurig.

Dann umgibt mich wieder Schwärze.


Ein unangenehmes fahles Licht blendet mich – sogar durch die geschlossenen Augenlider. Ich versuche, meinen Kopf in das Kissen zu drehen, aber ich kann mich nicht bewegen. Irgendetwas hält mich in dieser Lage fest.

Wer bin ich eigentlich? Warum kann ich mich an absolut gar nichts erinnern? Warum macht niemand dieses verdammte diffuse Licht aus? Und was piept da ununterbrochen und nervt entsetzlich??

Gottseidank, es wird wieder schwarz um mich …


Da ist wieder dieses fahle Licht. Ich versuche, die Augen zu öffnen – und dieses Mal geht es. Zwar nur ganz allmählich und auch nur ein kleines Stück, aber immerhin. Bewegen kann ich mich nicht, aber mein Blick tastet die Umgebung ab.

Aha, ich liege in einem Krankenbett; überall an mir hängen Kabel und Schläuche herum. Das nervende Piepen hat sich verändert – irgendwie lauter und schneller.

Krankenhaus - also bin ich krank! Aber wieso? Ich war noch nie ernsthaft krank!

Ich erinnere mich auf einmal an einen Knall … kreischende Bremsen … dann Stille.

Und Thomas, der auf der Beifahrerseite sitzt, bewegt sich nicht mehr.

Oh Gott, wir hatten einen Unfall! Wo ist Thomas? WO IST MEIN SCHATZ??

Das Piepen steigert sich zu infernalischem Kreischen.

Dunkelheit …


"Ich glaube, er wird wieder wach, Herr Professor."

Eine sehr angenehme Stimme bringt mich wieder in dieses helle, fahle Licht zurück. Ich schlage die Augen auf, was diesmal recht einfach ist und sehe mich um. Meinen Kopf kann ich also auch wieder etwas bewegen.

Aha, ein typisches Zimmer auf einer Intensiv-Station, diffuses Licht, Geräte und Schläuche und Kabel, wohin man auch blickt. Neben mir am Bett steht eine Art 'Junkie-Bar'; also eine ganze Batterie von Infusionsbehältern auf einem Chromständer, alle voll mit Chemie und über einzelne Dosierregler mit einem Tropf verbunden – und dieser Tropf führt über einen zentralen Schlauch unter meine Bettdecke. Den Infusionszugang sehe ich zwar nicht, aber da ich in einem Krankenhaus meinen Zuviel- ääh ... Zivildienst abgeleistet habe, kenne ich alle diese Folterinstrumente zur Genüge. Die Dröhnungsmischung läuft also direkt über einen 'Port' zu meiner Blutpumpe … ääh … Herz, meine ich natürlich.

An meinem Bett stehen zwei Männer in Kitteln; einer etwa Fünfzig und allem Anschein nach der Chefarzt; der andere vielleicht Anfang zwanzig und entweder Praktikant oder OP-Pfleger.

Und ziemlich cute, wie mein 'Gayscan' sofort anzeigt! Also auf der nach oben offenen Schnuckel-Skala mindestens eine 'Sieben'. Aber zuerst muß ich ja mal herausfinden, was denn nun eigentlich mit mir los ist.

Das Einfachste: Fragen, denn sprechenden Menschen kann bekanntlich geholfen werden.

Ich öffne also den Mund und frage: "Hey, Leute, schön, Euch zu sehen. Was ist denn eigentlich passiert?"

Jedenfalls möchte ich dies gern fragen. Aber aus meinem Mund kommt noch nicht einmal ein Krächzen. Gar nichts! Naja, vielleicht ein ersticktes Röcheln, mehr nicht.

Aha, ich träume also doch noch, oder?

"Na, da bist Du ja wieder", lächelt mich der Schnuckel an. Er kommt dicht an mein Bett heran, nimmt meine rechte Hand und sagt weiter: "Ehe Du versuchst, zu reden – das geht noch nicht. Oder richtiger: Du mußt das Sprechen im Prinzip ganz neu lernen. Ich stelle Dir jetzt einige Fragen. Bei 'Ja' drückst Du meine Hand kurz, und bei 'Nein' etwas länger. Wollen wir das mal versuchen?"

Ich bin zwar noch etwas verwirrt, aber gehorsam drücke ich seine Hand kurz.

"Prima! Ich bin übrigens hier auf der Station Assistenzarzt und heiße Weber, oder für Dich kurz Wolfgang." Er lächelt mich dabei freundlich an.

Wow, Wolfi ist schon Arzt!

"Dann wollen wir mal. Erinnerst Du Dich noch an Deinen Unfall?"

Langer Druck.

"Hmm, kannst Du Dich an irgendetwas aus der Vergangenheit erinnern?"

Zögern, dann langer Druck, wieder Zögern und dann kurzer Druck.

"Aha, na, das ist ja schon mal ein Anfang." Dabei lächelt er mich wieder ganz lieb an.

Klar, ich erinnere mich jetzt, dass ich 'Tony' heiße und fast zwanzig Jahre alt bin. Ich habe mittelbraune Haare und braune Augen: außerdem eine 'Kodder-Schauze', wie man so schön sagt, d.h. ich nehme, jedenfalls nach außen hin, nichts ernst – habe statt dessen immer einen flotten, manchmal auch peinlichen Spruch drauf.

Ach ja: Und ich bin schwul.

Das Letztere weiß ich seit meinem sechzehnten Lebensjahr. Ich bin seit zwei Jahren geoutet und habe seit einem Jahr einen ganz, ganz lieben Freund – der süßeste und zärtlichste Mensch, der mir je begegnet ist. Und er liebt mich genauso, wie ich ihn.

Dann schießt mir die wichtigste Frage durch den Kopf: WAS IST MIT THOMAS??

Natürlich wieder nur Röcheln. Ach du Scheiße!

Der junge Arzt merkt natürlich, dass ich mich verkrampfe, streicht mir mit der freien Hand über die Haare und lächelt mich beruhigend an.

"Bleib ruhig, Tony. Ich weiß, was Dich am meisten beunruhigt: Dein Freund Thomas, oder?"

Kurzer Druck. Dreimal!

Sein Lächeln verschwindet, er schaut mich traurig an, und ich weiß Bescheid. Trotzdem trifft mich das nächste wie ein Keulenschlag.

"Also, Tony, um Dich nicht mehr als nötig aufzuregen, hier Dein Unfall im Kurzbericht:

Dein Freund und Du, ihr wart in Deinem Auto unterwegs auf der B223. Irgendwelche Vollidioten haben dann von einer Brücke einen Gullydeckel auf Euch geworfen. Der hat die Windschutzscheibe auf der Beifahrerseite durchschlagen und Deinen Freund voll erwischt. Er war auf der Stelle tot, hat also sicherlich nicht gelitten – falls Dir das etwas hilft."

Mein Blick wird sofort trübe, obwohl ich ganz tief drinnen schon geahnt habe, dass Thomas nicht mehr lebt.

Mir fällt wieder ein, dass Thomas und ich unterwegs nach Dorsten waren – zu einem sehr netten Ausflugslokal, wo wir bei einem gepflegten Abendessen unser 'Einjähriges' gebührend feiern wollten.

Die Tränen laufen mir über die Wangen. Thomas ging so gern mit mir chic aus zum Essen, und danach war er immer besonders lieb und zärtlich.

Da war doch diese Gestalt in dem Gewölbe …

Wolfgang streichelt mir leicht über das Gesicht und fährt fort: "Dich werden wir aber wieder hinkriegen, versprochen. Mehr Einzelheiten werde ich Dir in den nächsten Tagen erzählen, wenn Du das hier etwas verkraftet hast. Du mußt viel schlafen, damit Du den Kampf gegen Deine Verletzungen aufnehmen kannst. Das ist jetzt ganz wichtig, hörst Du?"

Kurzer Druck. Und: Aha, Weinen und schluchzen geht auch schon wieder ganz leidlich.

Verstohlen wischt er sich über die Augen, nimmt dann ein Papiertuch und wischt mir damit vorsichtig die Tränen aus dem Gesicht. Dann lächelt er mich wieder aufmunternd an und sagt noch: "So, ich lasse Dich jetzt wieder allein – mit Deinem Schmerz. Aber ich komme immer, wenn ich etwas Zeit habe, wieder her und sehe nach Dir, okay? Also dann …"

Damit drückt er meine Hand fest, läßt mich dann los, tupft mir mit dem Papiertuch wieder die Tränen ab, schaut mich noch einmal ganz liebevoll an und dreht sich wieder zu seinem 'Chef', der während der ganzen Zeit stumm zugehört und dabei die Geräte beobachtet hat. Wolfgang regelt noch kurz was an der Infusionsflaschen-Batterie, und zusammen verlassen sie dann das Zimmer.

Ich bin allein mit meinen Schmerzen. Die körperlichen werden noch durch die Chemie aus der 'Junkie-Bar' in Schach gehalten, aber die seelischen werden immer heftiger. Nach kurzer Zeit merke ich, dass mir auch wieder die Tränen über die Wangen laufen.

Allmählich heule ich mich in meine Dunkelheit zurück.


Nach drei Tagen habe ich mich soweit erholt, dass Wolfgang mir mehr Einzelheiten erzählt. Ich habe auch wieder 'Sprechen' trainiert; erst immer beim Ausatmen ein Wort, dann schon jedes Mal zwei oder drei … mittlerweile geht das schon wieder ganz gut, zwar krächzend, aber doch verständlich. Wolfi hat gelächelt und mich gelobt.

Nach und nach wird auch die Dosis meiner Dauer-Dröhnung reduziert – und langsam spüre ich die körperlichen Schmerzen. Am meisten stört mich, dass ich den linken Arm nicht bewegen kann.

Ich habe mit Wolfi eine Abmachung getroffen, dass er mir offen und schonungslos alles erklärt, was ich wissen möchte und sofort damit aufhört, wenn mir das zuviel wird.

Also habe ich Stück für Stück erfahren, dass mein linker Arm zertrümmert wurde und wahrscheinlich steif bleibt. Vielleicht kann ich ihn auch gar nicht mehr benutzen, das muß die Zeit ergeben. Na ja, davon lasse ich mich nicht unterkriegen, das wird mit entsprechendem Training schon wieder.

Außerdem habe ich einen gequetschten Kehlkopf, drei angeknackste Rippen und überall Prellungen und Blutergüsse, die schon fast wieder ganz verheilt sind, und eine Gehirnerschütterung.

Aha, wenn man da was erschüttern kann, dann habe ich ja doch was im Schädel. Haha!

Aber ich habe auch oft stechende Schmerzen im Unterleib, darüber hat Wolfi noch gar nichts erzählt. Morgen werde ich ihn dazu mal ausfragen. Heute ist Sonntag, und er hat leider frei. Ist zu seinen Eltern nach Süddeutschland gefahren.

Ich kann auch den Kopf schon wieder etwas heben und mehr von meinem 'Gefängnis' sehen. Na, so nach und nach wird das schon wieder, da bin ich optimistisch. Was mich allerdings etwas irritiert, sind die drei Schläuche, die unter meine Decke führen, und von denen ich noch nicht weiß, wozu die da sind. Klar, einer hängt an einem Katheter – ich muß ja schließlich auch mal pinkeln – und führt zu einem Urinbeutel, der neben meinem Bett hängt. Aber die beiden anderen? Irgendwie sind diese Schläuche ein Schlüssel zu etwas ganz Wichtigem, sagt mir mein Gefühl.

Hoffentlich kommt Wolfgang morgen wieder. Auf anderen Besuch brauche ich nicht zu warten, denn eine Familie habe ich nicht. Mein Dad ist an Krebs gestorben, als ich zehn Jahre alt war, und Mom hat dann das Saufen angefangen und sich bis ins Delirium tremens gesoffen. Irgendwann hat man sie weggefangen und zwangseingewiesen. Ich bin dann bei einer Pflegefamilie aufgewachsen, die mich aber eigentlich gar nicht mochte, obwohl ich immer ein pfiffiges Kerlchen war.

Als ich siebzehn war, hat sich meine Mom in der 'Nasenbleiche' dann wohl selbst aufgegeben und am Fensterkreuz aufgeknüpft. Hatte wohl keinen Gedanken mehr an mich. Na ja, ich bin darüber weg; und dabei hat mir mein Liebling sehr, sehr geholfen.

Und 'Freunde'? Alle meine sogenannten 'guten' Freunde haben sich als 'Luftnummern' herausgestellt, nachdem ich mich geoutet hatte. Sie haben mich danach entweder einfach gemieden oder bei jeder Gelegenheit über mich abgelästert - das ganze Klischee rauf und runter. Haben sich sozusagen selbst disqualifiziert. Also kann ich auch gut auf sie verzichten, oder? Immer frei nach dem Motto: 'Freunde hat man, Feinde muß man sich erarbeiten!'

Ha!

Aber mein Thomas fehlt mir unendlich! Sein liebes Lächeln, seine zärtlichen Berührungen – er merkte immer sofort, wenn es mir mal nicht so gut ging. Und ich bei ihm genauso! Und dann nahmen wir uns gegenseitig ganz sanft in den Arm, lehnten uns aneinander – und alles war wieder gut. Mein Innerstes krampft sich bei diesen Gedanken zusammen und Tränen laufen mir über die Wangen.

Ich heule mich wieder in den Schlaf. Die Dunkelheit ist sehr tröstlich …


Gestern , am Montag, ist 'mein' Wolfi nicht aufgetaucht. Der Stationsarzt sagte was von 'Weiterbildung'.

Dafür habe ich aber einen eigenen Pfleger bekommen. Leider ein Griesgram, Mitte vierzig, hager und mit Hakennase. Er hat einen Drei-Tage-Bart und starke Behaarung an den Armen. Den Rest kann ich natürlich nicht sehen, aber ich glaube, er ist am ganzen Körper behaart wie ein Affe. Und immer schlecht gelaunt, dabei versuche ich, ihm die Arbeit so leicht wie möglich zu machen und habe auch keinerlei Sonderwünsche. Trotzdem habe ich immer das Gefühl, er hält mich für seinen persönlichen Feind.

Außerdem riecht er aus dem Hals. Aber seinen Job versteht er, da gibt's gar nichts!

Endlich läßt sich Wolfgang wieder blicken. Er lächelt mir zu und sagt: "Sorry, dass ich Dich gestern nicht besuchen konnte, war auf einem Workshop – Weiterbildung, weißt Du? Wie geht's denn heute? Starke Schmerzen?"

Ich krächze: "Na ja, es geht. Ich werde es schon aushalten. Es wird ja immer besser, dank Deiner guten Pflege." Dabei gebe ich ihm das Lächeln zurück.

Mensch, bin ich gerade dabei, mit ihm zu flirten? 'Tony, Du spinnst doch total. Gerade von der 'berühmten' Schippe gesprungen und kann sich kaum bewegen, aber flirtet mit seinem Arzt … ist ja nicht zu glauben!'

Wolfgang stellt sich neben mein Bett, legt mir eine Hand beruhigend auf die Stirn und sagt leise: "Tony, ich denke, ich werde deine Morphindosis mal runterfahren. Du wirst Deine Schmerzen dann wohl mehr spüren, aber irgendwann müssen wir Dich ja ganz absetzen. Und je früher wir damit anfangen, desto besser. Oder möchtest Du unser gastliches Haus als Junkie verlassen?" Dabei grinst er schon wieder so süß, dass mir ein Kribbeln über den ganzen Körper läuft.

"Ich drehe mal die Dosis auf absolutes Minimum und komme dann in etwa drei Stunden wieder und sehe nach Dir. Wenn Du die Schmerzen gar nicht mehr aushalten kannst, dann klingel bitte nach der Stationsschwester. Ich werde sie noch instruieren, damit sie weiß, was Du benötigst."

'Was ich benötige, kann die Schwester – und sei sie noch so nett – mir leider auch nicht zurückgeben", denke ich. Laut krächze ich: "Okay, Wolfi, versuchen wir's halt mal ohne Dich und Deine Drogen."

Bei 'Wolfi' grinst er mich offen an, sagt aber nichts. Dann regelt er wieder an meiner 'Junkie- Bar' herum, lächelt mir noch einmal zu und verläßt dann das Zimmer.


Es ist schon fast dunkel draußen, als mein 'Privat-Doc' wieder auftaucht. Meine Schmerzen waren bisher auszuhalten, und ich freue mich, ihn zu sehen. Er hat wohl schon Feierabend, denn er hat sich umgezogen und trägt nun einen einfachen Pulli, graue Straßenhosen und Sandalen. Er hat sich wohl geduscht, denn die Haare sind noch feucht und wuscheln um seinen Kopf, was ihn unbedingt noch süßer aussehen lässt. Ich möchte ihm gern durch die Frisur strubbeln, grinse aber nur, als er sich einen Hocker heranzieht und sich zu mir ans Bett setzt.

Mein Grinsen erfriert förmlich, als ich ihm genauer ins Gesicht sehe. Er ist sehr ernst, als er wieder die Hand auf meine Stirn legt. Dann fragt er mich, ob die Schmerzen erträglich seien.

"Ja, es ist auszuhalten. Ich komme schon wieder hoch. Aber warum bist Du so ernst? Was hat es gegeben?"

"Tony, wenn Du schon wieder soweit gefestigt bist, dass Du keinen Schock bekommst, wenn ich Dir Einzelheiten erzähle, dann sage mir das bitte. Was ich zu erzählen habe, ist echt heftig, deswegen werde ich Dir heute nur das Nötigste sagen. Wie sieht's aus? Meinst Du, Du kannst schon was vertragen?"

"Sicher, ich bin doch robust. Also, fang einfach an – und wenn ich in Ohnmacht falle, warte einfach, bis ich wieder wach bin. Dann kannst Du ja weitererzählen." Dabei versuche ich ein cooles Grinsen, was mir aber wohl nicht recht gelingt. Jedenfalls schaut Wolfgang mich ernst und abschätzend an. Dann fängt er einfach an:

"Damit Du gleich weißt, dass wir auf einer Wellenlänge sind: Dass Du schwul bist, weiß ich ja mittlerweile. Ich verstehe Dich besser, als Du vielleicht bisher geglaubt hast, denn ich bin auch schwul, allerdings noch nicht geoutet; sowas ist für einen angehenden Chefarzt nicht unbedingt förderlich, wie Du Dir wohl denken kannst. Dazu ist unsere Gesellschaft einfach noch zu verknöchert, aber das kennst Du ja bestimmt auch. Dass Du mein Geheimnis hier nicht herum erzählst, halte ich für selbstverständlich, oder?"

Ich nicke vorsichtig, nehme seine Hand in meine und drücke sie kurz..

Er macht eine kleine Pause, dann: "Und dass Du mich magst, habe ich gleich bemerkt; ich mag Dich ja auch. Aber mache Dir bitte keine falschen Hoffnungen, ich bin in festen Händen – schon seit einigen Jahren. Und ich bin mit meinem Freund sehr glücklich!

So, und nun zu Dir. Was bei Deinem Unfall passiert ist, weißt Du ja schon. Dein Freund hat das ja leider nicht überlebt, das tut mir sehr, sehr Leid für Dich und ist auch durch nichts wieder gutzumachen. Aber jetzt kommt es in erster Linie darauf an, dass Du gesund wirst – jedenfalls so gut wie es möglich ist."

Ich schweige beharrlich, und nach einer weiteren kurzen Pause fährt er fort: "Ich werde Dir jetzt noch nicht haarklein berichten, was alles passiert ist, nur so viel: Nach dem 'Unfall' hast Du wohl sehr schnell und richtig reagiert, denn Du hast das Auto nach ein paar Metern rechts neben der Straße zum Halten gebracht. Dabei bist Du völlig unverletzt geblieben. Was danach noch los war und wie es dann zu Deinen schlimmen Verletzungen gekommen ist, werde ich Dir morgen erklären; dann kommt auch ein Kommissar von der Kripo mit dazu, der Dich wohl mit Fragen löchern wird."

Er atmet einmal tief durch und fährt dann fort: "Dein linker Arm ist ziemlich zertrümmert. Wir hoffen aber, das soweit wieder herstellen zu können, dass Du um eine Amputation herumkommst. Versprechen kann ich Dir das allerdings nicht. Dann noch was: Deine Hoden waren total zerquetscht, weswegen da eine komplette Entfernung des Hodensacks nicht zu vermeiden war. Dir sind sicher die Schläuche an Deinem Unterleib aufgefallen!? Die sind dazu da, um Wundsekret abzuführen, damit eine Entzündung verhindert wird und die Wunde heilen kann. Dein Penis ist glücklicherweise nicht arg verletzt, sodass da wohl wieder alles in Ordnung kommen wird. Vielleicht kannst Du ja wieder irgendwann jemanden glücklich machen."

Beim letzten Satz zieht er ein Taschentuch und schneuzt sich. Dann schaut er mich, seinen Patienten, liebevoll an, streicht mir sanft über die Haare und – nach kurzem Zögern – gibt er mir einen zärtlichen Kuß auf die Stirn.

Ich liege da, wie vom Donner gerührt.

"So, und nun versuche, zu schlafen. Und grüble nicht zu lange über Deinen Kummer – das kommt alles wieder in Ordnung ... irgendwie ...", versucht er mich zu trösten. Dann gibt er mir noch eine Spritze in den gesunden Arm und sagt: "Damit kannst Du besser einschlafen. Gute Nacht, mein Kleiner." Damit gibt er mir noch einen kleinen Kuß auf die Stirn und geht.

'Zertrümmerter Arm? Gequetschter Sack?? Ja wie? Ich war doch nach dem Unfall unverletzt, hat er gesagt?'

Ich beginne natürlich doch zu grübeln. Was mag nur passiert sein?

So langsam gleite ich in einen tiefen Schlaf hinüber. Die Spritze war doch gut.


Am nächsten Morgen kommt 'Gonzo', mein Pfleger, mit einer Bettpfanne. Ich nenne ihn im Geheimen 'Gonzo', wegen seiner Nase ... und muß immer grinsen, wenn ich daran denke.

"So, Kollege (er sagt immer 'Kollege' zu mir), Du bist nun schon gut drei Wochen hier, und da wollen wir mal versuchen, ob Dein Arsch einen ausgibt." Ich verstehe nur 'Bahnhof', aber aus meiner Zivi-Zeit weiß ich ja, wozu er die Pfanne mitgebracht hat.

Da mir das natürlich unangenehm ist, versuche ich es noch mit Ausreden wie 'Ich habe doch nichts gegessen, nur Tropf-Nahrung!' oder 'Ich gehe gleich selbst zur Toilette!', aber Gonzo grinst nur wissend, hebt mich etwas an und schiebt mir die Pfanne unter.

ER HEBT MICH EINFACH AN!

Ich glaube es ja nicht. In meinem Ausweis steht bei 'Körpergröße' 197cm, und mein Gewicht war immer so um 90-95kg. Jedenfalls vor dem Unfall. Dabei war ich immer darauf bedacht, mich durch Kraft- und Kampfsport fit zu halten. Auf jeden Fall hatte ich nie Fett auf den Rippen. Und trotzdem hebt mich dieser hagere Mensch einfach so an. Na ja, seinen Job versteht er halt.

Ich ergebe mich in mein Schicksal und versuche, die Bettpfanne ihrer Bestimmung zuzuführen. Es geht nicht, immer, wenn ich drücke, jagt mir ein Schmerz durch den Körper, der mir fast die Besinnung raubt. Herrgott, was ist denn noch alles mit mir?

Gonzo merkt nach einiger Zeit, dass es keinen Zweck hat, nimmt die Pfanne wieder weg und verabschiedet sich mit den Worten: "Dann werde ich mal einen leckeren Einlauf vorbereiten." Grinst mich noch mal dreckig an und verlässt frohgemut mein Zimmer. Der hat ja wirklich ein Gemüt wie ein Fleischerhund!

Kurz darauf besucht mich Wolfgang und bringt einen älteren Herrn mit, der sich als Kommissar Gutmann vorstellt. Er gibt mir die Hand und lächelt etwas gezwungen. Na ja, einem kranken Schwulen steht man eben nicht gern gegenüber, oder?

Er sieht mich eine Weile an, dann sagt er: "Ich darf 'Tony' sagen, ja? Also, wenn Sie Sich mittlerweile stark genug fühlen, werde ich Ihnen alle Einzelheiten des Unfalles erzählen. In Ordnung?"

Ich nicke nur kurz – und habe plötzlich ein ganz mulmiges Gefühl im Magen. Da kommt noch was, das ist mir jetzt klar.

"Ich glaube allerdings nicht, Herr Gutmann, dass ich Ihnen bei den Ermittlungen eine große Hilfe sein werde, da ich mich an meinen Unfall überhaupt nicht mehr erinnern kann. Aber versuchen will ich es auf jeden Fall. Also, fangen wir an?"

"Gut. Zuvor aber noch eins: Ich weiß von Herrn Dr. Weber, dass Sie homosexuell sind. Mir ist das egal, ich habe damit überhaupt kein Problem. Also können Sie frei reden, wenn Sie möchten."

Ich staune nicht schlecht. Ärzte haben doch Schweigepflicht, oder?

Als ob Wolfgang meine Gedanken erraten hat, mischt er sich hier kurz ein und sagt: "Tony, ich habe Dein Einverständnis vorausgesetzt und Herrn Gutmann aufgeklärt. Ich weiß aus früherer Zusammenarbeit mit ihm, dass er da sehr tolerant ist und mit Schwulen und Lesben wie mit jedem anderen auch umgeht. In der Beziehung können einige seiner Kollegen von ihm noch was lernen, das kannst Du mir glauben. Außerdem dient es ja auch dazu, um Deinen Fall schneller abzuschließen." Er lächelt mich dabei so gewinnend an, dass ich ihm sogar einen Mord verzeihen könnte.

Ich nicke und wende mich an den Kommissar: "Herr Gutmann, mir wäre es lieber, wenn Sie mich duzen würden. Ich meine, ich bin das aus meinem Umfeld so gewohnt. Ist mir halt etwas vertrauter."

Kommissar Gutmann zieht sich einen Hocker heran, setzt sich an mein Bett, und dann fängt's an:

"Also gut, Tony, Du erinnerst Dich also den Unfall betreffend an nichts mehr, ja? Dann will ich Dir jetzt alles erzählen, was wir bisher ermittelt haben. Es war ja – wie du wohl von Deinem Arzt schon erfahren hast – kein Unfall, sondern ein geplanter Anschlag auf Deinen Freund und Dich. Wir haben in der vergangenen Woche die Täter – vier Jugendliche im Alter von siebzehn bis zweiundzwanzig - verhaften können, nachdem uns ein anonymer Tipp zugespielt wurde. Ich glaube, wir haben da einen Treffer gelandet."

Er lehnt sich etwas zurück, wischt sich mit einer Hand über die Augen und spricht dann weiter: "Es handelt sich bei den Tätern um Mitglieder einer rechtsradikalen Gruppierung, also total verblendete Jugendliche, die ihren Frust und Hass an Minderheiten wie Ausländern, Obdachlosen und eben Schwulen abreagieren. Deswegen der Anschlag auf Euch. Auf jeden Fall haben die verdammten Bengels nach einigen ziemlich heftigen Verhören die Tat gestanden."

Er macht eine Pause und versucht, seinen aufsteigenden Groll zu unterdrücken. Dann sieht er mir in die Augen und fragt: "Du sagst nichts, geht es noch? Kann ich weiter berichten?"

Ich bin bestürzt, fasse mich aber schnell und antworte: "Ich glaube schon, dass ich das verkrafte. Reden Sie einfach frei weg. Wenn es nicht mehr geht, sage ich das schon. Aber danke für die Rücksichtnahme."

"Also, dann mal weiter. Die 'Gang' hat Euch eine teuflische Falle gestellt: Zuerst hat einer den Gullydeckel von der Brücke geworfen. Dann haben die drei anderen, die unten an der B223 gewartet haben, Dich aus dem stehenden Fahrzeug gezerrt und hinter die Böschung geschleift. Zu dritt sind sie über Dich hergefallen und haben dich wie nach Plan zusammengeschlagen. Einer hatte einen Baseballschläger dabei, mit dem er Deinen Arm zertrümmert hat. Dann hat Dir der Anführer mit Springerstiefeln in den Unterleib getreten und – als Du hilflos am Boden lagst – haben alle noch weiter auf Dich eingetreten und –geschlagen, bis sie wohl irgendwann genug hatten. Ein LKW-Fahrer hat dann kurz darauf angehalten, Dich gefunden und den Notruf gewählt."

Er macht wieder eine kurze Pause und fährt dann fort: "Und das Perverseste: Der Deckelwerfer hat die ganze Aktion von der Brücke aus mit seinem Handy gefilmt. Wir konnten allerdings das Handy als Beweis beschlagnahmen. Und damit sind diese Verbrecher wohl endgültig geliefert."

Ich höre völlig entsetzt zu und kann mir solche geplanten Grausamkeiten einfach nicht vorstellen. Trotz Kampfsport war ich immer – immer! – ein äußerst friedliebender Mensch. Mir wird unvermittelt schlecht, und ich fange an zu würgen. Wolfgang hält mir schnell eine Brechschale unter, aber außer Schaum kommt nichts raus. Woher denn auch?

Mitfühlend legt er mir die Hand auf die Stirn und versucht, mich mit leisen, lieben Worten etwas zu beruhigen.

"Geht's wirklich noch?" fragt der Kommissar mich besorgt. Ich nicke nur schwach. Wenn schon, dann will ich auch alles hinter mich bringen.

"Also, das Schlimmste kommt noch. Bist Du sicher, dass ..."

"Jaja, ich will es hinter mich bringen. Bitte, erzählen Sie weiter."

"Zwei der Schläger haben Dich dann vergewaltigt ..."

???

"... und – wie mir Dein Arzt mitgeteilt hat – Dich dabei wahrscheinlich mit AIDS infiziert!"

!!!

BUMMS!

"Bitte, was?" kann ich noch eben röcheln. Da mischt sich Wolfgang ein, gibt mir schnell eine Spritze, nimmt mich in den Arm und flüstert: "ich habe routinemäßig Dein Blut untersucht: Laut unserem Schnelltest eindeutig HIV-positiv. Die Langzeit-Diagnose steht zwar noch aus, aber da beide Vergewaltiger 'positiv' sind...

Es tut mir so unendlich leid, Tony ..."

Das ist das Letzte, was ich noch registriere. Es wird wieder dunkel.


Ich habe den schlimmsten Alptraum meines Lebens. Ich versuche, vor irgendetwas wegzulaufen, bleibe aber immer irgendwo hängen. Meist mit meinen Genitalien!

Es reißt und zerrt, dann spüre ich ein grausames Stechen im Darm, eine Fackel ... alles brennt ... Thomas ist plötzlich bei mir und versucht, mich zu löschen. Dabei steckt er sich selbst an ... brennt mit mir zusammen ... er sieht mich unendlich traurig an, die Tränen laufen uns beiden wie Sturzbäche die Wangen hinab, dann verschwindet er – löst sich einfach auf.

Ich sehe wieder den Gewölbegang, den Nebel und das Licht, aber es wartet am anderen Ende niemand auf mich. Mein ganzer Körper schüttelt sich ... vor Kälte ... oder vor Ekel vor mir selbst ... ich weiß es nicht.

Dann werde ich wohl besinnungslos, denn alles ist wieder stockdunkel.


Wolfgang ist bei mir. Ich versuche, die Augen zu öffnen; es geht aber nicht. Alles ist verquollen und zugeschwollen. Wolfgang wischt mir vorsichtig mit einem nassen Papiertuch durch das Gesicht und redet leise und beruhigend auf mich ein. Ich kann die Augen allmählich wieder öffnen – sehe meinen Arzt an – und erschrecke zutiefst über sein Aussehen. Er sieht entsetzlich traurig aus – oder entsetzt? Ich weiß es nicht.

Schwach spreche ich ihn an: "Hallo, mein Stern!" Dabei versuche ich ein Lächeln, was mir aber wohl gründlich misslingt. Er schaut ganz eigenartig an mir vorbei, streicht mir aber ganz lieb über die Haare, das Gesicht, wieder über die Haare. Dann beugt er sich zu mir herunter und küsst mir Stirn und beide Augen ... und einen ganz kleinen Kuß auf die Lippen. Das beruhigt mich etwas ... es tut so gut, jemanden bei sich zu wissen, der einen versteht und mitfühlt.

Dann setzt er sich neben mich auf das Bett, schluckt ein paar Mal und beginnt, heftig zu weinen.

ER! MEIN ARZT! Der doch eigentlich gar nicht persönlich betroffen ist. Ich greife nach seiner Hand und drücke sie leicht.

"Wolfi, es ist ja gut. Mache Dir doch bitte keine Gedanken um mich. Ich möchte zwar gern nur noch bei meinem Schatz sein, aber mein letzter Traum hat mir gezeigt, dass Suizid keine Lösung sein kann. Irgendwie geht es immer weiter."

Mein Arzt sieht mich ganz seltsam an, setzt zu Sprechen an, sagt aber dann doch nichts. Er schüttelt den Kopf, als wenn er eine Vision loswerden möchte.

Nach einer Weile sagt er dann langsam und leise: "Tony, Du hast eine ganze Nacht und einen halben Tag geschlafen. Deine Hirnströme besagen, dass Du wohl die schlimmsten Alpträume gehabt hast. Ich habe die ganze Zeit Dienst geschoben, damit ich sofort bei Dir sein kann, wenn sich Dein Zustand verschlimmert. Es war auf der Station sehr viel zu tun, sodass ich erst vor ein paar Minuten wieder nach Dir sehen konnte. Und dann ..." die Stimme versagt ihm.

Er schüttelt wieder den Kopf, als sähe er ein Spukbild, steht auf, holt eine Nierenschale, die so blank ist, dass man sich darin spiegeln kann und hält mir diese vor das Gesicht.

"Hier, schau selbst. Ich weiß einfach nicht, wie ich Dir DAS erklären soll."

Ich sehe mein Spiegelbild an. Das Erste, was mir auffällt, sind meine Augen. Tiefe Ringe, und die Iris beider Augen ist nicht mehr braun. Meine Augen sind gelb – mit goldfarbenen Punkten.

AHA!

Wie kann denn so was sein? Habe ich auch noch Gelbsucht, oder was?

Dann trifft mich die Erkenntnis wie ein erneuter Schlag mit einem Baseballschläger.

ICH HABE SCHLOHWEISSE HAARE!

Ich bin über Nacht ein alter Mann geworden. Mein Gesicht ist eingefallen – und ich habe weiße Haare, sogar die Augenbrauen sind schneeweiß. Oh Gott, was denn noch alles?


Als ich mich wieder etwas gefangen habe, werde ich mir meiner Situation erst richtig bewusst. Ich sehe aus wie ein alter Mann. Meinen linken Arm kann ich getrost vergessen. Ich habe keine Hoden mehr. Ich bin vergewaltigt worden – und ich bin HIV-positiv.

So, das war's dann.

Ich will nur noch zu meinem Thomas. Thomas, ich habe dich noch nie so sehr gebraucht, wie jetzt! Komm doch einfach und hole mich hier weg. Nimm mich mit ... bitte ... da ist im Tunnel doch bestimmt noch irgendwo ein wenig Platz für mich ... Thomas, bitte bitte ...

"Wolfgang, hast Du ... ich meine ... kannst Du mir vielleicht ... na, Du weißt schon, eine Spritze ... oder Tabletten ... oder schalte hier einfach alles ab, bitte.

ICH WILL NICHT MEHR! UND ICH KANN EINFACH NICHT MEHR!"

Ich schluchze hemmungslos in mein Kissen.

Mein Arzt reckt sich, sein Gesicht nimmt einen entschlossenen Ausdruck an, und dann nimmt er mich in den Arm und drückt mich an sich. Er streichelt mein Gesicht und sagt bestimmt: "Tony, so etwas will ich nicht – hörst Du? – nie wieder von Dir hören. Du bist ein sehr wertvoller, lieber Mensch, das habe ich in der Zeit, seit wir uns kennen, oft gemerkt. Du darfst Dein Leben nicht einfach wegwerfen, nur weil deine äußere Schönheit gelitten hat. Was darin ist" – und damit tippt er auf meine Brust – "nur das zählt. Und da bist Du viel wertvoller, als die meisten Menschen, die ich so kenne. Ich verspreche Dir, dass ich alles daransetzen werde, was ich kann, um Dich so schnell wie möglich wieder auf die Beine zu bringen. Du musst natürlich mithelfen – mit allem, was DU kannst. Glaub mir, es dauert, aber das wird alles wieder."

Er macht eine Atempause. Dann sagt er noch: "Denke mal in Ruhe darüber nach, dann wirst Du wissen, dass ich Recht habe. Ich werde mich nebenan ein wenig schlafen legen. Wenn Du mich brauchst, drück einfach auf den Klingelknopf. Ich komm dann und sehe nach Dir."

Er beugt sich zu mir herunter und gibt mir einen ganz lieben kleinen Kuß auf den Mund.

"So, der ist von Deinem Thomas. Da seine Beerdigung, nachdem die Kripo ihn freigegeben hat, schon in der vergangenen Woche war, konntest Du ihn ja nicht verabschieden. Und obwohl wir beide uns da noch nicht so kannten wie jetzt, sagte mir eine innere Stimme, dass ich dahin muß um ihm an Deiner Stelle das letzte Geleit zu geben. Ich habe ihn zum Abschied gebeten, von da oben auf Dich aufzupassen. Das macht er ganz bestimmt, denn ich hörte wieder diese innere Stimme, die sagte: 'Bitte, gib ihm einen Kuß von mir!'"

Er beugt sich noch einmal über mich und küßt mich wieder ganz vorsichtig auf meine zitternden Lippen.

"So, und der war jetzt von mir. Schlafe schön, mein Großer, und morgen ist wieder ein neuer Tag. Ich hoffe doch sehr, dass es Dir dann wieder ein bisschen besser geht." Er lächelt mich lieb an und verlässt dann mein Zimmer.

Ich bin mit meinen Problemen wieder allein.


Mitten in der Nacht werde ich wach. Richtig wach! Von einem Moment auf den anderen bin ich völlig klar.

Ich weiß plötzlich, was ich zu tun habe. Zuerst muß ich zusehen, dass ich wieder auf die Beine komme. Dann werde ich mit meinem Training wieder anfangen. Mir ist klar geworden, dass ich ja jetzt schwerbehindert bin. Also fällt geregelte Arbeit für mich weg. Dafür kann ich aber jederzeit trainieren; zuerst Muskelaufbau, dann Kraft- und Konditionstraining.

Und ich werde auch meinen alten WuDang-Meister wieder regelmäßig besuchen. Vielleicht kann ich bei ihm zusätzlich noch chinesisch lernen, wer weiß!?

Ich werde auf jeden Fall bei der Verhandlung gegen meine Peiniger dabei sein, obwohl mir klar ist, dass die Gerechtigkeit wohl mal wieder auf der Strecke bleiben wird.

Verkorkstes Elternhaus, schlimme Kindheit und geheuchelte Reue ... ein oder zwei Jahre ... Jugendstrafe ... oder Bewährung ... man kennt das ja mittlerweile.

Dann zur Nachsorge noch psychologische Betreuung der armen, fehlgeleiteten Kinder, anschließend geht's dann wieder zum Neger klatschen oder Schwule aufmischen ...

Meinen Thomas bringt mir das alles nicht zurück. Aber irgendwann – vielleicht in gar nicht so weiter Ferne – werden wir uns wieder sehen, Thommy. Ganz bestimmt.

Man kann ja nie mit Bestimmtheit sagen, wann meine Krankheit ausbricht.

Aber zuerst wird mein Körper wieder gesund!

Eddy

"Werden wir uns heite treffen in Stadtpark, feiern meine Namenstag!"

Ella – eigentlich Jelena und die Chefin unserer Mädchen-Gang – grinst uns an. "Habe ich extra besorgt Flasche Wodka und Klebstoff, können wir feiern richtig!"

Begeisterung in der Gang.

Heute sind alle Mädels zusammengekommen, um Ella's Ehrentag mit Saufen und Schnüffeln zu begehen. Das ist meist recht lustig.

Wir kommen alle fünf aus sogenannten Familien mit Migrationshintergrund. Ich weiß, das ist ein dämlicher Ausdruck, aber 'Polackenweiber', wie uns die Faschos nennen, ist auch nicht gerade schön. Ja gut, wir kommen alle aus ehemaligen Sowjet-Ländern – von Litauen, Weißrußland, Ukraine und Georgien, und das Schicksal hat uns hier im Ruhrpott zusammengewürfelt. Was soll's, irgendwie gibt uns das Zusammenhalt und Geborgenheit, was uns in unseren Familien meist fehlt.

Ich muß mich ja noch vorstellen: Ich komme aus Litauen, heiße Eddy – also eigentlich Edvina – bin siebzehn und arbeitslos. Gelernt habe ich natürlich auch nichts. Haben die meisten von uns nicht. Arbeitslos sind wir alle – wie auch, ohne ordentlichen Schulabschluß ...

Wenn wir zusammen sind, dann ist das schon eine schlagkräftige Truppe, dann kann uns keiner was. Und gefallen lassen wir uns schon gar nichts!

Ella kommt aus Weißrußland und hat immer das Sagen; sie ist mit neunzehn die Älteste von uns und deswegen auch unsere Chefin. Außerdem ist sie mit über achtzig Kilo auch die Stärkste.

Heute also wieder im Stadtpark – da ist zwar auch nichts los, aber die Gedanken an Schnaps und Klebstoff lassen ein Kribbeln im Bauch entstehen. Vorfreude ist was Schönes ...


Unser Stammplatz im Park ist frei, wir hängen auf unserer Bank herum und labern. Schnaps und Kleber kreisen, und die Stimmung wird langsam klasse.

Irgend jemand besorgt noch eine neue Flasche Wodka und O-Saft.

Es wird langsam dunkel, als zwei Jungs Hand in Hand durch den Park schlendern. Als sie an unserer Bank vorbeikommen, flippt Ella plötzlich aus.

"Da, verdammichte Schwuppenpack, da hast du nix zu suchen, hier!" Sie springt von der Banklehne und geht leicht schwankend auf die beiden zu.

"Is ja widerlich, kann ich gar nich hingucken."

Die beiden Jungen lassen sich los und sind starr vor Angst und Schreck.

Sie dreht sich zu uns um und schimpft weiter: "Was is, da guckt ihr zu? Mistige Arschfieker da, hat ja hier doch nix verloren, die!"

Damit kommt sie den beiden so nahe, dass sie einen am Arm zu fassen kriegt und ihn einfach zu Boden reißt. Dann hören wir ein paar sehr unflätige russische Flüche, und sie macht Anstalten, auf den wehrlos am Boden Liegenden einzutreten.

Wir anderen erheben uns auch von der Bank und gehen auf das Geschehen zu.

Noch bevor einer von uns die Fluchende erreicht, steht plötzlich jemand vor ihr. Groß, wuchtig und absolut ruhig. Dazu ganz in dunkelgrauer Tarnkleidung, schwarze Handschuhe und mit schwarzem Kopftuch, das fast den ganzen Kopf verhüllt, bis auf die Augenpartie.

"Laß den Jungen zufrieden."

Mir läuft es eiskalt zwischen den Schultern herab. Die Härchen auf meinen Armen stellen sich auf. Nicht, dass der Unbekannte gebrüllt hätte – ganz im Gegenteil. Der Satz ist ganz ruhig und leise gesprochen worden – eher schon gezischt. Aber in einer Art, die einem das Blut gefrieren läßt. Alle Alarmglocken in meinem Innern schrillen.

"Kommt, wir hauen besser hier ab", rufe ich meinen Mitschwestern zu, aber Ella starrt mich nur wild an. Dann schreit sie los: "Was denn, Feigstücke, habt ihr Angst vor das Gespenst? Das is schon fast platt. Drauf da, dann is hier wieder Ruhe, sag ich!"

Sie springt auf den Gegner zu. "Na warte du, du Scheiß ..."

Der Rest ihres Geschreis verstummt wie abgeschnitten, da der Große blitzschnell mit der rechten Hand an Ella's Kehle ist und zudrückt. Genauso schnell erstarrt Ella's Körper. Sie ist dem Fremden in diesem mörderischen Griff ausgeliefert. Sein linker Arm hängt dabei seltsam steif an ihm herunter.

Dann ist da wieder dieses Zischen: "Ruf Deine Mädels zurück, sonst ..." er lässt den Satz unvollendet.

Ella dreht leicht den Kopf und bedeutet uns, stehen zu bleiben. Ihr Gegner dreht auch den Kopf zu uns, sieht uns eiskalt an – aus seinen Augen scheinen bernsteinfarbene Blitze zu zucken – und sagt dann völlig emotionslos: "Wenn ihr noch einmal Leute anpöbelt, die Euch nichts getan haben, bin ich wieder da. Und dann gnade Euch Gott!" Dann wendet er sich zu den beiden schwulen Jungs und sagt mit völlig veränderter, sanfter Stimme: "Und ihr geht jetzt besser weiter."

Ich fühle mich wie am Boden festgefroren, und meinen Mitschwestern scheint es ähnlich zu gehen. Wir sind einfach von diesem Blick und dieser Stimme wie gebannt – unfähig, uns zu bewegen. Trotzdem bin ich irgendwie fasziniert von seiner Erscheinung. Mir fällt die Schlange mit dem Kaninchen ein.

Ich fasse mich als erste wieder und flüstere: "Wer zur Hölle bist Du?"

Seine Augen scheinen wieder Blitze zu schleudern. Er sieht mich nur – spöttisch? – an und lässt dann urplötzlich Ella los. Als ich beobachte, wie diese benommen – wie in Zeitlupe - auf dem Boden aufschlägt, bekomme ich nicht mit, wie und wohin der Große plötzlich verschwunden ist. Er ist einfach nicht mehr da! Und die beiden Jungs sind unterdessen auch verschwunden.

Ella schüttelt mit dem Kopf, als wollte sie einen Geist verscheuchen, rappelt sich dann hoch und sagt noch halb benommen: "Was war das für'n Scheißer? Verdammich, habe ich kein Luft gekriegt." Sie atmet ein paar mal tief ein und aus, dann stampft sie mit dem Fuß auf, fängt wieder an, halb russisch, halb deutsch zu schimpfen und dem Fremden alles Schlechte an den Hals zu wünschen.

Jedenfalls ist unsere Party-Stimmung auf dem Nullpunkt, und allmählich löst sich unsere geplatzte Feier auf. Die meisten schlurfen – immer noch leicht geschockt – heimwärts.

Ich gehe mit meiner Freundin Irina, die auch aus Litauen stammt, den Heimweg ein Stück weit zusammen.

"Du, Irina, was oder besser wer war das denn?"

"Keine Ahnung, du, aber so eine Gänsehaut hatte ich in mein Leben nich, du!"

Ich spüre auch immer noch ein Frösteln zwischen den Schultern. "Ich hatte richtig Angst, ehrlich! Obwohl wir zu fünft waren, hatte ich das Gefühl, wir wären schlimm am Arsch, wenn wir uns mit DEM angelegt hätten, oder?"

"Da, das glaub ich auch, du. Mir war plötzlich eiskalt an ganze Körper, du. Hoffentlich macht Ella kein' Scheiß, wenn wir sind wiedermal in Park, du!"

(Sie sagt immer 'du' am Satzende.)

Wir haben den Punkt erreicht, an dem wir uns trennen müssen und gehen in Gedanken versunken jede ihren Weg.


Heute habe ich absolut keine Lust, die anderen Mädels zu sehen. Ich besuche meine Großeltern mal wieder und helfe ihnen. Sie sind beide nicht mehr so gut zu Fuß, deshalb gehe ich für sie einkaufen und mache andere Besorgungen. Dafür geben sie mir oft eine kleine Aufbesserung zu meinem knappen Taschengeld.

Außerdem unterhalten wir uns sehr gern miteinander; sie, weil sie sonst kaum jemanden zu Besuch haben und ich, weil ich gern ihre Geschichten und Erlebnisse aus unserer Heimat Klaipeda an der Ostsee höre.

Ich vergesse natürlich wieder die Zeit, und es dämmert schon, als ich mich auf meinen Heimweg mache. Unterwegs treffe ich Irina und Olga und gehe ein Stück mit ihnen zusammen. Eine ganze Weile schweigen wir uns an, dann sagt Olga leise: " Warst Du heute im Park, Eddy?"

Ich schüttle den Kopf, und schaue Irina an. Die verneint auch und meint: " Nee, du. Ich und Olga auch nicht, du. Ich weiß nicht, irgendwie kein' Bock drauf, du."

Wir schweigen uns weiter an, hängen wohl alle unseren Gedanken an das Erlebnis mit dem unheimlichen Fremden nach. Irgendwie gelingt es uns nicht, diese gemeinsamen Gedanken auszusprechen. Wahrscheinlich sind wir doch wohl eher Einzelgänger, statt einer tollen Gang.

Als sich unsere Wege wieder trennen, sagt Olga noch: "Morgen hat Ella was anderes vor, aber am Samstag sind wir wieder im Park. Kommst Du?"

"Ich denke, ja, liegt ja doch nix anderes an. Ja, ich komm."


Samstag Nachmittag – ich liege noch im Bett und hänge meinem Traum nach. Vor einer halben Stunde bin ich schweißnaß aufgewacht und habe am ganzen Körper gezittert. An Einzelheiten kann ich mich zwar nicht mehr erinnern, aber das war mit Sicherheit der schlimmste Alptraum meines Lebens. Ich bin verdammt noch mal nicht zart besaitet, aber so was ... na ja, irgendwas war da ...

Allmählich beruhige ich mich, gehe in die Küche und wasche mich. Dann setze ich mir einen Kaffee auf und stecke mir eine Zigarette an.

Also heute wollen sich alle wieder im Park treffen ... mir läuft wieder ein Frösteln den Rücken runter.

Dann denke ich, dass wohl wieder Wodka und O-Saft da ist – und schon geht es mir wieder etwas besser. Nach dem Kaffee und einer weiteren Zigarette ziehe ich mir was an, schnappe meinen Rucksack und laufe zielstrebig zu unserem Discounter, Schnaps und Kippen kaufen. Ich habe ja von Opa wieder einen schönen 50 Euro-Schein bekommen. So mit Verpflegung eingedeckt geht's dann zum Park, wo die anderen Mädels schon an unserer Bank zusammenstehen. Ich und mein Proviant werden stürmisch begrüßt.

Es ist wieder so, wie immer; Gelaber, lachen und sinnlos saufen. Na, wir sind ja doch 'ne eingeschworene, unschlagbare Truppe!

Irgendwann fängt eine an, Witze zu erzählen und plötzlich ist eine absolut unbeschwerte, heitere Stimmung da. Ein Witz folgt dem nächsten, alle lachen, natürlich – oder besonders – über Witze unter der Gürtellinie. Seltsamerweise erzählt keine einen Schwulenwitz. Eine versucht, die andere mit Sauereien zu übertrumpfen, als Ella unvermittelt erstarrt und in eine bestimmte Richtung schaut.

"Da, guck, da sind wieder verdammichte Schwuppensäue!" Sie ist zwar nur knapp einen Meter siebzig groß, doch sehr kompakt und wirkt im Moment wie aufgeladen. Manchmal macht sie selbst mir Angst, obwohl ich mich sehr wohl zu verteidigen weiß und auch nicht zimperlich bin, wenn es um Schlägereien geht.

Alle blicken wie auf Kommando in diese Richtung. Es ist zwar schon wieder fast dunkel, doch der Eingang zum Park wird durch eine Laterne beleuchtet und ist deutlich zu erkennen.

Dort stehen zwei junge Männer Hand in Hand im Laternenschein, schauen sich verliebt an und küssen sich dann – wohl zum Abschied - auf den Mund. Sie winken sich noch einmal zu, dann geht einer in Richtung Innenstadt davon, und der andere kommt in unsere Richtung durch den Park.

Mir wird abwechselnd heiß und kalt – ich kann mir schon denken, was gleich hier abgeht.

"Ella, laß die Leute besser zufrieden. Ist doch kein Problem, wenn jemand irgendwie anders ist."

Ich handele mir einen vernichtenden Blick meiner 'Chefin' ein, dann faucht sie mich an: "Duuu, bist du vielleicht Schwuppenfreundin, was? Oder bist etwa auch so was Perverses, hä? Muß ich passen gut auf, wenn wir mal gehen in Teich schwimmen, dass du mich nicht komisch kommst?"

Sie wendet sich wieder dem jungen Mann zu, der mittlerweile ganz nah ist und an unserer Bank vorbeigehen will. Ella springt auf und stellt sich ihm in den Weg.

Oh oh ...

Ich bereite mich innerlich schon auf groben Zoff vor.

Ella ist bereits in Fahrt: "Duuu, verdammichte Schwuppe, du! Hast in meinem Park nix zu suchen. Geh raus zu deine Tuntensau und fiek in Arsch, Sau, verdammichte!"

(Sie sagt wirklich 'mein Park'!)

Dabei versucht sie, einen Arm des Jungen zu erwischen, Der weicht jedoch geschmeidig aus und springt zwei Schritte zurück. Blind vor Wut setzt Ella nach und will wieder zugreifen.

Dann erstarrt sie in der Bewegung, wir anderen vier ebenfalls. Da steht zwischen den beiden plötzlich jemand im dunkelgrauen Tarnanzug, den Ella an seinem herabhängenden Arm erwischt hat.

"Ich hab's ja geahnt, ich hab's geahnt, du!", schreit Irina wie irre, wirbelt herum und rennt durch die Büsche davon. Wir anderen drei stehen genau wie beim letzten Mal erstarrt; einfach zu keiner Bewegung fähig, so sehr schockt uns das urplötzliche Auftauchen und das unglaublich beherrschte und beherrschende Auftreten des Fremden. Dazu die Kleidung in 'Night-Camo' und Handschuhe und Kopftuch in Schwarz. Eigentlich sind von ihm nur die eiskalten, bernsteingelben Augen, die Nase und der Mund zu sehen.

Ella schreit auf, hat plötzlich ein Springmesser in der Faust und will sich auf den großen Fremden stürzen. Der bewegt sich überhaupt nicht, sondern zischt seiner Gegnerin zu: "Du hast meine Warnung nicht ernst genommen. Jetzt hast Du verloren."

Was dann passiert, geht so schnell, dass ich das meiste erst im Nachhinein zusammen bekommen habe.


Ich sitze auf der Bettkante in meinem Zimmer, stütze den Kopf in die Hände und versuche, das Geschehene mit Hilfe einer Flasche Wodka aufzuarbeiten.

Nach und nach setzen sich die Puzzle-Teile in meinem Gehirn zu einem Ganzen zusammen. Ich erinnere mich an den Ablauf der Geschehnisse, habe aber irgendwie keinen Bezug dazu – so, als wenn ich gar nicht dabei war, nur aus der Ferne beobachtet habe. Und mehr habe ich ja eigentlich auch nicht gemacht.

Und so läuft der Film vor meinem inneren Auge wieder und wieder ab:

Ella's Faust mit dem Messer fliegt auf den Fremden zu – ich sehe schon fast den Einstich, aber dann …

Der rechte Arm des Unheimlichen zuckt so schnell auf Ella's Gesicht zu, dass er irgendwie unscharf wirkt. Dann ist es auch schon fast vorbei. Ella schreit wie abgestochen, läßt das Messer fallen und hält sich die Hände vor's Gesicht. Und überall ist Blut. Dann glüht in der linken Hand des Fremden etwas auf, er hebt seltsam schwerfällig den linken Arm und trifft Ella's Stirn mit dieser Glut.

Bevor ich mir bewusst werde, was geschehen ist, ist der große Fremde wieder wie vom Boden verschluckt. Der junge Schwule hat sein Handy gezückt und ruft ruhig den Rettungsdienst an.

Ella wälzt sich auf dem Boden herum und schreit immer noch. Meine Starre löst sich, ich springe auf sie zu, bücke mich zu ihr herunter und nehme vorsichtig ihre Hände weg.

Dann pralle ich zurück: Der Schlag des Dunklen hat sie an der rechten Wange getroffen. Die Wange ist vom Mundwinkel bis fast zum Ohr aufgerissen, die gelben Zähne liegen blank ...

... UND DAS RECHTE OHR IST WEG!

!!!

Einfach weg. Mit nur einem Schlag!

Und Blut überall. Ich starre sie an, unfähig mich zu bewegen.

Doch noch schlimmer ist die Verbrennung auf der Stirn.

Als die Mädels mit ihren Kopftüchern und Schals das Blut etwas gestillt haben und Ella ruhiger wird, kann ich erkennen, dass die Verletzung aus Zeichen besteht, die sich tief ins Fleisch eingebrannt haben:

5Mose32,35

Ich bin im russisch-orthodoxen Glauben erzogen worden, also sagen mir die Zeichen nichts. Es ist mir aber klar, dass es wohl um einen Bibelvers geht.

Unser Nachbar ist Protestant und hat bestimmt eine Luther-Bibel, da werde ich morgen mal nachschlagen.

In der Ferne heult ein Martinshorn.

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