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Morgens um fünf

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Es war fünf Uhr morgens, als ich gerade nichts ahnend meinen Schlüssel für den Laden aus meiner Jackentasche kramte. Genau in dem Moment, in dem ich den Schlüssel ins Schlüsselloch schob hörte ich es. Also schloss ich den Laden wieder zu und ging um die Ecke. Und ich hatte mich nicht getäuscht: Es war ein leises Wimmern zu hören. Und als ich um die Ecke sah, schauten mich zwei verheulte blaue Augen an. Als ich ein Stück auf die zwei Augen zuging, flüsterte ich leise „Hey, Kleines, ist alles in Ordnung?“ Doch irgendwie war die Reaktion anders als erwartet. Statt irgendwie auf mich zuzukommen oder so etwas, zuckte das kleine blonde Etwas zusammen und schaute mich erschrocken an. „Hey Kleines, keine Angst. Ich werde dir nichts tun. Möchtest du mit in den Laden kommen und etwas Heißes trinken? Du zitterst ja wie Espenlaub.“ Doch statt eine Antwort zu geben, begann das arme Ding nur noch mehr zu zittern. „Hey ich werde dir wirklich nichts tun. Schau mal da drüben an der Einfahrt. Dort stehen zwei Polizisten. Die stehen immer dort, weil dieses Haus ein gefährdetes Objekt ist. Und die sind hier, sobald du nach ihnen rufst. Würde dich das etwas beruhigen? Ich möchte dir wirklich nichts tun. Aber ich kann nicht mit ansehen, wie du hier draußen halbnackt da stehst und erfrierst. Wenn du willst, kannst du auch sofort wieder abhauen, wenn du einen Kaffee getrunken hast. Aber du brauchst was Warmes.“

Und scheinbar wirkten meine Worte, denn sie kam langsam einige Schritte auf mich zu. Um sie nicht wieder zu verschrecken, ging ich wieder zur Tür zurück und schloss die Tür auf. Und kaum hatte ich den Schlüssel wieder in meiner Jacke, stand sie auch schon hinter mir. Ich bat sie noch einmal herein und nach einem letzten ängstlichen Blick betrat sie endlich den Laden. Ich schaltete sofort den Kaffeeautomaten ein und gab ihr einen Stuhl.

Nachdem sie sich gesetzt und ich meine Jacke aufgehängt hatte, betrachtete ich sie nun etwas genauer. Kein Wunder, dass sie so zitterte. Draußen waren es maximal 2 Grad über Null und sie hatte nur ein rotes Minikleid mit Korsage an. Sie besaß nicht mal mehr Schuhe. Also holte ich ihr erst einmal zwei warme Decken aus dem Lager. Diese nahm sie auch dankend an und langsam begann sie, sich etwas zu entspannen. Zwischenzeitlich wurde auch das Wasser im Automaten heiß und ich machte ihr erst einmal einen Becher heißen Kaffee, welchen sie auch dankend annahm.

Während sie die wärmende Wirkung des Kaffees genoss, kümmerte ich mich um die alltäglichen Dinge wie Zeitungen einsortieren, da ich spürte, dass die Kleine noch nicht reden wollte. Nach etwa einer halben Stunde, ich war gerade dabei, die Ware mit dem Lieferschein zu vergleichen, hörte ich hinter mir plötzlich ein leises „Danke!“

Ich drehte mich langsam zu ihr um und lächelte sie an. „Keine Ursache. Wenn du reden möchtest, höre ich dir gern zu. Ich mach eh erst gegen Sieben auf. Wir haben also noch Ruhe.“ Normalerweise schloss ich immer gleich ab, wenn ich den Laden betrat, damit ich in Ruhe alles vorbereiten konnte, aber heute ließ ich es, da ich ihr ja von den Polizisten gegenüber erzählt hatte. Und es wäre sicher nicht sehr beruhigend für die Kleine gewesen, wenn ich hinter uns die Tür zugeschlossen hätte.

Sie nickte mir zu und daraufhin nahm ich mir einen Hocker und setzte mich ihr gegenüber. Dann machte ich uns beiden noch einen Kaffee, als sie plötzlich mit eiskalter Stimme sagte: „Ich hoffe, er verreckt an seinem Stoff!“ Etwas erschrocken schaute ich sie an und fragte dann, was sie damit meinte. „Den Kerl, der mir das angetan hat.“ Und in diesem Moment hatte ich so eine Ahnung, was hier lief. Das ganze Outfit und ihr Make-up. Wir sind hier im Zentrum von Berlin und die Oranienburger Straße war nicht mal dreihundert Meter weit vom Laden entfernt. Und die Oranienburger war bekannt für ihren Straßenstrich. Scheinbar kam sie von dort. Aber ich wollte sie lieber nicht direkt danach fragen. Vielleicht erzählte sie ja von allein, was passiert war.

„Möchtest du darüber reden?“, fragte ich sicherheitshalber noch mal nach. Daraufhin sah sie mich an und meinte: „Woher soll ich wissen, dass du nicht einer von denen bist?“ Ich sah sie etwas erstaunt an, denn ich wusste nicht, was sie meinte. „Einer von wem?“

„Na von denen, die das jede Nacht mit uns machen.“ Irgendwie wollte der Groschen heute nicht so richtig bei mir fallen. „Was meinst du? Ich versteh gerade überhaupt nichts. Von wem oder was redest du? Ich will nichts weiter, als dir helfen.“ „Ja, das sagen sie am Anfang alle. Aber wenn du ihnen erst einmal ausgeliefert bist, siehst du das wahre Gesicht dieser... dieser...keine Ahnung wie man die bezeichnen soll.“ „Du meinst Freier?“, fragte ich vorsichtig. „Ja, genau die meine ich. Woher weiß ich, dass du nicht auch schon eine von uns hattest und ihr was angetan hast?“ „Hey Kleine, ich denke, wenn ich zu denen gehören würde, hättest du das gespürt. Und dann wärst du auch nicht mit mir ganz allein in den Laden gekommen. Aber um dich zu beruhigen: Ich gehöre definitiv nicht dazu. Denn ich stehe überhaupt nicht auf Frauen. Und glaub mir, ich war auch noch nicht auf dem Schwulenstrich. Dafür ist mir erstens das Geld zu schade und zweitens find ich Sex ohne irgendwelche Gefühle total langweilig.“

Daraufhin schaute sie mich mit weit aufgerissenen Augen an. „Meinst du das ernst?“ „Ja. Und ich stehe dazu, dass ich schwul bin“, antwortete ich ihr. „Nein, nein, das meinte ich nicht. Ich meinte das mit dem Sex. Dass du Sex ohne Gefühle nicht magst.“ „Ja, klar meine ich das ernst. Ich mag Leute nicht, die unbedingt nur Sex wollen, dabei aber keine Gefühle haben, sondern nur der Sache wegen mit anderen ins Bett gehen.“ „Aber warum hast du mich dann mitgenommen? Ich mach doch auch Sex ohne Gefühle. Wenn du solche Menschen nicht magst, warum hast du mich dann auf nen Kaffee eingeladen?“ „Ganz einfach. Das was du machst, ist mehr ein Beruf. Auch wenn ich dich nicht kenne, ich hab trotzdem das Gefühl, dass du keine Spaß daran hast. Du machst auf mich eher den Eindruck, dass du nach Geborgenheit und Liebe suchst.“ „Du bist wirklich schwul. Heteros denken selten so. Danke, dass du mich eingeladen hast.“

„Hab ich gern gemacht. Willst du darüber reden, was dir passiert ist? Vielleicht kann ich dir ja irgendwie helfen.“ „Ok. Helfen kannst du mir wahrscheinlich nicht, aber ich glaube, es ist ganz gut, wenn ich jemanden habe, der mir zuhört. Darf ich vorher noch einen heißen Kaffee haben?“ „Klar, kleinen Moment.“

„Also, eigentlich fing alles damit an, dass ich meinen Job verloren habe. Irgendwann konnte ich meine Wohnung auch nicht mehr bezahlen. Also bin ich auf den Strich gegangen. Das war vor etwa drei Monaten. Gestern war ich wie immer an meinem Platz, als eine schwarze Limousine vor mir hielt. Ich stieg wie gewohnt ein und dann ging’s in irgendein teures Hotelzimmer. Anfangs war auch alles okay. Aber irgendwann verlangte der Typ Dinge von mir, die ich nicht mehr wollte. Auch nicht für extra Geld. Als ich flüchten wollte, schlug er mich zu Boden und hat mich ans Bett gefesselt. Und dann ist er über mich hergefallen. Ich hatte schon einige Sadomasoanhänger. Aber der Typ war gar nix im Gegensatz zu den Typen. Er hat mir so dermaßen wehgetan. Das werde ich meine Leben lang nicht vergessen. Ich glaube, er wusste selbst nicht mal, was er tat. Er war so dermaßen auf Drogen. Deswegen auch der Spruch vorhin von mir, das er an seinem Stoff ersticken soll.“ Und plötzlich hörte sie auf zu erzählen und heulte einfach los. Ich nahm sie in den Arm und redete ihr immer wieder gut zu. Nach einer Ewigkeit flüsterte sie mir dann ins Ohr „Warum können Heten nicht mal so nett sein wie du?“ Ich musste etwas grinsen, meinte dann aber „Ich glaube, dann wären es keine Heten mehr.“ „Hmm...stimmt auch wieder. Aber warum kann ein Hetenmann nicht einfach mal nett sein? Ich wünsche mir nichts mehr als einen Freund, der mir treu ist, mich liebt und zu mir steht, wenn es mir schlecht geht.“ Ich schaute sie einen Moment lang an, dann antwortete ich ihr „Süße, das wünsche ich mir auch. Aber wir reden hier über Menschen. Das, was wir uns wünschen, werden wir nie bekommen. Menschen sind nicht dafür geschaffen, treu und ehrlich zu sein oder sich wirklich zu lieben. Wir sind von allen Lebewesen die dümmsten überhaupt. Wir sind die einzigen, die sich selbst zugrunde richten. Egal ob es um die Umwelt geht oder um gegenseitige Liebe. Wir können ja noch nicht einmal die Gefühle des Anderen respektieren. Wie sollen wir dann alle eins werden und uns selbst retten? Glaub mir Kleines, du wirst deinen Weg finden. Aber glaube nie an die Anderen. Glaube immer an dich selbst. Nur dann wirst du es schaffen. Und du wirst es schaffen. Aber nicht als Prostituierte. Dafür bist du erstens viel zu hübsch und zweitens viel zu schlau. Also mach was aus deinem Leben. Du schaffst es auf jeden Fall. Da bin ich mir sicher.“

Eine ganze Weile schaute sie mich aus verdutzten Augen an, doch dann lächelte sie und sagte: „Danke. Danke für alles. Du hast mir die Augen geöffnet. Du hast Recht. Ich habe etwas Besseres verdient. Ich danke dir für alles. Und ich wünsche dir für deinen weiteren Lebensweg alles Gute. Und ich hoffe, dass du mit deinem Süßen bald zusammenkommst.“

Und mit diesen Worten ließ sie mich stehen. Ich weiß nicht, woher sie das mit meinem Süßen weiß. Ich bin wirklich seit Jahren in einen einzigen Jungen verliebt. Ich weiß auch nicht, was aus ihr geworden ist. Ich weiß ja nicht einmal ihren Namen. Wir haben uns nie wieder gesehen. Aber ich bin mir sicher, dass sie jetzt ein besseres Leben führt als damals, als wir uns kennen lernten. Und wer weiß, vielleicht findet jeder von uns bald seine große Liebe.

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