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Tristesse

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Atme ich noch? Ich weiß es nicht. Ich muss das doch wissen. Warum bin ich mir nicht sicher? Ist es nun schon so weit gekommen? Will ich überhaupt noch atmen? Auch das sollte ich wissen. Doch ich weiß gar nichts mehr. Ich spüre nichts. Es muss sich etwas ändern. Hilfe!


Es geht uns gut. Wir haben ein eigenes Haus. Mit Garten. Und keine Bettler vor der Tür. Mein Vater hat einen Job, der uns versorgt. Meine Mutter kümmert sich um Haus und Hof und hält alles in Schuss. Immer, wenn ich von der Highschool nach Hause komme, steht ein warmes Essen auf dem Tisch. Sie kann gut kochen. Meine Wäsche wird immer sofort gewaschen, mein Bett gemacht. Sie hat das alles gut im Griff. Sie ist eine gute Hausfrau. Keine Schande für die Nachbarschaft.

Die Nachbarschaft. Wir leben in einer ruhigen Gegend. Jedes Haus hat einen eigenen Garten. Jeder Garten ist gepflegt. Sechs Zentimeter hoher Rasen. Gestutzte Hecken. Keine Absurditäten in den Beeten. Alles solide, stimmige Gärten. Alle. Keiner fällt da aus der Reihe. Alles ist perfekt.

6:00 Uhr. Mein Wecker klingelt. Ich stehe auf, ziehe mich an. Meine Mutter hat mir Brote für die Schule gemacht. Mein Vater ist schon arbeiten. Ich verlasse das Haus. Ich steige in meinen Wagen. Ich habe ein eigenes Auto. Das muss ich auch. Die Highschool ist eine halbe Stunde entfernt. Ich fahre zur Schule. Ich lerne fleißig. Ich will später mal etwas aus mir machen. Ich weiß noch nicht, was ich werden will, aber ich muss lernen. Ich muss gut sein. Sonst werde ich wie die anderen. Die anderen gibt es nicht. Denn es kann sie nicht geben. Wie auch? Es ich doch perfekt. Und sie sind nicht perfekt. Sie ziehen herum. Draußen. Auf der Straße. Sie tun nichts. Sie passen hier nicht her. Sie existieren nicht. Ich existiere. Ich passe. Denn ich lerne. Aus mir wird einmal etwas.

Die Schule ist aus. Ich steige in mein Auto, fahre heim. Meine Mutter lächelt, stellt mir einen Teller mit Essen hin, spült das Geschirr. Ich esse. Ich gehe in mein Zimmer, lerne. Ich bin fertig. Meine Mutter ist im Garten, schneidet die Hecke. Ich gehe raus. Ein bisschen spazieren. Die Häuser sehen sich so ähnlich. Die Gärten sind gleich. Ich verlaufe mich. Ich kann mich nicht verlaufen. Ich kenne jede Straße. Ich lebe hier. Ich bin immer hier. Ich kann mich nicht verlaufen. Ich will mich verlaufen.

Ich komme nach Hause. Meine Mutter bereitet Essen für meinen Vater. Es wird spät. Ich gehe zu Bett. Ich muss morgen lernen.

6:00 Uhr. Mein Wecker klingelt. Ich stehe auf, ziehe mich an. Meine Mutter hat mir Brote für die Schule gemacht. Mein Vater ist schon arbeiten. Ich verlasse das Haus, steige in meinen Wagen. Ich fahre zur Schule. Ich lerne. Ich kann nicht anders. Seit meine Mitschüler wissen, dass ich schwul bin, meiden sie mich. Ich will nichts mit ihnen zu tun haben. Sie lernen nicht. Sie ziehen herum. Sie jagen Leuten Angst ein. Sie wissen nicht, was sie tun sollen. Ich weiß nicht, was ich tun soll. Ich lerne.

Die Schule ist aus. Ich steige in mein Auto, fahre heim. Meine Mutter lächelt, stellt mir einen Teller Essen hin, spült das Geschirr. Ich esse. Ich gehe in mein Zimmer, lerne. Ich gehe raus, laufe meine Straße hinunter. Ich sehe nichts. Was kann ich hier sehen? Die Häuser sehen sich ähnlich, die Gärten sind gleich. Sie sind perfekt. Meine Straße. Wie oft bin ich sie schon hinab gelaufen? Ich schließe die Augen. Es gibt nichts zu sehen. Mit geschlossen Augen laufe ich zurück nach Hause. Mein Vater ist noch bei der Arbeit. Meine Mutter wäscht meine Wäsche. Ich wasche nie meine Wäsche. Meine Mutter macht das. Ich gehe in mein Zimmer. Ich lege mich aufs Bett. Meine Zimmerdecke ist weiß gestrichen. Ich sehe sie an. Sie ist glatt. Glatt und weiß. Ich stehe auf. Ich lerne. Es wird spät und ich gehe zu Bett.

6:00 Uhr. Mein Wecker klingelt. Ich stehe auf, ziehe mich an. Meine Mutter hat mir Brote für die Schule gemacht. Mein Vater ist schon arbeiten. Ich verlasse das Haus, steige in meinen Wagen. Ich fahre zur Schule. Ich lerne. Ich muss lernen, denn die anderen meiden mich. Seit sie wissen, dass ich schwul bin, sagen sie, sie jagen mich. Ich muss drinnen bleiben und lernen.

Die Schule ist aus. Ich steige in mein Auto und fahre heim. Damit die anderen keine Chance haben, mich abzufangen. Die anderen ziehen herum. Sie jagen Leuten Angst ein. Es gibt sie nicht. Denn sie sind nicht perfekt. Die Gärten sind perfekt. Die Haushalte werden gewissenhaft geführt. Sie sind perfekt. Die anderen gibt es nicht.

Ich zähle die Häuser, an denen ich vorbei gehe. Dadurch kann ich sie unterscheiden. Jedem Haus gebe ich eine Nummer. Ich gehe meine Straße hinunter. Ich wandere durch meine Gegend. Wenn ich mit zählen fertig bin, gehe ich heim. Meine Mutter macht den Garten. Mein Vater ist noch arbeiten. Ich gehe in mein Zimmer und lerne, bis es spät wird. Ich gehe ins Bett.

6:00 Uhr. Mein Wecker klingelt. Ich stehe auf, ziehe mich an. Meine Mutter hat mir Brote für die Schule gemacht. Mein Vater ist schon arbeiten. Ich verlasse das Haus, steige in meinen Wagen. Ich fahre zur Schule. Ich lerne. Ich muss lernen. In einem Jahr habe ich meinen Abschluss. Dann muss ich arbeiten. Dafür muss ich gut sein. Ich weiß noch nicht, was ich machen will. Die anderen wissen, was sie machen wollen. Sie wollen mich meiden. Sie jagen Menschen Angst ein. Denn sie wissen nicht, was sie tun sollen. Die existieren nicht. Ich existiere. Ich lerne.

Die Schule ist aus. Ich steige in mein Auto, fahre heim. Meine Mutter lächelt, stellt mir einen Teller Essen hin, spült das Geschirr. Ich esse. Ich will mit meiner Mutter reden. Denn ich weiß nicht, was ich arbeiten soll. Ich bin schwul. Die anderen meiden mich. Meine Mutter putzt die Küche. Sie lächelt mich an. Ich kann nicht mit ihr reden. Ich gehe raus. Ich laufe meine Straße runter. Alles sieht gleich aus. Die Häuser sehen gleich aus. Die Gärten sind gleich. Die Hecken sind geschnitten. Keine Absurditäten in den Beeten. Alles solide, stimmige Gärten. Ich kenne die Hausnummern, ich kenne die Nummern, mit denen ich die Häuser abzähle. Ich gehe meine Straße hinunter. Ich bin schon immer hier. Ich weiß nicht, was ich machen will. Es gibt hier nichts, was ich tun kann. Wenn ich meinen Abschluss nächstes Jahr habe, dann kann ich nichts machen. Dann ziehe ich herum. Die anderen ziehen herum. Sie existieren nicht. Sie passen nicht, sind nicht perfekt. Hier ist alles perfekt. Die Gärten sind perfekt. Die Gärten sehen gleich aus. Die anderen meiden mich. Ich bin schwul. Ich passe nicht. Ich kann nicht existieren. Ich lerne. Ich existiere. Denn ich passe. Nächstes Jahr habe ich meinen Abschluss. Ich weiß nicht, was ich machen will. Es gibt nichts, was ich hier machen kann. Alles sieht gleich aus. Ich gehe nach Hause. Es ist spät. Ich gehe zu Bett.

6:00 Uhr. Mein Wecker klingelt. Ich stehe auf, ziehe mich an. Meine Mutter hat mir Brote für die Schule gemacht. Mein Vater ist schon arbeiten. Ich verlasse das Haus, steige in meinen Wagen. Ich fahre nicht zur Schule. Was soll ich da? Existiere ich noch? Ich bin schwul. Ich weiß nicht, was ich machen will. Ich kann hier nichts machen.

Atme ich noch? Ich weiß es nicht. Ich muss das doch wissen. Will ich überhaupt noch atmen? Ich weiß es nicht. Ich weiß gar nichts mehr. Ich spüre nichts. Ich heiße Jack und ich brauche Hilfe. Jemand muss mich finden. Jemand muss mich retten. Ich bin Jack, ich bin schwul und ich will nicht existieren. Ich will leben.

Ist dort jemand? Irgendjemand? Der mich rettet? Der mich liebt? Der mir die Welt zeigt?

Hallo?

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