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Eight days a week

Teil 2

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Inhaltsverzeichnis

Donnerstag

Meinetwegen könnte die ganze Woche aus Donnerstagen bestehen. Donnerstags muß ich nämlich erst zur zweiten Stunde in die Schule, kann also ausschlafen und habe dann anschließend insgesamt auch nur vier Stunden.

Friedrich, der ärmste, hatte, während ich noch selig schlummerte, heute morgen bereits eine Doppelstunde Leichtathletik zu absolvieren, und kommt dementsprechend erschöpft aus der Turnhalle, als ich den Schulhof betrete. „Na, gut geschlafen?“, begrüßt er mich grimmig.

„Bestens“, pflichte ich ihm bei. „Und was hast du heute morgen schon so getrieben?“

„Nichts weiter, wir mußten nur so um die zweitausend Kilometer rennen und anschließend noch etwa zwei- bis dreimillionenmal weitspringen.“ Friedrich zieht mich mit sich in Richtung Schulgebäude. „Ich brauch erst mal ’nen Kaffee.“

Obwohl ich gerade erst gefrühstückt habe, gönne ich mir auch einen. So kann ich in der folgenden Chemiestunde nun auf gar keinen Fall mehr einschlafen. Na ja, das würde ich wohl sowieso nicht. Immerhin finde ich das Fach ziemlich spannend und sehe, nachdem ich in der zehnten endlich den roten Faden gefunden hatte, auch ganz gut durch.


Die Doppelstunde Englisch, die auf Chemie folgt, ist wie immer angefüllt mit den üblichen Diskussionsrunden. Es ist offensichtlich, daß sich Friedrich gestern abend tatsächlich intensiv mit dem Text beschäftigt hat, denn seine Beiträge haben meistens Hand und Fuß. Zänkel ist sogar ein wenig beeindruckt. Jochen hingegen ganz und gar nicht, das sehe ich ihm deutlich an. Sein Haß auf Friedrich scheint ungebrochen. Verdammt noch mal, ich möchte wissen, ob er was vorhat.

Als ich Friedrich nach dem Unterricht darauf anspreche, zuckt der nur mit den Schultern.

„Ich hatte schon öfter das zweifelhafte Vergnügen, solchen Typen wie Jochen zu begegnen“, erklärt er gleichmütig und vergräbt die Hände in den Taschen seiner Hose, während wir den Flur entlang schlendern. „Wegen solcher Idioten mußte ich die Schule wechseln.“

„Wie das denn?“ Ich werde hellhörig, aber Friedrich winkt nur ab.

„Das ist eine lange Geschichte. Vielleicht erzähl ich sie dir später mal. Aber nicht jetzt. Außerdem klingelt es gleich, und ich muß noch in meinen PW-Raum.“ Wir sind inzwischen an der Treppe angelangt, und er wendet sich nach oben. „Bis nachher, dann. Wir treffen uns auf dem Schulhof?“

Ich nicke und sehe ihm nach, wie er mit langen Schritten nach oben verschwindet. Dann mache ich mich auf den Weg zu meinem Spanischraum. Meine letzte Stunde für diesen Tag.


Die große Pause hat bereits angefangen, als ich nach Spanisch das Schulgebäude verlasse. Ich schlendere über den Hof und halte nach Friedrich Ausschau, kann ihn aber nirgendwo entdecken. Anfangs denke ich mir noch nichts dabei, doch als er nach fünf Minuten immer noch nicht aufgetaucht ist, fange ich langsam an, mir Sorgen zu machen. Ich steuere auf eine Gruppe von fünf Mädchen zu, die zu Friedrichs Anhängerinnen zählen. Renate ist darunter, die auch im selben PW-Kurs ist wie er. Sie spreche ich an. Vielleicht wurde er ja vom Lehrer aufgehalten?

„Nö, wir haben pünktlich Schluß gemacht“, erklärt Renate und sieht sich um. „Aber wir wundern uns auch schon, wo er steckt.“

„Vielleicht versteckt er sich ja vor uns“, kichert Sybille.

Das könnte ich mir sogar lebhaft vorstellen.

„Oder vor dir“, fügt Renate hinzu und grinst mich vieldeutig an.

Was soll das denn heißen? Ich tippe mir bezeichnend mit dem Zeigefinger an die Stirn. „Quatsch, ich bin hier mit ihm verabredet“, erkläre ich wichtig. Dann fällt mir siedendheiß etwas auf. „Sagt mal… Hat jemand von euch Jochen gesehen? Oder Olaf?“

Melanie, Jochens Freundin, legt nachdenklich die Stirn in Falten und schüttelt den Kopf. „Ich hab Jochen vorhin von oben gesehen, als ich aus dem Fenster geschaut habe, aber als ich hier unten ankam, war er schon weg.“

Scheiße. Ich habe auf einmal ein ganz ungutes Gefühl.

Ein Mädchen aus der zwölften Klasse, dessen Namen ich nicht kenne, blickt mich erschrocken an. „Was ist denn los? Du bist ja ganz blaß.“

Dazu habe ich auch allen Grund. Hastig kläre ich die fünf über Jochens Drohungen gegenüber Friedrich auf und lasse auch Olafs Angriff nicht unerwähnt.

Renate schaltet sofort. „Wir helfen dir, sie zu finden“, erklärt sie bestimmt und teilt die Mädchen in zwei Gruppen ein. „Wenn die Arschlöcher Friedrich was antun, werden sie ihr blaues Wunder erleben.“

Ich bin ihr dankbar für diese Worte und ziehe mit ihr und Melanie los. Sybille, Liane und das Mädchen aus der zwölften bilden den anderen Trupp und werden das Schulgebäude durchkämmen. Wir drei wenden uns dem Schulhof zu.

Der Schulhof unserer Schule ist, grob gesagt, dreigeteilt. Der größte, überwiegend als Pausenhof genutzte Teil liegt auf der Vorderseite der Schule. Auf ihn führen auch beide Schultore. Schülern der Unterstufe ist es untersagt, während der Pausen den ersten, großen Hofbereich zu verlassen. Der Teil auf der Rückseite der Schule ist wesentlich kleiner, mit hohen Bäumen bewachsen und dient den Rauchern als Raucherecke. An ihn grenzt ein kleiner Sportplatz an. Neben der linken Schmalseite des Schulgebäudes verbindet ein breiter Weg beide Schulhofteile. Im rechten Winkel auf diesen trifft ein weiterer Weg, der am Sportplatz vorbei zur Turnhalle führt. Folgt man diesem Weg an der Turnhalle vorbei, erreicht man einen weiteren, sehr kleinen Platz hinter der Halle, wo hauptsächlich die Mülltonnen vorzufinden sind. Das ist der dritte, am seltensten genutzte Teil unseres Schulhofes. Und genau dort werden wir tatsächlich fündig.

Gut versteckt hinter der Turnhalle und im zusätzlichen Schutz der Mülltonnen, haben sich Jochen, Olaf und Steffen, ein weiteres Mitglied der Clique, Friedrich vorgeknöpft. Als wir um die Ecke biegen, hat Olaf Friedrich einen Arm auf dem Rücken verdreht und den eigenen von hinten fest um Friedrichs Hals gelegt. Trotz dieses brutalen Würgegriffs scheint sich Friedrich gewehrt zu haben: Steffen steht ein wenig abseits und hält sich ein Taschentuch vor die blutende Nase. Jochen, der offensichtlich gerade kurz davor war, Friedrich mit seinen Fäusten zu bearbeiten, fährt überrascht herum, als wir herangestürmt kommen.

„Laß ihn los!“, brülle ich wütend und will mich auf Olaf stürzen, aber Jochen versperrt mir den Weg und stößt mich zurück.

„Was willst du denn hier, du Opfer?“, fährt er mich mit schneidender Stimme an.

Bevor ich reagieren kann, haben sich die beiden Mädchen an mir vorbeigedrängelt und vor Jochen aufgepflanzt. „Sag mal, spinnst du?!“, schreit Melanie ihn an. „Was habt ihr mit Friedrich gemacht?!“

„Was geht dich das an?“, gibt Jochen haßerfüllt zurück. „Wir erteilen der Schwuchtel bloß eine kleine Lektion.“

Ich bin außer mir vor Zorn. „Drei gegen einen! Ihr feigen Schweine!“

Jochen macht eine Bewegung, als wolle er sich auf mich stürzen, aber die beiden Mädchen bleiben schützend vor mir stehen und lassen ihn nicht durch.

„Laß Moritz in Ruhe!“, fordert Renate mit fester Stimme.

„Und Friedrich!“, ergänzt Melanie aufgebracht. „Laß ihn los, Olaf!“

Der Wikinger macht keine Anstalten, dieser Forderung nachzukommen. Er hat zwar den Arm zurückgezogen, mit dem er Friedrich gewürgt hatte, sich dafür aber mit der gleichen Hand von hinten schmerzhaft in Friedrichs Haare gekrallt, um dessen Kopf dadurch nach hinten zu ziehen.

Friedrich hat die Zähne fest zusammengepreßt, das Gesicht ist schmerzverzerrt, doch in seinen Augen funkelt ungebrochener Zorn auf seine Peiniger.

„Verschwindet!“, meldet sich erstmals Olaf zu Wort. „Das hier ist unsere Sache!“ Seine Augen glitzern kalt.

Die Mädchen drängen Jochen zur Seite und stellen sich vor dem Wikinger auf, der Friedrich wie ein unfreiwilliger lebender Schutzschild vor sich zu stehen hat. „Laß ihn endlich los!“, fordert Renate wütend und versucht, Friedrichs Arm freizubekommen, den Olaf ihn noch immer auf dem Rücken verdreht hat.

Jochen will zwar eingreifen, aber ich weiß das zu verhindern. Es ist wahrscheinlich die unglaubliche Wut, die mir solche Kräfte verleiht, daß es mir gelingt, ihn mit einem einzigen Stoß hart gegen die Turnhallenwand zu schleudern. Einen Moment lang bleibt ihm die Luft weg, dann will er sich mit wutverzerrtem Gesicht auf mich stürzen. Ich bin kein Schläger, aber in diesem Augenblick bin ich bereit, ihn zu zerfetzen und in Grund und Boden zu stampfen, wenn es sein muß. Allerdings kommt es gar nicht mehr so weit, denn bevor Jochen mich erreicht hat, wird er erneut zur Seite gestoßen. Plötzlich bin ich von fünf oder sechs Mädchen umgeben und kann ihn nicht mehr sehen. Wo zum Teufel kommen die denn her? Offenbar hat Sybilles Gruppe ihre vergebliche Fahndung beendet und ist mit Verstärkung auf die Suche nach uns gegangen. Ich höre Renate jubeln, und dann geht alles sehr schnell. Angesichts der Übermacht sieht sich Olaf gezwungen, Friedrich freizugeben, der sofort von einer Gruppe Mädchen gegen Olaf, Jochen und Steffen, der allerdings immer noch zu ramponiert ist, um eine ernsthafte Gefahr darzustellen, und scheinbar keine große Lust hat, sich mit den Mädchen auseinanderzusetzen, abgeschirmt. Die drei stehen nun angesichts der acht Mädchen, die ihnen feindselig entgegen starren, ziemlich allein da.

„Verschwindet!“, schreit Renate sie triumphierend an. „Und wagt es nicht noch einmal, Friedrich anzurühren!“

Jochen scheint das ganze immer noch nicht zu begreifen. „Was soll das? Wieso beschützt ihr diese dämliche Schwuchtel?“, will er aufgebracht wissen.

„Weil wir es wollen!“ faucht Melanie ihn wütend an. „Und vor allem, damit du merkst, daß du nicht tun und lassen kannst, was du willst. Was bildest du dir eigentlich ein, du chauvinistisches Arschloch?“

Jochen hat für sie nichts weiter als einen verächtlichen Blick übrig. Dann winkt er Olaf und Steffen. „Gehen wir.“

„Aber glaub ja nicht, wir wären schon mit dir fertig, du schwule Sau!“ Olafs haßerfüllte Augen bleiben an Friedrich hängen, dann wandert sein Blick weiter zu mir. „Und du bist auch noch dran, verlaß dich drauf! Du bist doch auch bloß so ’n mieser kleiner Schwanzlutscher.“

Ich spüre, wie eine neue Welle des Zorns in mir aufsteigt. „Du Arschloch…!“

Doch Renates Ruf unterbricht mich: „Und selbst wenn: Moritz ist für euch genauso tabu wie Fried-rich! Habt ihr das verstanden?!“

Nachdem die drei den Platz endlich geräumt haben, wendet sich die ungeteilte Aufmerksamkeit Friedrich zu, der an einer Papiermülltonne lehnt und seine schmerzende linke Schulter massiert. Sein Gesicht ist noch blasser als sonst.

„Haben sie dir was getan?“

„Ist alles in Ordnung?"

Die Mädchen sind ernsthaft besorgt um ihn.

„Sollen wir dich vielleicht besser zu einem Arzt bringen? Vielleicht hat Olaf dir den Arm ausgerenkt?“

„Sollen wir dich nach Hause bringen? Dann trauen sich die drei auf keinen Fall noch mal an dich ran.“

Friedrich wehrt freundlich aber bestimmt ab. „Es ist schon in Ordnung, Moritz kann mich nach Hause bringen. Wir haben ohnehin den gleichen Weg.“ Nachdenklich sieht er in die acht auf ihn gerichteten Augenpaare. „Das war eben wirklich klasse von euch. Danke.“

„Gern geschehen.“ Sybille lächelt zaghaft. „Du kannst uns ja mal einen Kaffee ausgeben.“

„Ich hoffe nur, Jochen war das eine Lehre und er läßt dich wirklich in Ruhe.“ Renate zieht weiterhin ein finsteres Gesicht.

„Wenn nicht, sind wir ja immer noch da“, erklärt Melanie bestimmt. Und nachdenklicher fügt sie hinzu: „Ich werde Jochen jedenfalls den Laufpaß geben.“

„Tut mir leid“, murmelt Friedrich.

„Ach Quatsch, wieso tut dir das leid? Mir tut es leid, daß ich nicht schon früher gemerkt habe, was für ein Schwein er ist…“

„Und du bringst ihn wirklich nach Hause?“, wendet sich Renate an mich.

„Ja, natürlich. Gar keine Frage.“

„Es ist ja nur, falls er doch verletzt sein sollte…“ Sie blickt mich ein bißchen merkwürdig an. „Sag mal, hat Olaf eigentlich recht? Bist du auch schwul?“

Ich werde erst einmal rot. Was soll denn diese bescheuerte Unterstellung? Verdammt noch mal, nein, nein, nein! „Nein!“ Hm, ich glaube, das war ein bißchen zu laut. Na egal, Hauptsache entschieden genug. „Natürlich nicht!“

Renate wirft mit Schwung ihre langen braunen Haare zurück. „War ja nur ’ne Frage.“ Sie blinzelt mir zu, und das macht mich definitiv nervös.

„Können wir los?“ Friedrich hat seinen Rucksack vom Boden aufgeklaubt und sieht mich fragend an.

Diejenigen der Mädchen, die ebenfalls bereits Schulschluß haben, lassen es sich nicht nehmen, uns bis zur U-Bahn zu begleiten. Da jedoch keine von ihnen in unsere Richtung fahren muß, sind wir in der Bahn endlich unter uns. Mir fällt auf, daß Friedrichs Verhalten sich verändert, nachdem die Mädchen außer Sicht sind. Er gibt sich immer noch gelassen, aber an seinen Bewegungen merke ich, daß er Schmerzen haben muß.

„Soll ich lieber deinen Rucksack tragen?“, frage ich, als wir die U-Bahn verlassen und die Treppe zum Ausgang der Station hinauflaufen.

„Nein, warum?“ Er wirft mir einen erstaunten Blick zu.

„Weil dir offenbar irgend etwas wehtut.“

Er schüttelt den Kopf. „Nein, mir geht’s gut. Wirklich“, erklärt er bestimmt, strafft sich und verzieht im nächsten Moment schmerzerfüllt das Gesicht. „Scheiße.“

Ich spare mir den bissigen Kommentar, der mir bereits auf der Zunge liegt, und greife nach dem linken Träger seines Rucksackes. Aber Friedrich hält dagegen.

„Hör auf. Ich bin kein Tattergreis“, weist er mich zurecht.

Ich lasse ihm seinen Willen. Man kann ja niemanden zu seinem Glück zwingen.

An seiner Haustür will Friedrich mich verabschieden, aber diesmal bin ich derjenige, der Protest anmeldet. „Die Mädels würden mich umbringen. Ich bring dich hoch und gehe erst, wenn ich überzeugt bin, daß dir nichts fehlt.“

Friedrich mustert mich eine Weile schweigend, dann gibt er nach.


„Hilf mir bitte mal.“ Friedrich steht mitten in seinem Zimmer und versucht mit schmerzverzerrtem Gesicht sein Shirt auszuziehen. Da dieses allerdings gelinde gesagt sehr körperbetont ausgefallen ist und darüber hinaus über lange, bis über die Hände reichende Ärmel verfügt, erweist sich das mit einer lädierten Schulter als ziemlich hoffnungsloses Unterfangen.

„Warte, ich bin ja schon da.“ Hm. Und nun? Ich versuche, mir vorzustellen, wie ich normalerweise ein Shirt ausziehen würde, und mache noch einen Schritt auf Friedrich zu, der mich reichlich zerknirscht ansieht. Er zuckt zusammen, als ich den Saum seines Shirts berühre. Offenbar ist er dort kitzlig. Doch darauf kann ich jetzt wirklich keine Rücksicht nehmen. Scheiße, so nah war ich ihm noch nie. Als ich ihm das Shirt über den Kopf streife, berühren sich kurz unsere Schultern. Ich spüre seinen warmen Atem an meinem Hals und trete rasch einen Schritt zurück. Nicht, daß er irgend etwas falsch versteht.

„Danke.“ Friedrich wirft das Shirt auf den Schreibtischstuhl. Dann wendet er seine Aufmerksamkeit seiner ramponierten Schulter zu. Vorsichtig bewegt er den Arm. „Das wird ein paar Tage brauchen, bis es wieder in Ordnung ist“, stellt er fest. „Zum Glück ist es nicht der rechte. So kann ich wenigstens noch schreiben.“

Ich habe mich auf der Matratze niedergelassen und lasse ihn nicht aus den Augen. „Was zum Teufel haben die mit dir gemacht?“

Friedrich wirft mir einen kurzen Blick zu. „Das hast du doch gesehen.“

„Was ich gesehen habe, erklärt nicht das da.“ Ich weise auf einen ziemlich heftigen Bluterguß unterhalb seines linken Schulterblattes und zwei lange Schrammen, die sich quer über den ganzen Rücken ziehen.

„Was meinst du?“ Er versucht vergeblich, einen Blick über seine Schulter zu werfen.

Ich kläre ihn auf.

„Ach so. Das kommt wohl von der Rangelei vorher.“

Rangelei? Dieser Euphemismus scheint mir völlig fehl am Platz. Drei gegen einen – das ist doch keine Rangelei! Die drei wollten ihn zusammenschlagen, und damit hatten sie offenbar schon begonnen, bevor ich mit den beiden Mädchen aufgetaucht bin. Mir fällt Steffen mit seiner blutenden Nase ein. Wenigstens einer von ihnen, der auch etwas abbekommen hat.

„Was ist wirklich passiert?“, will ich wissen, aber Friedrich wehrt ab.

Statt dessen holt er Jod und eine Tube aus dem Bad. „Kannst du mir noch mal helfen?“, bittet er und hält mir beides entgegen. „Ich komme ja nicht ran.“

Ich tränke also gehorsam einen Wattebausch mit Jod und desinfiziere sorgsam die Schrammen. Dann kommt die Prellung dran. In der Tube befindet sich ein kühlendes, stark nach Menthol riechendes Gel, das ich vorsichtig auf dem Bluterguß verteile. Friedrich benutzt es auch für seine verletzte Schulter.

„So. Das dürfte reichen.“ Er schraubt die Tube wieder zu und wirft sie mit leichtem Schwung auf den Schreibtisch. Dann tritt er an den Kleiderschrank und sucht eine Weile unentschlossen darin herum. Schließlich hat er sich für ein kurzärmliges, dunkelblaues Baumwollhemd entschieden und fährt vorsichtig in die Ärmel. Als er es – zwangsläufig einhändig – zuknöpft, wird wieder einmal deutlich, daß seine Klamotten offenbar alle nach einem bestimmten Gesichtspunkt ausgesucht wurden: Sie müssen seinen Körper möglichst eng umschließen. „Soll ich uns Kaffee machen oder willst du schon los?“

Unglaublich. Erst wollte er mich am liebsten gar nicht erst ins Haus lassen, und nun tut er so, als wäre ich derjenige, der schnellstmöglich wieder verschwinden wollte. „Ich dachte, es ist dir nicht recht, daß ich hier bin.“

Friedrich bedenkt mich mit einem versonnenen Blick. „Wieso das denn? Ich mag dich. Ich habe dich gern in meiner Nähe.“ Er grinst über meinen verstörten Gesichtsausdruck. „Du bist als Krankenschwester unschlagbar.“

Verdammt, er sollte nicht so komische Sachen sagen. Ich bin mir nie sicher, was er ernst meint und was nicht.

„Also, ich mach jetzt Kaffee.“


Wir sitzen also in der Küche und trinken Kaffee. Er in einer Ecke der Couch, ich in der anderen. Da die Couch nicht sehr breit ist, ist trotz allem nicht viel Platz zwischen uns.

„Darf ich dich was fragen?“ Da ist etwas, was mich schon eine ganze Weile beschäftigt, aber bisher hat sich einfach noch keine Gelegenheit ergeben, das anzusprechen. Vielleicht will Friedrich ja auch gar nicht darüber reden. Kann durchaus sein, daß ich einen wunden Punkt berühren würde. Hm.

„Worum geht’s denn?“ Friedrich versucht eine Position zu finden, in der die Schmerzen in seiner lädierte Schulter und den Rippen halbwegs ertragbar bleiben.

„Wenn du nur die Schule wechseln mußtest, wieso hast du dann gleich die Stadt gewechselt? Von Rostock nach Berlin zu ziehen, ist schließlich kein Pappenstiel.“

Friedrich greift erst mal nach seiner Kaffeetasse. Meine Vermutung scheint also ganz richtig zu sein. „Das ist eine lange Geschichte“, erklärt er ausweichend.

Das hab ich doch heute schon mal von ihm gehört? „Hat das was zu tun mit den Typen, wegen derer du die Schule wechseln mußtest?“

„Hm. Auch.“ Friedrich leert seine Tasse und lehnt sich vorsichtig zurück. „Ja, es gab da an meiner Schule ein paar Idioten, die – wie Jochen und seine Anhängerschaft – meinten, wenn schon nicht die Welt, so doch wenigstens die Schule nach ihren ganz persönlichen Anschauungen einrichten zu können. Und zwangsläufig gab es da ein paar Leute, die durch ihr Raster fielen. Und die mußte sich entscheiden: Sie konnten sich dem vorgestanzten Weltbild anpassen oder aber die Konsequenzen tragen.“ Er hebt die Augen und sieht mich ernst an. „Ich hatte nicht vor, mich anzupassen.“

„Wußten sie, daß du schwul bist?“

„Anfangs nicht. Ich war nicht geoutet und sah auch keinerlei Veranlassung dazu. Außerdem wohnte ich noch bei meinen Eltern. Die wären ausgeflippt, wenn sie das gewußt hätten. Sind sie ja dann auch. Na ja, egal. Nein, was den Typen nicht paßte, war schon allein mein Auftreten. Ich war ihnen wohl zu selbstbewußt. Und wahrscheinlich auch zu… hm, exzentrisch? Sie konnten mich jedenfalls in keine Schublade stecken. Also haben sie versucht, mich zu diffamieren. Zu mobben, wenn du so willst. Irgendwann kam dann auch der Vorwurf: Friedrich ist ’ne Schwuchtel.“ Sein Lachen klingt bitter. „Sie dachten wohl, damit können sie mir was anheften, an dem ich kaputtgehe. Dabei hatten sie mit ihrer Behauptung recht, aber das konnten sie nicht wissen. Ich hab es immer sehr gut verstanden, Schule und Eltern aus meinem Privatleben herauszuhalten. Wie auch immer, mich hat das Prädikat nicht besonders gejuckt. Und wirklich unangenehm wurde es ja auch erst, als sie rausfanden, daß ich wirklich schwul bin. Das hat mich erschreckt: Solange andere behaupten, du wärst schwul, ohne daß sie davon ausgehen, daß du es wirklich bist, ist ihnen dieses Etikett und der entsprechende Ruf Beleidigung und Erniedrigung genug. Wenn du allerdings aufstehst und sagst: Ja, bin ich, geht ihnen das verloren. Du läßt dich durch die Beleidigung nicht mehr beleidigen. Also greifen sie zu härteren Maßnahmen.“ Friedrich verstummt und gießt sich aus der Kanne Kaffee nach. Aber auch danach macht er keine Anstalten, in seiner Erzählung fortzufahren.

„Was heißt – härtere Maßnahmen?“ Ich frage das, obwohl ich ganz deutlich merke, daß er eigentlich nicht darüber reden möchte. Aber ich bin wütend auf seine ehemaligen Mitschüler; und zugegebenermaßen auch ziemlich neugierig.

„Das willst du gar nicht wissen.“ Friedrich sieht mich an, und seine Augen wirken fast schwarz.

„Doch, will ich“, widerspreche ich.

Friedrich knurrt unwillig und wendet den Blick ab. „Du hast doch heute gesehen, was das heißt. Und das war noch die harmlosere Tour.“

Harmlos? „Sie haben dich also verprügelt?“ Mein Haß auf diese Rostocker Halbimbezillen wächst.

„Hm. Ein paar Mal. Allerdings gab es dort keine – Eingreiftruppe. Trotzdem, ich hab mich gewehrt. Nicht nur körperlich. Schließlich war ich lange Jahre Schülersprecher gewesen. Ich habe mich an Vertrauenslehrer gewandt, bin bis zum Direx gegangen, hab versucht, bei der Schülervertretung was zu erreichen. Immerhin haben diese Arschlöcher mir die Schule zur Hölle gemacht; meine Leistungen sanken rapide. Wenn das so weitergegangen wäre, hätte ich die zwölfte Klasse wiederholen müssen.“

„Und deine Eltern? Haben die nichts tun können?“

Friedrich zuckt schweigend mit den Schultern und verzieht gleich darauf das Gesicht. An seine Verletzung hat er nicht mehr gedacht. „Die sind durchgedreht, aber nicht wegen der Vorfälle in der Schule, sondern weil sich plötzlich rausstellte, daß ihr grandioser Sohn schwul ist. Da mußte ja irgendwo ihre Erziehung versagt haben! Nein, das war alles ziemlich mies, reden wir nicht mehr davon.“

„Aber letztlich konntest du die Schule doch noch wechseln?“

„Das schon. Aber erst nachdem die ganze Sache fast eskaliert ist.“ Friedrich greift erneut nach der Kaffeetasse, und ich registriere, daß seine Hände zittern. Nicht stark, aber immerhin.

„Was ist passiert?“ Ich merke seinen Widerstand, aber ich will es wissen.

Friedrich spricht zu dem Kaffee in seiner Tasse. „Nichts weiter.“ Er hebt kurz den Blick, und ich erspare ihm und mir weitere Nachfragen. „Ich bin ihnen rechtzeitig entkommen“, fährt er nach einer Weile fort, „und habe sie angezeigt. Das hätte ich vielleicht schon früher tun sollen, aber ich habe noch auf eine schulinterne Lösung gehofft. Auf einmal ging dann alles sehr schnell. Das Jugendamt hat sich eingeschaltet, obwohl ich inzwischen schon achtzehn war, und hat mir bei einigen nötigen Formalitäten geholfen. Vor allem, was die Unterhaltsforderungen an meine Eltern betraf. Mir war ja klar, daß ich weg wollte. Weg aus Rostock, weg von den Eltern. Berlin, habe ich gehofft, hat irgendwo auch Platz für mich.“

„Hm.“ Nachdenklich schenke ich mir Kaffee nach. „Und dann gerätst du bei uns gleich am ersten Tag mit Jochen aneinander. Was für ein Einstieg.“

„Trotzdem – hier ist einiges für mich ganz anders gelaufen. Ich hab die Mädchen auf meiner Seite, und was das ausmacht, durfte ich ja heute erleben. Und außerdem…“ Er hebt den Blick und sieht mich an. „Weißt du, ich hatte in der Grundschule einen guten Freund, den ich später leider aus den Augen verloren habe. Seither war ich in der Schule immer ziemlich auf mich allein gestellt.“

Hm, das kommt mir jetzt ein bißchen bekannt vor. Eigentlich war Robert der Einzige, mit dem ich ein bißchen intensiveren Kontakt hatte und mich auch mal über außerschulische Themen ausgetauscht habe. Die anderen sind – nun ja, Mitschüler halt. Man kennt sich, man grüßt sich, man quatscht ein bißchen. Aber eine richtige Freundschaft…? Friedrich ist der erste, den ich auch mal zuhause aufsuche. Sind wir befreundet? Ich kenne ihn ja kaum. Aber vielleicht ist das ja eine gute Basis für eine Freundschaft? Ich möchte ihn ja kennenlernen. Vielleicht ist es das, was er sagen will.

„Ich bin jedenfalls froh, daß du da bist.“ Friedrich mustert mich mit einem nachdenklichen Blick, dann lacht er leise auf und erhebt sich. „Gott, du ahnst gar nicht, wie erleichtert ich war, als ihr da heute aufgetaucht seid.“

„Ich kann’s mir vorstellen“, gebe ich zurück.

„Es ist ein verdammt gutes Gefühl, nicht allein zu sein.“ Friedrich streckt die rechte Hand aus und wuselt mir durch die Haare. „Danke.“ Dann greift er unbefangen nach der Kanne und den Tassen und räumt das Geschirr in die Spüle.

Ich hingegen bin mal wieder kurzzeitig ziemlich perplex. Was sollte das denn eben? Scheiße, ich sollte mir nicht immer so viele Gedanken über alles machen und endlich aufhören, überall nach einem tieferen Sinn zu suchen. Wahrscheinlich hatte diese Geste bloß zu bedeuten, daß Friedrich mich gut leiden kann. Er selbst jedenfalls scheint ihr keine größere Bedeutung beizumessen.

„Hör mal…“ Friedrich hat sich wieder zu mir umgewandt und sieht mich mit ein wenig unschlüssig an. „Ich möchte dich ja nicht rausschmeißen, aber ich bin wirklich ziemlich fertig, und außerdem müssen wir noch bis morgen für Englisch einen Text über das Bokanovski-Verfahren schreiben, wie du weißt…“

Ach ja, die Hausaufgaben hätte ich beinahe vergessen. „Kein Problem, ich bin schon weg“, erkläre ich möglichst locker und stehe ebenfalls auf.

Er bringt mich bis zur Tür. „Dann also bis morgen.“ Einen Moment lang sieht es so aus, als wolle er noch etwas sagen, aber dann scheint er es sich doch anders zu überlegen.

„Ja, bis morgen.“ Ich schnappe mir meinen Rucksack und trete auf den Hausflur. „Mach’s gut.“

Freitag

Es ist Freitag morgen, ich sitze in meinem PW-Raum, lausche mit halbem Ohr auf Herrn Schots Ausführungen über Mali und bin hundemüde. Zum Glück startet der Lehrer jetzt den gerade angekündigten Dokumentarfilm über Entwicklungsländer, so fällt es wenigstens nicht auf, wenn ich ein bißchen abschalte.

Ich hab die halbe Nacht nicht schlafen können, weil mir ständig die Ereignisse des Vortages durch den Kopf gingen. An unserer Schule ging es bisher eigentlich immer recht friedlich zu, jedenfalls hab ich von körperlichen Auseinandersetzungen zwischen Schülern nie etwas mitbekommen; und dieser plötzliche Gewaltausbruch hat mich daher ziemlich geschockt. Daß Friedrich so etwas schon mehrfach erleben durfte, hat mich noch mehr erschreckt. Scheiße. Er hat ja wirklich schon eine ganze Menge hinter sich. Weiß nicht, ob ich mit solchen Erlebnissen, mit derartigem Haß so locker umgehen könnte wie er.

Ich habe ihn heute morgen von zu Hause abgeholt. Fand er natürlich völlig übertrieben, aber mich hat es beruhigt, zu wissen, wo er ist. Außerdem ist er schließlich immer noch ziemlich angeschlagen. Auf dem Schulhof haben uns gleich die Mädchen in Verwahrung genommen, was gar nicht so blöd war, denn Jochen und Olaf lungerten schon am Haupteingang herum, als wir das Schulgebäude betreten wollten. Die waren ziemlich wütend, als wir mit unseren Schutzpatroninnen einfach an ihnen vorbeigezogen sind. Aber auf die Dauer ist das nichts. Soll sich Friedrich in der Schule nicht mehr frei bewegen können? Und ich? Olafs Drohung war ziemlich eindeutig, aber man kann sich doch nicht einfach einschüchtern lassen. Ach, Scheibenkleister.


In der kurzen Pause vor Deutsch versuche ich, mit Friedrich darüber zu reden, aber er weiß vorerst auch keine bessere Lösung. „Vielleicht geben Olaf und Jochen von selbst auf, wenn sie merken, daß sie keinen Rückhalt haben“, mutmaßt er, aber sehr zuversichtlich klingt das nicht.

„Du meinst, sie gewöhnen sich an dich?“

Der nachdenkliche Blick, mit dem mich Friedrich bedenkt, trägt nicht gerade zu meiner Beruhigung bei. „Vielleicht auch an mich“, sagt er nur, bevor das Klingelzeichen unser Gespräch beendet. Meier beginnt die Stunde und läßt mir keine Gelegenheit mehr, über diese kryptische Bemerkung intensiver nachzudenken.


In der Hofpause nieselt es, und so verbringen wir die Zeit am Kiosk im Erdgeschoß des Schulgebäudes. Friedrich spendiert den Mädchen, die ihn auch hier nicht aus den Augen lassen und sich schwatzend um die hohen Bistrotische am Fenster drängen, reichlich Kaffee. Ich habe mir ein belegtes Brötchen gegönnt und kaue nun geistesabwesend darauf herum. Friedrich steht mir gegenüber, den Kaffeebecher vor sich auf dem Tisch, und unterhält sich sehr angeregt mit Melanie. Mich scheint er völlig vergessen zu haben. Tolle Freundschaft…! Gerade noch rechtzeitig merke ich, daß ich drauf und dran bin, auf Melanie eifersüchtig zu sein. Wie albern. Trotzdem ist es blöd, plötzlich so links liegengelassen zu werden.

Vielleicht hat Friedrich meinen grimmigen Blick bemerkt, vielleicht ist ihm auch bloß wieder eingefallen, daß ich auch noch da bin. Jedenfalls sieht er kurz auf und lächelt mich an, bevor er sich erneut in das Gespräch vertieft. Hm, mein Magen wird ganz warm. Seltsame Reaktion. Ich kratze mich irritiert am Hinterkopf und widme mich lieber wieder dem Brötchen.

„Willst du auch noch Kaffee?“ Renate quetscht sich auf dem Weg zum Automaten an mir vorbei.

Warum eigentlich nicht? Ich nicke, weil man mit vollem Mund nicht sprechen soll und ich gut erzogen bin, und keine Minute später habe ich einen Pappbecher mit dem schwarzen, aromatisch duftenden Heißgetränk vor meiner Nase zu stehen.

„Wohl bekomm’s.“ Sie bleibt neben mir stehen und prostet mir gutgelaunt zu.

„Danke.“ Ich hab den Rest des Brötchens herunter geschlungen und spüle mit einem kräftigen Schluck Kaffee nach.

„Jochen hat heute übrigens schon versucht, Stimmung gegen euch zu machen“, erklärt Renate und stützt einen Ellenbogen auf die Tischplatte. Sie hat diesen Idioten in ihrem Chemie-Leistungskurs, die Ärmste.

„Und?“

„Hat ihm nicht viel gebracht. Den meisten war offenbar egal, was er da vom Stapel gelassen hat; einige fanden’s voll daneben.“

„Was hat er denn gesagt?“

„Kannst du dir doch denken: Daß wir Typen wie Friedrich und dich nicht an unserer Schule dulden dürften und…“

„Warte, warte“, unterbreche ich sie ärgerlich. „Was hab ich denn damit zu tun?“

Sie sieht mich nachsichtig an. „Jochen ist überzeugt davon, daß du auch schwul bist“, erklärt sie.

Na prima. Meine Stimmung sinkt vom Souterrain in den Keller.

Renate hebt fragend eine Augenbraue. „Hast du Angst?“

Natürlich hab ich Angst. Schließlich habe ich gesehen, was die mit Friedrich gemacht haben, und ich muß bloß an den Wikinger denken, damit mir schlecht wird.

„Keine Sorge“, beruhigt sie mich. „Wir passen auch auf dich auf. Selbst wenn du wirklich nicht schwul sein solltest.“ Sie grinst.

Was heißt hier ‚wirklich‘? Die spinnt ja wohl! Ich bin nicht schwul. Punkt. Verärgert kippe ich den restlichen Kaffee herunter, und es klingelt.

„Na los, komm.“ Renate ignoriert meinen empörten Gesichtsausdruck und hängt sich bei mir ein. Leider habe ich denselben Kunstkurs belegt wie sie. Ich kann gerade noch erkennen, wie Friedrich belustigt die rechte Hand hebt und mir nachwinkt, bevor wir im Gedränge verschwinden.


Als ich nach dieser ungewohnt anstrengenden Doppelstunde Kunst den Englischraum betrete, sitzt Friedrich bereits an seinem Platz und liest im Huxley.

„Na, hat sie dich gehen lassen?“, will er wissen und legt das Buch zur Seite.

Mir ist gar nicht nach Scherzen, und ich lasse mich mit einem finsteren Seitenblick auf meinen Stuhl fallen. Renate hatte sich im Kunstraum unverhofft auf den freien Platz neben mir gesetzt und es geschafft, mich die ganzen anderthalb Stunden hindurch mit irgendwelchen Informationen über Jugendstilgebäude zuzuquatschen, um die ich sie nie gebeten habe. Und alles bloß, weil wir uns erst ein schlecht gemachtes Schülervideo zu diesem Thema ansehen mußten und anschließend selbständig ein entsprechendes Gebäude entwerfen sollten.

Friedrich sieht mich aufmerksam an. „Kann es sein, daß Renate versucht, sich an dich ranzumachen?“

Die soll mich bloß in Ruhe lassen. Ich schüttle unwillig den Kopf. „Hoffentlich nicht.“

„Wieso nicht? Sie scheint nett zu sein“, bemerkt er zurückhaltend.

Unser Gespräch wird unterbrochen, als Jochen und Olaf den Raum betreten. Die Blicke, die sie uns zuwerfen, sind – gelinde gesagt – tödlich.

„Da sind diese beiden Schwuchteln ja schon wieder“, blökt Jochen haßerfüllt, kommt uns jedoch nicht zu nahe.

Sybille, die vorn neben der Tür sitzt, hebt mißtrauisch den Kopf.

„Halt die Schnauze“, antwortet Friedrich betont gelassen. „Rede nicht über Themen, von denen du keine Ahnung hast.“

Jochen ist anzusehen, daß er sich liebend gern auf ihn gestürzt hätte. Allerdings sind wohl selbst ihm zu viele Zeugen im Raum. „Du hast hier überhaupt nichts zu melden, du Ratte!“, keift er wutschnaubend.

„Du hast hier überhaupt nichts zu suchen!“ assistiert ihm der Wikinger.

Aus der hintersten Bankreihe an der Wand hört man ein entnervtes Stöhnen. „Jetzt kommt die Platte wieder!“ Peter, der dort sitzt, verdreht die Augen und läßt seinen Kopf demonstrativ auf die Tischplatte knallen. Offenbar besucht auch er denselben Chemie-Leistungskurs wie Jochen und durfte sich dessen Tiraden heute bereits zur Genüge antun.

„Hast du ein Problem?!“, fährt Jochen ihn prompt an.

„Hab ich“, bestätigt Peter und hebt den Kopf wieder. „Mit dir nämlich. Du nervst, Mann! Laß die beiden doch endlich mal in Frieden! Was haben sie dir denn getan?“

„Das sind gottverdammte schwule Säcke!“, brüllt Olaf ihn in Vertretung an. „Bist du so blöd oder tust du nur so?!“

„Ja und?“ Langsam wird auch Peter aggressiv. „Herrgott, dann sind sie eben schwul! Das kann euch doch völlig Wurst sein!“

„Aber ich bin gar nicht schwul!“, werfe ich wütend ein, doch dieses Argument geht fast völlig im Lärm der Schulklingel unter.

Zänkel betritt etwas abgehetzt den Raum und schickt Jochen und Olaf mit einem fordernden Wink auf ihre Plätze. „Take your seats, gentlemen!“ Er holt noch einmal tief Luft, dann beginnt er den Unterricht.


Nach dem Ende der Stunde hat es Friedrich eilig, den Raum zu verlassen. Es ist für ihn und mich das letzte Fach für diese Woche gewesen, und ihm scheint offensichtlich nicht viel daran gelegen, sich noch weitere Auseinandersetzungen mit Olaf und Jochen zu liefern, die noch ihren Sportkurs hinter sich zu bringen haben.

Auf dem Weg zur U-Bahn schweigen wir beide. Erst auf dem Bahnsteig findet Friedrich die Sprache wieder. „Wir haben mehr Unterstützung, als ich gedacht habe“, stellt er nüchtern fest.

„Du“, verbessere ich.

„Ich?“ Er schüttelt den Kopf. „Du steckst da genauso drin. Sei es, weil die beiden Idioten dich für schwul halten, sei es, weil wir befreundet sind. Denen ist egal, unter welchem Vorwand sie dich anpöbeln. Oder zusammenschlagen.“

Ich schlucke trocken. „Das erleichtert mich ungemein.“

Friedrich legt mir die Hand auf den Arm. „Du hast doch gesehen, daß wir Verbündete haben“, erklärt er ruhig.

Die Bahn fährt ein, und er läßt mich los, um die Türen zu öffnen. Vor zehn Jahren etwa brauchte man dafür noch beide Hände und eine ganze Menge Kraftaufwand. Heute geht es meist per Knopfdruck und ist somit auch in angeschlagenem Zustand problemlos zu bewerkstelligen.

Mit Beginn der Fahrt versinkt Friedrich erneut in Schweigen, und erst nachdem wir ausgestiegen sind und bereits die letzten Stufen erklimmen, die aus dem Untergrund an die Oberfläche führen, meldet er sich wieder zu Wort. „Was hast du eigentlich heute noch vor?“, will er wissen.

Ich zucke mit den Schultern. „Nichts weiter. Vielleicht ein bißchen was für die Schule tun. Huxley zu Ende lesen. Oder den Danton. Bißchen fernsehen, wenn es was interessantes gibt…“ Das klingt ziemlich langweilig, ich weiß, aber so sieht es nun mal aus. Ich bin niemand, der Freitag und Samstag abend auf die Piste geht. Ich hasse Discos. Ich hasse stupide Menschenmassen, die zu Kackmusik Kacktänze aufführen. Und allein ins Kino zu gehen, ist ausgesprochen öde. Was bleibt mir da groß übrig? Ab und zu tue ich mir in der Supamolly ein mieses Punkkonzert an, wenn ich das Bedürfnis habe, mich mit Bier abzufüllen und zuräuchern zu lassen. Aber sonst?

„Kennst du den Drachen?“ Klar, Friedrich ist mir da wieder meilenweit voraus. „Das ist ein kleiner Klub oben im Nordkiez. Kann auch schon Prenzlauer Berg sein. Die haben erst vor ein paar Monaten aufgemacht.“ Er nennt die Straße und sieht mich fragend an. „Ich dachte, du hättest vielleicht Lust, mitzukommen. Ich war am letzten Wochenende schon mal dort, und es ist wirklich ganz nett. Eigentlich. So ein bißchen untergrundmäßig, bißchen stylish, bißchen ranzig-alternativ. Ziemlich voll, aber die Musik war gut: Viel Psychedelisches, Velvet Underground, Doors, Amon Düül II und so. Aber auch aktuelleres. Radiohead, Smashing Pumpkins, Bad Seeds, Placebo…“ Er kann sich das Grinsen nicht verkneifen. „War wirklich nicht schlecht. Man konnte sogar tanzen. Die Leute sind auch halbwegs ertragbar und ganz gut abgegangen. Und das Bier ist günstig.“

Ausgehen mit Friedrich? Ich weiß nicht… Wozu? Die Woche war anstrengend genug. Ich bin froh, wenn ich mal ein bißchen abschalten kann.

„Schade.“ Friedrich sieht mir offenbar an, daß ich nicht allzu begeistert bin. „Es hätte dir bestimmt gefallen.“ Ein bißchen enttäuscht klingt er ja schon.

„Vielleicht ein andermal“, schlage ich halbherzig vor. Wahrscheinlich wird er mich nie wieder irgendwohin einladen.

„Na schön. Nicht so tragisch.“ Er winkt ab und lächelt schon wieder. „Sehen wir uns trotzdem am Wochenende?“

„Bestimmt“, sage ich und muß grinsen. „Du weißt ja, wo ich wohne.“

„Blödmann. Ich muß los.“

„Na dann. Viel Spaß heute abend. Und vergiß nicht: Geh nie mit fremden Männern mit, die dir süße Hundewelpen zeigen wollen.“

„Du gönnst einem auch gar nichts.“ Friedrich grinst zurück. „Wir seh’n uns.“


Es ist kurz vor neun, und ich sitze in meinem Zimmer, trommle nervös mit den Fingern auf dem Schreibtisch herum und versuche vergeblich, mich auf das vor mir liegende Buch zu konzentrieren. Zum inzwischen bestimmt schon achtzehnten mal lese ich denselben Satz, ohne seinen Sinn aufzunehmen. Mein Gehirn ist anderweitig beschäftigt. Momentan stellt es sich gerade vor, was Friedrich jetzt wohl treiben mag. Der ist bestimmt schon im Drachen. Scheint sich ja auch ganz gut alleine amüsieren zu können. Und wenn er Unterhaltung braucht, wird es dort bestimmt jemanden geben, den er aufreißen kann. Scheiße, ich bin schon wieder eifersüchtig. Das ist doch nicht normal. Was interessiert es mich, ob Friedrich jemanden aufreißt oder nicht? Kann mir doch völlig egal sein. Wir sind bestenfalls befreundet; ich bin nicht sein Anstandswauwau. Soll er doch in die Kiste springen, mit wem er will. Mich geht das nichts an. Wenn er ohne mich Spaß hat – bitte schön! Ich hindere ihn nicht daran. Ich mache mir nun mal nicht viel aus Klubs. Soll er mich eben für spießig halten. Das macht mir gar nichts aus.


Kurz nach neun. Inzwischen habe ich eine Humpa-CD für Friedrich gebrannt, mal sehen, ob ihm die Musik gefällt. Ich selbst mag sie ja sehr. Das wäre ein Grund, am Wochenende mal bei ihm voreizukommen. Oder schlimmstenfalls kriegt er sie eben erst am Montag.

Bei Dantons Tod hänge ich immer noch auf Seite 17 fest.


Halb zehn. Ich schmeiße das Buch auf mein Bett, greife nach meinem Parka und verlasse das Zimmer. Es kann ja nicht schaden, wenn ich mir den Laden mal ansehe. Außerdem ist Friedrich noch neu in Berlin. Wer weiß, was der alles anstellt, wenn ich nicht dabei bin. Und ich kann ihm doch heute schon die CD geben. Wenn das nicht drei einleuchtende Gründe sind?


Kurz nach zehn. Ich stehe am Tresen und blicke mich suchend um; von Friedrich ist allerdings weit und breit nichts zu sehen. Es ist tatsächlich ziemlich voll, was aber auch daran liegt, daß der Klub nicht eben groß ist. Links vom Tresen aus gesehen befindet sich der Eingang. Dort stehen auch ein paar samtige Plüschsessel, etwas ranzige Sofas und einige Tische. Alles natürlich belegt. Rechts die kleine Tanzfläche ist ebenfalls fast überfüllt. Am hinteren Ende etwas erhöht steht die Anlage für den DJ. Im Moment läuft ein alter Mutabor-Klassiker; mit der angenehmen Musikauswahl hatte Friedrich also gar nicht so Unrecht. Die Leute springen ausgelassen auf dem beschränkten Platz herum und fühlen sich offensichtlich wohl. Der ganze Raum ist in gelbes und rotes Licht getaucht; es ist aber nicht zu hell. An zwei Wänden hängen großformatige Bilder, die seltsame, comicmäßige Figuren zeigen: Eine Art grüner Elefant mit mindestens sechs Beinen, der gelangweilt auf einer Gitarre mit Augen herumkaut, ist auf dem einen zu sehen. Eine blaue, mehr menschenähnliche Figur mit einer riesigen geringelten Wollsocke über dem Kopf und einer Bratpfanne mit Spiegelei in der Hand ziert die zweite Leinwand. Sehr merkwürdig.

Ich suche mir einen freien Barhocker am Tresen und ordere mein erstes Bier. Dann sitze ich herum, komme mir ein wenig vor, wie bestellt und nicht abgeholt, nehme ab und an einen tiefen Schluck aus meinem Glas und sehe mir die Leute an. Das Publikum ist ziemlich gemischt, aber keiner scheint älter als dreißig zu sein. Es gibt Rastamädchen mit langen, perlendurchsetzten Zöpfen, bunten Blusen und ausgewaschenen Cordhosen, schwarzgewandete Gothic-Typen mit Cape und schweren Silberketten, ein paar Edelpunkerinnen mit Netzstrumpfhosen und hohen Stiefeln, drei, vier Normalos in Jeans und T-Shirt, langhaarige Retro-Hippies, sogar ein paar Typen, die ich auf den ersten Blick eher in der Skaterecke verortet hätte. Na ja. Ein paar ganz ausgefallene Kreaturen rennen auch noch herum, der Typ im augenschmerzend neongrünen Plüschanzug etwa, der es sich auf einem der Sessel bequem gemacht hat; seine Begleiterin, die ebenfalls Neonplüsch trägt, allerdings in pink und als Kleid; oder die rothaarige Dicke in dem sehr, sehr kurzen, sehr engen Oberteil und dem noch knapperen, noch engeren Minirock, die auf der Tanzfläche herumwirbelt. Oder die hochgewachsene Frau mit den langen ebenholzfarbenen Haaren in dem bodenlangen schwarzen Samtkleid und mit den langen Handschuhen, die ich der Gothic-Fraktion zugerechnet habe, bevor mir erst auf den etwa sechzehnten Blick auffällt, daß das vielleicht doch gar keine Frau ist…

Nun ja, immerhin falle ich hier nicht weiter auf und nehme mit meiner schwarzen Cordschlaghose und dem Parka einen guten Platz im Mittelfeld ein.

Neben mir am Tresen sitzt einer von den Typen, die ich eher unter ‚normal‘ einsortiert habe. Allerdings trägt er allen Ernstes einen affigen braunen Cowboyhut und versucht außerdem penetrant, mich in ein Gespräch zu verwickeln. Ich bin ziemlich genervt, weil Friedrich immer noch nicht aufgetaucht ist und ich mich statt dessen mit diesem Volltrottel herumschlagen darf. Aber die Preise sind wirklich moderat, und ich bestelle noch ein Bier.

„Bist du heute zum ersten Mal hier?“, will der Cowboytrottel wissen und läßt auch nicht locker, als ich nicht reagiere. „Wartest du auf jemanden bestimmtes?“

Ja, auf den Osterhasen.

„Hey, ich versuche mit dir zu reden!“ Er wedelt mit seiner Hand vor meinem Gesicht herum. „Jemand zu Hause?“

„Was willst du?“, wende ich mich ihm nun doch ärgerlich zu.

„Mich mit dir unterhalten?“ Er setzt ein Blend-a-med-Grinsen auf, das mir vor zehn Uhr morgens Brechreiz verursachen würde. „Ich bin der Johnny.“

Na klar. Cowboy-Johnny. Wie putzig. Ich spiele kurz mit dem Gedanken, mich spontan zu übergeben.

„Siehst du die Braut da?“ Er weist auf eine der Edelpunktanten. „Mit der war ich vorhin auf dem Klo. Heißer Feger.“ Er grinst mich verschwörerisch an, und ich habe das unbestimmte Gefühl, ihm müßte gleich der Geifer aus den Mundwinkeln tropfen.

„Schön für dich“, reagiere ich trocken und greife nach meinem Bierglas.

Irgendetwas an dem Ausdruck in seinen Augen, als er mich ansieht, gefällt mir ganz und gar nicht. Da ist so viel – Häme. Ich sollt mir einen anderen Platz suchen. Oder abhauen. Wer weiß, ob Friedrich überhaupt noch auftaucht.

„Ich treib’s auch mit Jungs“, erklärt der Cowboyfritze und glotzt mich immer noch an.

Toll. Und? Das interessiert mich einen Scheißdreck! Bildet der sich etwa ein, ich – ?! Nicht einmal wenn ich schwul wäre, würde ich mit so einer Hackfresse was zu tun haben wollen! Gerade will ich zu einer wütenden Entgegnung ansetzen, als mir plötzlich schwindelig wird. Alles scheint sich um mich zu drehen, die Geräusche im Klub scheinen aus weiter Ferne zu kommen, und eine kaltblütig grinsende Visage scheint mein gesamtes Gesichtsfeld zu füllen. Dann reißt mir der Faden.

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