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Nachtschatten

Teil 11 - Endspiel

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Inhaltsverzeichnis

Die Kavernen der Ersten

Florian

Die Kavernen der Klosterbibliothek – sie entsprachen dem vampirischen Äquivalent diskreter schweizer Bankschließfächer und die Nosferatu, in ihrer absoluten Neutralität die Bewahrer, Behüter und Bewacher der in ihnen lagernden Schätze und Geheimnissen, dem verschwiegenen schweizer Privatbankier. Nur wer sich im Besitz des richtigen Schlüssels, der passenden Zahlenkombination oder der geheimen Prozedur befand, vermochte die Tür seiner Kaverne zu öffnen.

Obwohl ich mit den Nosferatu verwandtschaftlich verbunden war und diese Verbindung sogar fühlen konnte, blieben die spirituellen Männer rätselhaft, ja sogar unergründlich. Unermüdlich erfüllten sie ihre sich selbst auferlegten Aufgaben, und sei es, Kavernen zu bewachen, die seit Jahrhunderten niemand mehr betreten hatte. So wie die meinige.

Wir standen vor einer schlosslosen Tür. Während andere Türen teilweise sehr aufwendig verziert waren, manche sogar reliefähnliche Strukturen trugen, zeigte diese nur vier ineinander verschlungene Kreise, die, so vermutete ich, die vier Ersten repräsentierten. Ließ sich die Tür überhaupt alleine öffnen, oder wurden dazu alle vier Ersten beziehungsweise ihre direkten Nachkommen benötigt? Letzteres konnte eigentlich nicht der Fall sein. Jost hatte zwar erwähnt, dass die Kaverne seit Jahrhunderten nicht mehr geöffnet wurde, im Umkehrschluss hieß dies aber auch, dass ihnen jemand vor ein paar Jahrhunderten einen Besuch abgestattet hatte. Was folgerichtig bedeutete, dass für eine Öffnung nicht Vertreter aller vier Stämme anwesend sein mussten. Oder lag ich falsch? Bis zur Enthüllung meiner eigenen Abstammung wurde davon ausgegangen, dass nur noch zwei Blutlinien gebürtiger Vampire existierten – die Kodiac mit dem Haus Varadin und die Linie Baku mit dem Haus Breskoff. Meine Linie, die der Nosferat, galt als verschollen und die Linie Dracula seit über siebzehnhundert Jahren ausgestorben. Dies hieß zwar, dass sich die Tür auch von einem Nachkommen öffnen ließ, beantwortete aber nicht die Frage, wie ich die Tür aufbekommen sollte.

Während Nicolas, mein tapferer Ritter, neben der Tür stand und geduldig abwartete, konnte ich Albrechts und Josts neugierig fiebernde Blicke in meinem Nacken spüren. Ihre Gefühle waren verständlich. Der Gedanke, einen Blick auf antike oder sogar präantike, aber auf jeden Fall historische Dokumente aus der Zeit der Wiege der Menschheit werfen zu können, musste einfach jeden Bibliothekar, und mehr noch jeden Historiker in unerträgliche Aufregung versetzen. Mich machte ihre Unruhe hingegen nervös und behinderte meine Konzentration. Wie sollte ich eine Tür ohne Schloss öffnen?

Vier Ringe. Vier Säulenmänner. Die Symbolik war viel zu offensichtlich, als dass sie der Schlüssel sein konnte. Andererseits waren sie die einzigen sichtbaren Kennzeichen. Trotzdem wollte ich nicht einfach wild auf ihnen herumdrücken, in der Hoffnung, dass sie irgendeinen Verschlussmechanismus enthielten. Dieser konnte sich als genauso tödlich herausstellen, wie das Schlössermonster ein paar Kavernen weiter. Auf der anderen Seite wäre es dumm, dieser Spur nicht nachzugehen.

»Nicolas, könntest du mir dein Schwert leihen?«

Mein designierter Marschall trug immer noch das Schwert mit sich herum, mit dem ich ihn vor wenigen Stunden zum Ritter geschlagen hatte. Ohne zu zögern reichte er mir die stählerne Hieb- und Stichwaffe.

»Bitte tretet zur Seite.«, bat ich meine Begleiter. Für das, was ich vorhatte, sollte niemand unmittelbar vor der Tür stehen.

Das Schöne an einem Schwert ist seine lange Schneide. Für meine Zwecke hätte zwar auch eine lange Stange gereicht, aber ein Schwert tat es genauso gut. Nachdem ich mich versichert hatte, dass alle Anwesenden in Deckung gegangen waren, drückte ich mich selbst gegen die linke Wand neben der Tür und lugte vorsichtig um den Mauervorsprung der Türnische herum. Ich hielt das Schwert fest in meiner rechten Hand, achtete aber darauf, dass sie sich möglichst im Schutz der Mauer befand. Was mir eigentlich fehlte, war ein kleiner Spiegel, um, ähnlich wie in den Actionfilmen, sicher um die Mauerecke sehen zu können. Da ich aber keinen Spiegel hatte, blieb mir nichts anderes übrig, als vorsichtig zu spähen und die etwas verzerrte Reflexion auf der Schwertschneide zu nutzen.

Zum Glück war das Schwert nicht zu schwer. Eigentlich war es verdammt schwer, schließlich bestand es aus gehärtetem Stahl. Doch was einem Menschen als schwer erschien war für meinen vampirischen Körper kaum anstrengender, als einen Zahnstocher zu wuchten. Das eigentlich kniffelige war, immer in Deckung zu bleiben, während ich versuchte, mit der Schwertspitze ein Teilsegment der vier Ringe zu berühren und es gegebenenfalls niederzudrücken.

Hatte ich schon erwähnt, dass ich ein Tischler war? Eine der interessanten Aufgaben während meiner Ausbildung bestand in der Restauration eines antiken Schreibtisches. Dieser Schreibtisch verfügte, wie zur Zeit seiner Fertigung üblich, über unzählige Geheimfächer. Eines dieser Fächer ließ sich dadurch öffnen, dass der um das Geheimnis wissende Nutzer bestimmte Felder der feinen Einlegearbeiten in einer bestimmten Reihenfolge drückte. Genau das gleiche Konzept vermutete ich auch bei der Tür zur Kaverne der vier Ersten. Die Tür bestand aus Metall und die vier Ringe schienen mir nicht aufgemalt, sondern in das Türblatt eingelassen zu sein. Vier sich überlappende Ringe hieß, entsprechend Topologie und Mengenlehre: Vier Felder, die sich nicht überlappten, vier, in denen sich jeweils zwei Ringe überlappten, vier, in denen sich jeweils drei überlappten und ein Feld, das in der Mitte, in denen sich alle vier Ringe überlappten. Was ich versuchen wollte war, mit dem Schwert eines dieser Segmente einzudrücken, ähnlich dem Geheimfach des Schreibtisches.

Das Klick war deutlich zu hören, genauso das darauf folgende Zischen, mit dem eine schwarze, zähe Flüssigkeit von der Tür versprüht wurde, die alles und jeden getroffen hätte, der so lebensmüde war, direkt vor ihr zu stehen. So landete sie nur mit einem satten Schmatzer auf dem Boden, um von dort, der Schwerkraft den Stinkefinger zeigend, zurück zur Tür zu laufen und in ihr wieder zu verschwinden.

»Ihhh, Erdblut!«, artikulierte Nicolas unseren gemeinsamen Ekel, »Davon habe ich eigentlich genug für die nächste Zeit. Woher wusstest du, dass so was passiert, Chef?«

»Ich wusste es nicht, aber ich habe es vermutet. Dass sie dieses widerliche Zeug verwenden, damit hätte ich nicht gerechnet.«

Erdblut war ein wesentlicher Bestandteil unseres Wiedererweckungsrituals gewesen. Entsprechend ungern wollten wir daran erinnert werden. Zumindest wussten wir jetzt, womit wir es zu tun hatten. Meine Vermutung, dass die Tür ungebetene Eindringlinge zum Teufel jagte, hatte sich voll und ganz bestätigt. Als Vampir sollte man sich direktem Kontakt mit Erdblut enthalten. Es sei denn... Nein, die Erinnerung war einfach noch zu frisch. Irgendwann würde ich mich mit der Substanz intensiver auseinandersetzen, zumal mir Tamir eine Abhandlung darüber zukommen ließ. Bisher hatten weder Nicolas noch ich einen Blick hinein geworfen. Wir wollten das Zeug vergessen und nicht daran erinnert werden.

Wie viele Kombinationen waren bei dreizehn Feldern möglich? Das hing davon ab, wie lange die Sequenz war, das hieß wie viele Felder insgesamt nacheinander zu drücken waren. Bei einer Sequenzlänge von eins gab es dreizehn Möglichkeiten, bei zwei waren es einhundertneunundsechzig und bei drei schon zweitausendsiebenundneunzig. Bei einer Länge von nur sechs waren es bereits sage und schreibe 4.826.809 Möglichkeiten, die es zu probieren galt. Oder dachte ich zu kompliziert und die Erbauer der Tür zu einfach? Würde es nicht reichen, einfach die ersten dreizehn Felder durchzuprobieren? Sobald klar war, welches das erste Feld war, das heißt dasjenige, bei dem die Tür nicht spuckte, konnten wir mit dem zweiten Feld fortfahren, welches unabhängig vom ersten wieder nur dreizehn Möglichkeiten besaß. Zu kompliziert? Also, angenommen, das erste Feld, welches gedrückt werden musste, wäre das in der Mitte, dann brauchten wir, um das zweite herauszubekommen nur alle Kombinationen mit Mitte und einem anderen Feld durchprobieren, also Mitte plus oben links, Mitte plus oben rechts und so weiter. Nach maximal dreizehn Versuchen hätten wir das zweite Feld ermittelt. Die Idee hatte einen Schönheitsfehler: Was, wenn mehr als ein Feld gleichzeitig gedrückt werden musste? Es gab nur einen Weg, es heraus zu bekommen, ich musste alle Felder durchprobieren.

»Shit!«

Nicht nur, dass die Tür bei jedem einzelnen Feld mit Erdblut um sich spuckte, die Menge nahm mit jeder Fehlbedienung zu, und das bei allen dreizehn Feldern. Entweder musste tatsächlich mehr als ein Feld gleichzeitig gedrückt werden oder mein ganzer Ansatz war komplett falsch. Entnervt reichte ich Nicolas sein Schwert, um mir die Tür nochmals in Ruhe anzusehen. Zum Glück blieben dieses Mal Albrecht und Jost in Deckung, sodass mich ihre neugierigen Blicke nicht in meiner Konzentration störten.

Was zum Teufel...?

War ich in einen Tagtraum verfallen? Ich starrte auf die Tür, als plötzlich der gleiche Dunst, der auch den Säulenmännern Gesichter gab, über die Tür waberte und völlig neue Schaltflächen enthüllte. Dort, wo bisher nur einfaches, unscheinbares, graues Metall zu sehen war, bildete sich ein Feld mit mit Schriftzeichen gefüllten Quadraten aus, die ich überraschenderweise lesen konnte. Über dem Feld schimmerte eine Frage: »Wer bist du?«

Das war eine gute Frage. War ich ein Nosferat oder ein Hati? Ein Nosferat? Ein Nosferat! Natürlich ein Nosferat. Die Erinnerungen des Säulenmanns meiner Blutlinie kannte keine Hati, also berührte ich die Buchstaben für Nosferat. Kaum war der letzte Buchstabe, das T berührt, klickte es und die Tür schwang auf. Erst danach traf mich die Erkenntnis, dass ich der unfreundlichen Tür ohne Deckung gegenübergetreten war. Noch merkwürdiger war, dass von all dem, meine Begleiter überhaupt nichts bemerkt zu haben schienen.

»Was hast du gemacht?«, rief Nicolas verblüfft, während sich Albrecht und Jost verwundert die Augen rieben.

»Ähm... das ist kompliziert.«, erwiderte ich zurückhaltend, schnappte mir zwei Karbidlampen und betrat die Kaverne. Die Schwelle war kaum überschritten, als ein metallisches Geräusch hinter mir erklang, das mich sofort herumwirbeln ließ. Ich wollte meinen Augen nicht glauben. Nicolas hatte sein Schwert gezückt. Die Klinge ruhte unmittelbar auf Josts Kehlkopf, welcher nervöse Schluckbewegungen vollführte. Nicolas versperrte den Zwillingen sehr effektiv den Weg.

»Stopp!«, rief der Mann mit dem Schwert, »Keinen Schritt weiter! Jost, Albrecht, ihr wisst ganz genau, dass die Kavernen verbotenes Gebiet sind. Ihr werdet sie nicht betreten, es sei denn, mein Herzog erlaubt es euch.«

Die Angesprochenen wichen einen Schritt zurück, schauten mich an, blickten zu Nicolas und schluckten erneut.

»Wir...«, stammelte Albrecht, »Wir bitten Eure Königliche Hoheit um Verzeihung. Wir haben uns hinreißen lassen.«

Na toll. Kaum hatte ich mit den Nosferatu Freundschaft geschlossen, passierte so etwas. Natürlich war mir klar, dass Albrecht und Jost nicht absichtlich die Unantastbarkeit der Kavernen verletzen wollten. Allerdings ahnte ich, dass die Angelegenheit nicht ganz so einfach aus der Welt zu schaffen war. Dafür guckte Nicolas entschieden zu böse und die beiden Zwillinge waren zu blass.

»Also gut.«, mein Blick wanderte zwischen meinen Begleitern umher, »Nicolas, bitte senke dein Schwert, aber bewache den Eingang der Kaverne. Albrecht und Jost, ich akzeptiere eure Entschuldigung, bitte euch aber, außerhalb zu warten. Ansonsten, vertragt euch, ja?«

Die drei Angesprochenen nickten, Nicolas senkte sein Schwert, stellte sich aber demonstrativ in den Türrahmen.

Die Kaverne war nicht nur wesentlich größer als ich vermutet hatte, sondern auch in einem erstaunlich guten Zustand. Immerhin dürfte ich das erste Lebewesen sein, das diesen Raum seit Jahrhunderten betrat. Die beiden Karbidlampen landeten in Halterungen, die ich neben der Tür entdeckte. Kaum dort platziert, war eine ganze Reihe von Klickgeräuschen zu hören, die in einem plötzlichen Aufflammen unzähliger Lichter mündete. Welcher Mechanismus dahinter steckte, konnte ich nicht sagen, aber dass er mich beeindruckte, schon. Hier hatte jemand eine Technik entwickelt, die ohne Wartung selbst nach Jahrhunderten perfekt funktionierte. Während noch die Bewunderung über die unbekannten Erbauer der Kaverne durch meinen Schädel waberte, begannen sich meine Augen an die neuen Lichtverhältnisse zu gewöhnen und die nächste spektakuläre Entdeckung an mein Hirn zu morsen.

Die Kaverne war schmal, schätzungsweise vier Meter breit, dafür aber Pi mal Daumen rund dreißig Meter lang. Ihre Gewölbedecke war etwa drei bis vier Meter hoch. Eine Wand säumte ein Regal, in dem nicht etwa Bücher lagerten, sondern eine Art dünner Folien. Tatsächlich entdeckte ich einen Beutel mit Stoffhandschuhen, die offenbar dazu verwendet werden sollten, um diese Folien anfassen zu können, ohne auf ihnen unschöne Fingerabdrücke zu hinterlassen.

»Fantastisch!«, entfuhr es mir, nachdem ich probehalber eine Folie aus einem der Fächer entnommen und auf dem bereitstehenden Lesetisch abgelegt hatte. Dass es sich tatsächlich um einen Lesetisch handelte, ließ sich an der durch zwei Schusterkugeln guten Ausleuchtung und einer mit Gelenkgestänge befestigten Leselupe der Lesefläche erkennen. Die Lupe war mehr als nötig. Die Folie, von der ich vermutete, dass sie aus Nickel bestand, war flächendeckend von einer Mikrogravur bedeckt. Welch genialer Geist war nur auf diese fantastische Idee gekommen. Erst vor wenigen Monaten war ich über einen Artikel im Internet gestolpert, in dem Nickelplatten als Langzeitspeichermedien mit mehreren tausend Jahren Haltbarkeit erwähnt wurden. Und hier, in dieser Kaverne, begegnete ich jetzt genau diesem Konzept. Die Idee, obendrein eine Art Mikroschrift zu verwenden, um die Speicherkapazität zu erhöhen, bildete dabei das Sahnehäubchen.

So spannend die Folien auch waren, es fehlte mir die Zeit, um mich mit ihnen ausführlich zu beschäftigen, zumal es auch noch andere Dinge zu entdecken gab. Etwa die unzähligen Kisten, Regale und Truhen, die die andere Seite der Kaverne zierten. Auf gut Glück griff ich zu einer Lackschachtel von der Größe eines Schuhkartons und trug sie zu einem der Tische, die in regelmäßigen Abständen in der Mitte des Raums positioniert waren. Immer noch mit den Stoffhandschuhen bewaffnet, öffnete ich den Verschluss und klappte die Schachtel vorsichtig auf.

»Wow!« Vor mir lag ein Schuhkarton voller Diamanten.

Rosskur

Constantin

»Mit Verlaub, mein lieber Constantin, aber das ist inakzeptabel.«

Fürst Kasimir zu Bronkovic tobte, soweit sich dies über die Webcam, die seinen Standort mit dem meinen verband, erkennen ließ. Die Formulierung lieber Constantin kam deswegen auch rein phrasenhaft daher. Selbst bei der niedrigen Auflösung der Kamera ließen sich die Zornesfalten des alten Blutsaugers gut erkennen.

»Nein, das ist nicht akzeptabel.«, wiederholte Bronkovic zum bestimmt zwanzigsten Mal, als ob er sich von seiner Meinung selbst überzeugen musste. Immerhin wurde seine Stimme mit jeder Wiederholung fester und entschlossener. »Bei allem Verständnis für Ihre Situation hätten Sie den Rat un-ver-züg-lich informieren müssen.«

Das Stakkato, mit dem Bronkovic mir die Silben von unverzüglich entgegen schleuderte, brachte die VoIP-Software zwischen meinem und seinem Computer an die Grenzen ihrer Leistungsfähigkeit, was sich in einem unangenehmen Knacken und Knallen im Lautsprecher äußerte.

»Ich stimme Fürst Kasimir zu. Sie hätten gleich zu uns kommen sollen.«, schaltete sich Lord Bromley in die Diskussion ein. Seiner Stimme hatte er einen zwar leicht tadelnden, aber auch väterlichen Klang verliehen. »Allerdings sollten wir nichts überdramatisieren. Kasimir, Baron van Sanden, Sie stimmen mir doch sicherlich zu, dass unser Freund alles getan hat, um die Bedrohung einzudämmen. Ich sehe auch, dass unser Freund und sein Haus alles unternehmen, um ein Gegenmittel zu entwickeln. Constantin, haben wir Ihr Wort, dass Sie es uns allen zur Verfügung stellen werden?«

»Selbstverständlich, Lord Peter. Jedem Haus und den Nosferatu werden sowohl alle Unterlagen als auch ausreichende Dosen des Gegenmittels ausgehändigt. Die Vampirpest betrifft uns schließlich alle.«

Van Sanden schnaubte verächtlich: »Mein lieber Constantin, hören Sie auf, Selbstverständlichkeiten als noble Gesten zu verkaufen. Was mich viel mehr interessiert ist, wie es möglich war, dass einer Ihrer engsten Vertrauten, wie Frantz, direkt unter Ihren Augen eine Massenvernichtungswaffe entwickeln konnte. Können Sie mir das erklären?«

»Nein, das kann ich nicht.«, antwortete ich ehrlich und musste innerlich schmunzeln. Van Sanden hatte instinktiv seinen Finger in die Wunde gelegt, die mich rein formal nicht nur als Stammvater, sondern viel mehr auch als Anwärter auf den Thron disqualifizierte. Wie kompetent ist ein Stammesführer, der nicht weiß, was hinter seinem Rücken in seinem eigenen Haus vorgeht?

»Das dachte ich mir.«, erwiderte van Sanden erwartungsgemäß süffisant und formulierte meinen Gedanken mit seinen eigenen Worten: »Ich frage mich ernsthaft, ob wir die Königswürde wirklich jemandem übertragen dürfen, der nicht in der Lage ist, sein eigenes Haus vor Verrätern zu schützen. Was meinen Sie?«

»Mein lieber Baron, ich gebe Ihnen Recht. Wahrscheinlich bin ich wirklich nicht für diese Ehre ausreichend qualifiziert. Aber wer ist das schon?«, auf der anderen Seite verstand ich mich auf das Spiel mit Andeutungen ebenfalls ganz gut, »Wenn ich mir vorstelle, dass Wissenschafter aller großer Häuser in der Lage waren, ohne unser Wissen einen Forschungskreis zu gründen, gibt mir das schon sehr zu denken. Aber der Gedanke, dass möglicherweise der Stammvater eines Hauses doch davon wusste, es aber nicht für nötig befand, den Rat davon zu informieren, bereitet mir viel mehr Sorgen. Welche Pläne er damit wohl verfolgt?«

Wie ich mehrfach erwähnte, war der Baron alles andere als auf den Kopf gefallen und verstand sofort, dass ich wusste, dass er seit längerem über das muntere Treiben unserer Wissenschafter informiert war und sein eigenes Süppchen kochte. Van Sanden schaltete blitzschnell von demonstrativ empört auf respektvoll amüsiert um und meinte: »Ach Constantin, Sie haben ja so Recht. Die ganze Diskussion ist müßig. Viel wichtiger ist es, die Bedrohung durch die Vampirpest zu eliminieren. Nehmen Sie es mir bitte nicht persönlich, aber ich bin der Meinung, dass wir kein unnötiges Risiko eingehen dürfen. Ich bin bereit, Ihnen noch eine Woche zu geben. Eine Woche, nicht mehr. Dann werde ich im hohen Rat den Antrag einbringen, Ihr Labor pyrolytisch zu reinigen.«

»Ich verstehe.«, und war überrascht, dass mir van Sanden so viel Zeit einräumte. Ich hätte darauf gewettet, dass er meine sofortige Einäscherung verlangte, »Aber diese Woche werde ich nicht brauchen. Ich will ganz ehrlich zu Ihnen sein. Das Gegengift, das ich mit Frantz Blut aufgenommen habe, wird von meinem Körper langsam aber sicher abgebaut. Sollte es Ricardo und seinem Team nicht gelingen, innerhalb der nächsten zwei Tage einen Weg zu entwickeln, den Kampfstoff unschädlich zu machen, wird sich das Problem von selbst erledigen. Ich habe für diesen Fall die Anweisung gegeben, dieses Labor sofort, so wie Sie vorschlagen, pyrolytisch säubern zu lassen und anschließend mit Beton zu verfüllen.«

»Constantin«, van Sanden war sichtlich geschockt, »Wir mögen in vielen Dingen nicht einer Meinung sein. Ja, wir sind sicherlich das, was gemeinhin als erbitterte politische Gegner bezeichnet wird, aber so darf es nicht enden. Ich hoffe und bete darum, dass Ricardo einen Weg findet. Ich geben zu, dass ich mich in Ihnen getäuscht habe. Constantin der Dandy, der Partylöwe, der zufällige Erbe eines großen Namens. Geben Sie es zu, Sie haben uns all die Jahre zum Narren gehalten, gefoppt und ganz schön an der Nase herumgeführt. Sie ließen uns glauben, ihr Beruf wäre es, der Sohn eines Stammvaters zu sein, und die eigentliche Arbeit von Ihrem Marschall machen zu lassen. Respekt, Constantin, Respekt.«

Van Sandens Geständnis kam wirklich überraschend. Allerdings passte es zu ihm. Der Mann war wirklich geradlinig. Es war genau so, wie er sagte. Wir waren politische Gegner. Unsere Weltbilder unterschieden sich fundamental. Aber letztendlich waren wir beide Vampire. Natürlich droschen wir aufeinander ein – verbal, zuweilen aber auch körperlich. Hin und wieder ein Attentatsversuch zählte zu unserer Kultur und erhielt den Respekt voreinander. Aber einen anderen Stammvater durch einen Virus wie die Vampirpest abkratzen zu lassen, war einfach unwürdig.

»Danke, Baron.«, seufzte ich, »Ich weiß Ihre Meinung wirklich zu schätzen.«

»Ähm«, hüstelte Lord Bromley, »Ich stimme insoweit zu, dass wir den Vorfall nächste Woche auf der Ratssitzung zur Sprache bringen sollten. Bis dahin wäre es sicherlich besser, Stillschweigen zu vereinbaren. Ich glaube zwar nicht, dass die Nachricht über die Existenz einer Vampirpest in unseren Reihen Panik auslöst, möchte aber verhindern, dass eine derartige Information durch einen blöden Zufall oder ein unbedachtes Wort unsere Reihen verlässt. Da draußen treiben sich zu viele fanatische Gruppen herum, die nur darauf warten, ein Mittel dieser Art in ihre Hände zu bekommen. Wir sprechen hier immerhin über den potenziellen Genozid an unserer Rasse.«

Der alte Lord Peter hatte es schon immer verstanden, die Dinge, wenn auch umständlich, auf den Punkt zu bringen. Der Gedanke, dass eine fanatische Vampirjägergruppe die Vampirpest in die Hände bekam, war mehr als beängstigend.

»Hat Ihr verräterischer Wissenschafter, wie hieß er noch gleich, Frantz, irgendwelche Hinweise hinterlassen, warum er diesen Kampfstoff entwickelte?«, wollte Fürst Kasimir wissen.

»Leider nicht.«, flunkerte ich, »Der Vorfall stellt uns alle vor ein großes Rätsel. Alle Aufzeichnungen wurden bei der Explosion des Labors vernichtet. Alles, was wir in Erfahrung bringen konnten, war, dass Frantz bei diesem Wissenschafterclub mitgearbeitet hat und deswegen irgendwie erpresst wurde. Warum und womit, wissen wir nicht. Genauso wenig, wozu er gezwungen wurde. Ich befürchte, dieses Geheimnis wird er für immer mit sich ins Grab genommen haben.«

»Das ist sehr bedauerlich.«, erwiderte Fürst Bronkovic in einem seltsam vagen Tonfall, den ich nicht so recht deuten konnte, »Tja, dann bleibt uns wohl nicht viel mehr übrig, als Ihnen viel Glück zu wünschen. Ich glaube, wir sind dann hier fertig.«

Was hatte ich gesagt? Fürst Kasimir zu Bronkovic war und blieb ein hoffnungsloser Opportunist. Nachdem mir selbst van Sanden eine Woche Galgenfrist eingeräumt hatte, verabschiedete er sich sofort von seiner eben noch kultivierten Entrüstung und mimte den Verständnisvollen. Mir sollte es recht sein, ein Damoklesschwert weniger über meinen Kopf schweben zu sehen. Wenn die drei Stammväter für eine Woche Wort und ihre Füße still hielten, bestand vielleicht doch noch eine Chance, die von Frantz angerichtete Scheiße zu überstehen. Dafür musste Ricardo einfach nur ein Wunder bewirken.

Obwohl ich mir eigentlich Offenheit auf die Fahne geschrieben hatte, entschieden wir, das heißt Lydia, Laurentius, Simon, der ganze innere Zirkel des Hauses, uns dagegen, etwas von Frantz Tagebuch und Laborjournal Preis zu geben. Wir vermuteten unseren eigentlichen Gegner, denjenigen, der sowohl Frantz erpresst als auch die Begegnung mit Florian eingefädelt hatte, nach wie vor im Kreis der Stammväter. Dass meine drei Besucher sich zu Stillschweigen bekannt hatten, hieß noch lange nicht, dass sie sich auch daran hielten. Ganz im Gegenteil war ich mir sicher, dass, sollte ich die Vampirpest überleben, zur großen Ratssitzung sämtliche Häuser über den Vorfall informiert waren. Denn bei allen Sympathiebekundungen van Sandens, der Mann wollte mich nicht auf dem Königsthron sehen. Eine Gelegenheit wie diese konnte er sich einfach nicht entgehen lassen.


Der Besuch der drei Stammväter war überaus merkwürdig verlaufen. Seit wann hatte van Sanden ein nettes Wort für mich übrig? Dafür verhielt sich Lord Peter wie erwartet: überlegt, sachlich und fair. Wer mich wirklich irritierte, war Bronkovic. Zwar hielt er sich an seine übliche Linie – immer mit den Wölfen heulen – doch wirkte er auf eine für ihn ungewöhnliche Weise nervös, insbesondere, als es darum ging, ob Frantz irgendwelche Aufzeichnungen hinterlassen hatte. Aber vielleicht bildete ich mir das auch nur ein. Sich mit jemandem per Webcam zu unterhalten, zeichnet sich nicht durch sonderlich großen Detailreichtum aus. Die Fenster im Postkartenformat verschluckten viele Einzelheiten der Körpersprache oder verkehrten manche sogar ins Gegenteil. Die Sprachübertragung war auch nicht viel besser. Simon hatte sich zwar alle Mühe gegeben und mir sehr gute Boxen und sogar einen Subwoofer zukommen lassen, doch dafür zählten die in den Webcams verbauten Mikrofone nicht wirklich zu den technischen Highlights. Die Kameras waren auch mehr so la la.

Das wichtigste Ergebnis des Treffens ließ sich in einem Satz zusammenfassen: Ich hatte eine Woche Zeit. Die hatte ich genaugenommen nicht wirklich. Die Deadline von zwei Tagen entsprach leider keine Übertreibung sondern der Realität. Ricardo musste sich wirklich etwas einfallen lassen, sonst war Fürst Constantin Varadin, Graf von Calastan, Geschichte. Die Zersetzungsrate des Gegenmittels hatte sich beschleunigt und ich mit einer bisher nie gekannten Müdigkeit und Schwäche zu kämpfen. Selbst frische Blutkonserven, die inzwischen im Halbstundenrhythmus in meinen Kreislauf gepumpt wurden, brachten nur sehr kurzfristige Linderung. Mit anderen Worten: Ich war im Begriff zu krepieren.

»Constantin?«

Eine mit Gummihandschuh bewehrte Hand weckte mich. In meinem Zustand war ich die meiste Zeit damit beschäftigt, im Dämmerschlaf vor mich hin zu dösen. Allein die Augen offen zu halten, artete zu einer massiven Kraftanstrengung aus. Müde blinzend blickte ich in Ricardos Augen. Das perverse an dieser Art den Löffel abzugeben, war der hübsche Umstand, es bei absolut klarem Verstand erleben zu dürfen. Ist meine Schilderung zu sarkastisch? Entschuldigung, aber meine Stimmungslage war alles andere als euphorisch.

»Hm?«, quälte ich mir heraus.

»Du musst aufwachen!«, meinte Ricardo. Aufwachen? Hatte ich geschlafen?

»Wir haben dich schlafen lassen und dir Blutkonserven per Magensonde zugeführt.«, erläuterte mein Chefwissenschafter. Ich musste ziemlich weggetreten sein, wenn ich nicht mitbekommen hatte, dass sie mir einen Schlauch in den Magen geschoben hatten.

»Wie lange...?«

»Du hast sechsunddreißig Stunden geschlafen.«, erklärte Bruno, »Dein Stoffwechsel hat sich verlangsamt und damit auch die Abbaurate des Gegenmittels. Deswegen haben wir dich schlafen lassen.«

»Und warum...?«, für mehr Worte reichte meine Kraft nicht mehr aus.

»Wir haben ein Verfahren entwickelt, das vielleicht funktionieren könnte.«, nahm wieder Ricardo den Faden auf, »Allerdings konnten wir es nicht testen. Es kann funktionieren oder auch nicht. Wenn es nicht funktioniert, dann war es das. Es wird keinen zweiten Versuch geben. Und noch etwas. Der Begriff Verfahren ist irreführend. Rosskur trifft es eher. Du wirst dir wünschen, tot zu sein.«

»Scheiß drauf!«, würgte ich heraus, »Ich will noch nicht abkratzen.«

»Okay!«


Und dann ging es los. Ricardo hatte mit der Bezeichnung Rosskur schamlos untertrieben. Sein und Brunos Verfahren war alles andere als subtil. Ich würde es eher als rustikale Folter bezeichnen. Als erstes hoben mich die beiden auf einen länglichen Plastiktisch. Anschließend setzten sie in regelmäßigen Abständen Zuleitungen in meine Venen, angefangen bei den Füßen, bis hin zu meinen Halsschlagadern. Am Ende war mein Körper wie ein Igel mit Kanülen gespickt, die alle an dünnen Silikonschläuchen hingen. Ich ertrug es leise vor mich hin dösend. Wach wurde ich erst wieder, als die beiden begannen, mich mit verstärkten Kevlarbändern fest an den Tisch zu binden.

»Glaub mir, es ist nötig. Ich will dir nichts vormachen, aber du wirst Höllenqualen durchleiden. Ich hoffe, dass das Kevlar hält. Wir können leider keine gehärteten Stahlketten verwenden.«

Der nächste Schritt entbehrte nicht einer gewissen Skurrilität, für die ich mich aber kaum erwärmen konnte. Der gesamte Tisch mit mir oben drauf wurde in einen überdimensionalen Plastiksack geschoben, ähnlich dem Material, aus dem die Schutzanzüge gefertigt waren. Und genau so, wie diese immer gut aufgebläht unter Überdruck standen, wurde mein Beutel ebenfalls unter Druck gesetzt.

»Also«, begann Ricardo, während Bruno ein Gestell in Position brachte, an dem ein seltsamer elektronischer Apparat befestigt war, »Wir wissen, dass die Kampstoffmoleküle auf hochenergetische Mikrowellenstrahlung reagieren. Die Idee ist folgende: Was du über dir siehst, ist eine Art umgebauter Mikrowellenherd. Wir haben ihn so konstruiert, dass er ähnlich einem Computertomographen eine dünne Strahlungsebene emittiert. Wir werden ihn einmal über deinen ganzen Körper wandern lassen und bei den Füßen anfangen. Dadurch, dass wir immer nur eine ein paar Millimeter dicke Scheibe deines Körpers grillen, sollte deine vampirische Selbstheilungskraft in der Lage sein, den Schaden sofort zu beheben. Über die Zuleitungen pumpen wir körperfrisches und unkontaminiertes Blut direkt in dich hinein. Wir haben die Frequenz der Wellen an die Fullerene des Kampfstoffs angeglichen, sodass die Hitzeentwicklung sich in Grenzen halten sollte. Allerdings werden deine Nerven die Sache sicherlich nicht so witzig finden. Es dürfte ein wenig ruppig werden. «

Ich begriff sofort, worauf das hinauslief und warum die beiden mich in den Plastiksack gestopft hatten. Wanderte der Mikrowellenvorhang, wie er sich am besten beschreiben ließ, komplett über meinen Körper und den gesamten Beutel, dürfte am Ende alles, was sich in ihm befand, dekontaminiert sein, da die Nanopartikel die Strahlungsbarriere nicht passieren konnten, ohne zerstört zu werden. Die Sache hatte allerdings, wie so oft, einen Haken. Um die Fullerene zu knacken, mussten Bruno und Ricardo mit ordentlich Power rangehen. Das eigentliche Problem bestand darin, wirklich alle Kampstoffmoleküle zu erwischen. Dazu mussten die Mikrowellen eine gewisse Mindestzeit einwirken. Ricardo hatte recht, das klang verdammt nach einer Rosskur.

»Es gibt bei der Sache allerdings eine offene Frage.«, druckste Ricardo herum.

»Und die wäre?«

»Wir werden dein Hirn nicht grillen können, denn das würde dich umbringen. Wir werden mit der Strahlungsleistung soweit zurückgehen müssen, dass wir nur die oberste Schicht bis zur Blut-Hirn-Schranke dekontaminieren. Die Frage ist, ob der künstliche Virus diese Grenze überwunden hat oder nicht. Sollte ersteres der Fall sein, wird das Verfahren nicht funktionieren, da sich der Kampfstoff vom Gehirn aus wieder ausbreiten wird.«

»Oh, glaubt mir, es wird funktionieren.«, nuschelte ich gegen meine Erschöpfung ankämpfend, »Ihr habt keine Ahnung, wie widerlich es ist, diese Scheiße bei völlig klarem Verstand erleben zu dürfen. Wenn diese verkackten Kunstviren in meinem Kopf tobten, wüsste ich es!«

»Ähm... Okay...«, Ricardo schien meine Bemerkung unangenehm zu sein, »Sollen wir beginnen?«

»Schalt ein!«

Bruder Theodor

Florian

Diamanten? Diamanten! Sogar ein verdammter Haufen Diamanten. Wem gehörten sie? Mir? Constantin? Den Dracul, soweit es Erben gab? Die Frage des Eigentums stellte sich für den gesamten Inhalt der Kaverne. Wem gehörte der Inhalt? Ich war nur ein einziger Nachkomme der Ersten. Constantin, als letzter Kodiac, war ein zweiter. Wenn ich Christiano und Constantin richtig verstanden hatte, dann war die Linie der Breskoffs mit dem Tod Baron Vladimirs ausgestorben. Gleiches galt für die Dracul. Durfte ich mir ein paar der Diamanten nehmen und damit mein Haus aufbauen?

Nachdenklich schloss ich die Schachtel wieder, um auf dem Deckel eine Einlegearbeit zu entdecken, die kleine Schriftzeichen formten. Runen – das waren Runen, und ich konnte sie lesen. Wieso konnte ich die Runen lesen? Auf jeden Fall stand auf der Lackschachtel sinngemäß Erbe der Hati. Dann gehörten die Diamanten mir, oder? Sicher war ich mir nicht. Vielleicht suchte ich mir auch nur eine Ausrede, um ein paar der Edelsteine zu mopsen. Doch wollte ich wirklich ein Dieb sein?

Unschlüssig trug ich die Lackschachtel wieder zurück an ihren Platz, um dort über eine der Nickelplatten zu stolpern. Statt in einem der Fächer stand sie an prominenter Stelle direkt neben dem ursprünglichen Lagerort der Schachtel. Ob sie wohl von jemandem dort als eine Art historisches PostIt deponiert wurde? Was sprach dagegen, einen kurzen Blick auf den Text zu werfen? Mehr als feststellen, ihn nicht lesen zu können, konnte schließlich nicht passieren. Und so nahm ich die Nickelplatte, die eher einem dünnen Blech, fast einer Folie entsprach und trug sie zum Leseplatz.

»Wow!«

Ich konnte den Text lesen. Die Mikroschrift, für dessen Entzifferung sowohl die Schusterkugeln als auch die Lupe absolut unabdingbar waren, enthielt einen Text in einer alten, inzwischen ausgestorbenen nordischen Sprache, die ich zu meiner größten Verwunderung ohne Probleme lesen konnte. In der Halle der Ersten musste weitaus mehr geschehen sein, als ein flüchtiger Blick in die Erinnerungen unserer vier Stammväter. Ein Teil ihres Wissens war auf mich übergegangen, so stand es jedenfalls im Text der Nickelfolie.

»Mein Sohn, Enkel, Urenkel. Wer immer du auch sein magst, der diese Zeilen liest, du bist mein Nachkomme und der Erbe unseres Stammes. Hier, in diese Kaverne unserer Vetter, der nimmermüden, edlen Nosferatu, ruht ein Schatz: Wissen, Erinnerungen und Geschichte. Lerne! Lerne und erkenne, wer du bist: Ein Hati, ein Sohn oder eine Tochter der Nosferat. Diese Bibliothek der vier Ersten möge dir ein Leitstrahl der Erkenntnis sein.«

Unglaublich, das Nickelblech war tatsächlich eine antike README-Datei. Auf die Vorbemerkung folgte eine schnörkellose Beschreibung dessen, was sich in dieser Kaverne befand. Die Regalreihe mit den Nickelblechen war tatsächlich das Archiv der Ersten und enthielt eine Chronologie der vier ursprünglichen Vampirstämme. Meine Aufgabe, als derjenige, der die Kaverne geöffnet hatte, bestand darin, dieses Archiv fortzuführen. Dies wäre meine Verpflichtung gegenüber meinem Erbe. Außer dem Archiv, das allen legitimen direkten Nachkommen der Ersten gehöre, so fuhr der Text fort, würden auch private Schätze der vier Stämme hier lagern. Diese wären mit den jeweiligen Namen gekennzeichnet.

Damit war klar, dass die Diamanten mir gehörten. Welch ein Wink des Schicksals. Ich war kein Edelsteinprofi, aber dem bedurfte es auch nicht, um zu wissen, dass die Lackschachtel um die hundert Millionen Euro an Diamanten enthielt, vermutlich sogar mehr. Offensichtlich war ich nicht mehr ganz so mittellos, wie bisher befürchtet, meinen Vorfahren sei Dank.

Zehn Stück der funkelnden Edelsteine sollten reichen, um uns, Nicolas und mir, aus den gröbsten Anfangsschwierigkeiten herauszuhelfen. Eine entsprechende Anzahl der kleinen Kristalle landete somit in der Tasche meiner Kutte. Ein besseres Behältnis konnte ich auf die Schnelle nicht entdecken. Was konnte ich sonst noch machen? Auf Verdacht ein paar Texte lesen? Die anderen Schätze durchsuchen? Ich gebe es zu, das Archiv der Ersten überforderte mich. Auf die Schnelle war nichts zu erreichen. Um auch nur ein paar der Schätze, womit ich die niedergeschriebene Geschichte der vier Stämme meinte, zu heben, brauchte es Zeit und Muße. Zwei Dinge, die mir gerade fehlten. Ich würde zurückkommen und mich ganz systematisch durch das Archiv arbeiten müssen. Wahrscheinlich war ich sogar auf Hilfe angewiesen. Die Frage war nur, wessen Hilfe. Es gab bestimmt einen guten, einen sehr guten Grund, warum das Archiv nicht zum Bestand der eigentlichen Bibliothek des Klosters zählte.

Ob Constantin wohl von der Halle der Ersten und diesem Archiv wusste? Er war ein gebürtiger Vampir, ein Kodiac und damit jemand, dem die Ersten sicherlich ihre Erinnerungen schenkten. Vielleicht sollten wir zusammen an diesen Ort zurückkehren, das hieß, wenn es noch ein Zusammen gab. Der Gedanke erschreckte mich. Ob mich Constantin überhaupt noch liebte? Ich weiß, dass ich mich nach ihm sehnte. Das in mir brennende Verlangen nach dem Mann war durch meine Wiedergeburt in keiner Weise vermindert worden. Ganz im Gegenteil hatte ich den Eindruck, dass ich Constantin noch mehr begehrte, als zuvor. Doch ging es ihm genauso? Traute er mir überhaupt noch, nachdem uns das Blut nicht mehr verband?

Mit einem Kopf voller Fragen und der Tasche voller Diamanten kehrte ich zu Nicolas und den Bibliothekarszwillingen zurück. Kaum hatte ich den Vorraum erreicht, schloss sich die Tür der Kaverne. Drei fragende Augenpaare schauten mich fragend an.

»Ähm«, mein Daumen deutete in Richtung Kaverne, »Es ist ein Archiv der Ersten. Die Texte wurden als Mikroschrift auf Nickelbleche graviert.«

»Fantastisch!«, entfuhr es Jost. »Keine Alterung, kein Zerfall! Gravierte Nickelbleche, welch geniale Idee.«, pflichtete Albrecht bei.

»Ich muss die Texte erst in Ruhe sichten. Ich weiß, wie sehr ihr darauf brennt, einen Blick in die Aufzeichnungen der vier Ersten zu werfen. Ich verstehe euch und werde versuchen, euren Wunsch zu erfüllen. Aber dafür brauche ich Zeit, Zeit die ich im Moment nicht habe.«

»Ich verstehe Euch, Florian.«, erklärte Jost und verbeugte sich leicht, »Allein dass Ihr das Archiv wieder besuchen wollt, lässt uns hoffen. Trotzdem möchten wir uns für unser ungebührliches Verhalten von vorhin nochmals entschuldigen.«

»Jungs«, entgegnete ich gezielt kumpelhaft, »Es gibt nichts zu entschuldigen. Ich versteh euch zwei. An eurer Stelle wäre ich wahrscheinlich genauso begierig darauf, einen Blick in die Dokumente zu werfen. Wenn es nur mich beträfe, würde ich euch sofort loslegen lassen. Aber dieses Archiv betrifft alle vier Urstämme. Ich kann nicht über Dinge entscheiden, von denen ich nicht weiß, welche Konsequenzen sie nach sich ziehen könnten. Wer weiß, welche Leichen dort zwischen den Akten begraben liegen? Aber ich verspreche euch, dass ich das Archiv öffnen werde.«

»Hört euch diesen Jungspund an.«, lachte Albrecht, »Kaum Haare am Sack und schon altklug daher reden. Nein, Florian, lass dich zu nichts drängen. Auch nicht von uns. Du bist ein wirklich weiser Mann, trotz deines Alters, und, so hoffe ich, immer noch unser Freund.«

»Aber sicher. Unsere Freundschaft stand nie zur Debatte.«

Damit war auch diese Kuh vom Eis. Josts und Albrechts Mienen hellten sich anlässlich der Aussicht auf Einblicke in das Archiv der Ersten wieder auf. Nicolas resolutes Eingreifen war vergessen, zumal es die beiden Bibliothekare waren, die die Regeln verletzt hatten. Nein, die zwei waren einfach Opfer ihrer Leidenschaft für Bücher.

Nicolas unterdrückte ein Gähnen. Aus den Augenwinkeln konnte ich erkennen, wie er versuchte, seinen Mund nicht aufzureißen. Der Junge war müde und auch in meinen Knochen spürte ich die Anstrengungen des Tages. Das verfluchte Ritual steckte uns auch noch in den Gliedern. Ein heißes Mineralbad und anschließend ein gemütliches Bett waren genau das, was ich für diesen Tag noch wollte.

»Ihr müsst müde sein.«, merkte dann auch Jost an, der mindestens so gut wie ich unsere Körpersprache lesen konnte, »Es muss ein anstrengender Tag für euch gewesen sein, außerdem ist es schon spät. Vor einer halben Stunde war Sonnenaufgang. Lasst uns euch noch hinaus begleiten.«

»Danke, Jost, aber mir fallen die Augen tatsächlich gleich zu.«, dieses Mal hielt sich Nicolas nicht zurück und gähnte, was wir alle als Signal zum Aufbruch werteten. Mit Albrecht als Vor- und Jost als Nachhut verließen wir den Gang der Kavernen und kehrten in den Serverraum zurück. Die beiden Bibliothekare öffneten die Tresortür und drei Minute später standen wir wieder im Lesesaal. Hier verabschiedeten wir uns voneinander. Jost und Albrecht kümmerten sich um ihre Bibliothek, Nicolas und ich verließen sie genau so, wie wir sie betreten hatten, über die Galerie.

»Chef, ich glaube, ich muss mich bei dir entschuldigen...«, begann Nicolas gleich loszuplappern, kaum dass wir den Hort der Bücher verlassen hatten und außerhalb der Hörweite unserer bücherbesessenen Freunde waren.

»Kein Wort!«, unterbrach ich meinen Ritter, »Du hast absolut richtig gehandelt. Es war exakt die Reaktion, die ich mir vom Marschall meines Hauses erwünsche. Jost und Albrecht waren dabei, eine Grenze zu übertreten und du hast instinktiv gehandelt. Junge, das war total geil! Die beiden haben sich fast in die Hose geschissen. Ich glaube, du bist in ihrem Ansehen um einiges gewachsen. Nicolas, du bist mein Schwert, das Schwert unseres Hauses. Entschuldige dich nicht dafür, deinen Job getan zu haben, insbesondere, wenn du ihn so geil machst, wie vorhin!«

»Ähm... Oh-Kay...«, erwiderte Nicolas grinsend, »Wie wäre es zum Abschluss des Tages mit einem Bad?«

»Mein Gedanke.«, stimmte ich zu, »Aber lass uns vorher noch einen Abstecher in deine Zelle machen. Ich muss dir etwas zeigen.«

Der Weg zur Zelle war kurz, reichte aber, um bei mir die Frage aufzuwerfen, wie lange es noch Nicholas Unterkunft sein würde. Ein Punkt, der mit dem Abt zu klären war. Nicolas mochte zwar kein Mönch der grauen Nebel mehr sein, aber hieß dies, dass sie ihn Hals über Kopf aus dem Kloster warfen und vor dir Tür setzten? Womit sich die nächste Fragestellung gleich aufdrängte: Wie sollte es mit uns weitergehen? Faktisch war Tamir der Initiator unserer Wiedererweckung. Er hatte mich dazu gedrängt, ihm in das Kloster zu folgen. Hoffentlich reichten seine Planungen über die Zeit nach dem Ritual hinaus. So war ich zwar nicht obdachlos, wohnte aber immer noch bei meinem Vater, und ob der einen weiteren Blutsauger in seiner Wohnung beherbergen mochte, bezweifelte ich dann doch ziemlich. Mit diesen Überlegungen im Kopf erreichten wir Nicolas Zelle, was ich im ersten Moment gar nicht realisierte.

»Ähm, du wolltest mir etwas zeigen?«, weckte mich Nicolas aus meinem Tagtraum.

»Oh ja, natürlich.«, stammelte ich etwas von der Rolle, durchwühlte die Tasche meiner Kutte und angelte mit meinen Fingern nach den Diamanten. »Hier, halt deine Hand auf!«

Ein Edelstein nach dem anderen perlte in Nicolas ausgestreckter Hand.

»Sind das Diamanten?«, fragte mein Ritter überrascht, um sehr scharfsinnig hinzuzufügen, »Ich gehe davon aus, dass in der Kaverne nicht nur Dokumente gelagert werden?«

»Schlauer Junge.«, stimmte ich zu, »Könntest du die Steinchen sicher verwahren?«

»Nichts leichter als das.«

Als wenn er nur auf diese Gelegenheit gewartet hätte, griff Nicolas zu seinem Schwert, drehte den Knauf oberhalb des Griffstücks ähnlich wie ein Tresorschloss wechselweise nach rechts und links, bis ein leichtes Klicken erklang und sich das Ende abnehmen ließ. Den dadurch frei werdenden Hohlraum füllte Nicolas mit den Diamanten. Um ein verräterisches Klappern der Edelsteine zu vermeiden, stopfte mein Marschall den verbleibenden Platz mit Papierschnipseln aus.

»Nett!«

»Nicht wahr?« Nicolas grinste breit »Damit sollte finanziellen Engpässen des Hauses Margaux vorgebeugt sein. Ich bin zwar kein Experte, aber wenn wir gut haushalten, sollten die Steinchen eine Weile reichen.«

Grinsend zog ich meinen provisorischen Schatzmeister zu mir heran und flüsterte ihm leise ins Ohr: »Oh, keine Angst, wo die herkommen, gibt es mehr, sehr viel mehr.«

»Echt?« Nicolas bekam große Augen.

Ich sagte nix und nickte nur.

»Wow!«

Damit war alles gesagt, dem lang ersehnten Bad stand nichts mehr im Wege. Entspannt eilten wir zur Gemeinschaftsdusche, legten dort unsere Kleidung ab und genossen eine erste reinigende Dusche. Zweimal kräftig abgeseift und sauber gespült durchschritten wir den Eingang der großen Badehalle mit ihrem tosenden Wasserfall. Als ob er es geplant hätte, trafen wir dort auf Bruder Theodor, der, wie bei unserem ersten Treffen, abgebrannte Kerzen gegen neue ersetzte.

»Ah, Florian und mein lieber Bruder Nicolas. Oh, entschuldige, es heißt ja jetzt Ritter Nicolas.«, freute sich der Alte.

»Für Euch nur Nicolas, Bruder Theodor, einfach nur Nicolas. Für meine ehemaligen Mitbrüder werde ich immer der Nicolas bleiben, der ich die Jahre unter euch war. Ich werde nie vergessen, wo ich her kam und wo meine Wurzeln liegen.«

Bruder Theodor antwortete auf seine Weise. Er lächelte, griff nach Nicolas Schulter und drückte sie freundschaftlich.

»Bruder Theodor«, ging ich auf den Gruß des Alten ein, »Es freut mich, Euch wiedersehen zu dürfen.«

»Wie ich sehe, geht es Euch gut.«, wandte sich der Mann mir zu, um tief und sehr forschend in meine Augen zu schauen, »Ihr versteht jetzt, welcher Art dieses Kloster ist, oder?«

»Oh ja, ich glaube, ich verstehe es sehr gut.«, erwiderte ich leise, ohne seinem Blick auszuweichen. Ein nachdenklich, verständnisvoller Ausdruck schlich sich in seine Miene.

»Ihr seid eine gute Seele, Florian. Wenn Ihr stets Euren Idealen treu bleibt und nie Eure Wurzeln vergesst, wird Euch das Schicksal mit Wohlwollen behandeln. Ihr habt es weit gebracht, doch eine Prüfung steht Euch noch bevor. Wenn es soweit ist, habt Vertrauen und gebt Euch dem hin, was Ihr am meisten begehrt. Unser Schatz und unsere Bürde werden euch eine Brücke sein.« Und dann drückte auch mir Bruder Theodor die Schulter. Es war ein ganz merkwürdiges Gefühl, von ihm berührt zu werden, als ob ein elektrischer Kontakt geschlossen wurde, der einen Stromstoß durch meinen Körper jagte. »Oh, schon so spät? Nun, ich muss weiter. Da sind noch eine Menge Kerzen zu ersetzen.«

Und weg war er. Nachdenklich und verwirrt legte ich mein Handtuch auf einer der Bänke ab und folgte Nicolas ins Wasserbecken, wo dieser bereits seine ersten Runden zog. Ich ließ mich ins Wasser gleiten, tauchte zum Wasserfall, um mir von diesem kräftig die Knochen und Muskeln von Hals, Nacken und Rücken massieren zu lassen. Wie bereits bei unserem ersten Besuch, entfaltete das Wasser seine belebende Kraft und wirkte wahre Wunder. Nur dieses Mal wusste ich, wieso.

»Das Wasser...«, wir hatten uns am Rande des Beckens in dessen flachen Bereichen niedergelassen. Nicolas hielt mich in seinen Armen. Ich mochte der Stammvater unseres Hauses sein, aber mein Marschall war größer, kräftiger und stärker. Ich fühlte mich in seinen Armen geborgen und hatte auch keine Probleme damit, ihm dies zu zeigen.

»Was ist mit dem Wasser?«, fragte Nicolas leise und massierte meine Schultern, küsste meinen Nacken.

»Du fühlst es doch auch, oder? Es enthält Erdblut. Es sind nur winzige Spuren, aber nach dem was wir... Ich kann es fühlen.«

»Du hast recht.«, bestätigte der Mann, in dessen Armen ich lag, »Alle Bäder enthalten Erdblut. Das Kloster befindet sich über einem der wenigen natürlichen Vorkommen. Aber du weißt, was Paracelsus sagte? Dosis sola venenum facit: Die Dosis macht das Gift. Im ganzen Becken ist weniger als ein Tropfen gelöst. Schatz und Bürde unseres Klosters wird es genannt. Empfindest du es als unangenehm?«

»Nein, nein.«, erwiderte ich nachdenklich. Interessant, Nicolas verwendete die gleichen Worte, wie Bruder Theodor wenige Minuten zuvor, »Es ist nur, dass es Erinnerungen an unser...«

»Ja, das tut es.«, Nicolas legte mir einen Finger auf die Lippen, »Aber noch ist nicht die Zeit gekommen, darüber zu reden.«

»Ja, du hast recht.«

Und so genossen wir das Bad, tauschten leichte Zärtlichkeiten aus, genossen einfach die Berührungen unser beider Körper. Niemand konnte sich der Wirkung der Badegrotten entziehen, auch wir nicht. Erst nach gut einer Stunde war der Zeitpunkt gekommen, dass es uns reichte und wir erholt, entspannt, aber mit signifikanter Erektion das Bad verließen.

»Ich will dich!«, flüsterte ich Nicolas während wir uns ankleideten ins Ohr.

»Dein Wunsch ist mir Befehl, Chef.«, flüsterte Nicolas in freudiger Erwartung zurück. Den Weg zu seiner Zelle absolvierten wir in Rekordgeschwindigkeit.

Rückkehr

Was soll ich über den Sex mit Nicolas schreiben? Dass er einfach nur erfüllend und sehr befriedigend war? Natürlich war er das. Doch viel wichtiger war seine Bedeutung. Es ging um Liebe, wenn auch nicht um die, die ich für Constantin empfand. Nicolas war mein Geschöpf, mein Blut. Ich gebe zu, dass mich der leicht inzestuöse Aspekt im ersten Moment schockierte, allerdings wurde mir schnell klar, dass ich dabei in alte menschliche Denkbahnen zurückgefallen war. Seinen Geschöpfen nahe zu sein, auch körperlich, war für unsereins wichtig. Es stärkt und festigt die Bindung zwischen uns, weswegen die meisten anderen Vampirstammväter der anderen Clans, die ihre Häuser mit harter Hand führten, meiner Meinung nach einen Fehler begingen. Denn ein Mann oder eine Frau, mit der du dein Bett teilst, dem oder der du als Stammvater deine ganze Liebe schenkst, wird dich bis an das Ende der Welt begleiten.

Klingt dies zu sehr nach Kalkül? Es mag so klingen, war aber nicht so. Als ich mit Nicolas in dessen Bett lag und wir uns abwechselnd fickten, tief in den anderen eindrangen und einander ausfüllten, zeigten wir uns in unserer verletzlichsten Form.

»Beiß mich!«, japste ich, während Nicolas seinen langen Schwanz tief in mein Rektum stieß. Ich saß auf seinem Schoß, meinen Rücken gegen seine Brust gelehnt. Nicolas hatte seine Arme um mich geschlungen und fest an sich gedrückt. Sein Rhythmus war gleichmäßig, kraftvoll und voller Leidenschaft. Auf meine Aufforderung hin, begann er meinen Hals zu küssen, sanft über ihn zu lecken, um dann kraftvoll zuzubeißen.

In diesem Moment wurden wir erneut eins, aber auf eine völlig andere Weise als während des Servius-Novatin. Nicolas und ich kamen gleichzeitig. Sein Biss katapultierte uns beide über die Klippe. Ich ließ mich fallen, öffnete meinen Geist und ließ ihn mit meinem Blut in Nicolas Mund fließen. Dieser nahm meinen Lebenssaft gierig auf, ohne sich dabei aber gehen zu lassen. Nach nur einem kräftigen Schluck zog er seine Zähne aus meiner Halsschlagader und versiegelt die Bissstelle instinktiv, was bei einem Vampir als Spender aber eigentlich nicht notwendig war.

»Wow!«, fasste mein lüsterner Ritter unser Liebesspiel in einem Wort zusammen.

»Wow!«, bestätigte ich und brach zusammen. Plötzlich flossen Tränen. Mein seit dem Ritual mühsam zusammen gehaltenes Nervenkostüm brach zusammen. »Oh Nicolas, was haben wir getan? Er fehlt mir. Es ist, als wenn ich mir ein Stück von mir abgeschnitten, herausgerissen hätte. Ich kann ihn nicht mehr fühlen.«

»Ich weiß.«, flüsterte Nicolas, nahm mich in den Arm und hielt mich. Er verstand mich. Natürlich tat er das. Denn so wie das Band zwischen Constantin und mir durchtrennt wurde, verlor Nicolas die Bindung an Markus, denjenigen, der ihn verwandelt hatte. Und obwohl die Beziehung zu seinem Schöpfer weniger emotional war, wie meine zu Constantin, änderte dies nichts an dem Gefühl des Verlusts, dem Eindruck, ein Loch in seinem Selbst zu haben.

Während wir uns emotional stützten und gegenseitig hielten, ließ dankbarerweise die Müdigkeit nicht mehr lange auf sich warten. Wir legten uns hin, zogen die Bettdecke über uns und schmiegten uns aneinander. Gleichzeitig traurig und glücklich, von einer schmerzenden Leere erfüllt zu sein, aber auch mit dem Gefühl, eine neue Beziehung vertieft und bestärkt zu haben, schliefen wir ein.


Am nächsten Abend wartete bereits eine Nachricht auf Nicolas Notebook, in der wir gebeten wurden, nach dem abendlichen Frühstück dem Abt einen Besuch abzustatten. Er würde uns gegen neunzehn Uhr erwarten. Da die Uhr erst kurz nach fünf, genau genommen siebzehn Uhr, schlug, bot sich für uns genügend Zeit für eine erfrischende und reinigende Dusche sowie ein ausführliches Frühstück.

Der Speisesaal zeigte sich gewohntermaßen gut besucht. Die Hauptzeit, in der die Klosterbewohner ihr Frühstück einnahmen, schien zwischen halb sechs und halb sieben zu liegen. Während Nicolas erneut die Aufgabe der Nahrungsbeschaffung übernahm, versuchte ich zwei freie Plätze für uns aus zu organisieren. Insgeheim erhoffte ich natürlich, Logan in der Menge der Blut schlürfenden Nosferati auszumachen. Ich wollte schon enttäuscht aufgeben und einfach den nächstfreien Platz nehmen, als ein Kuttenträger drei Bankreihen entfernt mir zuwinkte. Es war unser schottischer Freund.

»Florian, my dear. Just the man I was looking for.«, begrüßte mich Logan freudig, »Back to the undead, I see.«

Schottischer Humor schmeckte ebenso torfig, wie manch einer der hochprozentigen Brände jener Landschaft, und wirkte ähnlich belebend.

»Du bist also ein Besucher der Bibliothek.«, begann ich meinen Part der Unterhaltung, »Dann sind deine Whiskeys ein Hobby?«

»Mehr als das. Whiskey ist schottische Identität. Aber ja, ich bin der Historiker meines Orden und hergekommen, um unsere Aufzeichnungen mit denen der Bibliothek abzugleichen. That's it! I am a historian, but you're living history. If you don't mind, I would like to tell my people about you.«

»Du willst von mir erzählen? Vom kleinen Tischlergesellen aus old Germany? Außerdem bin ich nicht Geschichte. Ich stolpere durch und über die Geschichte, und das mehr schlecht als recht.«

»Stapelt unser frisch erwecktes Stammväterchen wieder tief?« konnte sich der mit zwei Schalen Blut zurückgekehrte Nicolas eines Kommentars nicht erwehren. »Florian, warum glaubst du uns nicht, wenn wir dir sagen, dass du eine historische Person bist?«

»Weil es mein Leben auf den Kopf stellt. Bis ich auf Constantin traf, war ich ein Niemand, jemand, der herumgeschubst wird. Der typische zum Mobben freigegebene Loser. Ich sage nicht, dass ich dieses Leben zurück haben will. Weiß Gott nicht. Aber warum muss gleich alles auf dem Kopf stehen? Warum kann ich nicht einfach ein Feld-, Wald und Wiesenvampir sein? Ab und an ein Hals zum Knabbern und seinem Stammvater so gut dienen, wie man kann, aber ansonsten ein unauffälliges Leben führen? Aber nein, für mich war die ganz große Oper gerade gut genug: Stammvater eines eigenen Hauses, als Sahnehäubchen Großherzog und als Kirsche auf dem Sahnehäubchen auch noch der Nachfahre eines längst ausgestorben geglaubten Stamms der Urvampire. Ist echt ein wenig viel für Vaters Sohn. Ging's nicht eine Nummer kleiner?«

»Isn't he cute?«, lachte Logan, »Yepp, you're really a great guy!«

»Oh, bitte!«, knurrte ich frustriert.

»Ich versteh dich, Flo.«, Nicolas war ernst geworden, aber nicht auf eine beunruhigende, sondern auf eine mitfühlende Weise, »Ich werde alles in meinen Kräften stehende tun, um dir den Stress vom Leib zu halten, damit du dich in dein neues Leben einfinden kannst. Lass dir die ganze Sache nicht zu Kopf steigen. Sie ist nicht so wichtig, dass sie nicht eine Weile warten könnte. Nimm dir die Zeit, die du brauchst und lass uns gleich damit anfangen, indem du mir sagst, was du jetzt am liebsten möchtest.«

»Ehrliche Antwort?«, hakte ich nach. Was Nicolas sagte, war zu verlockend, um es zu ignorieren, auch wenn ich nicht daran glaubte, auch nur für eine Minute abschalten zu dürfen.

»Ja.«

»Ich möchte hier verschwinden und zu Christiano zurückkehren. Er ist ein guter Freund und war bis zu meiner Wiedererweckung mein Bruder.«

»Gut, dann sollten wir genau das tun.«, verkündete Nicolas, »Ich glaube, es ist eine gute Idee, endlich aus diesen Karnickelbau heraus zu kommen.«


»Ich halte das für eine vorzügliche Idee. Sie ist sogar so gut, dass ich dir den gleichen Vorschlag unterbreiten wollte.«

Wir saßen im Büro des Abts. Außer ihm waren auch noch Petrus und Tamir anwesend. Vom Letztgenannten erntete ich die Unterstützung für meinen Wunsch, das Kloster alsbald wie möglich zu verlassen.

»Du stimmst mir zu?«, ich hatte mit allem möglichen gerechnet, aber nicht damit, dass Tasmanir Musferatu, der Stammvater der Nosferatu des Westens, mich freiwillig zu Christiano zurückkehren ließ. Aber offensichtlich entsprach dies genau seinem Plan.

»Wir werden in drei Stunden aufbrechen und euch beide mitnehmen.«, erläuterte Petrus den von ihnen geplanten Ablauf, der mich – nicht dass ich es nicht mittlerweile gewöhnt war – auf ein Neues zum passiven Objekt fremder Pläne machte.

In diesem konkreten Fall war ich mit dem Plan allerdings durchaus einverstanden. Petrus und Tamir erklärten wechselweise, dass der wichtigste Schritt hinter mir lag, die Trennung vom Blut Constantins. Es gäbe da zwar vielleicht noch einen Punkt zu klären, aber der könne waren. Jetzt ging es darum, bis zum Zusammentreffen des hohen Rats, das anlässlich Constantins bevorstehender Krönung in wenigen Tagen stattfinden sollte, so unauffällig wie möglich zu agieren und die Füße still zu halten. Derjenige, der mein bisheriges Leben systematisch manipuliert hatte, sollte auf keinen Fall Verdacht schöpfen, dass sein Plan entdeckt wurde. Die einwöchige Abwesenheit vom Arbeitsplatz war eh schon risikoreich genug. Deswegen sollte ich auch so schnell wie möglich zu Niederreuter zurückkehren. Nicht dass Momsen noch auf die Idee kam, seinem speziellen Freund etwas melden zu müssen. Meine vermeintliche Krankheit, so Tamir, hätte den Tischlermeister, nach dem was seine Nosferatuagenten beobachtet hatten, nervös gemacht. Die Spione wollten zwar nichts in sein Verhalten hinein interpretieren, aber der Typ schien etwas im Schilde zu führen, das meine Anwesenheit erforderte. Sie hatten das Gefühl, Momsen stände irgendwie unter Druck.

»Unter Druck?«, wollte ich wissen.

»So haben sie es formuliert.«

»Gut, ich bin dabei.«, stimmte ich den Plan zu und wandte mich an meinen Ritter, Marschall und Freund, »Wann kannst du abmarschbereit sein?«

»Du kennst meine Zelle. Meine Sachen habe ich in einer Stunde zusammengekramt, das heißt, wenn es überhaupt noch meine Sachen sind?«

Diese Frage war direkt an den Abt gerichtet. Als Mönch besaß Nicolas nichts, nicht einmal die Kleidung auf seiner Haut, denn alles gehörte dem Orden.

»Nicolas Margaux, du wirst immer ein Mitbruder bleiben. Selbstverständlich sind die Sachen dein. Solltest du oder Florian irgendetwas benötigen, so sagt es. Es wäre uns eine Freude, euch helfen zu dürfen.«, erklärte der Abt fast schon vorwurfsvoll, als ob es einer Beleidigung gleich käme, auch nur daran gedacht zu haben, dass der Orden uns nicht unterstütze. Doch dann veränderte sich Markus Ausdruck. Ich wollte es kaum glauben, aber diesem Nosferatu gelang es tatsächlich, sein Gesicht väterlich und liebevoll erscheinen zu lassen. »Nicolas, ich habe dich erweckt. Du warst mein Geschöpf und wirst es in meinem Herzen immer bleiben.«

»Danke, Markus«, war alles, was Nicolas sagen wollte und wohl auch konnte.


Drei Stunden später saßen wir in Tasmanir Musferatus schwarzer Limousine. Unsere Sachen zu packen, das heißt eigentlich nur Nicolas Sachen, da ich nichts außer der Kleidung auf meiner Haut mitgebracht hatte, benötigte etwas mehr als eine halbe Stunde. Den Rest der Zeit verbrachten wir mit Verabschiedungen, insbesondere bei Logan, Jost und Albrecht, die wir in der Bibliothek antrafen. Selbstverständlich bekräftigte ich mein Versprechen, die Dokumente der Kaverne der Ersten sobald dies zeitlich, inhaltlich, aber vor allem personell möglich war, den Bibliotheken der Nosferatu zur Verfügung zu stellen. Schließlich ging es darum, mehr über unser aller Wurzeln zu erfahren.

Als wir das Kloster verließen und in den Keller des Bauernhofs traten, überkam mich ein Gefühl von Wehmut. Trotz des zweifelhaften Vergnügens, Teilnehmer eines Servius-Novatin Rituals sein zu dürfen, hatte ich mich an die spirituelle Wärme dieses Ortes gewöhnt, nein, sie sogar schätzen gelernt.

»Es ist kein Abschied für immer. Du kannst jederzeit hierher zurückkehren. Die Bruderschaft der grauen Nebel wird dich immer mit offenen Armen empfangen.«

Entweder konnte Petrus meine Gedanken lesen oder meine Körpersprache verriet mehr, als mir lieb sein konnte.

»Petrus hat recht.«, fügte Tamir hinzu, »Ihr beide, du und Nicolas, seid jetzt Novatins, Brüder des Erdbluts. Es stimmt, dass wir Nosferatu nur sehr selten die Tore unserer Klöster für Fremde öffnen. Aber ihr beide seid keine einfachen Vampire, geschweige denn Fremde. Zwischen uns besteht ein Bund, der über so profane Dinge wie Vampir oder Nosferatu hinausgeht.«

Ich wusste nicht, was ich darauf entgegnen sollte und hielt lieber meinen Mund. Aber wahrscheinlich erwartete Tamir auch gar keine Antwort. Mir ging etwas ganz anderes durch den Kopf: Wie würde Christiano auf Nicolas und mich reagieren?

Petrus Plan sah vor, dass wir die Tage bis zur Ratssitzung bei Christiano unterschlüpfen sollten. Tamir bestand sogar darauf, dass ich am nächsten Montag frisch und ausgeschlafen bei Niederreuter auf der Matte stehen sollte, das heißt, meinem Job als Bautischler und Zimmermann nachkam.

Sah er mich noch als Freund? Als Bruder? Oder war ich in Christianos Augen ein Verräter, obwohl ich alles nur tat, um Constantin und mich vor unbekannten Feinden zu retten. In wenigen Stunden würde ich es wissen und das zunehmend flaue Gefühl in meinem Magen hoffentlich aufhören – auf die eine oder auf die andere Weise.

Die Silhouette der Stadt kündigte das Ende unserer Fahrt an. Die Straßenbeleuchtung schien hell und strahlend in einer klaren, kühlen Nacht, einer Nacht, die ich zu lieben lernte. Es war kurz nach zwei. Die Stadt lag in tiefem Schlaf. Auf den Straßen herrschte kaum Verkehr, der, kaum dass wir in das verwaiste Wirtschaftszentrum mit seinen Bürohochhäusern einbogen, noch geringer wurde.

Statt vor dem Gebäude der Farinvest zu halten, steuerte Tamirs Chauffeur eine dunkle und von tiefen, schwarzen Schatten erfüllte Seitenstraße an. Ich ahnte, was der Nosferatu geplant hatte. Meine Rückkehr sollte auf Vampirart erfolgen. Deswegen wunderte es mich auch nicht, als der Wagen in der dunkelsten Ecke der Straße zum Stehen kam und mit der hier herrschenden Finsternis verschmolz.

»Nun denn, der Zeitpunkt der Wahrheit.«, murmelte ich vor mich hin.

Wir stiegen aus und als wenn ich es geahnt hätte, lösten sich plötzlich zwei Schatten aus der Dunkelheit. Schwarz verhüllte Männer kamen auf uns zu, die ich sofort als Nosferatu erkannte.

»Der Bereich ist sicher, ehrwürdiger Tasmanir.«, meldete einer der beiden, »Christiano Varadin ist in seinem Penthouse. Das Panoramafenster ist offen.«

»Danke, Bruder Thomas.«, erwiderte Tamir, »Dank, an dich und deine Brüder.«

Es gab keinen Grund, das Kommende weiter hinauszuzögern. Mit einem Satz schwangen wir uns in die Luft und schwebten dem Penthouse entgegen, dessen großes Panoramafester tatsächlich weit offen stand. Zögernd schwebten wir zur Brüstung und näherten uns dem Eingang.

Und da saß er. Christiano, mein Freund und Bruder, der Mann, der als erstes von mir kosten durfte. Dem ich mein Blut zum Geschenk gemacht hatte. Er saß in eben jenem Ledersessel, in dem ich das letzte Mal als Mensch die Sonne betrachtet hatte, und schaute in die Dunkelheit der Stadt. In die Dunkelheit, die uns alles bedeutet.

»Hallo Christiano«, der Moment der Wahrheit war gekommen, »ich bin zurück.«

Die Sache mit der Mikrowelle

Constantin

»Schalt ein!«

Zwei Worte, die alle mir noch verbliebene Kraft erforderten. So gut das Gegenmittel bisher auch gewirkt hatte, konnte es nichts dagegen ausrichten, von meinem Körper abgebaut und ausgeschieden zu werden, bis der Punkt erreicht war, an dem die verbliebenen Wirkstoffmoleküle die zerstörerische Wirkung der Vampirpest nicht mehr aufhalten konnten. So riskant, unausgegoren und improvisiert die Idee meiner beiden Wissenschaftsgurus auch sein mochte, sie war die einzige, die vielleicht mein Leben noch retten konnte. Bevor ich also zu erschöpft war, um noch ein Wort heraus zu nuscheln, gab ich den Startschuss und verlor das Bewusstsein.

Wenn auch nicht lange. Infernalische Schmerzen in beiden Füßen brachten mich unsanft zurück in die Wirklichkeit. Es war, als würde mich jemand lebendig häuten, gleichzeitig rösten, grillen und mit eisigen Messern in mich hineinstechen. Unter normalen Umständen hätte ich aufgebrüllt, hätte meine Urvampirkraft genutzt, um die Fesseln, die meinen Körper banden, zu sprengen und wäre aufgesprungen. Aber die Umstände waren nicht normal. Mein Körper verfügte über keinerlei Kraft mehr. Ich konnte nicht einmal mehr schreien. Außer stöhnen und gurgeln war ich zu keiner Lautäußerung fähig.

»Constantin«, hörte ich Ricardos hilflose Stimme, »Ich weiß, wie schmerzhaft die Bestrahlung ist. Aber du musst durchhalten.«

Zu keinem kohärenten Gedanken fähig, bestand meine Antwort aus weiterem Gegurgel. Ich glaube, ich hatte Schaum vor dem Mund. Währenddessen wanderte der Mikrowellengrill langsam, sehr, sehr langsam meinen Körper empor, als wollte jemand dafür sorgen, dass ich die Behandlung auch wirklich in allen Details genoss. Nach einer gefühlten Ewigkeit hatte der Strahlenvorhang gerade mal die Höhe meiner Fußknöchel erreicht.

»Es funktioniert!«, rief mir Bruno zu, »Deine Füße nehmen die Frischblutkonserven an und heilen!«

Toll! Schade nur, dass ich kaum etwas davon mitbekam. Die schneidenden, brennenden, zerreißenden Schmerzen verhinderten, dass ich auch nur einen einzigen klaren Gedanken fassen konnte. Hätte mein Körper auch nur einen Funken Kraft besessen, wäre ich an die Decke gesprungen. Es reichte noch nicht mal zum Zähne zusammenbeißen. Ich beließ es mit röcheln und keuchen.

»Constantin«, hörte ich Ricardo sanft, »Du schaffst das. Du bist stark. Ich habe dich in deiner Urform gesehen. Du weißt zu kämpfen.«

Wenn ich bisher nicht wusste, was die Formulierung »quälend langsam« bedeutete, jetzt wusste ich es. Mein Zeitgefühl hatte sich zwar gleich zu Anfang verabschiedet, trotzdem hatte ich den Eindruck, dass der Strahlungsvorhang nur wenige Millimeter pro Minute über meinen Körper wanderte. Immerhin schien das Schmerzempfinden in meinen Beinen nicht ganz so ausgeprägt zu sein, wie in meinen Füßen. Vielleicht trat aber auch eine Art Gewöhnungseffekt ein. Zu früh gefreut. Ich hörte noch die Warnung Brunos, die Zähne zusammenzubeißen, als die Strahlen meinen Hodensack berührten und begannen, meine Eier zu grillen.

Ich sah wechselweise Sterne und absolute Schwärze. Mein Körper schien im Sekundentakt zwischen Bewusstlosigkeit und vollkommener Klarheit hin und her zu pendeln. Ich begann zu zittern, schmerzinduzierte Krämpfe schüttelten mich durch. Ich verlor jegliche Kontrolle über meinen Körper. Als sich meine Blase entleerte, flammten Funkenentladungen am Urinstrahl auf, liefen über den OP-Tisch, auf dem ich lag, und verbrannten in ihrem Weg meine Haut.

»Es sind die Mikrowellen. Urin ist ein Elektrolyt und dein Strahl wirkt wie eine Empfangsantenne.«

Irgendwie verstand ich Brunos Erklärung und hätte ihm am liebsten den Hals umgedreht. Nur ein Nerd wie er konnte auf die absurde Idee kommen, dass mich in meiner Situation auch nur ansatzweise seine wissenschaftlichen Erklärungen interessierten. Nichts desto trotz hatte er recht. Ich spürte sogar, wie die induzierte Hochspannung durch meine Harnröhre strömte und meinen Schwanz von innen grillte. Unter Elektrosex hatte ich mir immer etwas anderes vorgestellt.

Warum konnte ich nicht einfach die Besinnung verlieren? Warum gönnte mir mein Körper nicht diese kleine Gnade. Aber nein, die Klarheit, mit der ich das elektronische Grillfest erlebte, nahm sogar noch zu, als die Strahlenfächer meinen Bauch toasteten. Es war, als wenn es ich von innen heraus gleichzeitig in Teile zerrissen wurde und kurz vom Platzen war, als ob mich jemand bei vollem Bewusstsein ausweidete.

Ich gebe es zu. Ich wollte aufgeben, ich wollte Ricardo anflehen, den Apparat auszuschalten und mich einfach sterben zu lassen, doch ich brachte keinen Laut hervor. Nur Schaum und Sabber quollen aus meinem Mund. Doch dann passierte etwas. Für winzige Momente gelang es der einen oder anderen Nervenbahn, Informationen aus den bereits bestrahlten Bereichen an mein Hirn zu senden. Ich heilte. Meine Beine fühlten sich gesund und kräftig an. Das frische, unverseuchte Blut ließ mich in Rekordgeschwindigkeit gesunden. Ich schöpfte schon Hoffnung, doch dann erreichte die Strahlung Lunge und Zwerchfell. Ich konnte nicht mehr atmen. Ich rang nach Luft, aber ich bekam keine.

»Constantin! Hör mich an! Hör auf meine Stimme! Deine Lunge ist gelähmt. Aber du brauchst nicht atmen. Das frische Blut hält dich am Leben.« Ricardo redete ununterbrochen, um mich vom Gefühl zu ersticken abzulenken. Monoton und hypnotisch, wie ein Mantra wiederholte er immer und immer wieder die gleichen Worte. Das Blut hält dich am Leben. Du brauchst nicht atmen. Doch dann setzte mein Herz aus. Ich erlebte einen Infarkt. Natürlich wusste ich, dass auch dieser mir nichts anhaben konnte, solange frisches Blut in mich hineingepumpt wurde, doch das änderte nichts an dem panikauslösenden Gefühl, ein Herz in der Brust zu haben, das nicht mehr schlug. Verdammt, mein Herz schlägt nicht mehr!

»Halte durch!«, rief mir Ricardo zu, »Constantin, halte durch!«

Inzwischen hatte ich einfach nur noch Schaum vorm Mund, er sprudelte aus mir heraus. Und nicht nur da. Ich begann aus Ohren und Nase zu Bluten. Zum Glück war es mir vollkommen egal, da ich mit einer Panikattacke voll und ganz ausgelastet war, die erst wieder abebbte, als mein Herz wieder zu schlagen anfing. Die beiden Eierköpfe hatten Recht, mein Körper heilte. Ich wollte schon Hoffnung schöpfen, doch dann erreichte der Strahlenfächer meinen Kopf. Die Welt um mich herum implodierte. Mir wurde schwarz vor Augen. Alles, was mir blieb, war der Schmerz und das Geräusch meines eigenen Keuchens, bis auch das verschwand.


»Kostja?«

»Wer ist da?«

»Oh, Kostja, weißt du nicht, wer ich bin?«

»Mami? Oh, Mami, ich habe dich vermisst. Wo bist du?«

»Ich habe dich nie verlassen. Ich war immer bei dir.«

»Ja, das warst du.«

»Ich liebe dich, mein Sohn, mein kleiner Kostja. Du bist erwachsen geworden, mein Junge und zu einem beeindruckenden Mann herangewachsen. Deswegen ist es wichtig, dass du mir jetzt genau zuhörst: Er liebt dich! Er liebt dich und ist bereit, alles für dich zu opfern. Wenn es so weit ist, musst auch du ein Opfer erbringen und einfach vertrauen. Vertraue auf deine Liebe!«


»Constantin?«

Oh, Mann! Was für ein Dröhnschädel. So musste es sich anfühlen, wenn Menschen sich ins Koma gesoffen hatten. Es war traumhaft. Gegen Ricardos Rosskur war dieser Zustand einfach himmlisch. Muskelkater, wer hätte gedacht, dass Muskelkater so schön sein konnte? Migräne? Das geilste Gefühl der Welt.

»Con-stan-tin?«, hakte die Stimme nach.

Ob ich versuchsweise meine Augen öffnen soll? Versuchen wir es mit Blinzeln. Ganz vorsichtig. Erst das eine Auge, dann das andere. Die Beleuchtung meines Habitats hatte ein mitdenkendes Wesen netterweise gedimmt. Wo immer ich mich auch befinden mochte, es war nicht mehr das verfluchte S4 Labor, soweit ich dies auf den ersten Blick erkennen konnte.

»Ah, da bist du ja wieder. Willkommen zurück, Chef.«, hörte ich Ricardos Stimme. »Du wirst noch eine Weile in dem Plastiksack bleiben müssen, bis wir sicher sind, alle Vampirpestviren erwischt zu haben. Wie fühlst du dich?«

»Groggy. Ihr wart doch Menschen. Wie fühlt sich das an, eine Woche durchgesoffen zu haben?«, knurrte ich mit rauer Stimme.

»Das wird schon. Wir füttern dich weiterhin intravenös. Du solltest dich bald besser fühlen.«

»Wie lange war ich weg?«

»Siebenundzwanzig Stunden. Als du besinnungslos wurdest, sind wir noch einmal mit den Mikrowellen komplett über deinen Körper gewandert. Bruno und ich waren der Meinung, lieber auf Nummer sicher zu gehen.«

»Okay.«, grummelte ich leise. Irgendetwas stimmte nicht. War mir aber nicht sicher, was es war. Es begann unmittelbar nachdem ich das Bewusstsein wiedererlangt hatte. Mit jeder Sekunde, die verging und mein benebelter Geist klarer wurde, wuchs das ungute Gefühl. Irgendetwas fehlte.

»Constantin, stimmt etwas nicht?«

»Ich weiß es nicht.«, murmelte ich nachdenklich, »Vermissen wir jemanden?«

»Nein, es sind alle da.«

Oh mein Gott, Florian! Ich konnte Florian nicht mehr fühlen. Jeder Stammvater konnte seine Geschöpfe, egal ob sie neben einem standen oder tausende Kilometer entfernt waren, jederzeit spüren. Doch Flo war nicht da. Mein Flo war weg.

»Constantin, was ist los?«, in Ricardos Stimme klang Panik an. Ein Biomonitor piepte hektisch. »Dein Puls ist hochgegangen. Himmel, du schwitzt wie Sau.«

»Es ist... Bitte, könnte ihr mir Simon holen?«

Er musste sofort zu Christiano. War Flo etwas zugestoßen? Wenn er nicht mehr lebte, hätte ich es gewusst. Überhaupt hätte ich jeden körperlichen Schaden spüren müssen. Es sei denn, ihm wäre in den letzten siebenundzwanzig Stunden etwas zugestoßen. Nur was?

Verdammt, warum musste ich nur in diesem überdimensionalen Bratenschlauch festsitzen? Ich musste so schnell wie möglich hier raus. Seit Tagen eingesperrt und zur Untätigkeit verurteilt zu sein, wurde immer unerträglicher.

»Chef?«, Simon war neben mir aufgekreuzt und klopfte gegen den aufgeblasenen Plastikschlauch. Mein Ritter vom fehlenden Fuß steckte in einem Sicherheitsanzug. Wir mochten uns zwar nicht mehr in Hochsicherheit befinden, aber ein Sicherheitslabor war es nach wie vor.

»Sind wir allein?«

»Ja, sind wir.«, erwiderte Simon, »Ich vermutete, dass du mich allein sprechen wolltest. Was gibt’s?«

»Ich kann Florian nicht fühlen.«

»Ich verstehe.«, meinte mein Ritter, »Ich breche sofort auf. Es ist neun Uhr abends, ich sollte gegen halb elf bei Christiano sein.«

»Danke.«

Ein Fall von Eifersucht?

Florian

»Florian?«

Im Penthouse herrschte gedämpftes Licht, nichts helles, nichts blendendes, nur sanfte Beleuchtung, die auf Christianos Gesicht fiel. Er wirkte unsicher und sah damit genau so aus, wie ich mich fühlte. Wie viel stand zwischen uns? War unsere Freundschaft an Constantins Blut gebunden? Wie viel bedeutete es, Mitglied des einen oder anderen Hauses zu sein?

Es gab nur eine Möglichkeit, diese Fragen zu klären. Einer von uns beide, musste den ersten Schritt wagen, und das war ich, derjenige, der mit Tamir gegangen war. Ich schlug die Kapuze meiner Mönchskutte zurück und schüttelte meinen Kopf, um meine Mähne zu befreien. Nervös und zittrig schaute ich meinem Freund in die Augen. War er noch ein Freund?

»Hast du Angst vor mir?«

Christianos Worte waren nur ein Flüstern, als er sich von seinem Sessel erhob und mir entgegen ging.

»Nicht vor dir«, flüsterte ich genauso leise wie er, »sondern davor, einen Freund verloren zu haben. Einen Freund, der mir die Schönheit der Nacht zeigte, der mit mir hoch über der Welt flog, dem ich zu verdanken habe, das erste Mal in meinem Leben Freundschaft erleben zu dürfen. Jemand, den ich meinen Bruder nennen durfte.«

»Wie könntest du so jemanden jemals verlieren?«

Und plötzlich hielt uns nichts mehr auf. Ich rannte auf Christiano zu und Christiano auf mich. Wir fielen uns in die Arme, klammerten uns aneinander, hielten uns und begriffen plötzlich, wie viel wir eigentlich einander bedeuteten. Die Erkenntnis war furchteinflößend.

»Du bist mein Freund und wirst es immer bleiben.«, flüsterte mir Christiano ins Ohr.

»Beiß mich!«, flüsterte ich zurück, »Koste von mir, mein Freund.«

»Aber«, stammelte Christiano, »Das darf ich nicht. Du bist ein Stammvater, sogar ein Großherzog. Das wäre eine Kriegser...«

Mein Mund auf seinem stoppte den Protest. Nach dem Kuss schaute ich dem Vampir in meinen Armen tief in die Augen: »Wem erklärst du den Krieg, wenn du von mir trinkst? Mir? Christiano, ich möchte den Bund unserer Freundschaft erneuern. Selbst, wenn wir nicht mehr verwandt sein mögen und unterschiedlichen Häusern angehören, sind wir doch Brüder im Geiste.«

Ängstlich, zögerlich und unheimlich sanft berührten Christianos Lippen meinen Hals und er fuhr seine Zähne direkt an meiner Haut aus. Ein wohliger Schauer durchjagte meinen Körper während er einen kleinen Schluck nahm. Christiano zitterte und bebte, um plötzlich zusammenzuzucken und sich noch fester an mich zu klammern. Aus meinen Augenwinkeln entdeckte ich Tränen in seinen Augen.

»Oh, Florian, was hast du dir antun lassen?«

Die Frage traf mich wie ein Schlag. Wie konnte nur ich vergessen, dass Christiano durch den Biss vom Servius-Novatin erfuhr?

»Was getan werden musste.«, antwortete ich matt, »Ich wusste nicht, worauf ich mich einließ. Es war die einzige Möglichkeit, Constantin zu retten. Ich würde es jederzeit wieder tun.«

Hinter uns räusperte sich Tamir.

»Ich will euch ja nicht in eurer Wiedersehensfreude stören, aber es gäbe da noch ein paar Punkte zu diskutieren.«

Tamir hatte Recht. Aus diesem Grund stellte ich als erstes Nicolas vor. Es war beunruhigend zuzusehen, wie die beiden Männer sich beschnupperten. Christiano schien irritiert. Er hielt Nicolas für einen Nosferatu und war überrascht, dass dieser ein Mitglied meines Hauses, meines Bluts war. Obwohl ich erklärte, wie es dazu kam und Christiano daraufhin meinte, dass er einen ähnlichen Fall kenne, der sich aber schon vor Jahrhunderten ereignet hätte, schien er mit Nicolas nicht richtig warm zu werden, was dieser natürlich bemerkte. Ich befürchtete bereits ein Problem heraufziehen zu sehen, denn eigentlich hoffte ich, dass die beiden Männer, von denen mir jeder viel bedeutete, gut miteinander auskamen. Doch da kannte ich Nicolas noch nicht gut genug.

»Christiano?«, meinte mein Ritter und trat an Christiano heran, »Du hegst Vorbehalte gegen mich?«

Der Angesprochene antwortete, indem er die Stirn kräuselte und mit diesem fragenden Ausdruck im Gesicht leicht mit dem Kopf nickte.

»Ich glaube, ich verstehe warum.«, fuhr Nicolas fort, »Du bist Florians Freund. Nein, eigentlich bist du mehr als das. Ihr zwei seid seelenverwandt. Ich weiß, dass du alles tun würdest, um Florian zu schützen. Aber genau das mache ich auch. Ich bin sein Geschöpf und werde immer und jederzeit alles tun, um meinen Großherzog, meinen Freund und Stammvater vor Schaden zu bewahren. Ich schütze ihn, selbst wenn dies meine Existenz kosten sollte.«

Christianos Stirnkräuselung nahm zu, während mir langsam dämmerte, was es für Nicolas wirklich bedeutete, mein Geschöpf zu sein. Ich hatte keinerlei Zweifel, dass er exakt das meinte, was er sagte und sich ohne zu zögern in sein eigenes Schwert stürzte, sollte es mir nützen. Die Verantwortung, die er damit auf meine Schultern legte, ließ mich schlucken.

»So, würdest du das?«, wo kam dieser gereizte Unterton in Christianos Stimme her? Was störte ihn an Nicolas? Er kannte ihn doch noch gar nicht. Die Missstimmung musste eine Ursache haben. Christiano wusste selbst ganz genau, wie eng das Band zwischen einem Stammvater und dessen Geschöpfen war. Nicolas Loyalität stand vollkommen außer Zweifel. Trotzdem schien Christiano etwas an Nicolas zu ärgern. Nur was, wenn es keine formalen Gründe gab? Hatte Christiano ein persönliches Problem mit Nicolas? Aber er kannte ihn doch gar nicht.

»Christiano?«, mich beschlich eine Idee, was es sein könnte, »Kann es sein, dass du ein klein wenig eifersüchtig bist?«

Treffer – Christiano wich meinem Blick aus und schaute schamhaft zu Boden.

»Bitte, Christiano«, flehte Nicolas und ging auf Christiano zu »Ich will dir Florian doch nicht wegnehmen. Glaubst du wirklich, dass das meine Absicht ist?«

»Nicht?«, schnappte der schniefend und wich zurück, »Ich bin doch nicht blind. Glaubst du mir wäre nicht aufgefallen, wie du Flo ansiehst?«

Dass mich Christiano mochte, sogar sehr mochte, wusste ich, doch wie tief diese Zuneigung wirklich ging, war mir leider entgangen. Dafür war ich in den Wochen seit meinem Selbstmordversuch viel zu sehr mit mir selbst beschäftigt gewesen. Eifersucht war und ist immer eine bittere und schmerzhafte Emotion, der ich meinen Freund nicht aussetzen wollte. Objektiv hatte er auch gar keinen Grund, eifersüchtig zu sein. Nur welcher Eifersüchtige schaute jemals auf objektive Gründe? Immerhin meinte ich zu wissen, was ihn umtrieb und wieso er auf Nicolas so aggressiv reagierte.

»Christiano?«, sprach ich meinen Freund ruhig und bedächtig an. Der schaute auf und zeigte verquollene, tränennasse Augen. Neben mir hörte ich Nicolas schlucken und sah, dass er etwas sagen wollte. Ein kurzes Kopfschütteln meinerseits stoppte ihn.

»Hm?«, murmelte Christiano.

»Glaubst du allen Ernstes, dass Nicolas mich dir wegnehmen will?«, fragte ich und erntete ein Kopfschütteln, »Was ist wirklich los? Wovor hast du Angst?«

»Ich kann dich nicht mehr lesen.«, flüsterte Christiano leise. »Als Mitglied unseres Clans war ich mir immer sicher, was du fühltest. Wir waren verbunden. Aber jetzt... Nein, verdammt, «, schniefte er, »Nicolas, ich habe nichts gegen dich. Ich glaube sogar, dass ich dich mag. Aber ich will Florian nicht verlieren. Es ist sehr lange her, dass ich mich jemandem so öffnen konnte, wie ihm. Er brachte mich dazu, mich Simon gegenüber zu bekennen. Bitte, Flo, ich will das nicht verlieren.«

»Das wirst du nicht – niemals«

Hinter uns donnerte die Stimme Tamirs. Bisher hatte er sich aus dieser sehr privaten Unterhaltung herausgehalten. Umso unerwarteter kam seine Einmischung. Drei Augenpaare waren auf den Stammvater der Nosferatu des Westens gerichtet.

Tamir machte einen Schritt auf uns zu: »Christiano, vertrau mir, du wirst Florian nicht verlieren. Er ist ein Nosferat, ein Hati und hat die Erinnerungen der Ersten empfangen. Du hast sicherlich von den Geschichten, die über die Halle der Ersten erzählt wird, gehört?«

»Welcher Vampir hat sie nicht gehört.«, erwiderte der Befragte, »Sie wird auch Halle der eigenen Hölle genannt. Manchmal auch Spiegel der Seele. Es heißt, dass jeder, der sie betritt, sie verändert verlässt. Nun ja, es sind Legenden. Wer weiß, welche wirklich wahr ist.«

»Sie sind alle wahr.«, verkündete Tasmanir Musferatu feierlich, »Die Halle der Ersten ist eine Prüfung der Seele. Sie konfrontiert dich mit deiner eigenen Hölle, mit dem, was du am meisten fürchtest. Nur wer sich seinen Ängsten stellt und sie akzeptiert, besteht. Weiß du, welchen Ängsten Florian sich stellen musste?«

»Nein, das weiß ich nicht. Welchen?«, Christianos Stimme war dünn wie nasses Klopapier.

»Frag ihn?«

Der Blick meines Freundes sagte alles. Er brauchte die Frage nicht zu stellen.

»Einsamkeit. Ich fürchte mich davor, einsam und allein zu sein. Aber weißt du, was mich gerettet hat? Die Liebe zu Simon, zu Constantin und ganz besonders auch zu dir. Ich könnte dich niemals aufgeben. Du wirst immer mein Freund bleiben, denn ein Teil meines Herzes gehört unlöslich dir.«

»Wow!«, langsam kehrte die Fröhlichkeit in Christianos Gesicht zurück. »Ich... Ich glaube, ich muss mich bei euch allen entschuldigen.«

»Warum solltest du?«, ich lächelte, »Etwa dafür, dass du Angst hattest, einen Freund zu verlieren? Christiano, es gibt nichts, für was du dich entschuldigen musst. Und ich glaube, Nicolas sieht dies ähnlich.«

»Ich sehe es sogar absolut genauso.«, korrigierte der Erwähnte, »Christiano, ich würde mich sehr freuen, dich als meinen Freund betrachten zu dürfen. Florians Freunde sind auch meine Freunde.«

»Danke«, hauchte Christiano gerührt.

»Nachdem diese Klippe genommen wäre, sollten wir uns noch um ein paar weltliche Punkte kümmern.«, brachte uns Tamir mit kühler, analytischer Stimme in die Wirklichkeit zurück, wohl wissend, dass es weit mehr Zeit und Gespräche brauchte, bevor Nicolas und Christiano eine Basis zueinander gefunden hatten.


Was folgte, war eine Unterweisung in eine ziemlich konkrete Zeitplanung. Nach einer kurzen Entschuldigung, klare und deutliche Vorgaben machen zu müssen, wurde nicht nur ich, sondern auch Nicolas und Christiano genau eingetaktet.

»Es ist jetzt Samstagnacht, fast Sonntag.«, erläuterte Tamir die Dringlichkeit der von ihm verteilten Aufgaben, »In drei Tagen, Mittwochabend, tritt der Rat der hohen Häuser zusammen, um über Constantins Anspruch auf die Krone zu entscheiden und ihn, sollte sein Anspruch gerechtfertigt sein, zum König aller Vampire zu wählen. Mittwoch ist der Tag der Entscheidung. Der Tag, an dem sich alle Intrigen, Ränkespiele und Verschwörungen enthüllen werden. Florian, an diesem Abend wirst du deinem Gegner gegenübertreten und dich mit ihm messen. Es wird ein Gefecht der Worte werden. Doch täusche dich nicht, obwohl er nur mit Worten geführt wird, ist es ein Kampf auf Leben und Tod, eurer beider Leben, deines und Constantins. Es wird Nicolas und Christianos Aufgabe sein, dich für diesen Kampf fit zu machen.«

Die Aufgabenverteilung sah folgendermaßen aus: Nicolas, als ehemaliges Mitglied der Bruderschaft der grauen Nebel, sollte mir einen Crashkurs in der Geschichte des Vampirtums mit besonderem Augenmerk auf die Hohen Häuser geben, während mich Christiano in die Gegenwart einführen sollte, das heißt, mir einen Überblick über die gegenwärtige Politik und Koalitionslage geben. Welches Haus war mit welchen alliiert. Zwischen welchen bestanden offene und zwischen welchen verdeckte Feindschaften. Ein ganz wichtiges Thema: Wer waren die Stammväter der hohen Häuser. Wo lagen ihre Stärken und wo ihre Schwächen. In gewisser Weise sollte Christiano dort anknüpfen, wo Nicolas aufhörte.

Mit diesem Lehrprogramm sollte ich mich die nächsten beiden Nächte herumschlagen. Damit der Stress aber nicht zu kurz kam, bestand Tamir darauf, dass ich Montagmorgen meine Arbeit bei Niederreuter wieder aufnahm. Momsen war ein Spion unseres Gegners, welchen Tamir unter den Stammväter der hohen Häuser vermutete. Der Nosferatu war sich absolut sicher, dass er während der Ratssitzung die Karte meiner Herkunft ziehen und Constantin des Verbrechens wider einer fremden Blutlinie beschuldigen würde. Dass dieser Anschuldigung inzwischen die Grundlage fehlte, konnte er oder sie natürlich nicht wissen und sollte bis zur Ratssitzung auch so bleiben. Es wäre daher ausgesprochen unklug von mir, ausgerechnet am Tag vor der Sitzung blau zu machen und Momsen einen Anlass zu geben, seinen Freunden etwas melden zu müssen.

»Wie sieht es mit Schlaf aus?«, wollte ich wissen. In Tamirs Stundenplan fehlte mir das Kästchen mit Ruhepause.

»Versucht morgens und abends ein paar Stunden zu ruhen und kompensiert den fehlenden Schlaf mit frischem Blut.«, erwiderte Tamir, »Christiano, ich nehme an, du verfügst über ein paar Spender?«

»Ja, sogar hier im Hause.«

»Gut. Ihr wisst, worauf es ankommt. Die nächsten Tage werden hart. Aber denkt daran: In der Ratssitzung wird es um die Zukunft und das Überleben eurer beider Häuser gehen.«

Tasmanir Musferatu bereitete sich vor, uns zu verlassen. Er lächelte uns zu und wollte sich umdrehen, als aus dem Lächeln ein breites Grinsen wurde. Ohne sich umzudrehen, erhob er seine Stimme und richtete sie in Richtung der geöffneten Panoramafront.

»Du kannst jetzt reinkommen, Simon Varadin!«

Mit eingezogenen und hochrotem Kopf sowie einem schiefen Lächeln auf den Lippen, kam Simon hereingetapst.

»Hi Leute.«

Gedankenspiele

Da stand Simon wie Falschbier und schielte zu Christiano. Der streckte seine Hand aus, winkte seinen Freund zu sich heran und griff zu, kaum dass dieser in Reichweite kam.

»Hei, Kleiner«, begrüßte Christiano den Neuankömmling leise, während er seine Arme um ihn schlang und an sich zog.

»Ich... ich wollte nicht...«, stammelte Simon, »Also, ich habe nicht...«

»Natürlich nicht«, lachte Tamir und setzte seinen Weg zum Fenster fort, »Ich werde mich dann mal auf den Weg machen. Mit dem kleinen Eindringling werdet ihr sicher selbst klarkommen. Wir sehen uns spätestens Mittwoch.«

Es folgte noch ein Gruß und Tamir verschwand in die Dunkelheit. Während Christiano Simons Nacken mit Küssen bedeckte und sich sichtlich freute, seinen Geliebten in seinen Armen zu halten, bedachte mich Nicolas mit einem fragenden Blick.

»Das ist Simon.«, erläuterte ich leise, »Christianos Geliebter und ein guter Freund. Ich habe dir doch erzählt, dass Constantin Christiano offiziell aus dem Haus Varadin verbannt hat. Simon ist unser Verbindungsmann. Er hält den Kontakt zwischen uns und dem Haus.«

»Ich verstehe.« Nicolas nickte, »Knuffiges Kerlchen.«

»Ganz genau, aber er ist mein knuffiges Kerlchen.«, grinste Christiano, der unsere Unterhaltung genau gehört hatte, Nicolas frech an.

»Oh, entschuldigt!«, ließ sich plötzlich Simon vernehmen, »Wo bleiben meine Manieren? Florian, mein Freund...«

Dieser Wirbelwind von einem Vampir kam auf mich zugestürmt. Ich konnte gar nicht anders, als mich von ihm umarmen zu lassen. Wir drückten uns, wie es gute Freunde taten, bis Simon plötzlich einen Schritt zurücktrat und mich genau musterte.

»Wow!«, rief er aus, »Was ist denn mit dir passiert? Du siehst verändert aus: rauer, herber, kerliger, wenn ich das so sagen darf, fast herrschaftlich, aber auch sinnlicher.«

»Ist das so?«, fragte ich schmunzelnd, entdeckte dann aber Simons fragenden Blick als dieser Nicolas entdeckte »Darf ich dir Nicolas vorstellen?«

»Ein Nosferatu?«, staunte Constantins Adjutant, denn als den musste man Simon wohl bezeichnen.

»Nicht mehr.«, antwortete Nicolas, »Ich bin Nicolas, Ritter des Hauses Margaux, zu Euren Diensten.«

»Ritter? Huh!«, entgegnete Simon seinerseits verblüfft, aber auch amüsiert, was sich in einem verschmitzten Grinsen äußerte, »Constantin hat mich vor ein paar Tagen auch zum Ritter geschlagen, zum Ritter vom fehlenden Fuß. Ähm... fragt nicht!«

Simon und Nicolas schienen gut miteinander klar zu kommen. Ganz im Gegensatz zu Christianos anfänglicher Zurückhaltung, war Simon begierig, alles von und über Nicolas zu erfahren, insbesondere, warum er kein Nosferatu mehr war. Diese Frage rief zwangsläufig mich auf den Plan.

»Simon, ich vertraue dir, dass du ein Geheimnis für dich behalten kannst. Nach Mittwoch wird es wahrscheinlich kein Problem mehr darstellen, aber was ich dir jetzt erzähle, musst du für dich behalten. Es geht um nicht weniger, als die Zukunft unser beider Häuser.«

»Was heißt, unserer beider Häuser? Du bist ein Varadin, oder nicht?«

»Nein, nicht mehr. Eigentlich war ich es nie wirklich.«, begann ich die Schilderung um die Entdeckungen meiner Herkunft und der damit verbundenen Verschwörung. Simon hörte aufmerksam und konzentriert zu. Als mein Bericht den Tag des Wasserrohrbruchs erreichte, richtete er sich auf, wurde sichtbar hellhörig, sagte aber nichts. Seine Ohren wurden noch spitzer, als ich ihm von Tamirs inzwischen bestätigter Vermutung erzählte, dass jemand versuchte, Constantin eine Falle zu stellen, die ihn nicht nur die Königskrone sondern aller Voraussicht nach auch die Freiheit wenn nicht sogar das Leben kosten konnte und Meister Momsen damit beauftragt war, mich mit Constantin zusammenzubringen, konnte Simon nicht mehr an sich halten.

»Ich muss etwas erzählen, das euch nicht gefallen wird. Eins vorweg: Constantin geht es gut.«

Mit diesen Worten begann uns Simon in die Vorfälle im Hause Varadin, um Frantz und die Vampirpest, einzuweihen. Im Rückblick bin ich überzeugt, dass mir im Sekundentakt die Farbe aus dem Gesicht wich. Was Constantins Ritter erzählte, ließ mein Herz stocken. Und obwohl mein Liebling inzwischen außer Gefahr zu sein schien, machte ich mir größte Sorgen und wollte am liebsten sofort zu ihm. Alleine der Begriff Vampirpest ließ mich erschaudern. Immerhin fügten sich mit Simons Schilderung eine Menge Mosaiksteinchen zu einem schlüssigen Bild zusammen. Auf der einen Seite hatte dieser Frantz dafür gesorgt, dass die Firma Niederreuter mit einem Reparaturauftrag betreut wurde, während auf Niederreuters Seite Momsen dafür sorgte, dass ich mit von der Partie war. Sowohl Frantz als auch Momsen dabei über das eigentliche Ziel im Unwissen zu lassen, war schlau und zeugte von einem genialen Strategen, der im Hintergrund die Strippen zog.

»Du hast mich gefragt, was ich mit beide Häuser meinte.«, wenn wir schon dabei waren, bis zum Kern der Geschichte vorzudringen, dann durfte meine Transformation nicht fehlen. »Mein Vater hat mir etwas von meiner Mutter erzählt, was niemand ahnen konnte. Sie war eine gebürtige Vampirin. Die Stammmutter und Großherzogin des Hauses Margaux sûr Rhone und eine direkte Nachkomme der Nosferat. Ich bin ein Hati. Weißt du, was das bedeutet?«

Simon schüttelte den Kopf: »Nein, was?«

»Dass Constantin unwissentlich ein schweres Verbrechen beging, als er mich in sein Haus aufnahm. Er hat den Stammvater eines anderen Hauses seinem Blut unterworfen und das nicht erst mit meiner Verwandlung in einen Hämophagen, sondern bereits als er mir anbot, seinem Banner zu folgen. Vermutlich war genau das der Plan unseres Gegners. Constantin sollte sich in mich verlieben und mich zu seinem Untertan machen.«

»Aber woher sollte Constantin wissen, dass deine Mutter eine Vampirin war? Du wusstest es ja selbst nicht.«

»Nein, das wusste ich nicht. Auch nicht, dass mit meiner Verwandlung das Erbe meiner Mutter in mir erwachen würde. Aber das spielt keine Rolle. Der Kodex ist eindeutig. Ein Stammvater der einen anderen Stammvater seinem Blut unterwirft oder einfach nur, wie Constantin es anfangs tat, als seinen Untertan annimmt, verletzt eines der strengsten Gesetze, die der Kodex überhaupt kennt. Mindeststrafe ist die Verbannung, Höchst- und Regelstrafe der Tod. Zum Glück gibt es ein Schlupfloch. Es gibt immer ein Schlupfloch. Zum einen hat mich Constantin, auch wenn er es vielleicht anders gemeint hatte, aus Dankbarkeit für seine Rettung nach dem Bombenattentat auf seinen Wagen freigegeben. Zum anderen habe ich mich zusammen mit Nicolas einem Ritual unterzogen, das das Band des Blutes wieder aufhebt.«

Simon musterte mich staunend. »Deswegen kann dich Constantin nicht mehr fühlen.«, meinte er schließlich, »Er hat mich hergeschickt, um in Erfahrung zu bringen, warum er dich nicht mehr als eines seiner Geschöpfe spüren kann. Klar, wenn du keiner mehr von uns bist, kann er es nicht.«

»Eines musst du ihm sagen. Was ich auch immer sein mag, welche Bande auch immer getrennt wurden, mein Herz gehört ihm und nur ihm.«, fügte ich hinzu, um jeder Spekulation vorzubeugen. »Ich liebe diesen Mann und will ihn nicht verlieren. Ich habe und werde für uns kämpfen. Simon, ich will Constantin nicht verlieren, auch wenn das hieß, mich körperlich von ihm trennen zu müssen.«

»Wow!«, meinte Simon, ging auf mich zu und nahm mich in seine Arme. Mehr musste er nicht sagen.

Zwischenzeitlich hatten wir uns in Richtung Sitzgruppe verlagert, statt mitten im Raum zu stehen. Nachdem ich Simon und indirekt auch Christiano versicherte, dass ich Constantin nach wie vor bedingungslos liebte und auch der Verlust unserer Blutsbindung daran nichts änderte, gestaltete sich die nachfolgende Unterhaltung sehr entspannt und ausgesprochen produktiv. Nicolas, Simon, Christiano und ich, jeder von uns steuerte seine Wissensbröckchen bei. Als Christiano dann auch noch sein Notebook holte und begann, Notizen zu machen und Organigramme zu zeichnen, wurde aus dem lockeren Zusammentreffen ein ganz handfestes Arbeitstreffen. Die wichtigste Frage blieb zwar unbeantwortet – wer steckte hinter der Verschwörung – sein Wirken konnten wir aber dafür ziemlich gut aufdecken. Es war Nicolas, der der Diskussion einen interessanten neuen Aspekt beisteuerte.

»Mir ist etwas aufgefallen. Unser Gegner hat es bisher vermieden, sich selbst zu expositionieren, sondern hat immer nur mit Helfershelfern operiert, die er über seine Absichten im Unwissenden ließ. Was meint ihr, wird er während der Sitzung des hohen Rates am Mittwoch seine Deckung aufgeben oder wieder jemand anderen vorschieben?«

»Das kommt drauf an und hängt von einer viel wichtigeren Frage ab.«, überlegte Christiano laut, »Wir sind uns einig, dass unser Gegner Constantin und Florian vernichten will. Aber warum? Habt ihr euch schon mal gefragt, warum er das macht?«

»Wie meinst du das?«, wollte ich wissen.

»Du weißt, dass ich Constantins Agent, sein Spion bin?«, leitete Christiano seine Überlegungen mit einer rhetorischen Frage ein, »Meine Aufgabe ist es, auf diskreten Wegen Informationen zu beschaffen oder Probleme unauffällig zu lösen. In diesem Geschäft ist eine Fähigkeit überlebenswichtig: Menschenkenntnis, oder in unserem Fall Vampirkenntnis. Du musst wissen, wie dein Gegenüber tickt, was ihn antreibt und motiviert. Du musst seinen Charakter verstehen und lernen, so wie er zu denken. Du willst wissen, welches die Ziele deines Gegenspielers sind? Schau dir sein Handeln an. Die Ziele bestimmen das Handeln, was umgekehrt erlaubt, vom Handeln auf die Ziele zu schließen. Ich weiß, das klingt fürchterlich abstrakt, ist es aber nicht. Nicolas Frage ist wichtiger als ihr denkt. Es geht um das Ego unseres Gegners. Wenn ich mir sein bisheriges Vorgehen ansehe, kann ich eine ganze Reihe Kandidaten ausschließen, wie etwa unseren Hauptgegner, den Baron van Sanden. Sein Wirken zeichnet sich durch eine völlig andere Handschrift aus.«

»Zu dem Schluss sind wir auch gekommen.«, pflichtete Simon bei und berichtete von den Lagebesprechungen mit den obersten Entscheidungsträgern, wie Lydia, Laurentius und natürlich Constantin. »Aber was sagt dir diese Handschrift?«

»Dass es unserem Gegner nicht um Macht und Einfluss geht.«, erwiderte Christiano in einem abwägenden Tonfall, »Ich kann natürlich falsch liegen, aber eigentlich habe ich mich in solchen Fällen noch nie getäuscht. Die ganze Geschichte wurde so minutiös geplant und zeichnet sich durch unendliche Geduld aus, dass ich von einem wirklich besessenen Geist ausgehe. Ihr müsst bedenken, dass das Florian-Projekt, wenn ich es so nennen darf, seit gut einem viertel Jahrhundert von seinem Initiator verfolgt wird. Vermutlich schon wesentlich länger. Dass er dabei bisher nicht aufgefallen ist, beweist seine vollkommene Hingabe, was mir sagt, dass es um etwas persönliches, etwas sehr persönliches geht.«

»Etwas persönliches?«, das wollte ich genauer wissen.

Christiano seufzte: »Womit beschäftigen wir uns im Allgemeinen? Kleinen, lächerlichen Machtspielchen. Hier eine kleine Intrige, dort eine Allianz, eine Indiskretion hinter vorgehaltener Hand und schon verschiebt sich das Machtgefüge im hohen Rat. Mal haben die Dracul, mal die Isolotianisten, dann wieder die Realos die Meinungsführerschaft. Das ist Politik, Vampirpolitik und dient doch im Endeffekt nur einem Zweck: sich die Zeit zu vertreiben. Leute, ich weiß, ihr seid alles noch Kinder, Nicolas und Florian, ihr seid sogar noch Säuglinge. Aber lasst euch eins gesagt sein. Das quasi unsterbliche Leben eines Vampirs kann manchmal ganz schön öde sein. Was sind wir denn? Gestopfte Snobs. Kein Haus ist wirklich arm. Kein Hämophage müsste wirklich arbeiten. Wir tun es trotzdem, damit uns die Decke nicht auf den Kopf fällt. Auf der anderen Seite gibt es aber auch Ereignisse, die unser Leben überaus lebenswert machen.«

Mit diesen Worten zog Christiano Simon zu sich heran, nahm ihn in seine Arme und küsste ihn verliebt.

»Aber genug des Sarkasmus. Worauf ich eigentlich hinaus wollte ist folgendes: Die Sache mit Florian geht weit über diese alltäglichen Machtspielchen hinaus. Nein, unser Gegner will nicht einfach Einfluss oder mehr Macht erlangen. Er will Constantin und Florian und damit die Häuser Varadin und Margaux vernichten. Wenn ich eine Vermutung äußern müsste, würde ich auf Rache tippen. Irgendwann in der Vergangenheit müssen die Mitglieder der Häuser Margaux und Varadin jemand anderem verdammt schmerzhaft auf die Füße getreten sein, wofür jetzt unser unbekannter Freund die Quittung präsentieren will.«

Diese Überlegungen klangen in meinen Ohren absolut plausibel, ließen mich aber trotzdem im Dunkeln tappen. Woher sollte ich wissen, wem meine Mutter oder ihre Eltern, Großeltern oder Urgroßeltern auf den Schlips getreten waren?

»Dann gibt es für Mittwoch immer noch zwei Möglichkeiten.«, nahm Nicolas den Gedankengang auf, »Unser Gegner ist wirklich total abgebrüht und überlässt es einem anderen Stammvater, die Anklage gegen Constantin zu führen, und genießt seine Rache im Stillen. Oder aber, er lässt tatsächlich seine Maske fallen, um uns im letzten Moment wissen zu lassen, wer den Todesstoß führte. Ich tippe auf eine Kombination beider Varianten. Er wird jemanden vorschicken und erst, wenn alles in trockenen Tüchern ist, seine wahre Identität enthüllen. Geht sein Plan wider Erwarten schief, hält er sich bedeckt und beginnt von vorne.«

»Genau so wird es passieren.«, pflichtete Christiano bei.

»Das klingt alles überaus plausibel.«, begann ich.

»Aber?«, formulierte Christiano meine unausgesprochene Frage.

»Aber warum werde ich das Gefühl nicht los, dass wir etwas Entscheidendes übersehen?«

Zurück ins Leben

Constantin

»Was hat er getan?«, brüllte ich Simon an, um es sofort zu bereuen. Der Mann war schließlich nicht für die Handlungen anderer verantwortlich. Er war nur der Überbringer der Nachricht, was aber schon immer als nicht ganz ungefährlicher Job galt.

»Er hat sich so einem bizarren Ritual unterzogen. Irgendetwas mit Servius.«, stammelte mein Ritter vom fehlenden Fuß unsicher.

»Er...«, weiter kam ich nicht. Mir fehlten die Worte. Mir war zwar nicht bekannt, worin der von Simon erwähnte Ritus konkret bestand, allerdings kannte ich die Nosferatu und wusste, zu welchen seltsamen Dingen sie fähig waren. Die Prozedur dürfte für meinen Liebling alles andere als angenehm gewesen sein. Aber Simon war mit seinem Bericht noch nicht fertig.

»Deine Vermutung war richtig. Du kannst Florian nicht mehr fühlen, weil er keiner mehr einer von uns ist. Das Ritual hat die Verbindung des Blutes aufgehoben. Constantin, Florian leidet darunter, von dir getrennt zu sein. Ich habe ihn erlebt. Er klammerte sich an Christiano, Nicolas und mich, aber eigentlich will er dich. Nicht mehr dein Geschöpf zu sein, dich nicht in seinem Geist zu fühlen und nicht zu wissen, ob du ihn noch liebst, quält ihn.«

»Aber wieso? Warum ließ er sich mit den Nosferatu ein und ist auf einen ihrer wahnwitzigen Trips gegangen? Und wer zum Teufel ist Nicolas?« Ich fühlte mich, als ob mir jemand sämtliche Gedanken mit einem Staubsauger aus dem Gehirn gesogen hätte. Wieso hatte sich Florian nur von mir getrennt?

»Er hatte einen guten, einen wirklich guten Grund, sich von dir als Stammvater zu trennen. Er tat es, um uns alle zu retten.« Die Überzeugung, mit der Simon diesen Satz sagte, ließ mir einen kalten Schauer über den Rücken laufen. Unwillkürlich versuchte ich mich aufzusetzen, stieß aber gegen den Plastiksack, der immer noch als meine Behausung diente. Simons nachfolgender Bericht sorgte dann dafür, dass mir das fröstelige Gefühl weiterhin erhalten blieb und sogar noch zunahm. Es wollte vor allem deswegen nicht abflauen, weil er sehr im vagen blieb und eigentlich keine wirklich interessanten Informationen preisgab. Meine drei Freunde, Christiano, Simon und Florian, sowie dieser mir unbekannte Nicolas, hatten entschieden, mir deswegen keine Informationen zukommen zu lassen, so Simon, um zu verhindern, dass durch einen blöden Zufall unser Gegner in letzter Sekunde davon erfuhr, dass wir ihm auf die Schliche gekommen waren. Es käme jetzt darauf an, den Ball flach zu halten und alles seinen normalen Gang nehmen zu lassen. Was hieß, dass ich mich so verhalten sollte, als wenn ich von der drohenden Gefahr nicht das Geringste ahnte. Die Jungs verlangten viel, denn mir war danach, ein paar Köpfe abzureißen.

»Und dieser Nicolas, was ist mit dem? Traust du ihm?«, wollte ich von Simon wissen.

»Ja, ich vertraue ihm. Er ist nicht nur ein lieber, sondern ein aufrichtiger Kerl, der genau weiß, was er will. Dieses Ritual, von dem ich sprach, hat ihn zu Flos Geschöpf gemacht. Er erinnert an eine junge und nicht ganz so finstere Ausgabe unseres geschätzten Laurentius und würde sich genauso wie dieser für seinen Herzog in sein eigenes Schwert stürzen. Ich glaube, dass Florian zurzeit nirgends sicherer aufgehoben ist, als bei Christiano und Nicolas. Die beiden würden ihn mit mehr als ihrem Leben verteidigen.«

Herzog? Hatte sich Simon gerade verplappert? Wieso nannte er Florian einen Herzog? Nicht, dass diese Frage zurzeit wirklich wichtig wäre und nicht warten konnte. Unser vordringlichstes Ziel bestand primär darin, demjenigen das Handwerk zu legen, der Florian und mich als Spielball seiner Intrigen betrachtete und danach trachtete, uns zu vernichten. In diesem Punkt stimmte ich mit der Hypothese meiner Freunde zu hundert Prozent überein. Unser Gegner war keiner der üblichen machtgeilen Vampirfürsten, denen es um noch ein Quäntchen mehr Einfluss und Ansehen im Kreis der hohen Häuser ging. Dieser agierte aus Hass, was hieß, dass er sich für irgendetwas rächen wollte. Vielleicht einem Unrecht?

Aber welches? Sicherlich war ich während meines bisherigen Lebens mehr Leuten auf den Schlips getreten, als ich zählen konnte, doch konnte ich mich nicht daran erinnern, jemals dabei die Grenzen des Verzeihlichen überschritten zu haben. Es konnte natürlich sein, dass meine Sichtweise nicht mit der unseres unbekannten Gegners übereinstimmte. Was für mich eine Lächerlichkeit war, könnte für ihn die größtmögliche Verletzung überhaupt dargestellt haben. Ehrlich gesagt glaubte ich selbst nicht an diese Möglichkeit. Allerdings gab es noch eine andere: Was, wenn das Unrecht, egal ob objektiv vorhanden oder eingebildet, von einem meiner Vorfahren, etwa meinem Vater begangen wurde? Es gab nur einen Weg, dies herauszubekommen: Wir mussten den Dingen ihren Lauf lassen.

»Das heißt, dass es für uns nichts anderes zu tun gibt, als auf die Ratssitzung zu warten?«

Warten – nicht, dass ich es nicht eh schon hasste. Aber darauf zu warten, endlich Flo wiedersehen zu können, raubte mir den letzten Nerv. Wie sollte ich sonst erfahren, wie wir zueinander standen? Ob wir wirklich noch eine Zukunft miteinander hatten? In den letzten Tagen hatte sich so viel ereignet, hatte sich unser Leben dermaßen fundamental verändert, dass ich mich nervös und ängstlich fragte, ob unsere Liebe überhaupt noch eine Chance hatte. Bestand sie überhaupt noch oder jagte ich einer fixen Idee hinterher? Welche Wirkung hatte Florians Ritual auf seine Psyche und Persönlichkeit?

Ich musste lachen, als mir etwas klar wurde. So sehr ich Tamir, diese alte Ratte, schätzte, er war und blieb ein durchtriebener Kerl, der die Neutralität der Nosferatu auf seine ganz eigene Weise interpretierte. Simon konnte und wollte mir nicht sagen, warum sich Florian von mir lösen musste. Allerdings konnte ich eins und eins zusammenzählen. Die Vermutung lag einfach auf der Hand, dass unsere Verbindung im Konflikt zum Kodex stand. Was umgekehrt hieß, dass Tamir es wieder einmal geschafft und eine Hintertür entdeckt hatte, die uns vielleicht aus dem ganzen Schlamassel herausführen konnte.

»Worüber lachst du?«

»Weißt du, wer uns wirklich gerettet hat?«, antwortete ich mit einem hinterhältigen Grinsen auf den Lippen.

»Ähm, nein.«

»Unser besonderer Freund: Baron van Sanden.«, grinste ich weiter und überließ Simon seiner Verwirrung.


Nach meiner letzten Bemerkung entschuldigte sich Simon und zog sich in sein Appartement mit einem Umweg über die Blutbank zurück. Sein Flug von Christiano zurück zu uns nach Hause war zwar nicht besonders weit, aber da er ihn auf den letzten Drücker, das heißt kurz vor Sonnenaufgang, angetreten hatte und deswegen besonders schnell fliegen musste, zeigte sich Simon weidlich ausgelaugt und müde. Während ich noch über den Gedanken schmunzelte, dass van Sandens Handlungen den Baron zum unabsichtlichen Retter unseres Hauses gemacht hatte, betraten Bruno und Ricardo das Labor, das seit ein paar Tagen als meine Unterkunft diente.

»Chef«, verkündete Ricardo stolz, »Du bist geheilt.«

Noch bevor ich etwas entgegnen konnte, geschweige denn die vollständige Bedeutung seiner Worte verinnerlichte, hatten Bruno und er auch schon zu ein paar Skalpellen gegriffen und die mich einhüllende Schutzfolie aufgeschnitten.

»Wir haben dich die letzten 36 Stunden mehrfach gescannt und dabei insbesondere auch die Abluft deiner Schutzhülle überprüft. Sie ist zu einhundert Prozent frei von Partikeln der Vampirpest. Die Behandlung mit den Mikrowellen war ein voller Erfolg. Alle Nanopartikel wurden zerstört oder sind soweit geschädigt, dass diese nicht mehr zur Reproduktion in der Lage sind. Inzwischen müssten sie komplett von deinem Körper abgebaut sein. Wäre etwas von Frantz Teufelszeug dem Mikrowellengrill entkommen, hätten sie sich inzwischen so weit reproduziert, dass wir sie nachweisen könnten, und du wärst tot.«

Ja, so redeten Wissenschafter. Wenn's nicht geklappt hätte, wärst du halt tot. So einfach war das in den Augen meiner beiden Spitzeneierköpfe. Der Gedanke, nicht mehr auf dieser Welt zu wandeln, hatte etwas zutiefst beunruhigendes. Denn auch wir Vampire, gesegnet mit unserer an Unsterblichkeit grenzenden Lebenserwartung, fürchteten den Tod oder, wie wir es nannten, die endgültige Entkörperung.

Umso erleichterter war ich, endlich aus der an einen Bratensack erinnernden Plastiktüte heraus zu sein. Die Mikrowellenbehandlung vor eineinhalb Tagen war zwar vielversprechend ausgegangen, ich fühlte mich auch deutlich kräftiger, aber solange das endgültige Urteil meiner Wissenschafter noch ausstand, hatte das Damoklesschwert der Vampirpest, oder, wie es manche Mitglieder meines Hauses inzwischen nannten, Frantz Fluch, weiterhin über meinem Kopf geschwebt. Doch das war mit Brunos Verkündung meiner Heilung endlich Geschichte. Mit der vollständigen thermolytischen Reinigung, das heißt dem Ausbrennen des S4 Labors, und anschließendem Verfüllen mit Beton, war auch der letzte ehemals kontaminierte Bereich gesichert und die Vampirpest Geschichte. Sie existierte nur noch in den Analysen und Dokumentationen unseres wissenschaftlichen Teams. Pikanterweise war es Bruno und Ricardo kurz nach meiner Strahlentherapie dann doch noch gelungen, ein echtes, hochwirksames Gegenmittel zu entwickeln. Ganz so genial, wie bisher befürchtet, war Frantz dann doch nicht. Sein Kampfstoff litt zum Glück unter einem massiven Designfehler, an dem Ricardo und Bruno erfolgreich ansetzen könnten. Ein Problem weniger, das meiner Aufmerksamkeit bedurfte. Simon wollte noch ein Dossier für den hohen Rat zusammenstellen, insbesondere auch mit einer Beschreibung des Gegenmittels, aber das war es dann wirklich und ich konnte das Thema »Frantz Fluch« abhaken.

»Danke Jungs« In den nächsten Tagen musste ich mir etwas Intelligentes einfallen lassen, wie ich Ricardo und Bruno angemessen danken konnte, »Ich verdanke euch meine Existenz. Ihr zwei habt mir wirklich den Arsch gerettet. Ich werde das nicht vergessen.«

»Oh, ich glaube, Du vergisst, dass wir dir danken müssen.«, entgegnete Bruno und erläuterte dies sogleich, »Ohne dein Eingreifen hätte Frantz seine Bombe gezündet und uns alle ins Nirwana befördert.«

»Mein Geschöpf und mein Versagen, seinen Verrat nicht erkannt zu haben, meine verdammte Verpflichtung, das Problem zu beseitigen.«, korrigierte ich, »Ich hab's verbockt und ihr hättet es fast mit ausbaden dürfen. Das ist die beschissene Wahrheit.«

»Constantin, das ist Quatsch!«, fauchte mich Ricardo wütend an, »Frantz war mein Kollege. Ich habe tagtäglich mit ihm zusammengearbeitet und habe trotzdem nichts von seinem Verrat bemerkt. Du bist der Stammvater von wie viel Vampiren? Das Haus Varadin ist ein multinationaler Konzern mit einem Milliardenumsatz. Von uns und damit von dir sind wie viele Menschen direkt oder indirekt abhängig? Du kannst dich nicht um alles kümmern. Dann sind auch noch die Breskoffs dazugekommen. Genauso wenig kannst du alles wissen. Was Frantz tat, war Verrat. Es liegt in der Natur des Verrats, dass er still und heimlich daherkommt. Also akzeptiere endlich, dass du ein guter Mann bist und unser Dank mehr als gerechtfertigt ist.«

Woher kam nur dieses tief verwurzelte Gefühl, kein wirklich guter Stammvater zu sein? Da konnten meine Vampire noch so gebetsmühlenartig wiederholen, dass ich der beste Stammvater sei, den sie sich nur wünschen konnten, doch trotzdem quälte mich eine innere Unzufriedenheit und der Gedanke, es eigentlich besser machen zu können, insbesondere dann, wenn die Einschläge derart nahe kamen, wie mit Frantz. Deswegen bestand mein einziger Kommentar zu Ricardos Wutausbruch in einem matten Lächeln und einem anerkennenden Grunzen.

»Jetzt reicht’s!«, explodierte der Mann daraufhin und packte mich, »Sollen wir es in dich hineinprügeln? Hier, beiß!«

Plötzlich hatte ich Ricardos Handgelenk im Mund. Ich reagierte instinktiv. Meine Zähne bohrten sich in seine Pulsader, sein Blut schoss in meinem Mund und anschließend in meinem Magen. Mit dem Blut trank ich aber auch Ricardos Gedanken und Gefühle: Was da auf mich eindrang, war dermaßen überwältigend, dass es mir Tränen in die Augen trieb.

»Danke!«, wimmerte ich, zog meine Zähne aus dem Handgelenk und küsste es, um meiner Dankbarkeit ein äußeres Zeichen zu geben.

Ricardos Wut verschwand und machte Zufriedenheit Platz: »Bevor du dich zurückziehst, solltest du einen Umweg über das blaue Gästezimmer machen.«

Mit diesen Worten und einem kleinen Stubser seitens meines Wissenschafters in Richtung Ausgang, setzte ich mich in Bewegung. Was oder wer befand sich im blauen Gästezimmer? Wobei Zimmer eine Untertreibung war, da es sich eigentlich um ein kleines Appartement handelte, dem aber die Küche und damit ein entscheidendes Appartementkriterium fehlte. Meine Neugierde war geweckt, obwohl mein primäres Interesse eigentlich einem Bett und einer Mütze Schlaf galt. Im überdimensionalen Bratenschlauch konnte niemand wirklich bequem und erholsam schlafen, weswegen es einiges nachzuholen galt.

Das blaue Gästezimmer befand sich zwei Stockwerke über meinen privaten Räumen. Es lag zwar nicht direkt auf meinem Weg, der Umweg aber nicht wirklich erwähnenswert. Warum also keinen Abstecher wagen? Da ich diese Frage für mich mit Ja beantwortete, sprach nichts dagegen, sich in Bewegung zu setzen. Doch weit kam ich nicht. Bruno und Ricardo hätten mich warnen sollen. Mit dem ersten Vampir, dem ich begegnete, ahnte ich, was mir zwischen meinem Standort und dem blauen Zimmer bevorstand: Blutsauger, die einen freudigen, glücklichen und erleichterten Gesichtsausdruck bekamen, kaum, dass sie mich erblickten. Dem einen oder anderen standen sogar Tränen in den Augen. Die vorherrschende Reaktion war aber die Freude darüber, mich nach den unzähligen Tagen meiner unfreiwilligen Isolation gesund und munter zu sehen, so wie ich mich freute, meine Blutsauger gesund und munter zu sehen. So nah und mit meiner Familie verbunden, wie bei diesen Begegnungen, hatte ich mich ihnen noch nie gefühlt.

Die einzige Ausnahme machte Leroy, ein Vampir aus Frantz Team. An einer Flurkreuzung auf dem Weg zum blauen Gästezimmer wären wir fast zusammengestoßen. Im ersten Moment realisierte der Mann gar nicht, wen er fast über den Haufen gerannt hatte. Als er mich erkannte, wich ihm alle Farbe aus dem Gesicht.

»Constantin«, stammelte der Vampir, der wie Frantz zu den Geschöpfen meines Vaters zählte. Leroy hatte Angst, er fürchtete mich und ich ahnte, warum.

»Es ist gut«, ging ich auf den Mann zu und griff seine Hände, »Es ist gut. Mach dir keine Vorwürfe. Niemand wusste, was Frantz im Schilde führte. Ich mache dir keine Vorwürfe, nur weil du mit Frantz zusammengearbeitet hast.«

Der Vampir nickte zögernd und wirkte ein klein wenig erleichtert. Hatte er bisher vermieden, mir in die Augen zu sehen, holte er dies jetzt nach.

»Constantin, es tut mir leid!«, flüsterte er, riss sich los und lief davon. Wäre ich nicht so müde gewesen, ich wäre ihm nachgelaufen. Aber vielleicht war es auch gut so. Frantz Verrat hatte uns alle schwer getroffen und Leroy verhielt sich nicht viel anders, als ich es tat. Es brauchte einfach etwas Zeit, bis wir einsahen, dass unsere Schuldgefühle unbegründet waren.

Wesentlich später als zu erwarten war, erreichte ich das blaue Gästezimmer. Während meine Gedanken noch bei meinen Hämophagen weilten, drückte ich die Klinke der Zimmertür herunter und trat ein.

»Constantin, da bist du ja endlich. Wir dachten schon, du würdest nicht mehr kommen.«, begrüßte mich Basti, um von Phillip ergänzt zu werden, »Dürfen wir dich zum Frühstück einladen?«

Zwei Blutspender

»Basti! Phillip! Was macht ihr denn hier?«

Müdigkeit? Was für Müdigkeit? Wer behauptete, ich wäre müde?

»Wir? Was wohl?«, fragte Phillip keck.

»Ihr zwei seid wirklich hergekommen, damit ich...? Wer?«

»Simon, mit Unterstützung von Laurentius.«, erläuterte Bastian mit breitem Grinsen, »Wir haben erfahren, dass du – wie hatte es Laurentius formuliert – indisponiert warst. Simon meinte, dass du dich die letzten Tage nur von Konserven ernähren konntest. Das geht ja nun gar nicht.«

Die beiden jungen Männer hatten die Wartezeit nicht mit Müßigkeiten vertan. Während Phillip auf seinem Notebook am Design eines Flyers arbeitete – der Mann verfügte über eine erstaunliche grafische Begabung – brachte Basti seinen Schachcomputer mangels adäquatem realen Spielpartner zum Glühen. Mit meinem Aufkreuzen hatten sie allerdings ihre jeweilige Beschäftigung eingestellt und ihre Aufmerksamkeit mir zugewandt.

»Ihr zwei seid einfach unglaublich.«

Phillip erhob sich, ging auf mich zu, packte mein Handgelenk und zog mich in Richtung Bett, wo sich Basti bereits niedergelassen hatte.

»So, wir sind also unglaublich?«, kokettierte das auf dem Bett wartende Schachgenie fröhlich und nestelte an meiner Kleidung, um dann ernst zu werden, »Was war los? Du warst nicht einfach nur indisponiert. Ich habe dein Haus noch nie so nervös erlebt. Obwohl uns die Leute am Empfang seit Jahren kennen, wollten sie uns erst nach unten lassen, nachdem Simon sein okay gab. Deren Nerven lagen blank.«

Worauf Bastian anspielte, waren die Damen und Herren am Empfang der Villa der Varadin Stiftung gemeinnützigen Rechts, der sich direkt über den sieben unterirdischen Stockwerken des eigentlichen Anwesens befand und nebenbei als Zugang zu dessen privaten Bereichen diente. Freunde, wie die beiden Jungs, mussten sich nicht durch die Anmeldeprozedur der Varadin International Holding Group kämpfen. Dies änderte aber nichts an der Tatsache, dass die Nerven meiner Leute, egal ob Mensch oder Blutsauger nach der Sache mit Frantz tatsächlich immer noch blank lagen. Besucher, die bisher mehr oder weniger durchgewunken wurden, hielten die Mitarbeiter am Empfang so lange auf, bis jemand bestätigte, dass sie wirklich willkommen waren. Im Gegensatz zu den meisten Menschen in der Konzernzentrale der Holding, war den Kollegen in der Stiftung durchaus bekannt, für welche Art Wesen sie arbeiteten.

»Wir konnten den Verräter dingfest machen.«, begann ich zu erklären. Basti und Phillip hatten es verdient, die Wahrheit zu erfahren und in die Geschichte eingeweiht zu werden. Schließlich hatte Frantz sie in eine Antivampirwaffe verwandelt, indem er ihr Blut mit einem Biolumineszenzgift versetzte, dem Simon zum Opfer gefallen war. »Es war Frantz.«

»Shit!«, entfuhr es Phillip, »Warum macht der so was?«

Das gefiel mir an den beiden. Sie trafen keine vorschnellen Urteile. Die Reaktion auf meine Enthüllung hätte auch ganz anders aussehen könnten. Worte, wie »verrecken« und »Bastard« hatte ich in Zusammenhang mit Frantz mehr als einmal gehört. Aber nicht von den beiden Jungs. Die wollten einfach nur wissen, warum Frantz zum Verräter wurde.

»Er ist vor langer Zeit in eine dumme Sache hineingeraten, hat dann ein oder zwei falsche Entscheidungen getroffen und wurde daraufhin erpresst. Die ganze Geschichte ist mehr als nur unschön. Da ich weiß, dass ich euch vertrauen kann, habe ich auch kein Problem damit, sie euch bei Gelegenheit zu erzählen, doch heute bitte nicht. Nur so viel: Ich habe mich Frantz gestellt. Es einen Kampf zu nennen, wäre vollkommen übertrieben. Allerdings kam es im Verlauf der Auseinandersetzung zu einer Explosion, die mich zwar nicht direkt verletzte, dafür aber mit einem chemischen Kampfstoff kontaminierte, der fast zu meinem Tod geführt hätte. Dies war vor über einer Woche. Für eine Weile sah es wirklich nicht gut aus. Ich war am Krepieren, und wenn Ricardo und Bruno nicht eine ebenso geniale wie für mich qualvolle Idee gehabt hätten, würden wir uns jetzt nicht unterhalten. Während der ganzen Zeit befand ich mich in Quarantäne, die erst vor rund einer Stunde endete.«

»Dann muss dein Magen ja richtig knurren.«, zog Basti seine eigenen Schlüsse aus dieser Geschichte, »Kein Wunder, dass Simon meinte, du könntest eine doppelte Portion vertragen.«

»Frantz ist...?«, kehrte Phillip nochmal zum ursprünglichem Thema zurück. Statt direkt zu antworten, schüttelte ich nur mit betrübtem Gesichtsausdruck den Kopf. »Ich verstehe. Es muss dir schwer gefallen sein.«, meinte er daraufhin.

»Sehr schwer. Obwohl Frantz nicht mein Geschöpf war, sondern von meinem Vater erweckt wurde, fühlte es sich an, als ob ich mir einen Teil meines Körpers abtrennte. Der Mann war seit Jahrhunderten ein treues Mitglied des Hauses, der Familie, und ich vermisse ihn. Denn bei allen schlimmen Taten, für die er verantwortlich war, war er auch ein Opfer. Derjenige, der ihn erpresste, spielt ein ganz großes Spiel.«

Ich legte eine Pause ein. Was ich Phillip und Bastian als nächstes sagen musste, lag mir schwer auf der Seele und war geeignet, die Freundschaft zwischen den beiden und uns zu beschädigen oder zumindest auf eine harte Probe zu stellen.

»Es gibt da noch etwas, was ich euch sagen muss. Es betrifft euch beide und wie wir uns kennengelernt haben. Ihr erinnert euch an den seltenen afrikanischen Virus, mit dem ihr infiziert wart?«

Ich wartete. Erst ein bestätigendes Nicken ließ mich fortfahren.

»Wir haben uns damals schon gewundert, wie sich Basti den eigentlich einfangen konnte. Natürlich lag es nahe, die Bluttransfusion, die er wegen seiner Sportverletzung erhalten hatte, als Quelle anzunehmen. Aber wir haben damals in der Blutbank des Krankenhauses nachgeforscht und stießen auf einige Ungereimtheiten. So gab es keine weitere Konserve, die den Erreger enthielt. Damals konnten wir uns das nicht erklären, doch nach dem, was in den letzten Tagen ans Licht kam, liegt die Vermutung nahe, dass Frantz dort ebenfalls seine Finger im Spiel hatte.«

Die Information brauchte eine Weile, um ihre ganze Tragweite zu entfalten, bedeutete sie doch nicht weniger, als dass unsere ganze Beziehung vielleicht auf einer Lüge beruhte und Frantz die zwei für seine eigenen Zwecke mit einem tödlichen Virus infiziert hatte.

»Ich könnte verstehen, wenn ihr unter diesen Bedingungen nichts mehr mit uns zu tun haben wollt.«

Ich stellte mir gerade vor, wie ich reagiert hätte, sollte mir ein Freund sagen, dass unsere Freundschaft auf einer Lüge basierte. Und obwohl ich nicht Frantz war und der Vergleich somit ein wenig hinkte, fühlte ich mich für seine Handlungen mitschuldig. Die beiden jungen Männer sahen das erstaunlicherweise vollkommen anders. Statt sauer zu reagieren, griff Bastian nach meiner Schulter und drückte sie kräftig.

»Constantin, versuch nicht päpstlicher zu sein als der Papst. Ich weiß, dass du dich für Frantz verantwortlich fühlst, aber du bist es nicht. Natürlich war die Nachricht von der Infektion eine Erfahrung, die weder Phillip noch ich jemals wiederholen möchten. Aber alles, was darauf folgte, war einfach nur fantastisch. Frantz mag mit unserer Infektion böse Absichten verfolgt haben, hat aber das genaue Gegenteil erreicht. Ohne euch läge mein Schachtalent weiterhin brach. Ohne euch wäre Phillips grafisches Talent nicht gefördert worden. Aber selbst wenn dem nicht so wäre, würde sich nichts an der Beziehung zwischen uns ändern. Constantin, du, Simon, Christiano, Ricardo, Laurentius, ihr seid unsere Freunde.«

»Danke«, erwiderte ich und bestärkte dies, indem ich ebenfalls Schultern drückte.

»Hast du irgendeine Idee, wer Frantz erpresst haben könnte?«, wollte Phillip wissen, womit er das Thema meiner Schuld abhakte.

»Nein, überhaupt nicht.«, ich seufzte, »Der- oder diejenige hat bisher eine unendliche Geduld bewiesen. Die Anfänge liegen, soweit wir bisher wissen oder vermuten, mehr als ein viertel Jahrhundert zurück, vielleicht sogar noch weit länger. Meine üblichen Gegenspieler denken selten länger als ein Jahr voraus. Wir wissen nur, dass mir jemand ans Leder will. Die Sache ist hochgradig persönlich, was die Frage aufwirft, was ich oder einer meiner Vorfahren getan hat, um einen derartigen Hass hervorzurufen.«

Ich musterte meine beiden Gäste. Es kam selten vor, dass ich einem Menschen derart tiefgründige Einblicke in unsere vampirische Kultur gewährte.

»Seid ihr zwei wirklich sicher, dass ihr immer noch Vampire werden wollt?«

Die Frage traf Bastian und Phillip vollkommen unerwartet. Den Wunsch, ihr menschliches Leben hinter sich zu bringen und in zwei Hämophagen verwandeln zu lassen, stand seit einiger Zeit im Raum. Selbst wenn sie den Wunsch nicht schon geäußert hätten, konnte niemand, der Augen im Kopf hatte übersehen, wie fasziniert die Jungs von unserer Welt waren. Ein quasi ewiges Leben, ein Wohlstand, von dem die meisten Menschen nur träumen konnten, Kultur und ein Lebensstil auf der Überholspur – genau das waren die unvermeidlichen Klischees, die einem ins Auge sprangen, schaute man nicht etwas genauer hin. Vielleicht, so dachte ich, half ein wenig Realität, die fehlerhafte Perspektive geradezurücken.

»Meinst du, du könntest uns abschrecken?«, entgegnete Phillip, »Wir sind nicht naiv. Dass das Leben als Vampir kein Zuckerschlecken, keine ewige Party ist, haben wir schon vor einer Weile begriffen. Ich spreche in dieser Sache nicht nur für mich, sondern auch für Basti. Unser Wunsch, ein Mitglied deines Hauses zu werden, hat nichts damit zu tun, dass es total cool wäre, anderen Leuten das Blut aus den Adern zu saugen. Es ist vielmehr so, dass wir uns hier, bei Simon, Laurentius, Christiano, Ricardo und insbesondere bei dir wirklich wohl fühlen. Hierher, in dieses Haus zu kommen, ist immer, als ob wir nach Hause kämen, sogar mehr als das.«

»Wir fühlen uns hier wirklich frei.«, fügte Basti hinzu, »Nirgendwo sonst haben wir das Gefühl, wirklich wir selbst sein zu können. Du wirst es bestimmt nicht gerne hören, aber ihr seid daran nicht unschuldig. Du hast das Thema, wie wir uns kennenlernten, ja selbst angeschnitten.«

»Ja?« Ein fragendes Lächeln schlich sich auf meine Lippen.

»Bis du und Christiano uns heilten, waren wir ungeoutete Klemmschwestern. Weder unsere Freunde noch unsere Familien wussten von uns. Ihr habt uns nicht einfach nur geheilt, sondern uns Selbstbewusstsein gegeben.«

»Also gut. Nehmen wir an, ich würde euch in Vampire verwandeln. Ihr wisst, welche Konsequenzen das hat?«

Was bedeutete es eigentlich, ein Vampir zu werden? Die übliche, wenig befriedigende Antwort lautete: »Kommt drauf an.« Wer Pech hatte, an jemanden wie van Sanden zu geraten, brauchte sich keine Gedanken um seine Zukunft zu machen. Das besorgten andere. Der Baron war ein ebenso autoritärer Herrscher, wie sein Haus vollkommen hierarchisch organisiert war. Ein Vampir war dort nicht mehr als ein kleines Schräubchen im Getriebe des van Sandenschen Blutsaugervereins. Zugegeben, die Blutsauger meines Hauses waren auch nur ein kleines Schräubchen, mich miteingeschlossen, aber der Baron ließ es die seinigen permanent fühlen. Von persönlichen Freiheiten hielt er nicht wirklich etwas. Während ich meine Jungs, und mit dem Hause Breskoff auch Mädels, immer wieder ermunterte, eigene Entscheidungen zu treffen und ihnen Verantwortung übertrug, lief es bei den van Sandens genau umgekehrt. Wer dabei ertappt wurde, sich eine eigene Meinung zu leisten oder es gar wagte, die Anweisungen seiner Vorgesetzten in Frage zu stellen, machte sehr schnell Bekanntschaft mit dem Konzept des negativen Feedbacks. Hierfür zuständig waren im Haus van Sandens die sogenannten »Verhaltenskorrektoren«. Früher hießen sie noch Folterknechte. Die extreme Widerstandsfähigkeit unserer Körper gegenüber physischen Schäden eröffnete den Korrektoren ein schier unendliches Spektrum an Möglichkeiten, Schmerz zu induzieren und ihre Klienten lange und erbarmungslos weichzukochen. Letzteres sollte wörtlich genommen werden.

Van Sanden duldete kein Versagen oder Fehlverhalten. Vor Jahren war es Christiano gelungen, ein Exemplar des offiziellen Straf- und Verfehlungskatalogs in die Finger zu bekommen. Das Werk las sich wie die Wichsfantasie eines kranken Sadisten. Für einen selbstverschuldeten verspäteten Dienstantritt als Vampir der Hauswache drohte bereits ab einer Verspätung von fünf Minuten die Bekanntschaft mit dem Knochenbrecher, ein Foltergerät, bei dem dem Delinquenten, wie der Name bereits andeutete, alle möglichen Knochen gebrochen wurden. Knochenbrüche an sich waren für uns bestenfalls lästige Lappalien. Etwas frisches Blut und sie regenerierten sich und wuchsen wieder zusammen. Um Christianos Verbannung echt aussehen zu lassen, hatte ich ihn seinerzeit quer durch mein Büro gegen eine Wand geschleudert, was reihenweise Knochen zum Brechen brachte. Ich hasste es, ihn so zu behandeln. Seine Knochen würden zwar vollständig ausheilen, aber den Schmerz fühlte er trotzdem. Und genau den nutzte van Sanden als Machtmittel erbarmungslos aus. Er war der Herr über den Schmerz in seinem Reich, von dem er jeden reichlich kosten ließ, der nicht parierte.

So viel zum Haus van Sanden – bei ihm Vampir zu sein, galt wahrlich nicht als Zuckerschlecken. Aber es gab auch noch andere Häuser. Was bedeutete es etwa, ein Vampir des Hauses Lord Peter Berresford Eanruig Bromleys zu werden? Zumindest keine Folter. Allerdings war Lord Peter, wie ich bereits erwähnte, ein Anhänger des Isolotianismus und mied, soweit wie möglich, menschliche Gesellschaft. Allerdings mied er die meiste Zeit auch die vampirische Gesellschaft. Ihm reichte seine kleine Welt und die Rolle des unauffälligen Landadeligen. Ich glaube, der geneigte Leser ahnt, worauf es bei den Bromleys hinauslief. Bei ihnen herrschte gähnende Langeweile, es sei denn, man liebte Fünf-Uhr-Tee, Kirchenkreis und Wohltätigkeitsbasare. Die Jungs und Mädels lebten auf dem Lande, was an und für sich nichts schlechtes war, nur im Falle Lord Peters eben tödlich langweilig. Im Mondschein über grüne Wiesen zu wandern konnte mal ganz nett, sogar romantisch sein, aber täglich?

Nein, ich will mich nicht über Lord Peter lustig machen, zumal ich ihn als einen befreundeten Geist betrachtete. Die Männer und Frauen seines Hauses liebten ihren Lebensstil. Sie schätzten es, in den Pub zu gehen, ein zwei Pints zu trinken und sich vielleicht noch an einem Hals zu laben. Ich war dort und habe es selbst erlebt. Bromleys Frau, eine wirklich attraktive siebenhundertjährige Vampirdame singt im Kirchenchor und ist fest in die Gemeindearbeit eingebunden. Lord Peter spielte mit dem Vikar regelmäßig Schach. Einer seiner Vampire arbeitete sogar als Lehrer in der örtlichen Schule. Sein Unterrichtsraum ist wenig überraschend fensterlos. Eigentlich widersprach es dem isolotianistischem Anspruch des Hauses Bromley, sich doch verhältnismäßig stark in das Dorfleben einzubinden. Lord Peter erklärte mir diesen Widerspruch folgendermaßen: Die Familie kannte die Dorfbewohner und die Dorfbewohner kannten die Familie. Staffordshire war Lord Peters Heimat, was auch seine Bevölkerung miteinschloss. Vielleicht machte genau dies das Wesen seines Isolotianismus aus. Ihm reichte, was er hatte. Er brauchte kein weltumspannendes Netzwerk eines multinationalen Konzerns wie die Varadin International Holding. Ihn verlangte auch nicht nach Macht und Einfluss. Lord Peter reichte seine kleine Welt, wofür ich ihn beneidete. Allerdings wusste ich auch, dass sein Weg niemals der meinige sein konnte. Wir alle waren unseren Müttern und Vätern, unserer Blutlinie verpflichtet, was für mich, den letzten Kodiac bedeutete, dem Weg zu folgen, den mein Vater für mich bereitet hatte.

Doch zurück zu den Bromleys. Um ungestört und vor allem unverdächtig in Staffordshire leben zu können, hatte Lord Peter die ganze Region mit einem leichten hypnotischen Bann überzogen. Schwach genug, um nicht selbst aufzufallen, aber gleichzeitig auch stark genug, um die kleinen Besonderheiten unserer Art aus den Gedanken der menschlichen Bevölkerung zu verbannen. Ich hatte es selbst erlebt. Lord Peter und seine Familie waren allseits beliebt und gern gesehene Gäste. Dass er im Pub außer seinem Glas Ale auch noch den einen oder anderen Schluck Blut trank, fiel, Vampirruf sei Dank, nicht weiter auf. Man könnte sagen, seine Lordschaft hatte sich recht gut eingerichtet. Wer auf ein beschauliches und überschauliches Leben stand, hätte in einem Haus wie dem der Bromleys durchaus glücklich werden können.

Um zur Ausgangsfrage zurückzukehren: Was hieß es, ein Vampir zu sein? Die Antwort lautete nach wie vor: Es kommt drauf an. Alle Häuser waren verschieden. Selbst zwischen sehr eng befreundeten Häusern, wie Onkel Vladimirs und meinem, gab es erhebliche Unterschiede, mit denen wir bei der anstehenden Fusion noch genug zu kämpfen hatten. Ein Aspekt blieb aber in allen Fällen gleich. Unser Leben unterlag komplexen Regeln. Das Wissen um unsere Existenz war geheim und musste vor den Menschen verborgen bleiben, von einzelnen Ausnahmen abgesehen. Genau hier begannen die Probleme: Wie verwandelte man jemanden in einen Vampir, ohne Aufsehen zu erregen?

Wie wird man ein Vampir?

Der Knackpunkt war, dass der verwandelnde Biss nicht etwa den Endpunkt des Wegs, sondern dessen Anfang darstellt. Das Hauptproblem bestand darin, als Mensch von der Bildfläche verschwinden zu müssen. Doch wie? Der betreffende Mensch wuchs schließlich nicht im luftleeren Raum auf. Er hatte eine Familie, Freunde, Arbeitskollegen oder in seinen jüngeren Jahren Mitschüler. In letzter Zeit waren dann auch noch die sozialen Netzwerke wie Facebook oder Twitter hinzugekommen. Jeder Mensch war in ein soziales Umfeld eingebunden und hinterließ auf Schritt und Tritt Spuren in seiner Umwelt. So jemand konnte nicht einfach verschwinden. Wie würde Bastians und Phillips Umfeld reagieren, wenn wir sie in zwei Vampire verwandelten und sie daraufhin von der Bildfläche verschwinden würden? Was würden ihre Eltern anstellen? Sie würden wohl kaum akzeptieren, die beiden ohne Erklärung verloren zu haben und alle Hebel in Bewegung setzen, um ihr Schicksal in Erfahrung zu bringen. Und die beiden Jungs? Würden sie wirklich ihr bisheriges Leben aufgeben können oder gar wollen? Ich bezweifelte es doch arg und glaubte, die zwei ahnten so langsam, auf was sie sich wirklich einließen.

»Wie macht ihr das denn, wenn ihr jemanden verwandeln wollt?«, wollte Basti wissen.

»Kniffelig. Früher, vor dem zweiten Weltkrieg, war es sehr viel einfacher. Wenn ein Mensch verschwand, hat das oft niemanden wirklich interessiert. Denn Menschen verschwanden. Heute ist es anders. Eine Möglichkeit bieten inszenierte Unfälle, bei denen es nicht ungewöhnlich ist, wenn keine Leiche gefunden wird. Recht beliebt ist das Alleinseglerszenario. Wenn nur ein leeres Segelboot auf dem Atlantik aufgefunden wird, wird davon ausgegangen, dass der Skipper sich wohl überschätzt hat und über Bord gegangen ist. Feuerunfälle sind ebenfalls möglich, setzen aber voraus, dass das Feuer lange und heiß genug brennt, damit niemand auffällt, dass die Biomasse fehlt.«

»Junge, bist du morbide«, meinte Phillip.

»Bin ich? Aber denkt mal nach. Jeder kennt die Geschichte vom Ehemann, der eben mal kurz Zigaretten holen ging, aber nie wieder zurückkehrte. Glaubt ihr, dass das wirklich so einfach funktioniert? Da wird die Polizei eingeschaltet und eine Vermisstenanzeige aufgegeben. Was meint ihr: Geben eure Eltern euch einfach so auf? Aber das ist nur die eine Seite. Es ist ja nicht so, dass wir die Frage das erste Mal erörterten. Und wie bisher auch, will ich euch euren Wunsch nicht ausreden. Wenn ihr euch aber wirklich für unsere Welt entscheidet, dann müsst ihr euch dessen absolut sicher sein und die Konsequenzen kennen. Was ist zum Beispiel mit euren Freunden? Könnt ihr ohne sie leben? Bastian, du stehst kurz davor, den Titel eines Schachgroßmeisters zu erlangen. Willst du das aufgeben?«

»Es läuft immer wieder auf die gleiche Frage hinaus, oder?«, grummelte Bastian, »Aber warum muss es so sein? Constantin, wir wollen nicht anmaßend sein, aber was spricht dagegen, für eine Weile in beiden Welten zu leben? Wenn das wirklich stimmt, was du sagst und es für euch immer schwerer wird, jemanden diskret und ohne Aufsehen zu erregen, in einen Vampir zu verwandeln, dann wäre es vielleicht angebracht, das Verfahren zu überdenken.«

Der Kerl hatte einen wunden Punkt getroffen. Es hatte Gründe, warum Simon für über sechzig Jahre unser einziger Neuzugang war. Vielleicht mussten wir wirklich etwas an unserer Verwandlungspraxis ändern. Einen kompletten Bruch in der Biographie, wie er bisher üblich war, ließ sich kaum noch realisieren. Dazu waren die meisten Menschen in ihren sozialen Netzen viel zu verwoben, egal ob am Arbeitsplatz, in der Familie oder im Freundeskreis. Aus Gesprächen mit anderen Häusern wusste ich, dass wir mit diesem Problem nicht allein waren und jeder nach einer Lösung suchte, bevor die Häuser überalterten. Denn obwohl wir sehr, sehr langsam alterten und unsere Lebenserwartung astronomisch hoch war, benötigten wir junge Menschen, die uns mit dem Hier und Jetzt verbanden.

Manche Häuser wichen in Regionen der Welt aus, in der ein Leben nicht viel zählte und niemand sich aufregte, wenn ab und an ein Mensch von der Bildfläche verschwand. Nachdem die chinesische Regierung die Ein-Kind-Familie als politisches Ziel propagierte und mit harten Sanktionen durchzusetzen begann, kam es immer wieder vor, dass Eltern, die statt eines erwünschten Sohns eine Tochter bekamen, diese kurzerhand entsorgten, das heißt ermordeten. Mindestens ein Haus rekrutierte seinen Nachwuchs aus dieser Quelle. Andere hatten sich auf die Armutsviertel süd- und mittelamerikanischer Großstädte wie Rio de Janeiro oder Mexico-City konzentriert, in denen oft erbarmungslose Kriege zwischen verfeindeten Drogenclans wüteten und ein Leben wenig bis nichts zählte. Kindersoldaten in Uganda, Waisenkinder aus Rumänien, aus politischen Gründen zum Tode verurteilte Chinesen, Talibanopfer in Afghanistan, die Liste des menschlichen Grauens war lang und wurde von Tag zu Tag länger. Ich verfolgte die Entwicklung mit gemischten Gefühlen. Einerseits stellte jeder und jede, die auf diese Weise in einen Hämophagen verwandelt wurde, ein gerettetes Leben dar, auf der anderen Seite änderte es nichts, rein gar nichts am erbärmlichen Zustand unserer Welt. Außerdem war ich mir der Ethik dieses Vorgehens nicht sicher. Verhielten wir uns nicht genauso wie rücksichtslose Großkonzerne, nur dass wir statt Bodenschätzen Menschen raubten? Es musste einen anderen Weg geben.

»Was schwebt euch vor?«, wollte ich von den beiden Jungs wissen.

»Es ist nur so eine Idee, aber was spricht wirklich dagegen, in beiden Welten zu leben?«, fragte Phillip, »In ein bis zwei Jahren sind wir mit unseren Studium durch und werden aller Voraussicht für Varadin International arbeiten. Hey, wir arbeiten jetzt schon als Werksstudenten für dich. Ich könnte mir vorstellen, dass es für die Personalabteilung ein Leichtes wäre, uns in fensterlose Büros zu verfrachten. Bei unseren Freunden müssten wir uns etwas einfallen lassen, warum wir plötzlich gegen Sonnenlicht allergisch sind. Vielleicht eine Lichtallergie als Spätfolge der Infektion?«

»Ihr habt euch das alles schon genau überlegt, was?« Ich musste grinsen und fühlte mich auch geschmeichelt, dass die beiden Mitglieder meiner Familie werden wollten. »Aber ich muss zugeben, dass ihr da ein paar wirklich gute Argumente habt. Vielleicht ist es wirklich an der Zeit, unsere Vorgehensweisen zu hinterfragen. Es gibt andere Möglichkeiten, unser Geheimnis zu schützen. Lasst mich darüber nachdenken.«

»Tu das!«, meinte Basti entschlossen. Breit grinsend packte er mein Handgelenk und zog mich zu sich heran, »Und nun, mein lieber Constantin, wirst du etwas essen.«

In den fünfeinhalb Jahren, die Bastian und Phillip Christianos und meinen Speiseplan bereicherten, hatten sich ihre Besuche mehr und mehr in sinnliche Tête-à-Têtes verwandelt – auf gut Deutsch: Wir hatten Sex, leidenschaftlichen, handfesten, genussvollen und liebevollen Sex. Bastian war ein stämmiger, muskulöser Brummer, den ich einfach gerne in meinen Armen hielt und der es genoss, handfest genommen zu werden. Basti war der Typ, der wie ein wilder, ungezähmter Hengst bezwungen werden wollte. Er liebte dieses Spiel von Dominanz und Unterwerfung, was erstaunlich war, da er von den beiden sonst der introvertierte und emotionalere war.

Auch wenn er am Ende meist unten lag und dies eigentlich auch wollte, bestand der Weg dahin zumeist aus einem wilden und sehr erotischen Ringkampf. Bis ich ihn ans Bett festgepinnt hatte, seine gespreizten Arme an deren Handgelenken gegen die Matratze gedrückt hatte und auf seine Beinen saß, war es stets ein weiter Weg. Das Spiel war pures Klischee, aber beim Sex natürlich erlaubt. Meine Rolle war ebenso banal wie naheliegend: Kaum hatte ich mein vermeintliches Opfer überwältigt, fuhr ich meine Zähne aus und näherte mich in hochdramatischer Pose seiner Halsschlagader. Christiano und Phillip neigten meist dazu, sich bei diesem Schauspiel zweifelhafter Qualität köstlich zu amüsieren. Basti reagierte darauf meist gespielt beleidigt und meinte: »Jedem Tierchen sein Pläsierchen, ja?«

Philips Pläsierchen war dementsprechend ein vollkommen anderes und stand ebenfalls im Widerspruch zu seinem sonst sehr extrovertierten und rationalen Charakter. Der Mann lechzte nach gefühlvollem Vollkörperkontakt. Phillip war eine Klette, ein Klammeraffe, der einen umschlang und nie mehr loslassen wollte. Ich glaube, er wäre, wenn dies möglich wäre, am liebsten mit einem verschmolzen. Ich habe nie einen anderen Mann erlebt, dem es so sehr nach Berührungen verlangte, wie ihm, sie aber auch ebenso intensiv erwiderte. Das Liebesspiel mit ihm sinnlich zu nennen, wäre die reinste Untertreibung. Die beiden Jungs waren wirklich wie Pfeffer und Salz.

Während ich noch über die zwei Männer sinnierte, hatte Basti damit begonnen, mein Hemd und meine Hose aufzuknöpfen und mich aus den Kleidungsstücken zu schälen. Parallel dazu hatte Phillip sich seiner Klamotten entledigt und war nackt unter die Decke des großen Betts des Gästezimmers geschlüpft. Ich atmete kräftig ein und ließ die mit dem Duft der beiden angefüllte Luft durch meine Nase strömen. Die letzten Hüllen fielen, sowohl bei mir als auch bei Basti. Als letztes entledigte er sich seines Slips, der die Erektion seines besten Stück sowieso kaum noch im Zaum halten konnte. Ebenfalls nackt krochen wir zu Phillip, der uns einladend die Bettdecke hoch hielt.

»Du weißt, dass wir dich lieben?«, flüsterte Basti mir ins Ohr. Ich lag zwischen meinen beiden menschlichen Freunden. »Du hast uns nicht nur unser Leben gerettet, du hast uns erlaubt, wir selbst zu sein.«, vernahm ich an meinem anderen Ohr. »Endlich können wir uns bei dir bedanken.«

Wie auf Kommando wurde ich von ebenso leidenschaftlichen, wie liebevollen Küssen überzogen. Statt den sonst üblichen Spielchen begannen mich vier Hände zu streicheln, zu liebkosen, wobei diese eine Technik anwendeten, die meine eh schon massive Geilheit in ungeahnte Höhen trieb. Die Kerle wussten offenbar ganz genau, auf welche Knöpfe sie drücken mussten, um mich in einen sabbernden Idioten zu verwandeln.

»Uhhhh!«, stöhnte ich, als Phillip meinen Schwanz in seinen Mund gleiten ließ und damit begann, ihn nach allen Regeln der Kunst zu blasen. Es kam, wie es kommen musste: Meine Zähne fuhren aus. Aber darauf hatte Bastian nur gewartet. Er robbte zu mir heran, sah mir tief in die Augen und meinte: »Beiß mich! Trink von mir!«

Das Ausrufezeichen seiner Aufforderung war noch nicht verklungen, da steckten meine Saugzähne bereits tief in seiner Arteria Carotis. Ein Schauer durchfuhr seinen Körper, während sein Herz einen satten Schwall Blut nach dem anderen in meinen Mund beförderte, die ich gierig schluckte. So frisch, kraftvoll und lebendig sein Blut auch sein möchte, bei gut 300 Millilitern stoppte ich meine Attacke und versiegelte die Einstichstelle. Basti zuckte. Aus dem Schauern wurden kräftige Spasmen als ihn sein Orgasmus erfasste und sich sein Schwanz in Phillips gierigen Mund entlud, der kurz zuvor seine Blastätigkeit von mir zu seinem Freund verlagert hatte.

Frisches, direkt gezapftes Blut. Wie lange hatte ich auf diese ebenso köstliche wie lebensnotwendige Substanz verzichten müssen? Zu lange, viel zu lange, als dass es keine Reaktion bei mir hervorgerufen hätte. Hinzu kam, dass es sich um das Blut eines vierundzwanzigjährigen, gesunden und sportlichen Mannes handelte. Es war perfekt, eine pure Infusion Lebens, die meine sexuelle Erregung exponenzierte. Obendrein stieg mir der Duft Bastis frischen Spermas in die Nase, welcher in meinem Gehirn reihenweise Zellen kurzschloss.

»Ich will dich?«, entwich es meinen vampirzahnbewehrten Mund. Mit einer blitzschnellen Bewegung hatte ich mir Phillip gepackt und mit seinem Rücken vor meiner Brust postiert. Langsam aber unaufhaltsam zog ich den Mann dichter an mich heran, sodass einerseits mein Kopf neben dem seinen zu liegen kam und ich ihm über den Hals lecken konnte, sich andererseits aber auch mein Schwanz einen Weg zwischen die beiden Hälften seines knackigen Hinterns bahnte.

»Ja! Ich will dich auch!«, japste Phillip und beantwortete meine angedeutete Frage. Dies war neu. Sex mit Phillip, das war bisher Schmusen, Wichsen und gepflegtes gegenseitiges Blasen. Doch in ihn einzudringen und mit ihm zu verschmelzen, war neu und ich mir auch nicht sicher, ob er es wollte. Seine Antwort schaffte Klarheit und eine ordentliche Portion Gleitgel für die nötige Schmierung. Lust und Verlangen, sowie Zuneigung und Liebe bestimmten mein Handeln. Natürlich wollte ich auf meine Kosten kommen, aber ich wollte ebenso, dass die Welt für meinen Partner explodierte und er sich in den siebten Himmel katapultiert fühlte: Ich wollte, dass Phillip den Ritt ebenso genoss, wie ich.

Phillip wurde gleichzeitig von meinen Fangzähnen als auch meinem Schwanz penetriert. Ich drang gleich doppelt in ihn ein, drückte mich so dicht und eng an ihn, dass er wirklich das Gefühl bekam, mit mir eins zu werden. Auch wenn es anders klingen mag, war an all dem nichts gewalttätiges. Ich ging zwar nachdrücklich und kraftvoll zur Sache, die Stöße meiner Lenden waren lang und intensiv. Aber gleichzeitig überflutete ich den Mann in meinen Armen mit einer Welle von Zuneigung, Dankbarkeit und Liebe. Statt mit den Zähnen zu saugen, pumpte ich ein wenig meines mit erregenden und luststeigernden Substanzen versetzten Vampirspeichels in Phillips Blutbahn. Erst als ich spürte, selbst bald zu kommen, begann ich zu trinken.

Wir kamen gleichzeitig. Ich entlud mich in Phillip, der sich wiederum in den Mund Bastians entleerte, welcher genüsslich am Schwanz seines Freundes zuzelte. Das Gästezimmer war erfüllt von Stöhnen, Keuchen, Schmatzen und Röcheln, den untrüglichen Geräuschen leidenschaftlichen und erfüllenden Sexes, welche nach einem momentanen Geräuschmaximum von einer glücklichen und zufriedenen Stille gefolgt wurden. Wir zupften die Bettdecke zurecht, robbten dichter aneinander und schlummerten in der Geborgenheit des anderen ein.

Offenbar steckte mir Ricardos Rosskur tiefer in den Knochen, als ich vermutet hatte. Anders konnte ich mir nicht erklären, warum ich geschlagene zwei Stunden wie ein Stein schlief. Dass meine beiden Freunde schlummerten, war hingegen weniger verwunderlich. Sie waren Menschen, deren Körper sich von meinen Biss erholen mussten. Zwei Ursachen – eine Wirkung. Basti erwachte als erster und goss sich und Phillip ein Glas Orangensaft ein. Ich hätte zu gerne gewusst, warum ausgerechnet Orangensaft nach einem Vampirbiss die Lebensgeister zurückbrachte und so überaus erfrischend wirkte.

»Danke«, murmelte Phillip und leerte sein Glas, während er sich weiter an mich kuschelte, woraufhin Basti ins Bett zurückkehrte und meine andere Körperseite in Beschlag nahm.

»Ich habe nachgedacht.«, eröffnete ich den beiden Jungs meine Überlegungen, »Ich glaube, wir sollten es tun. Wenn es euer aufrichtiger Wunsch ist, Hämophagen zu werden, dann soll es geschehen. Wir werden noch ein paar Vorbereitungen treffen müssen. Außerdem steht mir noch eine wichtige Ratssitzung bevor, die über mehr als nur meine Zukunft entscheiden wird. Ich muss euch also noch um etwas Geduld bitten. In einer Woche sollte ich aber mehr wissen und euch eine Antwort geben können.«

»Du meinst das ernst, oder?«, wollte Phillip wissen, »Du wirst uns verwandeln?«

Genau das hatte ich nicht vor, weswegen ich meinen Kopf hin und her wiegte.

»Ich bin mir nicht sicher, ob ich es sein werde. Eure Idee, für eine Weile in beiden Welten leben zu wollen, ist viel zu interessant, um ihr nicht nachzugehen. Es gibt einen Vampir, der genau diese Vision zurzeit lebt: Florian, der Mann, den ich liebe, obwohl ich im Moment nicht so genau weiß, wie er zu mir steht. Es ist kompliziert. Aber ich sagte ja, dass ich noch ein wenig darüber nachdenken muss.«

»Du willst uns abschieben?«, fragte Basti geknickt.

»Nein, niemals. Ganz im Gegenteil.«, ich angelte nach den beiden und zog sie dichter zu mir heran, »Es hängt alles von der Entwicklung der nächsten Tage ab.«

Die Tristesse des Arbeitsalltags

Florian

Montag, 6:00 Uhr – der Beginn eines neuen Arbeitstages. Während sich Nicolas noch im Bett räkelte, krochen Christiano und ich unter die Dusche. Nach der Samstagnacht geführten Diskussion, hatten wir den Sonntag ruhig angehen lassen und bis zum Nachmittag das gemacht, was man als Vampir so macht. Wir hatten geschlafen und uns erholt. Den Abend verbrachten wir im X, der Lederbar, in deren Darkroom auch am Sonntag noch etwas los war. Unsere Motivation bestand allerdings weniger in der Suche nach Sex, sondern Hälsen, an denen wir saugen und uns stärken konnten. Für Nicolas war es eine völlig neue Erfahrung, direkt von der Quelle zu zapfen. Im Kloster gab es zwar frisches, sogar sehr frisches Blut, aber eben nur Konserven aus dem Becher. Die Nosferatu waren, im Gegensatz zu uns Vampiren, nicht auf die direkte Variante angewiesen. Da das Ritual Nicolas in Richtung Vampir verändert hatte, musste er von nun an hin und wieder ebenfalls auf die Jagd gehen. Zum Glück entpuppte er sich als ein Naturtalent, sowohl was die Bisstechnik als auch den Einsatz des Vampirrufs betraf.

Nach der Dusche folgte die leidige Prozedur, unsere Körper gegen Sonnenlicht zu härten, das hieß, Sunblockerlotion auf alle Hautpartien aufzutragen und unsere UV-Filterkontaktlinsen einzusetzen. So gewappnet gönnten wir uns ein normales menschliches Frühstück, bestehend aus Orangensaft, Kaffee und Brötchen mit Wurst und Konfitüre. Vom Kaffeeduft angezogen, hatte sich Nicolas zu uns gesellt.

»Frühstück?«, wollte er wissen.

»Frühstück! Ich liebe Kaffee und Knoblauchsalami.«, erklärte Christiano, »Du weißt, wie das Appartement funktioniert?«

»Ja, ich habe mir die Zugangscodes eingeprägt und weiß, wie ich das Gebäude unauffällig verlassen kann. Ich glaube zwar nicht, dass ich es tun werde, aber wer weiß, wozu es gut ist.«

»Wenn dir deine Mönchskutte über sein sollte findest du passende Kleidung im Schrank. Du bist zwar etwas kräftiger gebaut und auch etwas größer, aber mit etwas Suchen solltest du fündig werden. Sunblocker und frisch versiegelte Kontaktlinsen sind im Badezimmer.«

»War das als Drohung gemeint?«, stichelte Nicolas breit grinsend.

»Drohung? Eher Zivilisation näherbringen.«

Nach anfänglichen Schwierigkeiten kamen Christiano und Nicholas gut miteinander klar. Ich hatte sogar den Eindruck, dass sie sich auf eine kumpelhafte Weise angefreundet hatten, was insoweit die Hoffnung nährte, dass unsere Häuser, so klein meins noch war, vielleicht ebenfalls freundschaftlich zusammenwuchsen.

»Flo, wir müssen los!«

Mit einem Fingerzeig auf seine Armbanduhr blies Christiano zum Aufbruch. Da das Wetter sich gütlich zeigte – der Himmel war von einer Wolkendecke verhüllt, bei gleichzeitig sommerlich warmer Temperatur – wählten wir die Harley als Transportmittel. Mit dem Motorrad sollten wir auch noch ein paar Minuten aufholen können. Im Schnitt brauchten wir mit dem Auto, selbst mit Christianos Sportwagen, gut acht Minuten länger.

Tatsächlich brauchten wir sogar zwölf Minuten weniger als mit dem Auto, wobei Christiano die Regeln des Straßenverkehrs deutlich großzügig zu seinen Gunsten auslegte. Am Ende erreichten wir Niederreuter zur absoluten Stoßzeit. Ein Großteil der Montagetrupps war gerade damit beschäftigt, ihre Werkstattwagen mit Material zu beladen. Auch zwei Kollegen aus meinem Trupp, Marco und Jan, konnten wir an den Transportern ausmachen, wie sie gerade lange Vierkanthölzer auf die Ladefläche schoben.

»Florian«, rief Jan, der uns als erstes entdeckte, alles stehen und liegen ließ und auf uns zu rannte, »Mensch, das ist ja schön, dass du wieder da bist. Geht es deinem Magen wieder gut?«

Meinem Magen? Für einen Moment wusste ich nicht, was Jan eigentlich meinte, bis mir einfiel, dass mir Christiano eine Legende gebastelt hatte, um meine Abwesenheit zu erklären. Demnach hatte ein fieser Virus meinen Magen-Darm-Trakt durcheinander gebracht. Da zur damaligen Zeit in unserer Gegend gerade der humane Norovirus sein Unwesen trieb, wurde meine Krankmeldung nicht wirklich hinterfragt. Für den gelben Schein sorgte ein mit Christiano befreundeter Mediziner, dessen Spezialität, sehr überraschend, eigentlich bei Blutkrankheiten lag.

»Hör bloß auf!«, demonstrativ fasste ich mir an den Bauch, »Ich habe mir Leib und Seele ausgekotzt und ausgeschissen, aber jetzt geht es mir wieder gut.«

Das war noch nicht einmal gelogen. Nach dem Servius-Novatin hatten Nicolas und ich tatsächlich mit den eben beschriebenen körperlichen Reaktionen zu kämpfen gehabt. Die beiden Kollegen schienen redlich erfreut zu sein, mich zu sehen. Früher war das anders.

»Es wurde echt Zeit, dass du wieder da bist.«, meinte Marco mit echter Freude in der Stimme. Allerdings hatte ich den Eindruck, dass unterschwellig Nervosität mitschwang. Wie schon zuvor gewann ich den Eindruck, dass meinen Kollegen etwas belastete. »Ich weiß nicht, was dich geritten hat, ausgerechnet mir die Leitung der Baustelle aufzuhalsen. Du machst dir keine Vorstellung davon, wie die Jungs mir auf der Nase rumtanzen.«

»Och komm«, wandte Christiano verschmitzt ein, »Wir haben dich nur ein ganz klein wenig gepiesackt.«

Als Antwort ernteten wir nur ein Grummeln. Ich wollte gerade noch etwas sagen, als der Rest der Mannschaft aufkreuzte und zu uns kam. Wie zuvor Marco und Jan, freuten sich die Kollegen, mich wiederzusehen. Selbst Mario quälte sich ein nicht allzu feindliches Grunzen ab.

Eine Viertelstunde später wären wir prinzipiell aufbruchbereit gewesen, hätte mich Niederreuter nicht nochmals in sein Büro gebeten. Viel Neues erfuhr ich nicht. Der Chef wollte mir ebenfalls nur mitteilen, dass er sich über meine Genesung freute und mir alles Gute wünschte. Der Bauherr sei voll des Lobes über unsere Arbeit und schwärmte von uns in den höchsten Tönen. Es wären sogar schon Anfragen eingetroffen, ob wir noch Kapazitäten für andere Baustellen mit ähnlicher Sachlage frei hätten. Nach diesen und anderen zwar netten aber wenig produktiven Worten, durfte ich endlich zurück zu meinen Kollegen und wir alle zusammen aufbrechen.


»Marco, das ist fantastisch!«

Die Entscheidung, während meiner Abwesenheit Marco die Leitung der Baustelle zu übertragen, entpuppte sich als vollkommen richtig. Mehr noch, endlich richtig gefordert und nicht zum Handlanger Momsens oder anderer inkompetenter Meister degradiert, zeigte unser Kollege sein wahres Talent. Die Baustelle war kaum wiederzuerkennen. Die Kollegen waren gut vorangekommen. Die Pilzgiftinjektionen waren so gut wie abgeschlossen, die Wände abgeflammt und die kontaminierte Zwischendeckenschüttung entsorgt. Die gesamte Baustelle war sauber und aufgeräumt, als sollte sie für ein Lehrbuch in Schwammbekämpfung herhalten.

»Ich habe nur deine Planung umgesetzt.«, gab Marco das Kompliment zurück. »Bis auf die Segmente D7 bis D9 sind wir mit den Reinigungsarbeiten durch. Wir haben den Bereich mit Folien abgetrennt, um eine Neuinfektion der bereits gereinigten Bereiche mit Pilzsporen zu verhindern. Wenn die letzten Mycelnester entsorgt sind, wollte ich nochmals alles abflämmen und mit Fungizidlösung absprühen. Bevor wir dann die Decke wieder aufbauen, sollten Proben gezogen werden.«

»Wieso bin ich eigentlich zurückgekommen? Du scheinst ja alles fest im Griff zu haben.«

»Oh, nein.«, Marco schüttelte energisch den Kopf, »Ich kann Planungen umsetzen, Arbeit verteilen, Baustoffe und Werkzeuge organisieren. Du bist der Planungsmann.«

Was ich auch immer sein mochte, war mir ziemlich egal. Eine Baustelle wartete auf uns. Statt sofort wieder selbst das Ruder zu übernehmen, entschieden wir, bis zum Abschluss der aktuellen Bauphase Marcos Arbeitsplan zu folgen. Inzwischen wussten meine Kollegen, wie ich tickte und wunderten sich nicht. Jeder anderer Bauleiter hätte sofort wieder die Kontrolle an sich gerissen und manche Typen, wie Momsen, es dabei auch nicht belassen, sondern aus Prinzip seinen Vertreter zusammengeschissen und sämtliche Arbeitspläne auf den Kopf gestellt. Mir hingegen war der Erfolg wichtiger als ein moralisch zweifelhafter Egotrip.

Umso lockerer ging sich die Arbeit in unserem kleinen Kreis an. Wir schafften konzentriert und gleichzeitig entspannt. Nach der Zeit im Kloster mit haufenweise unheimlichen Nosferatu, dem Ritual, noch mehr Vampiren und Nosferatu, Nicolas, Albrecht, Jost, Bruder Markus, einem mystischen Bruder Theodor, Petrus, Simon und nicht zuletzt Tamir, nach Himmel und Hölle, höchster Spiritualität und Qual, war die Arbeit auf der Baustelle, das Arbeiten mit Holz erfrischend real, bodenständig und erdend. Ein Werkzeug in der Hand zu halten, Holz unter meinen Fingern zu fühlen, es zu formen, zu sägen und hobeln, war purer Genuss.

»Hey, hey, hey, Flo, mach mal halblang.«

Wie lange hatte ich vor mich hin gewerkelt? Eine Hand legte sich auf meine Schulter. Hans, unser Springerkollege, schob sich in mein Blickfeld.

»Mach Pause, Junge!« Die Ansage war ebenso freundlich wie sie jeglichen Widerspruch ausschloss, »Florian, du arbeitest wie ein Besessener. Ging es dir so schlecht, dass du die Woche an einem Tag nachholen musst?«

»Ich, äh...«

Ich sagte lieber nichts und befolgte Hans Rat. Während der mir einen Kaffee aus unserem Baucontainer holte, fiel mein Blick auf eine Uhr, die die Stirnseite unserer Baustelle zierte. Erschrocken stellte ich fest, dass es bereits halb drei war. Die Zeit war vollständig an mir vorbei geflogen, während ich wie in Trance geastet hatte. Erst der Kaffee und die Pause brachten mich zurück in die Realität. Etliche Stufen runter gekommen schlenderte ich, die Tasse mit dem Bohnenaufguss in einer Hand, umher und machte Pause. Erst eine halbe Stunde später kehrte ich zur Baustelle zurück.

»Fertig!«, verkündete Marco, »Für heute können wir zusammenpacken. Damit sollten die letzten Reste des Drecksschwamms raus sein.«

Feierabend – nichts ist befriedigender, als vorzeitig Schluss machen zu können. Wir hatten unser Tagessoll erfüllt, und da es nichts Sinnvolles zu beginnen gab, konnten wir eineinhalb Stunden früher aufbrechen. Eine Viertelstunde später saßen wir in den Transportern und fuhren heim.

»Die Stimmung im Trupp ist gut.«, bemerkte ich zu niemand bestimmtem, während der Wagen über die Landstraße rollte.

»Sie war nie besser.«, erwiderte Jan, »Du hast eine Menge verändert. Selbst Mario verhält sich halbwegs zivilisiert. Wir haben sogar schon Anfragen von anderen Trupps erhalten, ob wir nicht noch Leute bräuchten. Ich kann's verstehen. Wenn ich mit Typen wie Momsen zusammenarbeiten müsste, würde ich auch wechseln wollen.«

Sprach's und drehte das Radio an. Den Rest der Fahrt herrschte Party an Bord. Albern war gar kein Ausdruck. Marco entpuppte sich als Quelle wirklich abgrundtief schlechter Witze. Da unsere Stimmung aber jenseits von gut war, störte es auch nicht, dass er die Pointen sämtlichst meuchelte. Am Ende lachten wir mehr über sein schlechtes Timing, als über seine schlechten Witze. Genau das war der Moment, an dem Christiano begann, seine eigenen Brecher von der Leine zu lassen. Oh Mann, der Kerl kannte Teile, die selbst der abgebrühtesten Hafennutte die Schamesröte ins Gesicht getrieben hätte. Nach dieser Vorlage meinte Marco sich in einem Wettbewerb zu befinden und legte seinerseits nach. Das Niveau sank auf unterirdische Werte. Es war uns egal, wir hatten Spaß.

Entsprechend ausgelassen trudelten wir bei Niederreuter ein. Wir waren so sehr damit beschäftigt, uns die Bälle, das heißt Stichworte zuzuwerfen, dass ich überhaupt nicht bemerkte, wie wir alle zusammen in der Dusche landeten. Dies wurde mir erst wieder bewusst, als mich jemand ziemlich unsanft anrempelte.

»Pass gefälligst auf, du Arschficker!«

Von einer Sekunde auf die andere kippte die Atmosphäre von ausgelassen und albern auf hasserfüllt. Andreas, einer meiner Vergewaltiger und Besucher des X, derjenige, der mich mit Hep C infiziert hatte, stierte mich drohend und lauernd an. Im Bad wurde es totenstill. Ein Brausekopf nach dem anderen verstummte, nachdem ihre Benutzer versäumten, die Duschknöpfe in regelmäßigen Abständen zu drücken. Die einzigen Geräusche bestanden in herabfallenden Wassertropfen, da alle anwesenden Kollegen gespannt die Luft anhielten und ihre Ohren spitzten.

»Hast du mich verstanden?«, hakte mein Gegenüber nach.

»Vielleicht?«

Andreas Frage mit einer vollkommen unlogischen Frage zu kontern mochte nicht wirklich schlau sein, gab mir aber ein wenig mehr Zeit, um nachzudenken. Wie sollte ich reagieren. Körperlich war mir der Typ tausendfach unterlegen. Wenn ich wollte, konnte ich die Dusche mit ihm auffeudeln. Nur war das schlau? Andreas auch nur zu berühren stand außer Frage. Während der mich mit seinen Augen fixiert hielt, ließ ich meinen Blick von Marco, unter der Brause neben mir, zu Christiano springen. Vielleicht hatte der eine Idee, wie in einem solchem Fall zu reagieren war. Von meinem Freund erhielt ich ein zwar nur angedeutetes, aber für mich sehr eindeutiges Kopfschütteln. Es war klar, was mir der Portugiese riet, nämlich eine physische Klärung der Situation unbedingt zu vermeiden. Aber das wusste ich selbst. Jede handfeste Entgegnung, die Andreas auch nur ansatzweise in seine Schranken wies, hätte Fragen aufgeworfen, die wahrscheinlich zur Aufdeckung unserer wahren Identität als Vampire geführt hätte. Was meine menschlichen Kollegen sahen und sehen sollten, war nur ein blondgelocktes Jüngelchen von eher zarter Statur – Florian, das zerbrechliche Engelchen.

»Willst du mich anmachen?« Andreas Augen funkelten bedrohlich. »Soll ich mit dir den Boden der Dusche auffeudeln?«

Interessant, dass ihm die gleiche Idee durch den Kopf ging wie mir, nur mit vertauschten Rollen. Bevor ich die Gelegenheit zu einer mehr oder weniger schlagfertigen Antwort erhielt, schaltete sich für jeden in der Dusche vollkommen unerwartet ein Kollege ein. Marco hatte seine Hand auf Andreas Brust platziert und schob diesen ebenso langsam wie nachdrücklich von mir weg.

»Lass Flo zufrieden!«, fügte mein Teammitglied, für den Fall, dass Andreas die überaus subtile Geste nicht verstand, verbal hinzu.

Der verstand aber nur zu gut und bedachte Marco mit einem flammenden Blick. Andreas Halsschlagadern traten vor mühsam unterdrückter Wut deutlich hervor, dass ich mich konzentrieren musste, nicht meine Zähne auszufahren. Sein Kopf färbte sich rot. Mit zusammengepressten Zähnen und zu Schlitzen verengten Augen, zischte er:

»Meinst du? Bist du jetzt sein Beschützer?«

»Flo braucht keinen Beschützer.«

»Nein?« Andreas wirkte amüsiert, wenn auch mit einem hasserfüllten Unterton »Oh, ich verstehe... Sind wir also Freund mit der Schwester? Weiß dein neuer Freund auch, wie eindrücklich du ihn schätzt?«

»Andreas, ich warne dich...«

»Wovor?«, fiel Andreas Marco ins Wort und brachte ihn damit zum Schweigen, »Erzähl doch mal, was unser Flochen noch vor ein paar Wochen für dich war. Er findet es bestimmt sehr interessant, mit wem er sich eingelassen hat.«

Statt zu antworten, ballte Marco nur seine Fäuste und versuchte Andreas niederzustarren. Der schnaubte, zog etwas Schnodder aus seinem Rachen hoch und rotzte ihn mir entgegen. Der grüngelbe Klumpen verfehlte mein Gesicht und landete auf meiner Brust. Zwei Duschen weiter hörte ich, wie Christiano scharf einatmete und dann nervös die Luft anhielt. Ich konnte seine Angst spüren und muss gestehen, dass sie alles andere als unbegründet war. Andreas ahnte nicht, wie knapp er einem letalen Aderlass entging. Statt meine Eckzähne ihn seine verlockend pulsierenden Schlagadern zu rammen, knallte meine Handinnenfläche auf den Knopf, der die Brause befehligte, Wasser in den Duschkopf zu jagen. Dass bei dieser Aktion mehrere Fliesen Risse bekamen und der Duschknopf ein paar Millimeter in die Wand wanderte, wurde zum Glück nur von Christiano bemerkt. Oder hatte Marco etwas mitbekommen, seine Stirn kräuselte sich erstaunt.

Andreas hingegen fühlte sich in seinem Weltbild bestätigt. In seinen Augen hatte die widerliche Tucke – ich – erwartungsgemäß gekniffen und war der Auseinandersetzung ausgewichen, indem er den Grünländer auf seiner Brust vom Brausestrahl fortspülen ließ. Nicht, dass an seiner Überlegenheit der geringste Zweifel bestand. In einem Zweikampf hätte die Tucke keinerlei Chancen. Schade, dass sie sich nicht wehrte, bedauerte Andreas, der mich zu gerne aufgemischt hätte. Aber immerhin hatte er mich eingeschüchtert, was schließlich auch ein Sieg war. Und so verließ Andreas mit einem zufriedenen Grinsen die Duschen.

Während nach diesem Zwischenfall die meisten Brausen kurze Zeit später wieder ansprangen, blieben Christianos und Marcos stumm. Während der Vampir mir anerkennend zunickte, in der Situation einen kühlen Kopf behalten und nicht unüberlegt gehandelt zu haben, starrte mich der Mensch neben mir mit bibbernder Unterlippe an. An der Raumtemperatur konnte es nicht liegen, die war angenehm hoch.

»Florian?«, begann Marco leise und sehr zögerlich, während er sich ängstlich umschaute, »Ich muss mit dir reden. Aber nicht hier. Können wir...«

»Ja, wir können.«, unterbrach ich Marco ebenso leise »Warte an Christianos Harley auf uns.«

Ein lang erwartetes Geständnis

Wir duschten locker und wenig aufgeregt zu Ende. Wenn Marco etwas mit uns – oder genauer mit mir – diskret besprechen wollte, wäre es ausgesprochen dämlich, durch übertriebene Hektik Aufsehen zu erregen. Ganz im Gegenteil ließen wir uns sogar etwas mehr Zeit als üblich. Dies ließ den anderen Kollegen genug Zeit, sich in den Feierabend zu verabschieden. Je weniger Leute noch anwesend waren, desto geringer liefen wir Gefahr, von neugierigen Augen oder Ohren beobachtet zu werden. Meine größte Sorge galt natürlich meinem geschätzten Meister Momsen. Zum Glück hatte dieser außerhalb unserer Region zu tun und wurde erst am Dienstagabend zurück erwartet.

Es verging dann auch eine gute Stunde, bis wir frisch geduscht und eingekleidet an Christianos motorisiertem Zweirad aufkreuzten. Die Karre parkte auf dem Werkshof Niederreuters. Christiano wollte das teure Stück nicht auf öffentlichem Straßenland stehen lassen. Dafür wurden ihm schon zu viele gestohlen. Vom finanziellen Schaden abgesehen, war es jedes Mal ausgesprochen lästig, die Folgen eines Diebstahls zu beseitigen, angefangen bei der Anzeige bis hin zur Abmeldung bei der Zulassungsbehörde. Christiano meinte, dass er sich sinnvollere Beschäftigungen vorstellen konnte, als Stunden auf irgendwelchen Ämtern zu verbringen und auf Anzeigetafeln mit Wartenummern zu starren. Zum Glück hatte Niederreuter nichts dagegen einzuwenden, dass die Maschine auf dem Werksgelände parkte. Hauptsache, sie stand nicht im Weg, wofür Christiano dadurch Rechnung trug, indem er sie vor der Fensterfront eines Schuppens abstellte, der selten benutzt im hinteren, schwer einsehbaren Bereich des Hofs lag. Als wir dort eintrudelten, war von Marco anfangs weit und breit nichts zu entdecken. Erst als wir direkt neben der Maschine standen, tauchte er aus einer schattigen Nische auf, die zwischen Schuppen und überdachten Lagerregalen mit Vierkantbaubohlen lag.

»Seid ihr allein?«

Unser Kollege wirkte ziemlich nervös, wie er sich ängstlich umsah und den Hof abcheckte. Wir waren allein. Als gebürtiger Vampir hätte ich eigentlich erwartet, über ähnlich ausgeprägte außersinnliche Wahrnehmungen wie Christiano zu verfügen. Aber weit gefehlt. Während der alte Portugiese in menschlichen Gehirnen wie in einem Buch lesen konnte, gelang es mir bestenfalls zu sagen, ob ein Mensch in der Nähe war oder nicht. Immerhin reichte es, dass ich sagen konnte, dass Marco der einzige Mensch im Umkreis von dreißig Metern war.

»Wir sind allein«, bestätigte Christiano, bemerkte Marcos unsicheren Gesichtsausdruck und meinte, »Willst du alleine mit Flo reden?« Noch bevor Marco antworten konnte, fügte er hinzu, »Natürlich willst du.« und ging.

»Ich...«, begann Marco unsicher, um sofort zu verstummen. Der Mann stand ziemlich unter Druck. Um keinen weiteren hinzuzufügen, blieb ich lieber stumm und ließ ihn sich Mut sammeln. Minuten vergingen, während denen Marco ein paar Mal ansetzte, um dann doch nichts zu sagen. Es benötigte keiner Telepathie, um zu ahnen, in welche Richtung die Fahrt ging.

»Flo, ich muss dir etwas beichten. Es geht um das, woran du dich nicht erinnern kannst.«

Richtig getippt.

»Wir, ein paar Kollegen und ich, haben etwas getan, etwas wirklich sehr schlimmes getan...«, Marco konnte mir nicht in die Augen schauen. Aber er war entschlossen, seine Beichte durchzuziehen. Er holte Luft, japste ein, zwei Mal auf und fuhr fort: »Ich habe etwas getan, das unverzeihlich ist. Es frisst mich auf. Ich kann mit dem Wissen um meine Tat nicht mehr leben.«

Die Lippen meines Kollegen vibrierten. Ich konnte sehen, wie es in ihm arbeitete. Um sich zu konzentrieren, begann Marco auf seiner Unterlippe herumzuknabbern und sie zu beißen.

»Wir... Ich...«, Marco kamen die Tränen. Für den Kerl bestand also noch Hoffnung. Er verfügte über ein Gewissen, welches ihn langsam aber sicher auffraß. »Verdammt, ich kann das nicht...«, wimmerte Marco, »Aber ich kann es auch nicht mehr verdrängen. Ich... Scheiße! Es geht nicht anders... Flo, wir haben dich vergewaltigt. Ich habe dich vergewaltigt.«

Damit war die Katze offiziell aus dem Sack. Marco konnte natürlich nicht wissen, dass ich mein Gedächtnis längst wiedererlangt hatte. Der einzige, den ich bisher mit seiner Tat konfrontiert hatte, war Mario, und der hatte allem Anschein nach das Wissen darüber für sich behalten.

»Ich weiß.«, ließ ich Marco wissen, »Ich weiß, was ihr getan habt.«

Die Reaktion meines Gesprächspartners fiel erwartungsgemäß heftig aus.

»Was?«, kreischte er, starrte mich eine Weile fassungslos an und senkte dann wieder seinen Blick. »Du weißt es? Aber warum hast du nichts gesagt? Warum hast du uns nicht angezeigt? Warum sprichst du überhaupt noch mit mir? Wie kannst du es überhaupt noch ertragen, mit mir zusammenzuarbeiten? Ich kann es ja kaum noch. Immer wenn ich dich sehe, muss ich daran denken, was ich dir angetan habe.«

»Marco«, sprach ich meinen Kollegen direkt an und setzte dabei meinen Vampirruf ein. Er konnte nicht anders, als aufschauen und mich ansehen. Marco sah mir in die Augen. Ich lockerte etwas die mentalen Zügel. Er hörte zu, weil mein Ruf ihn dazu animierte. Obwohl ich es konnte, übte ich in diesem Moment keinen Zwang auf ihn aus. Meine Einflussnahme auf seinen Geist war nur so stark, dass es ihm half, seine Unsicherheit zu überwinden. »Marco, es spielt keine Rolle mehr, was du getan hast. Ich bin nicht der Florian, den du missbraucht hast. Diesen Menschen gibt es nicht mehr.«

»Wie? Und das war's?« Im Anstarren konnte Marco niemand das Wasser reichen. Der Mann glotze mich vollkommen entgeistert an. »Flo, bitte, lass mich nicht so in der Luft hängen! Schrei mich wenigstens an! Verfluche mich! Schlag mich! Tu irgendwas! Aber bitte sag nicht, es würde keine Rolle spielen! Jede Nacht wache ich schweißgebadet auf und habe wieder die Bilder von... davon wieder vor Augen.«

»Was erwartest du von mir? Absolution?« Verdammt war ich abgeklärt. Dabei stand es gar nicht in meiner Absicht, Marcos Verzweiflung zu vermehren. Auf der anderen Seite war es seine Entscheidung gewesen, seinen Schwanz ohne meine Einwilligung, in meinem Rektum zu versenken.

»Also gut.« Mein Kollege musste mich nicht unbedingt als Arschloch in Erinnerung behalten. Außerdem stand da immer noch meine Vermutung im Raum, dass Marco mich nicht aus den gleichen Gründen vergewaltigt hatte, als dies die anderen Typen taten. Vielleicht bestand hier die Chance, etwas für unser beider Seelenheil zu tun. »Marco, du weißt selbst am besten, was du getan hast. Niemand hat dich dazu gezwungen. Ich am allerwenigsten. Es ehrt dich, dass du den Mut gefunden hast, zu deiner Tat zu stehen. Es zeigt mir, dass du eigentlich ein guter Kerl bist. Darf ich dir eine Frage stellen? Bist du schwul?«

Marco schnappte nach Luft, war kurz davor zu explodieren und tat es doch nicht. Stattdessen, schrumpfte er zusammen, zuckte mit den Schultern, ließ sie hängen und zog die Mundwinkel schief: »Ja, ich... Woher...?«

»Du warst anders, als ihr mich... nun ja, du weißt schon. Andreas, Mario und die anderen... das war Hass, Verachtung, Erniedrigung und Herrschaft. Die Typen wollten mich fertigmachen und haben ihre Schwänze als Waffe verwendet. Ich würde nicht so weit gehen, zu sagen, dass du den zärtlichen Liebhaber gegeben hast. Aber immerhin war deine Motivation eine andere. Du hast mich bestiegen, weil du Sex wolltest. Oh ja, du wolltest fühlen, genießen. Hat dir eigentlich schon mal jemand gesagt, dass man auch fragen kann?«

Marco sagte eine Weile gar nichts, sondern studierte den plötzlich überaus interessanten Asphalt des Werkstatthofs. Ich meinte, was ich sagte. Es gehörte wirklich eine Menge Mut und Courage dazu, sich seinem Opfer zu stellen.

»Ich wollte das nicht.«, der Kerl schrumpfte vor meinen Augen noch weiter zusammen. Marco verwandelte sich vom Mann zum Buben. Ein paar traurige und ziemlich feuchte Augen schauten mich unterwürfig an. Wahrscheinlich war es ihm selbst noch gar nicht bewusst, aber sein ganzer Habitus, seine Mimik drückte es aus, dass er sein Schicksal in meine Hände legte, und das, wo ich Verantwortung doch so liebte. »Flo, du musst mir glauben. Ich wollte dich nicht vergewaltigen. Als Mario und Andreas dich auf den Tisch drückten, hätte ich sie umbringen können. Ich hasse mich dafür, was ich getan habe, aber als du da lagst... Ich sah nicht die Qualen, die sie dir antaten. Ich weiß nicht, wie das möglich war, aber ich blendete die Gewalt einfach aus. Ich sah nur noch einen Traumtypen, den ich einfach haben musste. Ich wollte dich. Ich weiß, das war krank, barbarisch und unverzeihlich. Aber dich zu berühren, dich unter mir zu fühlen und... in... in dir zu sein. Scheiße, was hab ich nur getan? Flo, ich bin bereit die Verantwortung für das, was ich dir angetan habe, zu übernehmen. Ich werde zur Polizei gehen und mich stellen.«

Oops! Die leidige Sache drohte eine unerwartete und mir alles andere als genehme Wendung zu nehmen. Dass Marco bereit war, seine Schuld nicht nur mir gegenüber einzugestehen, sondern sich sogar zu stellen, verdiente Respekt, schließlich durfte er sich auf zwischen zwei und fünfzehn Jahren Haft einstellen. Allerdings war ich an einer Strafverfolgung in meinem Falle nicht wirklich interessiert, da sie viel zu viele Fragen aufgeworfen hätte, deren Beantwortung in eine für mich und andere gefährliche Richtung führen konnte.

Was für eine perverse Situation: Da wollte Marco das in solchen Fällen einzig Richtige tun, hätte damit aber in meinem speziellen Falle genau das Gegenteil erreicht. Wie sollte ich ihn von seiner objektiv richtigen Entscheidung abhalten, ohne eine plausible Erklärung zu liefern. Ich konnte ja schlecht sagen: Du Marco, sorry, aber ich bin inzwischen ein Vampir und bin an menschlicher Rechtsprechung nicht wirklich interessiert?

»Marco, ich...«, ich wusste nicht was ich sagen sollte und begann zu stammeln, »Ich glaube nicht, dass ich das möchte. Bitte geh nicht zur Polizei. In meinem Leben haben sich einige grundlegende Veränderungen ergeben, die... ich weiß nicht, wie ich es erklären soll. Ich kann nur wiederholen, was ich vorhin schon sagte. Was passiert ist, ist passiert und spielt keine Rolle mehr. Ich weiß, dass es merkwürdig klingen muss, aber das ist eine Sache, bei der du mir einfach vertrauen musst: Ich bin nicht mehr der Florian, den du kanntest. Ich habe mich verändert. Wenn du dich stellst und selbst anzeigst, würde dies mit sehr großer Wahrscheinlichkeit mehr schaden als nützen. Ja, ich verzeihe dir, was nicht heißt, dass wir beide die Tat jemals vergessen werden. Dir sollte schon bewusst sein, was du eigentlich getan hast. Lass es dir eine Lehre sein, aber wirf deine Zukunft nicht dafür weg. Nicht meinetwegen. Oder willst du, dass ich mich am Ende auch noch dafür schuldig fühle, dass du in den Knast wanderst?«

Hoffentlich kam die Ironie des letzten Satzes rüber. Aus Marcos Gestik ließ es sich kaum ablesen, denn der schaute relativ ausdruckslos in die Landschaft. Der Mann dachte nach. Ich meinte sogar, die Zahnrädchen in seinem Schädel knirschen zu hören. Dieses Gespräch hatte er sich offensichtlich anders vorgestellt und jetzt...Oh, Shit!

»Ähm, du hast doch nicht etwa jemand anderem von deinem Plan erzählt, dich zu stellen, oder?«

Marcos Antwort in Form eines verlegen schief gezogenen Gesichts, sprach Bände.

»Ich habe eigentlich nur Jan eingeweiht«, begann er entschuldigend, »Plötzlich stand Andreas neben mir. Ich befürchte, er hat etwas mitbekommen. Ich...«

»Raus mit der Sprache!«

»Das ist ein weiterer Grund, weswegen ich dich sprechen wollte. Ich glaube, Andreas und die anderen planen etwas. Jan erzählte mir, dass er mitangehört hat, wie Andreas meinte, man müsse etwas gegen den blonden Arschficker unternehmen, bevor der seine Murmeln wiederfindet.«

»Ach, meint er das?«, grinste ich breit und, wie mir Christiano später berichtete, wirklich finster, fast schon lustvoll hinterhältig. Erstaunlich, zu welchen Gemütsregungen ich neuerdings fähig war.

»Flo, du solltest das ernst nehmen. Mit Andreas ist nicht zu spaßen. Und wenn Mario mit von der Partie ist, kann es haarig werden. Du weißt, dass er ein Waffennarr ist?«

»Ja, ich erinnere mich, dass Hans so etwas erwähnte. Aber keine Angst. Ich nehme deine Warnung sehr ernst. Allerdings war früher oder später sowieso damit zu rechnen, dass die Typen eine Aktion planen, um mir das Maul zu stopfen. Denen dürfte ziemlich schnell klar geworden sein, was sie eigentlich mit mir angestellt haben. Was ich schon immer wissen wollte, was passierte eigentlich nachdem ihr über mich rüber seid?«

Marcos Augen wurden groß und größer »Himmel bist du abgefuckt«, meinte er kopfschüttelnd und fuhr fort, »Die ersten Tage nach – du weißt schon – hättest du die Luft im Laden in Scheiben schneiden können. Bei allen, die irgendwie an der Sache beteiligt waren, lagen die Nerven blank. Wir fünf waren schließlich nicht die einzigen, die Mist gebaut haben. Alle die zu- oder weggeschaut hatten und nicht gegen uns eingeschritten waren, haben sich mindestens so schuldig gemacht wie wir. Ich gestehe es dir wirklich nur ungern, aber als durchsickerte, dass du verschwunden warst und die Polizei deinen Roller auf dem Parkplatz an der Talbrücke fand, ging jeder davon aus, dass du 'nen Abgang gemacht hast. Ich würde lügen, wenn ich etwas anderes behauptete, als dass eine ganze Reihe Leute ziemlich erleichtert war.«

Ja, so kannte ich meine Kollegen. Probleme einfach aussitzen, vielleicht erledigen sie sich ja von selbst. Ich konnte mir gut vorstellen, welcher Mühlstein Mario und Co von der Seele gefallen sein musste, als sie hörten, dass ich mich vermutlich mit einer Freiflugnummer von der Talbrücke verabschiedet hatte. Konnte die Schwuppe sie nicht mehr in den Knast bringen. So lange ich lebte war ich eine latente Gefahr. Mit mir als erfolgreichem Selbstmörder konnten sie hingegen gut leben. Es muss ein ziemlicher Schock gewesen sein, zu erfahren, dass ich den Löffel doch noch nicht abgegeben hatte.

»Und ob!«, bestätigte Marco, »Du musst wissen, dass offen über den Vorfall nie gesprochen wurde. Warum auch? Wir wussten, was wir getan haben. Warum noch darüber reden? Als dann aber Niederreuter nach zwei Wochen in den Aufenthaltsraum gestürmt kam und rief, dass du lebend gefunden wurdest, hätte man eine Stecknadel fallen hören können.«

»Da ging euch der Arsch auf Grundeis, was?«, fragte ich und zeigte erneut mein patentiertes breites Grinsen.

»Du hast keine Ahnung. Ich hätte mir fast in die Hose geschissen. Allerdings...«, Marco wiegte seinen Kopf hin und her.

»Was? Spucks aus!«

»Die anderen vier trauen mir nicht. Als Niederreuter berichtete, dass man dich gefunden hatte, fiel mir zufällig auf, wie Andreas Momsen anstarrte. Er, also Andreas, hatte einen merkwürdigen Gesichtsausdruck. So mit gekräuselter Stirn. Auf mich wirkte das, als wenn er Momsen ohne Worte fragen wollte, was das mit dir zu bedeuten hätte. Momsen antwortete dann auch, was noch seltsamer war. Ich bin zwar nicht gut in Lippenlesen, aber ich glaube, er hat mit seinem Mund das Wort später geformt. Am selben Abend habe ich dann auch die vier und Momsen zusammen in der Umkleide diskutieren gesehen. Das alte Arschloch war wild am gestikulieren, als wenn er die anderen auf irgendetwas einschwören wollte. Als sie mich dann entdeckten, sind sie alle verstummt und auseinander gegangen.«

»Und dich haben sie nicht eingeweiht?«, wollte ich wissen.

Marco schüttelte verneinend den Kopf: »Nein, haben sie nicht. Flo, das ist wirklich schwer für mich und ich kann verstehen, dass du mich wirklich hassen musst. Ich weiß bis heute nicht, was mich geritten... äh... veranlasst hat, dich zu... Ich wollte das nicht... Nein, das ist falsch. Ich wollte es schon. Ich wollte dich! Ich wollte dir nahe sein, in dir sein. Oh Mann, ich bin ein so peinlicher Loser. Flo, seit dem ersten Tag bei Niederreuter warst du der Mann meiner feuchten Träume. Du hast echt keine Ahnung, was du für eine Wirkung auf mich hast. Ich hatte mich voll in dich verschossen. Ist das nicht jämmerlich? Statt dich anzusprechen und dir zu beichten, was ich für dich empfinde, nutzte ich spontan aus, dass dich Mario und die anderen fertigmachen wollten. Was bin ich für ein Heuchler, der statt dir beizustehen und dich zu verteidigen, dich ebenfalls vergewaltigt?«

Stimmt, Marco war ein ärmlicher Loser, doch ich damals ebenfalls. Genauso wie er es nicht packte, seine Gefühle für mich zu artikulieren, war ich nie in der Lage, mich zu verteidigen. Ein paar Mal Kontra gegeben und die meisten Kollegen hätten sich getrollt und aufgehört, mich zu mobben. Die meisten Kollegen? Etwas an Marcos letzter Beichte ließ mich stutzen.

»Die nächste Frage mag etwas schräg klingen. Habe ich dich richtig verstanden, dass Mario und die anderen nicht spontan gehandelt haben?«

Statt sofort zu antworten, überlegte Marco eine Weile, kratzte sich an seinem Stoppelbart und meinte dann:

»Ich habe darüber noch nie so genau nachgedacht, aber wenn du mich so direkt fragst, glaube ich schon, dass die ganz Aktion geplant war. Doch! Verdammt, warum ist mir das nicht schon früher aufgefallen. Als dich Andreas anrempelte, warteten Mario und die Anderen bereits auf euch.«

Orwell

Constantin

Die Vorbereitungen zur großen Ratssitzung gingen in die Endphase. Montagabend trat das Zentralkomitee, wie ich die Führungsetage meines vergrößerten Hauses scherzhaft nannte, zusammen, um letzte Fragen zu erörtern. Eine nicht ganz unerhebliche war die nach dem Ort der Veranstaltung. Im Haus unter der Varadin Stiftung standen uns zwar ausreichend große und auch repräsentative Räume zur Verfügung, aber aus unerfindlichen Gründen wollte ich mit dem Gedanken an den Ort der letzten Ereignisse nicht warm werden. Mir schwebte eher ein Schloss wie Breskopol vor. Im Prinzip gab Onkel Vladimirs Stammhaus den perfekten Veranstaltungsort ab. Es lag abgeschieden in einem dichten Wald, seine Grenzen waren gut bewacht, das Schloss selbst war ausgesprochen edel und repräsentativ und bot mehr als einen Saal, der sich optimal für eine Ratssitzung geeignet hätte. Die Sache hatte nur einen Haken. Schloss Breskopol lag in der Republik Tschechien in der Nähe von Prag, was mir ein paar hundert Kilometer zu weit von Florian entfernt war.

»Was spricht gegen das kleine Haus?«, schaltete sich Laurentius ein.

Das kleine Haus, offiziell Residenz Charlottenhof, war genau jenes kleine Anwesen, dessen garstige Heißwasserleitung den Beginn des ganzen Abenteuers eingeleitet hatte. Es lag nicht ganz so abgeschieden, aber immer noch einige Kilometer vom nächsten Ort entfernt und war gerade groß genug, um die Delegationen der anderen Häuser zu beherbergen.

»Eine interessante Idee«, überlegte ich laut, »Bescheiden, aber nicht ärmlich, relativ zentral, aber abgeschieden genug, um beim zu erwarteten Ansturm nicht allzu viel Aufmerksamkeit zu erwecken.«

Wenn im Zeitraum weniger Stunden eine Horde schwarz verglaster Luxuslimousinen an einem Schlösschen, Landhaus, einer Villa oder Firmenresidenz aufkreuzten, dann ließ sich mit Sicherheit davon ausgehen, dass dies irgendjemandem auffiel, möglicherweise dem Falschen. Sitzungen des hohen Rates, gerieten daher immer zu einem Sicherheitsalbtraum. Zum Glück fanden sie relativ selten statt und wechselten zwischen den Häusern, damit nicht ein Stamm immer die gesamte Last der Organisation zu tragen hatte. Auch nahm an den meisten Sitzungen nur ein kleiner Teil der Häuser überhaupt teil. Viele Stammväter und Stammmütter, insbesondere der kleinen Häuser, hielten sich aus der Tagespolitik heraus und überließen es den Profilneurotikern unter uns, wie van Sanden, Bronkovic, Breskoff oder mir, sich die Köpfe über Kleinlichkeiten einzuschlagen. Standen allerdings wichtige Themen auf der Tagesordnung, konnte eine Ratssitzung schnell den Rahmen eines mittelgroßen Bankettsaals sprengen. Da die Wahl des Königs aller Vampire sicherlich in diese Kategorie fiel, mussten wir mit einer ganzen Horde hochwohlgeborener Blutsauger rechnen.

Die Logistik einer solchen Veranstaltung war ein organisatorischer Albtraum. Angefangen bei den Unterkünften bis hin zur ausreichenden Versorgung mit frischen Blutkonserven musste alles perfekt vorbereitet werden. Je mehr ich darüber nachdachte, gefiel mir die Idee, Charlottenhof als Veranstaltungsort zu nehmen immer besser. Das kleine Landhaus konnte zwar nicht mit einem Megaschuppen wie Schloss Breskopol konkurrieren, welches in einer ganz anderen Liga mit Größen wie Versailles oder dem Neuen Palais in Potsdam spielte, musste es aber auch nicht. Charlottenhof verfügte zwar nur über einen einzigen Festsaal, konnte dafür aber ohne Anstrengungen mit über dreißig Zimmern aufwarten, die wir in der Vergangenheit zu Appartements umgebaut hatten. Im Notfall ließen sich noch weitere Räume, wenn auch weniger komfortabel, in Gasträume umfunktionieren. Der zu erwartende Bedarf sollte auf jeden Fall gedeckt sein. Die Frage der Unterkünfte war somit bereits gelöst. Dass das Haus den Anforderungen unserer Art entsprach, das heißt, dass sämtliche Fenster aus dreifachem UV-Schutzsicherheitsglas bestanden, die zudem noch beschuss- und bruchsicher ausgerüstet waren, verstand sich von selbst. Es passte perfekt und hatte obendrein den Charme, ganz in der Nähe meines Lieblings zu liegen. Sollte sich an dieser Front etwas ereignen, womit ich fest rechnete, konnten wir ihn unmittelbar zu uns holen.

»Charlottenhof gefällt mir«, stimmte Lady Lydia zu, die faktisch zur Chefin meines Geheimdienstes aufgestiegen war, »Die Anlage verfügt über eine erstklassige passive und aktive Eigensicherung. Wir werden die Umgebung diskret mit unseren Leuten besetzen. Einen ersten äußeren Perimeter sollten wir mit normalen menschlichen Sicherheitskräften besetzen. Die könnten wir im zusätzlichen Gartenhaus unterbringen und würden dadurch nicht in Kontakt mit unseren Gästen kommen. Sollte denen jemand durchflutschen, greift ein zweiter innerer Kreis mit Kampfvampiren ein. Wie ich unsere Freunde von der spirituellen Front kenne, wird es obendrein vor Nosferatu nur so wimmeln. Nein, die Sicherheit machte mir keine Sorgen. Ganz im Gegenteil. Hier oder in Breskopol müssten wir uns auch noch darum kümmern, dass unsere lieben Gäste nicht auf dumme Gedanken kommen und sich vielleicht in Bereiche des Hauses verirren, in denen sie nichts zu suchen haben.«

Lydia zeigte die typische Denkweise einer Sicherheitschefin. Das größte Sicherheitsrisiko drohte meistens nicht von außen sondern von innen in Form unserer Gäste. Ein hohes Haus, das etwas auf sich hielt, würde selbstverständlich versuchen, seine Spione von der Leine zu lassen. In Charlottenhof gab es nichts zu spionieren. Es war mehr ein Ferienhaus, in das ich mich gelegentlich zurückzog, um dem Stress der Regierungszentrale zu entgehen, und keiner unserer Hauptstandorte. Auch Stammväter nehmen sich gelegentlich eine Auszeit.

Sobald wir uns alle auf Charlottenhof geeinigt hatten, ließ ich Simon als meinen Adjutanten die vorbereiteten Einladungen als E-Mail versenden. Die ersten Zusagen trafen knapp zwei Minuten später ein. Parallel dazu hatten Michael, Christianos Freund aus dem Hause Breskopol und Laurentius die für die Vorbereitung notwendigen Anweisungen an die Fachabteilungen gegeben. Als erstes informierte Laurentius Lucretia und Anton, das sympathische Hausmeisterehepaar, welches sich immer rührend um das Anwesen kümmerte. Die beiden waren noch von meinem Vater verwandelt worden. Zwei ruhige, gemütliche Vampire, mit wenig Interesse am Trubel der Stammhäuser. Charlottenhof war ihr Häuschen, welches sie voller Passion hegten und pflegten. Dafür stand ihnen ein angemessener Etat zur Verfügung, aus dem sie den Unterhalt nach eigenem Ermessen bestreiten konnten. Das einzige Mal, dass nicht die beiden, sondern jemand anderes sich um die Belange des Hauses kümmerte, war während eines Wasserrohrbruchs. Es war Frantz, der die Firma Niederreuter beauftragte, den Schaden zu beheben.

»Hast du Lucretia in der Leitung?«, fragte ich Laurentius, der ein Schnurlostelefon an sein Ohr hielt. Er nickte. »Willst du sie sprechen?«

Ich nickte und hielt drei Sekunden später das Telefon in meiner Hand.

»Hallo, meine Schöne«, flirtete ich mit Lucretia. Es war ein Spiel, das ich seit meinen Kindertagen mit ihr trieb. Die Frau konnte gut als meine Großmutter durchgehen. »Wir müssen uns für ein paar Tage dein Haus ausleihen. Ähm... ja, also, ähm, übermorgen, am Mittwoch. Ja, ich weiß, dass das sehr kurzfristig ist. Nein, ähm... Nein, nein, es kommen ein paar mehr... Ähm, alle... Nein, nicht alle Familienmitglieder, alle Häuser. Wir haben uns gedacht, die nächste Ratssitzung... Ähm, ja, du hast recht. Ja, ich weiß, dass das sehr knapp ist. Ich verspreche euch, dass ihr alle Hilfe bekommt, die ihr braucht. Und natürlich ihr habt das Sagen. Ihr entscheidet, wo es langgeht, okay?«

Warum grinsten mich plötzlich alle Anwesenden mitleidig an?

»Ähm, das war Lucretia. Sie war etwas ungehalten, nicht früher informiert worden zu sein.«, bemerkte ich entschuldigend, was das Grinsen aber nur noch breiter machte. »Ähm, ich weiß auch nicht, aber immer wenn ich mit ihr spreche, fühle ich mich wie ein kleiner Junge, der etwas ausgefressen hat.«

»Oh, keine Sorge, das geht nicht nur dir so.«, sinnierte Laurentius, »Wann willst du nach Charlottenhof aufbrechen?«

Ich überlegte eine Weile. Es war kurz nach acht Uhr abends, die Nacht hatte eigentlich noch nicht begonnen. Wir hatten genug Zeit.

»In zwei Stunden?«, schlug ich vor und blickte in die Runde. Ein Kopf nach dem anderem nickte seine Zustimmung. Damit war es beschlossen. Wir besprachen noch ein paar weniger wichtige Punkte, um anschließend unsere Sachen zu packen. In weniger als zwei Stunden war mein Tross aufbruchbereit. Sechs schwere gepanzerte Limousinen standen bereit. Die gesamte Spitze der vereinten Häuser Varadin und Breskopol, die Damen Lydia, Timon und Cassandra, Simon, Laurentius, Ricardo und Michael, sowie eine Hand voll Vampire der Wachen, bestiegen Fahrzeuge, die sich sofort in Bewegung setzten. Eine Vorhut mit Experten der einzelnen Abteilungen war bereits vorausgeflogen, um unsere Ankunft zusammen mit Anton und Lucretia vorzubereiten. Die Wagen setzten sich in Bewegung und wir befanden uns auf dem Weg in Richtung Charlottenhof.

»Eine gute Entscheidung. Dann brauch ich nicht mehr Stunden, um zu Christiano zu fliegen, sondern nur noch zehn Minuten.«, meinte Simon, der mit mir im dritten Auto saß und sich an mich gekuschelt hatte. Gelegentlich genoss ich es, Stammvater eines Hauses zu sein. Außer Simon und mir, befand sich nur noch der Fahrer in der Limousine, während die anderen Wagen deutlich dichter gepackt waren. Dabei hatten sowohl Laurentius als auch Timon protestiert und gemeint, dass uns wenigstens ein erfahrener Kämpfer der Wache begleiten sollte. Ich lehnte dankend ab, ahnte aber, dass das letzte Wort zu dem Thema nicht gesprochen war.

»Guten Abend, Chef«, bestätigte sich mein Verdacht, als sich unser Chauffeur zu Wort meldete.

»Orwell?«, rief ich erstaunt aus, als ich unseren Fahrer im Rückspiegel erkannte.

»Befehl von Timon. Wenn du schon so unvernünftig bist, keinen Krieger in deinem Wagen mitzunehmen, dann soll wenigstens einer die Karre steuern.«

»Typisch Timon, die Frau ist eine schlimmere Glucke als Laurentius. Aber ich freue mich, dass du uns begleitest.«

»Wenn ihr zwei ungestört sein wollt, könnt ihr die Trennscheibe gerne schließen.«, meinte Orwell, dessen Augen anzüglich im Rückspiegeln funkelten.


Orwell – das Schwert des Hauses Varadin. Ein Mann, dessen Geschichte fast archetypisch für die Mitglieder meines Hauses stand.

Mitte des 19. Jahrhunderts kam es zu einer heute vielfach unbekannten kleinen Völkerwanderung innerhalb der vereinigten Staaten von Amerika. Freie Afroamerikaner und entflohene Sklaven der Südstaaten suchten ihr Heil im Norden in der vagen Hoffnung, dort auf ein freundlicheres Klima zu treffen. Doch Staaten wie Iowa zeichneten sich nicht durch einen sonderlich großen Arbeitsmarkt aus. Dafür gab es dort Land, sehr viel freies Land, das nur darauf wartete, bestellt zu werden. So entstand ein Teil der Geschichte der schwarzen Farmer Amerikas – Orwells Geschichte.

Orwells Vater, Thurgood, war ein Sklave auf den Baumwollplantagen Louisianas, wo er auch Orwells Mutter Maria kennenlernte und sich mehr oder weniger prompt in sie verliebte. Es kam, wie es meistens kommt, wenn Männlein auf Weiblein trifft und sich beide Seiten halbwegs sympathisch sind. Die beiden landeten zusammen in der Kiste. Orwells Mutter wurde schwanger, womit beiden ein Problem entstand. Als Sklave genossen sie nicht sonderlich viele Rechte, insbesondere nicht über den eigenen Körper. Eine schwangere Frau konnte nur eingeschränkt arbeiten, was die Rendite ihres Eigentümers schmälerte. Erschwerend kam hinzu, dass dieser Eigentümer ebenfalls ein Auge auf Thurgoods Geliebte geworfen hatte. Wir schrieben das Jahr 1861. Genau am gleichen Tag, als Orwells Vater für seine Handlungen zur Rechenschaft gezogen werden sollte, was aller Voraussicht mit seinem Tod geendet hätte, brach der Sezessionskrieg zwischen den Nord- und Südstaaten aus. Auf der Plantage kam es zum Aufstand, der sofort blutig niedergeschlagen wurde, was Thurgood und Maria, die beide nichts außer ihr Leben zu verlieren hatten nutzten, um sich abzusetzen. Zweieinhalb Jahre lang tauchten sie unter, während Maria ihr Kind, Orwell, meinen späteren Hauptmann bekam. Doch untertauchen war nicht wirklich einfach. Zwei Schwarze mit einem Säugling fielen auf und provozierten Fragen. Für die zwei Verliebten wurde es immer gefährlicher, weiterhin im Süden zu bleiben, und so flüchteten sie in Richtung Norden, einer unbekannten, aber allen Erwartungen nach besseren Zukunft entgegen.

1863 – Ein Jahr, das dieser Hoffnung Nahrung gab. Während Abraham Lincoln alle Sklaven zu freien Menschen erklärte, gelangten Thurgood und Maria nach Iowa, ließen sich dort nieder, gründeten eine Familie und wurden Farmer auf eigenem Grund und Boden. Für eine Weile meinte es das Schicksal gut mit den beiden, bis Maria, Orwell war gerade zwölf Jahre alt, während eines Einkaufs in der Stadt zwischen die Fronten einer bewaffneten Auseinandersetzung geriet. Ein Querschläger traf sie in der Brust und drang in ihre Lunge ein. Sie starb noch an Ort und Stelle.

In der darauffolgenden Zeit zeigte sich das Leben für Thurgood und Orwell von der harten Seite. Maria fehlte. Sie fehlte als Mutter, als Ehefrau, als zupackende Bäuerin, Lehrerin, Köchin und vor allem als gute Seele der Familie. Für Orwell bedeutete dies, viel früher erwachsen werden zu müssen und kräftig auf der Farm mit anpacken zu müssen, damit sein Vater sich eine Haushälterin leisten konnte, die den größten Teil der Arbeiten seiner verstorbenen Frau übernahm. Orwell suchte es sich nicht aus, genauso wenig verlangte sein Vater es von ihm, aber der zwölfjährige Junge wurde hart, wurde ein Mann, der lernte, sich von Widrigkeiten nicht abschrecken zu lassen und sich nötigenfalls durchbiss.

So entbehrungsreich das Leben als Junge auf einer Farm, der lernen musste, früh auf eigenen Beinen zu stehen, auch sein mochte, so begannen sich nach einigen Jahren die Anstrengungen auszuzahlen. Die Farm florierte. Orwell und Thurgood fuhren üppige Ernten ein und auch die vor ein paar Jahren gestartete Rinderzucht, entwickelte sich prächtig. Mit zweiundzwanzig Jahren, aus Orwell war ein junger, stattlicher Mann geworden, beschäftigten er und sein Vater acht Angestellte, angefangen bei der Haushälterin, über Stallburschen bis hin zu zwei Cowboys.

Es war das typische auf und ab. Für eine Zeit lang meinte es Fortuna mit Vater und Sohn wieder gut. Sie erlangten bescheidenen Wohlstand und waren geachtete Mitglieder der Gemeinde. Ihr Wort zählte etwas. Doch auf Sonnenschein folgt unvermeidlich Regen. Dunkle Wolken zogen über der Region auf. Zum einen holte die beiden Männer ihre Hautfarbe ein. Nur weil der Norden für die Freiheit der Sklaven gekämpft hatte, hieß dies noch lange nicht, dass die weißen Nachbarn frei von Vorurteilen waren, insbesondere die, die nicht ganz so erfolgreich wirtschafteten, wie Thurgood und Orwell. Mehr als eine weiße Farmerfamilie neidete ihnen ihren Wohlstand. Das Klima zwischen weißen und schwarzen Farmern kühlte merklich ab, wurde rauer und zuweilen auch schon Mal handgreiflich.

Ein anderes Problem betraf vornehmlich Orwell und hörte auf den Namen Pete. Pete war ein agiler Kerl und Cowboy auf der Farm Thurgoods. Ein Jahr jünger als Orwell lagen die beiden auf einer ähnlichen Wellenlänge und verstanden sich prächtig. Nur blieb es nicht bei den Wellenlängen, die beiden lagen nach einer Weile gegenseitigen Beschnupperns und Antestens auch körperlich beieinander und hatten viel Spaß dabei. Die Probleme dabei sind offensichtlich: Sex zwischen Männer galt, obwohl faktisch überall praktiziert, im 19. Jahrhundert als alles andere als akzeptabel. Der Frauenmangel der Region beförderte bei vielen Männern eine erstaunliche Flexibilität bei der Wahl ihrer Sexualpartner zutage. Natürlich waren die meisten nicht schwul, sondern wollten einfach nur etwas Dampf ablassen. Einige waren es hingegen schon, wie eben Pete und Orwell. An dieser Stelle schlug die allseits vorhandene Doppelmoral zu. Wer in den Verdacht kam, wirklich auf Männer zu stehen, sah sich ziemlich schnell aus der Gesellschaft ausgegrenzt. Ganz haarig wurde es, wenn obendrein auch noch Liebe und Hautfarbe ins Spiel kam.

Die Tragödie begann mit einem fürchterlich schlechten Jahr für die Farmer Iowas. Nach einem wirklich eisigen und viel zu langem Winter fiel das Frühjahr faktisch aus. Der Sommer, als er dann endlich kam, war launisch, wechselhaft und verregnet. Mehrere Hagelschauer zerstörten weite Teile der Ernte. Während einige Farmer mit zu viel Regen und an den Ähren verfaulendem Getreide zu kämpfen hatten, gab es für andere zu wenig Niederschlag, dass sich weder Weizen noch Mais überhaupt richtig entwickeln konnte. Die Ausfälle nahmen für viele Farmer existenzbedrohende Formen an. Warum, konnte niemand sagen, aber aus irgendeinem Grund blieb Orwells Farm, er hatte gerade seinen sechsundzwanzigsten Geburtstag gefeiert, vom Gröbsten verschont. Auch seine Ernte fiel geringer aus, brach aber bei weitem nicht so dramatisch ein, wie bei seinen Nachbarn – seinen weißen Nachbarn.

Das Klima wurde ruppiger, der Ton rauer. Einige Nachbarn begannen Thurgood und Orwell zu schneiden. Trafen sie die beiden schwarzen Farmer zufällig in der Stadt, wechselten sie die Straßenseite oder taten so, als hätte man weder Vater noch Sohn bemerkt. Gerüchte wurden gestreut, auf der Farm würde es nicht mit rechten Dingen zugehen. Thurgood würde mit dem Teufel im Bunde stehen und schwarze Hexenkunst betreiben. Das Wort Voodoo machte die Runde. Als dann auch noch ein wütender Tornado wirklich verheerend in der Region tobte, dabei aber ausgerechnet die Farm Thurgoods verschonte, war das Maß für manch einen übervoll.


Sie kamen in der Nacht. Nicht mit lodernden Fackeln und Mistgabeln bewaffnet, sondern still, heimlich und heimtückisch schlichen sie sich in das Haupthaus, überwältigten Thurgood, nachdem sie vorher die Angestellten des Hofs entweder erschlagen oder niedergestochen hatten. Orwells Vater hatte keine Chance. Noch bevor er auch nur einen Mucks sagen konnte oder begriff, was geschah, hatten sie ihn niedergeschlagen und er die Besinnung verloren. Hätte Orwells Vater noch rufen und seinen Sohn warnen können, wären die nachfolgenden Ereignisse weniger dramatisch ausgefallen, doch so überraschte ein erst verblüffter, dann rechtschaffend empörter Mob zwei Männer namens Pete und Orwell, nackt und eng umschlungen zusammen in einem Bett. Der Geruch im Raum und die weißen Proteinreste auf schwarzer und weißer Haut ließen keine Zweifel aufkommen, was wenige Zeit zuvor in diesem Bett stattgefunden hatte. Jetzt hatte die tumbe Masse endlichen die lang gesuchte Rechtfertigung, um mit Thurgood und Orwell abzurechnen.

Thurgood und die beiden jungen Männer wurden in ihre eigne Scheune geschleppt. Während Orwells Vater noch weggetreten war und deswegen nichts mitbekam, hatte der Mob Orwell und Pete nicht nur die Hände hinter ihren Rücken zusammengebunden, sondern auch ihre Münder mit Knebeln verschlossen. Einer ihrer Peiniger meinte, man solle den perversen Schweinen ihre Schwänze abschneiden und ihnen damit die Mäuler stopfen, das würde ihnen bestimmt gefallen und wäre außerdem eine angemessene Strafe für diese gottlosen Sodomiten. Der Tod wäre für sie noch viel zu gut.

Ein kräftiger Balken und drei Stricke waren schnell gefunden. Als erstes wurde Thurgood aufgeknüpft. Die mordlüsterne Nachbarschaft hatte entschieden, ihr Werk in einem Infernal der Grausamkeit enden zu lassen. Statt Orwells Vater durch einen ausreichend langen Fall das Genick zu brechen, zogen sie ihn langsam empor, sodass sich die Schlinge um seinen Hals zuzog und er quälend langsam stranguliert wurde. Anfangs spielten sie sogar noch ein wenig mit ihm und ließen kurzzeitig genug Seil nach, bis seine Füße wieder den Boden berührten und der Druck auf seinen Hals nachließ.

Der alles andere als anonyme Mob – die Männer kannten ihrer Peiniger – zwang Orwell, die Ermordung seines Vaters mitanzusehen. Wenn sie allerdings darauf spekuliert hatten, Orwell würde schreien, kämpfen oder für seinen Vater um Gnade betteln, hatten sie sich getäuscht. Orwell stand, ebenso wie Pete, gerade, aufrecht und erhobenen Hauptes da, schaute seinen Vater an und stand ihm in dessen letzten Minuten seines Lebens bei. Die Sache verlief völlig anders, als die lynchgeilen Nachbarn sich dies vorgestellt hatten. Denn auch Thurgood richtete sich stolz auf. Er hatte als Sklave auf einer Plantage schlimmeres erlebt, weitaus schlimmeres. Diese feigen Bastarde konnten ihm das Leben rauben, aber nicht seine Würde.

Am Ende konnte sie es doch. Stranguliert zu werden, ist alles andere als würdevoll. Vor allem ist es kein netter Anblick, wenn Augen aus ihren Höhlen hervorquellen, der Kopf rot anläuft, Adern hervortreten und die Gesichtszüge im Todeskampf entgleiten, wenn der Sterbende röchelt und gurgelt und am Ende nicht mehr Herr seiner Körperfunktionen ist und sich Darm und Blase unkontrolliert entleeren. Erst bei diesem Anblick begriffen einige der Marodeure, was sie im Begriff waren anzurichten, dass sie von nun an kaltblütige Mörder sein würden, angetrieben von den allerniedrigsten Trieben, die man sich vorstellen konnte. Mehr als einer – dies war eine reine Männerveranstaltung – verlor ebenfalls die Kontrolle über seine Körperfunktionen und kotze.

Thurgoods Tod wirkte wie der Weckruf nach einer durchzechten Nacht. Verstört und wie aus einem Albtraum erwacht, starrten sie in die hasserfüllten und nach Rache schreienden aber ansonsten ausdruckslosen Augen Petes und Orwells. Beide Seiten wussten, wie die Sache ausgehen musste. Mit dem Mord an Thurgood hatte die Mordgesellschaft einen Weg beschritten, bei dem es keine Umkehr gab. Auch wenn sie es nicht mehr wollten und eigentlich auch nicht mehr konnten, mussten sie sich der beiden jungen Männer entledigen. Diese waren nicht nur Zeugen, sondern würden Thurgoods Mörder auch bis an das Ende der Welt jagen. Nur wie sollte man dies anstellen? Alle wussten, dass sie zu einer Wiederholung der Lynchnummer nicht mehr fähig waren.

Doch wer vermutete, Menschen könnten nicht weiter sinken, schafften diese es immer wieder, einen mit noch mehr Niedertracht, Grausamkeit und Unmenschlichkeit zu beeindrucken. Im konkreten Fall kam einer der besonders motivierten Typen auf die Idee, doch einfach die Scheune abzufackeln, einschließlich Pete und Orwell. So müsse man sich nicht die Finger schmutzig machen. Außerdem hätten es Orwell und Pete für ihr widernatürliches und krankes Treiben mehr als verdient, zu brennen. Zu diesem Zweck wurden die beiden gefesselt und ihnen eine Schlinge um den Hals gelegt. Der besonders mordlüsterne Typ, sein Name war Harry Dawson jun., entwickelte eine besonders destruktive Kreativität, die selbst seine Mitmörder schaudern ließ. Mr. Dowson konstruierte aus ein paar Seilen, zwei Ambossen, einem Haufen trockenem Stroh und einer Petroleumlampe, eine Lynch- und Niederbrennzeitsteuerung. Die Petroleumlampen sollte zwei dickere Stricke langsam durchkokeln, bis diese rissen und die zwei Ambosse freigaben, welche an Seilen von einem Dachbalken baumelten. Sobald diese dann der Schwerkraft folgten, sollten sie an drei Seilen ziehen, wovon zwei in den Schlingen um Orwells und Petes Hälsen endeten, während das dritte die brennende Petroleumlampe von einem Schemel reißen sollte, auf dass diese auf das mit Öl getränkte Stroh fallen sollte.

Soweit die Theorie. Die Realität entwickelte sich vollkommen anders. Womit Harry Dawson jun. nicht rechnete, war das Element des Zufalls, welches in diesem Fall sogar einen Namen trug: Neville Orthon. Dieser war ein siebenhundertjähriger Vampir, der nach sechshundertachtzig Jahren unauffälliger Existenz auf die Idee kam, Amok laufen zu müssen und dabei eine Spur blutleerer Leichen hinter sich ließ. Die Speichelproben, die wir an den Opfern sicherstellen konnten, waren eindeutig. Neville litt unter dem Vladsyndrom. Der Rat musste handeln und beauftragte drei Häuser, darunter auch meines, mit der Jagd auf Orthon. Ich machte mir nichts vor. Es war ein Exekutionsauftrag, den ich zwar ungerne, aber trotzdem mit Überzeugung übernahm. Ich hasste es, Lebewesen zu töten, doch im Fall von amoklaufenden Vampiren gab es eigentlich keine Alternativen. Orthon gefährdete sowohl Menschen als auch uns Vampire.

Die Spur führte uns unter anderem nach Iowa, wo sich die Spur allerdings abkühlte. Von Orthon war weit und breit nichts mehr zu entdecken. Das letzte Lebenszeichen lag drei Wochen zurück. Im Keller eines heruntergekommenen Lagerhauses in Des Moines entdeckten wir die komplett leergesaugte Leiche einer jungen Frau. Ihrem Zustand nach musste Orthon sie mindestens drei Wochen vor uns getötet haben. Hohe Dosen Vampirgifts hatten eine Verwesung verhindert und alle aasfressenden Tiere und Insekten fern gehalten, weswegen die Leiche austrocknete und mumifizierte, dadurch nicht stank und unentdeckt geblieben war. Das war alles. Weder gab es Meldungen über plötzlich verschwundene Menschen, noch über seltsame nächtliche Vorkommnisse, die auf einen Vampir hinwiesen. Die Spur war kalt. Nach mehreren Monaten der Verfolgung standen wir wieder am Anfang unserer Suche, bis uns eine Information zugetragen wurde, dass in einem County weit südlich Iowas ein Voodoohexer sein Unwesen treiben soll.

Trauer und Würde

Voodoo? Wir, Christiano und ich, bezweifelten ernsthaft, dass es ausgerechnet einen haitianischen Voodoomeister in die nordamerikanische Pampa verschlagen haben sollte. Da lag die Vermutung, es könnte sich um unseren durchgeknallten Vampir handeln, viel näher. Und so reisten wir in Richtung eines ländlichen Nirgendwos. Iowa war und ist, bei allem Respekt vor seinen Bewohnern, öde, absolut tödlich öde. Während unserer nächtlichen Reise gewannen wir den Eindruck, über ein einziges großes Maisfeld zu fliegen, welches gelegentlich von Schweine- und Rinderfarmen durchbrochen wurde. Umso größer war unsere Enttäuschung, als wir feststellen mussten, in einen Fall primitivsten Rassismus geraten zu sein, der gerade dabei war, sehr unschön zu enden.

Einer der größten Nachteile des 19. Jahrhunderts war das Fehlen moderner, potenter Sonnenschutzcremes. Es gab zwar Lotionen, die wir auftragen konnten, aber ihr Schutz hielt sich in engen Grenzen. Dafür sorgten sie aber für eine fettige Haut und lösten recht häufig Hautausschläge aus. Wollten wir reisen, waren wir auf die Nacht angewiesen, da auch das Wetter nicht wirklich mitspielte. Auf Phasen mit schweren Gewitterstürmen und Tornados folgte eine Phase mit strahlend blauem Himmel, bei dem die Fettcreme nicht wirkte und uns dazu zwang, während des Tages den Schutz dunkler Verschläge aufzusuchen. Die meiste Zeit verkrochen wir uns in irgendwelchen abgelegenen Scheunen.

Wir erreichten das ominöse Kuhkaff am Abend des zweiten Tages. Am Vortag hatte uns die aufgehende Sonne vorzeitig zur Landung gezwungen, zwanzig Meilen vor unserem eigentlichen Ziel. Kaum hatten wir die kleine Ansammlung von Holzhäusern, deren Einwohner sie ernsthaft für eine Stadt hielten, erreicht, bemerkten wir eine unheilvolle Stille in den Straßen. Ein kurzer Blick in das einzige Wirtshaus am Platz verstärkte unsere Verwunderung. Dem Kaff schienen die Männer zu fehlen, was eigentlich nicht sein konnte, weswegen Christiano seinen Geist öffnete und den Gedanken der überwiegend weiblichen Anwesenden lauschte. Es brauchte nicht lange, dass er mir deutete, ihm vor die Tür zu folgen. Er hatte genug erfahren.

»Das Kaff ist ein Fehlschlag.«, erklärte Christiano und bestätigte meine Befürchtung, »Die Sache hier hat nichts mit Orthon zu tun. Allerdings...« Die Augen meines Freundes funkelten unheilvoll.

»Was?«, ich kannte diesen Ausdruck. Das erste Mal sah ich ihn, als Christiano von Fra Silos Taten erzählte, wie dieser ihn und seinen geliebten Nuno in den Kerker und unter die Folter brachte.

»Die Männer dieser Stadt haben sich zu einem Lynchmob zusammengeschlossen. Sie sind auf dem Weg zur Farm von einem gewissen Thurgood und seinem Sohn Orwell. Die beiden sind schwarz, verstehst du? Schwarze Farmer, die das Pech hatten, während der letzten Unwetter ein wenig mehr Glück als die anderen gehabt zu haben.«

»Das ist doch noch nicht alles, oder?«, hakte ich nach.

»Es gibt Gerüchte, dass dieser Orwell auf Cowboys steht, genaugenommen auf einen ganz bestimmten Cowboy.«

»Also gut, schauen wir uns die beiden an.« Eigentlich war es untersagt, sich in die Angelegenheiten der Menschen einzumischen, aber bei aller gebotenen Diskretion bezüglich unserer blutsaugenden Natur widerstrebte es mir, einem mordenden Mob freien Lauf zu lassen.

Wir bogen in die nächste dunkle und unbeleuchtete Gasse ein, schauten uns um, dass uns niemand folgte und sprangen in die Luft. Ein kurzes Kreisen über dem Kaff reichte aus und wir hatten die Spur der mordlüsternen Männer als Wärmesignatur am Boden entdeckt. Wie ich schon früher erwähnte, mochten wir am helllichten Tag kaum besser als ein Maulwurf sehen können, doch in Dunkelheit und Schatten war unsere Sehkraft faktisch jedem anderen Lebewesen überlegen. Die Wärmebildspur des Mobs zog sich wie ein leuchtendes Band die Landschaft entlang. Es benötigte keine fünf Minuten Flugzeit, da hatten wir das Anwesen von Thurgood auch schon erreicht.

Leider kamen wir zu spät. Im Haupthaus war es viel zu still. Aus der Vogelperspektive konnte ich zwei reglose Körper im Hof der Farm liegen sehen. Ihr Wärmebild schimmerte dunkel; sie waren tot, wenn auch noch nicht lange. Wir kreisten über dem Anwesen. Alles sehr ruhig, bis wir einen Mann aus der Scheune der Farm rennen sahen, um sich mitten auf dem Markt zu übergeben.

»Die Scheune«, raunte ich Christiano zu. Der verstand sofort und folgte mir. Wir schwebten zum Gebäude herab und schlüpften durch eine Öffnung im Giebel, die auf den Heuboden führte, hinein. Unter uns rumorte es. Seile wurden über Dachbalken geschlagen und festgezogen. Langsam und keine Geräusche verursachend schwebten Christiano und ich zum Rand des halb in die Scheune eingezogenen Heubodens. Ein bisschen Vampirmagie und unsere Körper verschmolzen mit den Schatten um uns herum. Wir wurden selbst zu Schatten, die langsam vorkrochen und spähten, was sich zu unseren Füßen abspielte.

Wir kamen wirklich zu spät. An einem Balken hing an einer Schlinge um seinen Hals ein toter Mann von Mitte vierzig. Ich vermutete, dass es sich bei ihm um Thurgood, den Eigentümer der Farm handelte. Ihn konnten wir nicht mehr retten, aber vielleicht die beiden jüngeren Männer, die nackt und mit hinter ihren Rücken zusammengebundenen Händen in der Scheune standen, während die mordlüsterne Gesellschaft um sie herum damit beschäftigt war, auch den beiden nackten Kerlen ein Ende zu bereiten, wozu offenbar eine abenteuerliche Vorrichtung aus Seilen, Öllaterne und zwei Ambosse dienen sollten.

Bei den beiden gefesselten Männern handelte es sich natürlich um Orwell und Pete. Von letzterem war uns sein Name zu jenem Zeitpunkt allerdings noch unbekannt. Uns beeindruckte viel mehr, mit welcher stoischen Ruhe sie dem Treiben ihrer Peiniger und zukünftigen Mörder zuschauten, so als ob sie die ganze Sache nicht betraf. Christiano brachte es auf den Punkt.

»Die zwei gefallen mir. Ich kann fühlen, dass sie Angst haben, den anderen am liebsten an die Gurgel gehen würden und selbstverständlich ziemlich verzweifelt sind, aber sie lassen es sich nicht anmerken. Niemals deinen Feinden den Triumph gönnen, indem du ihn wissen lässt, dass du ihn fürchtest. Sollen wir eingreifen?«

»Noch nicht. Wenn ich das richtig sehe, sind die Idioten gerade damit beschäftigt, uns die Arbeit wesentlich zu erleichtern.«

Langsam zeichnete sich ein Bild von dem ab, was die Typen versuchten zu konstruieren. Wie ich bereits erwähnte, war Harry Dawson jun., neidzerfressener Nachbar von Thurgood und Orwell, die treibende Kraft hinter der mordenden Bande. Er war es auch, der darauf bestand, nach Thurgood auch seinen Sohn und dessen Freund zu töten, obwohl bei den Mitgliedern seiner Gang inzwischen Katerstimmung anlässlich ihrer Taten herrschte. Einer nach dem anderen Begriff, was aus ihnen geworden war. Spätestens beim Anblick des sich im Todeskampf windenden Thurgood wollten die meisten mit der Sache nichts mehr zu tun haben. Aber dafür war es nun zu spät. Es klebte Blut an ihren Händen und Harry Dawson wurde nicht müde, sie genau daran zu erinnern. Sie hätten etwas begonnen und müssten es jetzt zu Ende bringen, andernfalls würden sie selbst am Galgen enden. Weder dürfe es Zeugen geben, noch sollten hinterher Spuren zu finden sein, die möglicherweise Hinweise auf die Täter gaben.

Am Ende stimmte man Dawson zu, wenn auch widerwillig. Ob sie wollten oder nicht, sie mussten die Sache bis zum bitteren Ende durchziehen, was hieß, sich auch Petes und Orwells zu entledigen. Zum Glück bot ihnen ihr Anführer mit seiner abstrusen Konstruktion eine Möglichkeit, beim Ableben ihrer Opfer nicht anwesend sein zu müssen. In meinen Augen konnten sie ihre Feigheit nicht deutlicher unter Beweis stellen. Tatsächlich verließen sie die Scheune schweigend, verschämt und mit gesenktem Haupt. Zurück blieben zwei nackte Männer mit Schlingen um den Hals, deren Taue an je einem massiven Amboss hing. Dass diese die Schlingen durch ihr Gewicht nicht zuzogen, lag an zwei weiteren Seilen, die die Ambosse am Abstürzen hinderten. Unter diesem Seil stand eine Petroleumlaterne, die das Halteseil langsam durchkokelte.

»Feige Schweine!«, schnaubte Pete, der neben Orwell stand, »Irgendeine Idee, hier wieder rauszukommen?«

»Nein, leider nicht«, seufzte Orwell. Es war das erste Mal, dass er sich erlaubte, Gefühle zu zeigen. Orwells Augen wurden feucht, Tränen liefen seine Wangen herunter. »Pete, es tut mir Leid, dich in diese Sache mit hineingezogen zu haben. Es...«

»Quatsch! Du bist mein Kerl! Wir waren uns doch einig, zusammen zu sein, egal worauf das hinausläuft.«, Pete seufzte, »Irgendeine Idee, wie lange wir noch haben?«

»Ein paar Minuten? Ich weiß nicht.«, Orwell schielte zur Petroleumlampe, was aber mit der engen Schlinge um seinen Hals nicht einfach war. »Eigentlich ist es nett von Harry, dass er uns erst stranguliert, bevor die Scheune abfackelt.«

Ich musste grinsen. Die zwei Kerle hatten Mumm in den Knochen. Ihr Humor mochte zwar vor ätzendem Sarkasmus nur so triefen, aber im Angesicht eines sicheren Todes war dies mehr als nachvollziehbar.

»Ähm, shit ist das krank.«, stöhnte Pete, »Aber ich bekomme einen Steifen. Wie schräg ist das denn?«

Das war nicht krank, sondern kam ziemlich häufig vor. Die Schlinge um seinen Hals war sehr eng und drückte auf seine Halsschlagader. Die leichte Unterversorgung mit Sauerstoff ließ seinen Körper reagieren – mit einer Erektion.

Während Orwell und Pete noch über die Angemessenheit von versteiften Gliedern bei unmittelbar bevorstehenden Exekutionen spekulierten, ließ ich Christiano die Lage prüfen. Keiner von Harry Dawsons Truppe sollte etwas von dem mitbekommen, was ich für die beiden Männer plante. Meine Vorsicht war unbegründet. Der Mob hatte sich komplett zurückgezogen. Keiner wollte sich in der Nähe der Scheune aufhalten, sobald ihre Opfer ihr Leben verloren.

»Hallo, ihr zwei!«, ich sprang vom Heuboden herab und landete direkt vor Orwell und Pete, »Mein Name ist Constantin Varadin, darf ich euch ein Angebot unterbreiten, das euch aus eurer misslichen Lage befreit?«

»Äh, wer seid ihr?«, stammelte Orwell und starrte Christiano an, der entgegen den Naturgesetzen langsam vom Heuboden herabgeschwebt kam.

»Wir sind diejenigen, die zwischen euch und den zwei Ambossen stehen.«, erwiderte Christiano und zeigte mit einer beiläufigen Geste auf die schweren Eisenklötze, »Ich schätze, ihr habt noch fünf Minuten, vielleicht weniger.«

»Dann macht uns gefälligst los!«, platzte Pete der Kragen, was seine Schlinge schmerzhaft in seinen Hals drückte.

»Okay, spielen wir das kurz durch.«, übernahm ich wieder. »Wir befreien euch. Und dann? Wie ich hörte, ist dein Name Orwell«, wandte ich mich an Orwell, »Ich nehme an, dass das dein Vater ist, oder?«

Orwell nickte. Seine Augen funkelten vor Hass und kaum unterdrückter Wut.

»Nimm es bitte nicht persönlich. Aber wenn ich dich ansehe, weiß ich, worauf das hinausläuft. Sobald ich dich befreie, wirst du dich auf einen Rachetrip begeben.«

»Worauf du einen lassen kannst.«, kam die unumwundene Antwort des nackten schwarzen Mannes.

»Das habe ich mir gedacht. Deswegen... Was?«

Während ich mich mit den gefesselten Männern unterhielt, hatte Christiano beobachtend aber ansonsten still und schweigsam neben mir gestanden, bis er plötzlich aufschreckte, seine Augen schloss und den Anschein erweckte, in sich hinein zu horchen. Meine telepathischen Fähigkeiten waren eher rudimentär ausgebildet, weswegen ich nur sehr schwach fühlen konnte, dass sich jemand der Scheune näherte. Um die Gedanken eines Menschen lesen zu können, musste ich mich in seiner unmittelbaren Nähe befinden.

»Es ist Dawson«, verkündete Christiano, der in menschlichen Gehirnen auch aus größerer Entfernung wie in einem Buch lesen konnte. »Er will... Oh Mann, der Kerl ist wirklich krank. Er will den beiden beim Krepieren zusehen und sich dabei einen runterholen. Dem geht einer ab, wenn er Leute kalt macht. Und... ähm, wenn ich das richtig lese, wäre es nicht das erste Mal.«

»Wer seid ihr?«, stotterte Pete kreidebleich.

»Wir? Nette Jungs, die bereit sind, euch zu retten.«, erklärte Christiano und deutete zu mir, »Ich weiß, ihr Amerikaner seid Freiheitsfans. Aber in diesem Fall wäre es wirklich schlau, wenn ihr bereit wärt, euch Constantin anzuschließen.«

»Klingt nach Erpressung«, erwiderte Orwell und fügte mit finsterer Miene hinzu, »Und nach Sklaverei. Mein Vater war ein Sklave und ich wurde in die Sklaverei geboren. Unsere Wahl besteht also zwischen Freiheit und Tod auf der einen und Leben und Versklavung auf der anderen Seite. Klingt nicht sonderlich fair.«

Statt zu antworten, hielt ich einen Zeigefinger vor meinen Mund. Die beiden gefesselten Männer begriffen, was ich von ihnen wollte und schwiegen. Im Gegenzug entfernte ich die Petroleumlampe von den bereits leicht angekokelten Seilen, während Christiano sich umdrehte und mit einem der Schatten der Scheune verschmolz. Ich wiederum lehnte mich gemütlich an einen abseits und ebenfalls im Schatten liegenden Stützbalken und wartete, wenn auch nicht lange. Nach ein paar Sekunden konnten wir alle laute und deutliche Schritte hören, gefolgt vom Knarzen der Scheunentür. Zehn Sekunden später Stand Harry Dawson breit grinsend vor Orwell und Pete.

»Ah, ihr lebt noch. Wie schön.«, meinte der Typ und ließ seine Hand in Richtung seines Schritts wandern, um sich den deutlich erigierten Schwanz zu massieren. Plötzlich fiel sein Blick auf die Petroleumlampe. »Wie habt ihr...«

»Das war ich.«, ließ ich mich verlauten und trat aus dem Schatten, um mir das verblüffte Gesicht Harry Dawsons anzusehen. Der erkannte sofort, dass sein Plan schief lief und wollte den Rückwärtsgang einlegen, doch hatte er natürlich nicht mit Christiano gerechnet, der wie aus dem Nichts hinter ihm auftauchte und von hinten in seine Arme nahm. Sein Griff konnte mit jedem Schraubstock locker konkurrieren.

»Constantin, erlaubst du?«, fragte mein Freund und leckte sich über seine Lippen, wobei er seine voll ausgefahrenen Zähne aufblitzen ließ.

»Du willst von diesem Typen trinken?«

»Blut ist Blut«, meinte Christiano trocken.

»Da hast du auch wieder Recht. Bedien dich!«

Christiano ließ sich nicht zwei Mal bitten, rammte seine Zähne in Harry Dawsons Hals und begann kräftig zu saugen. Harry versuchte sich seinen Armen zu entwinden, was natürlich nicht funktionierte. Es dauerte nicht lange, da war der perverse Serienmörder zu schwach, um sich noch zu wehren. Genau in diesem Moment ließ Christiano von ihm ab. Für einen Moment hatte ich damit gerechnet, er würde Harry leertrinken, bis mir klar wurde, dass Christiano es verabscheute, Lebewesen zu töten, unabhängig davon, wie boshaft sie auch sein mochten. Sein Erlebnis mit Fra Silo hatte einen bleibenden Eindruck hinterlassen.

»Ich glaube, ihr wisst jetzt, wer wir sind.«, wandte ich mich an die beiden nackten Männer, die mit weit aufgerissenen Augen uns und den am Boden liegenden Dawson anstarrten. Dies war wieder so eine Szene, in der ich unseren Kodex sehr frei interpretierte. Die Regeln waren eindeutig. Wenn ein Vampir einem Kandidaten das Angebot unterbreitet, Mitglied des eigenen Hauses zu werden, durfte er dabei seine Identität nicht enthüllen, so wie ich es auch Florian nicht enthüllt hatte, als ich mit ihm über den Abgrund schwebte. Allerdings stand nirgendwo geschrieben, dass dabei nicht zufällig ein anderer Vampir anwesend sein durfte. Die Regeln des Kodex waren ebenso zahlreich wie widersprüchlich. Als wir uns gegenüber Basti und Phillip offenbarten, stand dies im völligen Einklang mit dem Kodex, da es sich um die Anwerbung von Blutspendern handelte. Unsere Regeln waren wirklich krude.

»Ist er tot?«, wollte Pete wissen.

»Nein, nur ohnmächtig.«, erklärte Christiano, »Es ist nicht an mir, über diesen Mann zu richten. Wenn jemand das Recht hat, dann Orwell. Er hat seinen Vater ermordet.«

»Dies ist mein Angebot«, fügte ich hinzu, »Schließt euch mir an und werdet Teil meiner Familie. Ich bin kein Dämon, kein Teufel oder eine Ausgeburt der Hölle. Ich bin Constantin Varadin und lade euch ein, Kinder meines Stammes zu werden. Ich biete euch ein Leben jenseits menschlicher Angst und Furcht. In meiner Familie, meinem Stamm sind alle gleich, egal wer er ist, welche Hautfarbe er trägt, ob er in seinem früheren Leben arm, reich, dumm oder schlau war. Vor allem ist es egal, mit wem er sein Bett teilt und wen er liebt.«

Wer hätte das gedacht, der schwarze Mann wurde rot. Gleiches galt für Pete, bei dem es natürlich deutlicher zu sehen war. Beide Männer versuchten sich einander zuzuwenden, was bei den Schlingen, die immer noch um ihre Hälse hingen und dem verwendeten Hanfseil weder einfach noch schmerzfrei ging. Aber wo ein Wille ist, ist halt auch ein Weg. Beiden gelang es, ihre Köpfe ein wenig zu drehen.

»Was meinst du?«, fragte Orwell, »Sollen wir diesen – ich kann nicht fassen, dass ich es wirklich ausspreche – Vampiren glauben?«

»Was spricht dagegen? Der Typ macht nicht den Eindruck, ein Arschloch zu sein.«

»Isser nicht!«, pflichtete Christiano ungefragterweise bei. »Jungs, worauf wartet ihr? Wollt ihr wirklich sterben? Wollte ihr wirklich durch die Hand dieses Penners hier den Löffel abgeben?«

Es mag hart klingen, aber so waren die Regeln. Sollten die beiden Männer mein Angebot ablehnen, sah ihr Zukunft nicht wirklich gut aus. Wir würden die Petroleumlampe wieder unter das Seil stellen, die Erinnerung an uns löschen und dem Schicksal seinen Lauf lassen. So verlangte es der Kodex. Ich hasste es.

»Okay, was müssen wir tun?«, verkündete Orwell seine Entscheidung.

Die Formel war nicht vorgeschrieben. Es ging einzig um die Willensbekundung: »Wollt ihr, Orwell und Pete, ohne Furcht und Angst in meinem Dienst leben. Wollt ihr, als freie Männer in meinen Dienst treten, geachtet und respektiert werden?«

Das mit den freien Männern zählte sonst nicht zu meiner Frage. Im Falle Orwells hielt ich es aber für wichtig zu betonen, dass niemand seinen freien Willen, seine Selbständigkeit und Persönlichkeit aufgeben musste, um in meinen Dienst zu treten.

»Ja, wenn Pete es ebenfalls will, dann will ich es auch.«, erklärte Orwell und schaute zu Pete. Der wollte gerade etwas sagen, da riss das angekokelte Seil, das den Amboss hielt, dessen Seil ihn strangulieren sollte. Noch bevor Orwell entsetzt die Augen aufreißen oder schreien konnte, war Christiano losgesprungen und hatte den Amboss aufgefangen. Ein vampirischer Körperbau hat eben seine Vorteile.

»Du wolltest etwas sagen?«, meinte Christiano amüsiert.

Der kreidebleiche Pete schluckte und krächzte mit heiserer Stimme: »Ja, ich will!«

»Tat doch gar nicht weh, oder?«, wollte Christiano wissen und begann unsere neuen Familienangehörigen zu befreien, indem er das Seil, das den Amboss mit Petes Schlinge verband, zerriss.

Eine Minute später hockten zwei nackte, gefesselte Männer auf dem kalten Lehmboden der Scheune. Ich war inzwischen in ihren Geist eingedrungen und hatte die Bindung an mein Blut geschlossen. Pete und Orwell hörten von nun an auf den Familiennamen Varadin.

»Ähm, nein, aber, war das alles?«, wollte Orwell kopfkratzend wissen.

»Wie fühlst du dich?«, stellte ich die Gegenfrage und kümmerte mich gleichzeitig um seine Fesseln und Schlingen.

»Gut, traurig, seltsam und geborgen. Constantin, was hast du mit mir gemacht?« Orwell schaute mich mit großen Augen an.

»Ich habe dich und Pete an mich gebunden. Ihr gehört jetzt zu mir. Ihr seid an mich, an meine Blutlinie gebunden. Es ist ein Band, das über das gesprochene Wort hinausgeht. Du kannst es fühlen. Horche in dich hinein!«

Orwell schloss seine Augen und lauschte. Es dauerte einen Moment, dann breitete sich ein glückliches Lächeln auf seinem Gesicht aus. Er hatte unsere Bindung entdeckt und begriff, worauf sie basierte – Respekt, Achtung, Freundschaft und Liebe.

»Hier müsste es doch irgendwo eine Schaufel geben, oder?«

Wenn jemand ein Gespür dafür besaß, eine etwas feierlich, rührselige Stimmung zurück in die Wirklichkeit zu bringen, dann Christiano. Dabei war seine Frage alles andere als scherzhaft gemeint und besaß einen ernsten Kern. Thurgood war nicht das einzige Opfer des mordenden Mobs. Vor ihm hatte die marodierende Horde auch die anderen Mitglieder seines Haushalts und die Mitarbeiter der Farm getötet. Christiano diskutierte nicht, er handelte und sein Handeln bestand darin, eigenhändig Gräber auszuheben, um diese unschuldigen Menschen, die er nie kennengelernt hatte, mit Würde und Respekt zu bestatten.

»Ich werde dir helfen.«

Mit diesen vier Worten bewies Pete ein beeindruckendes Taktgefühl. Ganz der Cowboy klopfte er Christiano auf die Schulter und deutete mit seinem Kopf in Richtung einer Ecke der Scheune, in der verschiedene Werkzeuge gelagert wurden, unter anderem auch diverse Spaten und Schaufeln. Schweigend und mit Grabwerkzeugen bewaffnet, verließen sie die Scheune. Orwell und ich waren allein, abgesehen vom besinnungslosen Dawson – und der Leiche von Orwells Vaters.

Die Tränen, die Orwells Augen verließen und seine Wangen herunterliefen waren ein gutes Zeichen. Er beging nicht den Fehler, seinen Schmerz und seine Trauer zu verdrängen. Ganz im Gegenteil lief er auf seinen Vater zu und nahm dessen toten Körper vorsichtig und liebevoll in seine starken Arme. Sehr sanft strich er sein Haar glatt und schloss seine hervorgequollenen Augen. Die Qual der Strangulation hatte ihre grausamen Spuren hinterlassen.

»Ich will ihn nicht so beerdigen. Nicht vollgekotzt, vollgepisst und vollgeschissen.«, flüsterte er, »Hilfst du mir, ihn zu waschen und anzukleiden?«

»Selbstverständlich«

Harry Dawson jr.

Wir benötigten fast die ganze Nacht für die traurige aber notwendige Arbeit der Beisetzung der Toten. Am östlichen Horizont ließ sich bereits ein schwacher Schimmer des anbrechenden Tages erkennen. Wir hatten die Opfer am Rande des kleinen Gemüsegartens der Farm unweit des Haupthauses bestattet. Pete sprach ein paar Worte. Worte der Trauer, Worte der Wut aber auch Worte der Dankbarkeit. Als er endete, ergriff Christiano das Wort. Nunos Name fiel nicht direkt, aber ich wusste, wovon mein guter Freund sprach, als er meinte, jeder Schmerz über einen Verlust trägt auch den Samen der Hoffnung in sich. Zum Schluss sprach Orwell. Er kniete vor dem Grab seines Vaters, betete still und begann dann zu sprechen.

»Du hattest es nie leicht in deinem Leben. Sklave eines grausamen Plantagenbesitzers, Vater in jungen Jahren, der Verlust unserer Mutter. Nein, du hattest es alles andere als leicht. Doch du hast nie aufgegeben, hast dich immer wieder aufgerappelt und für die Zukunft gekämpft. Ich danke dir. Ich danke dir, dass ich dein Sohn bin. Paps, ich liebe dich!«

Bei diesen Worten setzt die Dämmerung ein. Es war alles gesagt und für Christiano und mich höchste Zeit, ein schattiges Plätzchen zu suchen. Ich wollte mich schon in Richtung der Scheune wenden, als Pete meinte, im Haupthaus sei alles vorbereitet. Christiano und er hatten, nachdem sie die Gräber ausgehoben und die Toten bestattet hatten, auch noch den Keller, der als Schutzraum bei Tornados diente für uns vorbereitet. Er war kühl, dunkel und vor allem von innen verschließbar. Während Christiano und ich ruhten, wollten die beiden Männer wechselweise Wache halten. Am Abend sollte dann entschieden werden, was mit Harry Dawson geschehen sollte, den wir sicher gefesselt in der Scheune deponiert hatten.

»Du vertraust ihnen?«, wollte Christiano wissen, kurz bevor wir uns schlafen legten. »Sie könnten abhauen oder irgendwelchen anderen Unsinn verzapfen, statt zwei merkwürdige Blutsauger zu beschützen.«

»Ja, das könnten sie. Aber wie sollen sie lernen, uns zu vertrauen, wenn wir ihnen nicht vertrauen?«

»Du hättest ihnen sagen können, dass sie keine Wache schieben müssen.«

»Ja, hätte ich.«, gab ich grinsend zu. Kurz bevor wir uns vor der Sonne in Sicherheit brachten, hatte ich die Farm, das heißt die nähere Umgebung um das Haupthaus und die angrenzenden Gebäude mit einem Bannzauberspruch belegt. Jeden, der sich dem Gelände näherte, beschlich ein ungutes Gefühl, das sich mit jedem Schritt weiter bis zur Paranoia verstärkte. Niemand, der nicht über einen eisernen Willen oder einen Gegenspruch verfügte, wäre in der Lage, eines der Häuser zu betreten.


Der Tag verlief erwartungsgemäß ereignislos. Beschützt von Orwell und Pete schliefen wir bis zum Abend durch. Dann weckte mich mein knurrender Magen. Ich brauchte frisches Blut. Christiano war nach Harry Dawson jrs. Aderlass für die nächsten Tage versorgt.

»Guten Abend, ihr zwei«, begrüßte uns Pete, als wir aus dem Kellerloch gekrochen kamen, »Ich will ja nicht neugierig sein, aber wie geht es jetzt weiter? Mit uns und auch mit Dawson.«

»Ich werde euch alle Fragen beantworten, aber vorher – Frühstück! Ich bin bald zurück. Da sind ein oder zwei Halsschlagadern, die gebissen werden wollen. Aber Pete, vielleicht kannst du mir jemand empfehlen, der es verdient hätte, von mir besucht zu werden.«

»Du wirst sie doch nicht...?«

»Nein, nein. Keine Angst, sie werden keine Schäden davontragen. Allerdings kann ich nett und weniger nett zubeißen.«

Warum sollte ich Pete und Orwell nicht ein klein wenig Rache können? Die bittere Wahrheit war, dass niemand da war, der die Mörder des Vortags zur Verantwortung ziehen konnte oder wollte. Ich hatte da zwar eine Idee, wie der Gerechtigkeit vielleicht doch noch ein klein wenig Geltung verliehen werden konnte, doch erforderte diese Idee ein paar Vorbereitungen und zeichnete sich eher durch Subtilität aus. Ich hasste Unrecht, egal ob von Vampiren oder Menschen verübt. Pete verstand was ich vorschlug, grinste hinterhältig und beschrieb mir ein paar Farmer, die am Blutbad maßgeblich beteiligt waren.

Mein erstes Ziel führte mich in die Stadt und die dortige Gastwirtschaft. Der Laden wurde von einer sympathischen Frau mittleren Alters geführt, die aber ein wenig verzweifelt wirkte. Ihr Betrieb war so gut wie leer. Nur ein Reisender saß an einem der zahlreichen Tische und verspeiste ein durchaus wohlriechendes Mahl.

»Oh, junger Mann. Was darf ich dir bringen? Ein Bier?«

Gegen ein Bier war wenig einzuwenden. Einer meiner Vampire war in seinem früheren menschlichen Leben als Braumeister tätig und pflegte diese Kunst auch heute noch, wenn auch nur als Hobby. Während ich den Gerstensaft schlürfte, äußerte ich mich verwundert über die gähnende Leere des Gastraums. Die Wirtin reagierte auf meine Bemerkung unsicher, es schien ihr unangenehm zu sein, darüber zu sprechen. Sie wusste nichts. Ihre Gedanken zu lesen war einfach. Sie stand mir gegenüber und der Raum war so gut wie leer. Sie wusste zwar nicht, was ihre sonstigen Gäste in der letzten Nacht getrieben hatten, ahnte aber, dass es nichts gutes gewesen sein konnte. Die Frau eierte also wortreich um den heißen Brei herum und meinte, dass es eine schwere Zeit wäre, erst der harte Winter und dann das letzte Unwetter, da bliebe halt wenig Zeit und Geld für einen Gaststättenbesuch. Ich pflichtete ihr bei, die Unwetter und der strenge Winter wären wirklich ein Problem und legte ihr, ohne dass sie es merkte, genau die Stichworte in den Mund, die sie zum Reden brauchte. Ein paar Minuten später war ich über die Herrschaftsstruktur des Dorfs umfassend informiert. So zählte Harry Dawson jr. zu allem anderen als zu den beliebten Bürgern. Ganz im Gegenteil. Trotzdem hörten die Leute auf ihn. Er hatte eine Begabung, Menschen dazu zu bringen, Dinge zu tun, die sie eigentlich nicht tun wollten, die sogar im Gegensatz zu ihren Überzeugungen standen. Der Mann war gefährlich. Ich bedankte mich für mein Bier, zahlte und ging.

Als nächstes stattete ich ein paar der von Pete erwähnten Farmen einen Besuch ab. Nicht nur, um meinen Hunger zu stillen, sondern um mir die Gemütslage der Täter anzusehen. Wie ging ein Familienvater von vier Kindern, Eigentümer einer großen Farm, Ehemann und Arbeitgeber von einer Hand voll Angestellten damit um, wissentlich unschuldige Menschen ermordet zu haben? Das Ergebnis meiner Forschung war eindeutig: Schlecht. Allen Männern stand das schlechte Gewissen deutlich ins Gesicht geschrieben. Die Schuld nagte an ihnen und fraß sie langsam auf. Mein Mitleid für die Täter hielt sich in Grenzen, nicht aber für die von ihnen Abhängigen. Bisher ging mich das Drama eigentlich nichts an, aber mit Pete und Orwells Beitritt zu meinem Haus hatte sich die Lage geändert. Es war meine Pflicht dafür zu sorgen, dass die Morde gesühnt wurden, allerdings ohne dabei für Kollateralschäden zu sorgen – kniffelig. Doch zuerst stillte ich meinen Durst. Das Problem konnte warten und musste nicht sofort gelöst werden. Etwa zwei Stunden nach meinem Aufbruch kehrte ich zu Orwell, Pete und Christiano zurück.

Meine Rückkehr wurde bereits sehnsüchtig erwartet. Sowohl Pete als auch Orwell scharrten quasi mit den Hufen, um endlich ihre Fragen loszuwerden. Orwells wichtigste war die Frage nach Harry Dawson jrs. Schicksal.

»Das ist deine Entscheidung«, erklärte ich meinem Neuzugang, »Wie ich es sehe, steht Dawsons Schuld fest. Ich mag jetzt zwar dein Fürst sein, das heißt aber nicht, dass ich deine Entscheidungen treffe. Orwell, du bist nicht mein Sklave. Du bist ein freier Mann. Solltest du Dawsons Leben fordern, werde ich mich dem nicht widersetzen. Du hättest allen Grund dafür. Er hat deinen Vater ermordet.«

Es passierte genau das, was ich vermutete. Orwell wurde nervös.

»Ich weiß nicht, ob ich das kann.«

Das klang vielversprechend. Orwells moralisches Koordinatensystem schien intakt. Viele Menschen hätten das Angebot ohne zu zögern ergriffen, insbesondere, wenn ihnen eine vermeintlich höhere Instanz wie ich auch noch den Segen dazu gab.

»Du musst es nicht selbst tun«, meinte Christiano lakonisch, »Wenn du einen Henker brauchst, ich stände zur Verfügung. Keine Angst, es wird schnell gehen, sollte das dein Problem sein. Bevor Dawson begreift, was passiert, ist es auch schon geschehen.«

Christiano, diese alte Ratte, hatte sofort begriffen, dass ich Orwell testete. Er konnte nicht anders und musste wieder einen oben drauf setzen. Unser schwarzer Freund reagierte schockiert.

»Das meinst du nicht ernst, oder?«

Eine Weile ließ Christiano Orwell zappeln, dann grinste er breit und meinte: »Jein. Ich würde es tun, wenn du mich darum bittest, wirklich ernsthaft und überzeugt darum bittest, wäre aber froh, wenn du es nicht tust. Glaube mir, ich spreche aus eigener Erfahrung. Du willst nicht, dass Blut an deinen Händen klebt. Rache ist nur im ersten Moment süß, wird aber sehr schnell bitter.«

Hatte Christiano bereut, Fra Silo getötet zu haben. Nein, nicht direkt, denn er wusste vorher, welchen Preis er dafür zahlen musste. Obwohl die Tat mehr als ein Jahrhundert zurück lag, war sie stets präsent und prägte das Handeln meines Freundes. Einen Gegner zu töten, kam für Christiano nur in wirklich extremen Ausnahmefällen in Frage, etwa, wenn sein eigenes Leben oder das seiner Familie, der Mitglieder des Hauses Varadin, in Gefahr war. Allerdings maßte er sich nicht an, diese Haltung von anderen ebenfalls zu erwarten oder sie ihnen aufzuzwingen. Sollte Orwell wirklich Dawsons Tod verlangen, hätte Christiano keine Sekunde gezögert, den Richtspruch zu vollstrecken.

»Ich weiß nicht, wie ich mich entscheiden soll.«, Orwell schaute hilfesuchend zwischen uns hin und her, »Einerseits könnte ich... Dawson hat meinen Vater umgebracht. Vor meinen Augen. Ich hasse ihn dafür und würde ihm am liebsten den Hals umdrehen. Aber wäre ich dann nicht genau so wie er? Dawson muss für seine Taten geradestehen, aber nicht vor mir, sondern vor einem ordentlichen Gericht!«

Christiano wechselte mit mir einen vielsagenden Blick. Orwell verlangte genau das, was mein guter Freund gehofft hatte.

»Ich konnte ein wenig in seinen Gedanken lesen und hatte es glaube ich schon erwähnt. Der Mord an deinem Vater war nicht sein erster. Er hat schon früher gemordet, doch hatte er dabei keine Helfer. Wenn ich es richtig verstanden habe, wird er in drei Bundesstaaten gesucht. Wir könnten seine Erinnerungen an uns löschen und ihn nach Indiana bringen. Wenn ich seine Erinnerungen richtig gelesen habe, hat er in der Nähe von Shelbyville vier Männer ermordet – aus Spaß und weil ihm dabei einer abgeht!«

»Indiana?«, Orwell stöhnte, »Habt ihr eine Ahnung, wie weit das ist? Selbst mit der Eisenbahn wären wir Tage unterwegs und ich weiß noch nicht einmal, ob die schon eine Bahnstrecke haben. Ich schätze, dass wir locker zwei Wochen unterwegs wären, wenn nicht noch länger.«

Die vielsagen Blicke, die Christiano mit mir auf diese Bemerkung hin austauschte, blieben nicht unbemerkt. Pete brachte seine Irritation in einem Wort auf den Punkt: »Was?«

»Ihr habt Recht. Indiana liegt nicht nebenan, aber das stellt für uns kein wirkliches Problem dar. Die Frage, die ich euch stellen möchte, lautet deswegen auch: Was wollt ihr machen? Was sind eure Ziele? Orwell, dies ist jetzt deine Farm. Willst du hierbleiben und sie mit Pete weiter bewirtschaften?«

Wir saßen in der großen Küche des Farmhauses. Hier wurde bisher für die Familie und die Angestellten gekocht und gemeinsam die Mahlzeiten eingenommen. Die Köchin war tot. Sie war eine der ersten, die vom Mob erschlagen wurde. Aber warum? Olivia, so ihr Name, hatte nie jemandem irgendein Leid zugefügt, war immer nett und hilfsbereit, ihr einziges Verbrechen bestand darin, Köchin Thurgoods zu sein und fiel deswegen dem Mob zum Opfer. So wusste Pete zwar, wie man ein Bauernfrühstück aus Eiern, Zwiebeln, Speck und Kartoffeln zubereitet, doch konnten wir fühlen, dass es einfach nicht dasselbe war, ob er oder Olivia in der Küche stand. Pete wirkte bei allem Können, das er an den Tag legte, an den zwei großen Herden einfach irgendwie deplatziert. Dies spürte auch Orwell und sah sich nachdenklich und wehmütig um.

»Ich weiß nicht, wie es dir geht«, wandte er sich an Pete, »Aber ich glaube nicht, dass ich hierbleiben will. Nachdem was gestern geschah, ist mir die Farm merkwürdig fremd geworden. Alles hier erinnert an meine Eltern, an Thurgood und Maria. Ich glaube nicht, dass es mir gelingt, hier loszulassen. Auf der anderen Seite ist dies das Land meiner Eltern, mein Land, das ich nur ungerne verlieren möchte.«

»Habt ihr schon jemals von der Fearless Night Trading Company gehört?«

Natürlich hatten sie noch nie von dieser kleinen Bostoner Firma gehört. Die wenigsten Menschen kannten sie, was ganz im Sinne ihres Eigentümers war, einem sympathischen älteren Vampir meines Clans. Anders ausgedrückt hieß dies, dass die Fearless Night TC Ltd. nichts weiter war, als mein Brückenkopf in der neuen Welt. Weltumspannende Konzerne zählten Mitte des 19. Jahrhunderts noch zur absoluten Seltenheit und hätten Fragen nach den Besitzverhältnissen aufgeworfen. Weswegen Ambrose Rutherford jr. diskret und ohne Aufsehen zu erregen als mein Stellvertreter in den Vereinigten Staaten von Amerika agierte. Ich fragte mich, was Ambrose wohl davon hielt, in das Geschäft mit landwirtschaftlichen Gütern einzusteigen?

»Was haltet ihr beiden davon, euer Testament zu machen?«

Ein zwiespältiger Gast

Florian

Dass meine Vergewaltigung nicht Zufall, sondern geplant war, überraschte mich dann schon, obwohl es dies nach allem, was wir inzwischen in Erfahrung gebracht hatten, nicht dürfte. Die Zielstrebigkeit, mit der unser Gegner mein Leben kontrolliert hatte und mich gezielt in die Arme Constantins trieb, verdiente Bewunderung. Aus einem verqueren Blickwinkel war ich ihm oder ihr sogar dankbar. Wenn ich die Nebenwirklungen, wie einen prügelnden Vater oder mobbende Kollegen ignorierte, blieb unter dem Strich die Liebe zu Constantin stehen. Nein, eigentlich musste ich die Nebenwirkungen gar nicht ignorieren, Constantin wog alles auf. Gegen die Qualen und das Leid meines früheren Lebens standen so gute Menschen, das heißt Vampire, wie Christiano, Nicolas oder Simon. Nein, ich vermisste mein altes Leben kein Stück.

Umso mehr beunruhigten mich Marcos Informationen. Das Thema, welches sich mit den drei Namen Momsen, Andreas und Mario verband, war noch lange nicht ausgestanden. Eigentlich war der Zeitpunkt gekommen, um einen Schlussstrich zu ziehen und den Job bei Niederreuter aufzugeben. Auf das Gehalt war ich wirklich nicht mehr angewiesen. Und mich von homophoben Kollegen mobben zu lassen, musste ich mir auch nicht mehr geben. Was hielt mich noch?

Zum einen Vernunftsgründe. So kurz vor der Sitzung des hohen Rats wollte ich kein Risiko eingehen und auf den letzten Metern Constantin vielleicht noch in Gefahr bringen. Aber abgesehen von derartig rationalen Überlegungen hatte mich inzwischen auch die Neugier gepackt. Zu einem guten Stück gefiel es mir, meine vorbestimmte Rolle weiterzuspielen. Wie beim Staffelende einer guten Fernsehserie fieberte ich dem großen Showdown entgegen. Der Drop Niederreuter war noch nicht zu Ende gelutscht.

»Danke«, bemerkte ich knapp.

»Wofür?«, wollte Marco daraufhin wissen.

»Dass du mit mir gesprochen hast.«, wie weit sollte ich meinen Kollegen in meine Überlegungen einweihen, wo ich mir selbst noch nicht sicher war, wie es weiterging? Oder sollte ich den Fortgang der Geschichte ein wenig forcieren und mehr Spin hineinbringen, oder doch lieber den Ball flach halten und abwarten, was sich ergab? In welche Richtung sich die Geschichte auch immer entwickeln mochte, so wollte ich Marco aus der Schusslinie haben. Wenn Mario und Andreas tatsächlich eine terminale Lösung des Florianproblems anstrebten, sollte er nicht am Ende als Mittäter dastehen.

»Ich glaube, du hast recht.«, fuhr ich fort, »Mario und die anderen werden nichts unternehmen, bevor Momsen nicht zurück ist. Er kommt morgen Abend, das heißt vor übermorgen Abend wird nichts geschehen. Wenn die Typen etwas gegen mich unternehmen wollen, dann wahrscheinlich hier im Laden nach Feierabend. Andreas hatte mich doch selbst gewarnt, dass so eine Werkstatt sehr gefährlich sein kann.«

»Okay«, Marco klang nicht überzeugt. Auf jeden Fall klang er unsicher. Aber vielleicht hatte dies auch damit zu tun, dass er immer noch nicht sicher war, wie er mit meiner Reaktion auf seine Beichte umgehen sollte.

»Hey, Kopf hoch!«, versuchte ich meinen Kollegen aufzumuntern, »Lass die Grübelei. Du bist ein netter Kerl, was du mit deinem Geständnis deutlich unter Beweis gestellt hast. Wenn das hier vorbei ist, sollten wir uns zusammensetzen und uns in Ruhe aussprechen.«

Während sich Marco noch fragte, wie er mit seinem unerwarteten Glück umgehen sollte, nicht im Knast versauern zu müssen, war Christiano zu uns zurückgekehrt.

»Und Jungs, alles geklärt?«

Die Antwort lautete ja, was hieß, dass auch das improvisierte Treffen sein Ende fand. Ich freute mich schon, endlich Feierabend machen zu können, doch da hatte ich die Rechnung ohne Christiano gemacht.

»Und Marco, hast du Lust auf ein Bierchen mit rum zu kommen?«

Wie bitte? Was ritt diesen durchgeknallten Portugiesen, Marco zu sich einzuladen? Hatte er vergessen, dass zu Hause ein weiterer Blutsauger hockte? Der Mann liebte es offenbar, mit dem Feuer zu spielen.

Der zeigte sein entwaffnendes Sonntagsausgehlächeln. So entwaffnend, dass Marco begann nach Luft zu schnappen, während sein Gesicht ein gesundes Rot annahm. Die Einladung brachte mich in Zugzwang. Sollten meine früheren Beteuerungen gegenüber Marco nicht wie hohles Gewäsch erscheinen, konnte ich jetzt kaum kneifen.

»Meint ihr das ernst?«, wollte unser Kollege wissen und wechselte seinen fragenden, unsicheren Blick zwischen mir und Christiano hin und her.

»Hast du den netten Mann nicht gehört?«, erwiderte ich, »Natürlich kommst du mit.«


»Wow!«

Diese Reaktion schien sich beim Anblick von Christianos Appartement zum Standardkommentar zu entwickeln. Die vollständig geöffnete Panoramawand trug nicht unerheblich dazu bei. Für mich viel überraschender war Nicolas, der sich gemütlich auf dem Designersofa lümmelte und sich vom Sonnenschein nicht sonderlich stören ließ. Statt seiner Mönchskutte trug mein Familienmitglied ziemlich coole Klamotten, die eindeutig dem Kleiderschrank unseres Gastgebers entsprangen. Bei seiner Kleidungswahl bewies mein ehemaliger Mönch nicht nur einen erstaunlich guten Geschmack, er wusste auch, wie er seinen durchaus muskulösen Körper gut zur Geltung brachte. Ich musste mir immer wieder daran erinnern, dass der Mann ein ausgebildeter Schwertkämpfer war. Wer je ein Schwert in seinen Händen hielt und sah, wie Nicolas damit umging, ahnte, dass er kein Schwächling sein konnte. Was sein neues Outfit nicht veränderte, war die Physiognomie seines Gesichts. Der ehemalige Nosferatu ließ sich kaum verleugnen. Dies bemerkte auch Marco, der sich vor Schreck prompt an seiner eigenen Spucke verschluckte.

»Wen bringt ihr denn da nettes mit?«, wollte Nicolas unbeeindruckt wissen.

»Dieser hustende Kerl ist Marco«, erläuterte Christiano, während ich dem hustenden Kollegen auf den Rücken klopfte, »Einer unser Kollegen, den wir auf ein Bier eingeladen haben.«

»Bier?«, hakte Nicolas anzüglich nach, schaltete aber sofort auf einen freundlich sachlichen Ton um, »Was für ein Glück, dass ich vorhin einkaufen war.«

Einkaufen? Marco hatte inzwischen ausgehustet und starrte das geil gekleidete muskulöse Monster namens Nicolas dermaßen entgeistert an, dass ich mich zu einer Erklärung genötigt sah.

»Das ist Nicolas.«, stellte ich ihn vor, »Nicolas ist ein Verwandter von mir und ein wirklich netter Kerl. Nicolas, das ist Marco.«

»Hallo Marco«, begrüßte mein Marschall unseren Gast. Ich meinte, ein Fragezeichen hinter dem Namen meines Kollegen gehört zu haben.

»Hallo Nicolas«, stammelte Marco und starrte dabei den Exnosferatu wie hypnotisiert an. Der Angestarrte räusperte sich, grinste und meinte dann: »Seh ich wirklich so unheimlich aus?«

»Ähm!«, stammelte Nicolas, wandte seinen Blick ab und starrte stattdessen zu Boden, »Entschuldigung, ich wollte nicht...«

»Hey, ist okay«, Nicolas lachte und tat etwas erstaunliches. Er verwuschelte Marco die Haare, was dieser ohne Protest mit sich machen ließ, »Ich weiß, dass ich gewöhnungsbedürftig aussehe. Aber trau mir, ich habe ein Herz aus purem Gold.«

Das brach das Eis. Nicolas lachte und setzte sich in Richtung Küchenzeile in Bewegung: »Bier? Ich habe Pils und Weizen gekauft.«

»Pils!«, rief Christiano. »Weizen!«, meldete ich meinen Wunsch an. Marco sagte nichts, sodass Nicolas nachhakte: »Und für dich?«

»Ein Pils?«, kam es ängstlich.

»Alles klar.«, bestätigte Nicolas unsere Bestellungen und begann sofort mit der Auslieferung. Als erstes warf er Christiano eine ungeöffnete Flasche zu, obwohl dieser gut sieben Meter entfernt stand. Trotzdem fing er sie nicht nur mit atemberaubender Sicherheit direkt aus der Luft, sondern schnippte auch noch den Kronkorken mit seinem Finger von der Flasche. Marco kam aus dem Staunen nicht heraus. Woher sollte er auch wissen, dass er in die Fänge dreier Vampire geraten war?

Während mein Kollege noch ungläubig die Flugbahn der Bierflasche nachvollzog, kam Nicolas mit einem geöffneten Exemplar zu ihm.

Mit den Worten »Hier Kleiner, dein Bierchen.« drückte der Exmönch dem verdatterten Menschen die Flasche mit dem gut gekühlten Gerstensaft in die Hand, um sich anschließend wieder in die Küche zurückzuziehen, wo er sich und mir je ein Weizen in passende Gläser abfüllte. Kurze Zeit später hielten wir alle unsere Getränke in den Händen, stießen an – Marco etwas zögerlich – und ließen das kühle Nass unsere Kehlen hinunterrinnen. Ich gebe zu, dass ich nach der reinen Blutkost im Kloster so ein kaltes Bier richtig genoss.

»Junge, entspann dich!«, forderte Christiano Marco auf, griff nach seiner Schulter und schob ihn in Richtung Sessel, auf dem sich der verwirrte Typ widerstandlos niederließ. »Du erlaubst, wenn ich es etwas dunkler mache? Du weißt ja, dass Flo und ich unter einer Lichtallergie leiden.«

Die Frage war natürlich rein rhetorisch gemeint und so wartete Christiano auch nicht Marcos Antwort ab, sondern betätigte direkt den Schließmechanismus. Die solide Betonwand fuhr aus dem Boden und sperrte wenige Sekunden später das Sonnenlicht aus. Im gleichen Moment flammten die gläsernen Leuchtpaneele an den übrigen unverbauten Wänden auf und tauchten das Appartement in ein angenehmes, warmes Licht.

»Okay«, kam es unerwartet intensiv von Marco, »Ich mag nicht der Hellste sein, aber um zu begreifen, dass hier was nicht stimmt, muss ich keine Raumfahrttechnik studiert haben. Wer zum Teufel bist du?« Die Frage richtete sich direkt an Christiano. Doch bevor der antworten konnte, fuhr unser Kollege mit seinen Überlegungen fort. »Dies ist ein megageiles Appartement. Nichts, was man sich vom Gehalt eines Tischlerlehrlings leisten könnte. Ach was sag ich? Das könnte sich selbst Niederreuter nicht leisten. Wenn ich dich so sehe, wenn ich die Einrichtung sehe, die Klamotten, die du immer trägst, die Fahrzeuge, die du immer fährst, kann ich mir nicht vorstellen, dass du auch nur auf einen Cent angewiesen bist, den du in unserem Laden verdienst. Also, mein lieber Christiano, wer bist du? Aber warte. Bevor du mir irgendein Märchen auftischst, lass mich noch etwas sagen.«

»Schieß los!«, erwiderte Christiano und trank genüsslich schmunzelnd sein Bier.

»Du arbeitest nicht zufällig in unserem Laden. Du bist genau in dem Moment bei uns aufgekreuzt, als Flo verschwand. Und als dieser wieder auftauchte, begann sich Florian nicht nur komplett zu verändern, sondern schien sich auch prompt zum besten Freund unseres neuen Stifts zu entwickeln. Nee, du machst mir nichts vor. Zufall ist etwas anderes. Und erzähl mir nicht, ihr wärt nur Freunde, weil ihr beide schwul seid. Das könnt ihr meiner Oma erzählen, und selbst die würde euch auslachen.«

»Euer Kollege ist ein schlaues Kerlchen«, kam es von Nicolas, der es sich auf einem Sessel gemütlich gemacht hat.

»Du hast recht«, gestand ich Marco. Langsam dämmerte mir, warum ihn Christiano zu sich eingeladen hatte. Er musste seine Gedanken gelesen haben. Dabei muss ihm aufgefallen sein, dass Marco damit begonnen hatte, Spekulationen über uns anzustellen. Statt den Mann mit seinen Vermutungen allein zu lassen und zu riskieren, dass diese in eine falsche Richtung liefen, entschied er, ihn zu uns einzuladen, um selbst die Richtung bestimmen zu können. Christiano war nicht nur ein fantastisch guter, sondern auch sehr weitsichtiger Freund.

»Du hast mit allem recht.«, begann ich den Versuch einer Erklärung, »Christiano braucht nicht bei Niederreuter zu arbeiten. Er ist Mitglied einer wirklich wohlhabenden Familie. Statt sich aber auf seiner Kohle auszuruhen, hat er mich unter seine Fittiche genommen. Nachdem ihr mich... du weißt schon... Nun, ich war verletzt. Christiano und andere aus seiner Familie haben sich um mich gekümmert, körperlich, als auch seelisch, wozu auch zählte, mein Selbstbewusstsein zu stärken. Tja, was soll ich sagen. Wir sind dabei sehr gute Freunde geworden. Allerdings kam es zu einem Rückschlag und ich verlor mein Gedächtnis. Man entschied daraufhin, dass Christiano als mein Schutzengel fungieren sollte.«

So krude die Story klang, sie entsprach mehr oder weniger der Wahrheit, wenn auch unter Auslassung kleiner Details, wie dass Christiano, Nicolas und ich Vampire waren.

»Flo als Aschenputtel«, knurrte Marco, »Junge, dass passt zu dir. Schlaft ihr eigentlich miteinander?«

Jeder andere hätte auf die letzte Frage verärgert reagiert und geantwortet, dass dies wohl niemanden etwas anginge. Ich war froh, dass Marco sie stellte. Christianos Herkunft und meine Veränderungen schien keine Rolle mehr zu spielen. Für den Moment war unser Kollege mit meiner Erklärung zufrieden. An ihm nagte etwas anderes. Das konnte ich deutlich aus der Art, wie Marco die Frage stellte heraushören. Da schwang ein Hauch von Neid, aber vor allem Sehnsucht in der Stimme mit. Marco hatte niemanden, niemanden, an dessen Schulter er sich lehnen, an dessen Brust er sich schmiegen oder Lenden er sich pressen konnte.

»Ja, tun wir. Wir alle drei schlafen miteinander.«

Er hatte gefragt und ich war auf seine Reaktion gespannt. Die war ausgesprochen interessant. Marco zuckte zusammen, schaute von mir zu Christiano und von Christiano zu Nicolas. Wie ich erst später bemerkte, hatten sich mit meiner Verwandlung in einen Vampir bei mir empathische Fähigkeiten entwickelt, die mit dem Servius-Novatin auch noch stärker wurden. Während Marcos Blick von einem zum anderen wechselte, wechselten auch seine Mimik und die Signale, die sein Körper unbewusst ausstrahlte. Christiano und mich bedachte er mit fast identischen Emotionen: Sehnsucht, ein Hauch von Neid und bei mir auch noch deutlich Schuld und Scham. Bei Nicolas empfing ich zusätzlich völlig andere Emotionen. Neben der Sehnsucht versprühte Marco auch eine seltsame Kombination aus Abscheu und Verlangen, die ihn deutlich verunsicherte. Unser lieber Marco fühlte sich von Nicolas ebenso angezogen wie abgestoßen, wobei die Anziehung die Oberhand gewann. Ich gebe zu, dass Nicolas Totenkopffresse wirklich zu seinen gewöhnungsbedürftigen Attributen zählte, insbesondere für einen Menschen. Auf der anderen Seite war er wirklich attraktiv und ein absolut geiler Liebhaber.

»Habt ihr Hunger? Ich könnte uns etwas Pasta zaubern.«, platzte Nicolas in die Gesprächspause und brach damit den Bann.

»Also ich hätte Hunger«, verkündete Christiano, was hieß, dass er Marco noch nicht gehen lassen wollte.

Was als Frage begann, endete ein paar Momente später mit einer gemeinsamen Kochsession. Marco deckte den Tisch, Nicolas bereitete die Pasta, Christiano und ich schnibbelten Salat. Ein paar Mal hielt ich die Luft an, nämlich immer dann, wenn Nicolas oder Christiano den Kühlschrank öffneten. Dort lagerten nicht nur Salat und Hackfleisch, sondern auch reihenweise Blutbeutel, deren Existenz ein kleines Erklärungsproblem bedeutet hätte.

Meine Sorge war unbegründet. Marco war alles andere als am Inhalt des Kühlgeräts interessiert. Außerdem gaben weder Christiano noch Nicolas Nutzungsverhalten dazu Anlass, irgendwelche Neugier zu wecken. Eine gute dreiviertel Stunde später stand ein duftendes Mahl auf dem Tisch. Vier Männer füllten ihre tiefen Teller und langten ordentlich zu. Dazu gab es ein weiteres Bier, was die Stimmung am Tisch lockerer werden ließ.

»Was?«

Das zweieinhalbte Bier ließ nicht nur bei Marcos Hemmungen schwinden, sondern lockerte auch unsere Zunge. In diesem Fall die von Nicolas, der – ich bezweifelte, dass es sich um einem Zufall handelte – Marco gegenüber saß und von diesem permanent angestarrt wurde. Die Frage war nicht böse gemeint, sonst hätte kein Lächeln seine Lippen umspielt. Ganz im Gegenteil grinste er Marco nach der Frage sogar provozierend an. Der senkte sofort seinen Blick und betrachtete seinen inzwischen leergegessenen Teller.

»Ich mach dich doch nicht etwa immer noch nervös, oder?«, piekste Nicolas Marco an. Natürlich machte er meinen Kollegen nervös und wusste dies auch ganz genau.

»Sorry, aber ja, du machst mich nervös!«

Besteck schepperte in Marcos leeren, tiefen Teller. Überrascht stellte ich fest, dass ich nicht der einzige war, der Hemmungen hatte, anderen in die Augen zu schauen. Während ich meine überwunden hatte, wobei sicherlich der Wechsel vom Menschen zum Hämophagen eine nicht ganz unerhebliche Rolle spielte, steckte in Marco eine tief verwurzelte Unsicherheit, die ich bei ihm nie erwartet hätte. Oder ließ ich mich von unserer unerfreulichen Begegnung täuschen?

Während ich noch über Marcos Motivation nachdachte, fiel mein Blick auf Christiano, den ein sehr hintersinniger Ausdruck zierte, der sich in ein gutmütiges Lächeln verwandelte, als er meinen Blick auf sich bemerkte. Mir klappte der Unterkiefer herunter, als mir klar wurde, was gerade ablief. Mir fehlten die Worte, was Nicolas dazu nutzte, das Spielchen mit Marco in die nächste Runde gehen zu lassen.

»Schau mich ruhig an.«, forderte er Marco mit einem Hauch telepathischer Bestärkung auf. Der zögerte einen Moment, sammelte Mut und glotzte daraufhin dem Exmönch in seine Exnosferatufratze.

»Du...«, weiter kam mein Kollege nicht. Seine durchaus brauchbare Kinderstube hinderte ihn daran, die Makel anderer Menschen direkt anzusprechen. Ich gebe zu, dass nach menschlichen Maßstäben die Nosferatu ziemlich entstellt aussahen. Obwohl es entstellt nicht ganz traf. Die sanften Gemüter litten unter einer geradezu tragikomischen Physiognomie, vor allem dann, wenn sie zu jenen Nosferatu zählten, die ihre Saugzähne nicht mehr einziehen konnten und dadurch permanent lispelten. Nicolas war kein Nosferatu mehr. Das Ritual hatte uns beide verändert, was sich bei Nicolas in deutlich menschlicheren Zügen wiederspiegelte, als zu Zeiten als Nosferatu. Trotzdem war sein Äußeres gewöhnungsbedürftig. Doch sobald man hinter die tiefliegenden Augen und das totenschädelartige Gesicht schaute, entdeckte man einen attraktiven Kerl, der gleichzeitig Härte und Sanftheit, Strenge und Güte besaß. Und genau diese Wesenszüge sollte Marco entdecken.

»Ähm, ich hoffe, du nimmst es mir nicht übel, aber du siehst ziemlich krass aus.«, brachte es Marco auf den Punkt, »Bitte, reiß mir nicht den Kopf ab, aber du hast eine echte Totenschädelfresse. Und trotzdem, da lauert so eine geile Kerligkeit in dir. Ich... Oh...«

Unser Gast lief rot an, als ihm dämmerte, dass er Nicolas gerade als geilen Kerl bezeichnet hatte. Eine Bemerkung, die man als ziemlich direkte Anmache verstehen konnte. Mein Familienmitglied nahm es als Kompliment und lächelte erfreut.

»Hey, werd nicht rot. Das war nett.« Beruhigte Nicolas unseren Gast. Christiano unterdrückte ein Kichern. Täuschte ich mich oder fand mein Marschall etwa Gefallen an meinem Kollegen? Wenn ja, stand mir die erste Bewährungsprobe als Familienoberhaupt bevor. Die bekannten Unterschiede im Nahrungsplan und Tagesablauf waren durchaus geeignet, für Probleme zu sorgen. Doch vorerst musste ich darüber keine Gedanken verschwenden, und das aus ganz profanen Gründen. Es war Montagabend und somit der nächste Tag ein normaler Arbeitstag. Christiano, Marco und ich mussten früh raus. Dies fiel auch Marco ein, weswegen er sich räusperte und meinte, dann mal langsam los zu müssen.

»Nein, du bleibst hier!«, stoppte Christiano unseren Kollegen und erntete allseits fragende Gesichter. »Ich kann dich nach drei Bier unmöglich noch fahren lassen. Du kannst im Gästezimmer schlafen. Waschzeug und Handtücher sind da. Bettwäsche bring ich dir. Um frische Klamotten kümmern wir uns morgen.«

Unser Kollege wollte eigentlich noch etwas entgegnen, sah aber schnell ein, dass Christiano Recht hatte. Es wäre mehr als dumm, seinen Führerschein für ein Bierchen zu viel zu riskieren. Immerhin hatte die Variante, Christianos Angebot anzunehmen den Charme, noch ein wenig mit den beiden Kollegen und diesem anziehend abstoßenden Totenschädeltypen plaudern zu können. Während der letzterwähnte begann, das Geschirr abzuräumen, verlagerte sich der Rest von uns in Richtung der sowohl stylischen als auch gemütlichen Sitzgruppe. Dass Christiano und ich die Sitzgelegenheiten in Beschlag nahmen, auf denen eher allein gesessen wird und damit Marco dazu brachte, sich auf dem großen Lümmelsofa niederzulassen, auf dem auch Nicolas Platz nehmen musste, wollte er nicht stehen, war durchaus beabsichtigt.

»Nachtisch?«

Mein Exmönch verblüffte mich immer mehr. Ich begann mich bereits zu wundern, was er so lange in der Küche rumorte, als Nicolas mit einem Tablett aufkreuzte, das mit vier Schalen Eis, Früchten und einem Topping aus Schokoladensoße und etwas, das mich an Eierlikör erinnerte, überzogen war. Wo hatte der Mann so gut kochen gelernt?

»Das ist selbstgemachter Eierlikör auf Congnacbasis. Das Zeug aus Doppelkorn ist ja nur zum Einreiben zu gebrauchen.«

»Eierlikör?« Marco prustete los »Das hat meine Oma immer geschlabbert.«

»Das nicht!«, korrigierte Nicolas.

Nichts gegen Marcos Oma, aber das Zeug schmeckte gut und das Dessert sogar noch besser. Doch viel interessanter war, Marco und Nicolas auf dem Sofa zu beobachten. Die erotische Spannung zwischen den beiden war greifbar und ließ unseren menschlichen Kollegen unruhig umherrutschen, bis es ihm nach Dessert und Schamfrist zu viel wurde und er sich für die Nacht verabschiedete. Christiano, ganz der galante Gastgeber, brachte unseren Kollegen zu seiner Unterkunft im Gästezimmer, das eher einer Gästesuite gleich kam.

»Und, was hältst du von meinem Vergewaltiger?«

Woher kam plötzlich diese Aggressivität? Ich war selbst verwundert, dass ich ausgerechnet eine Frage nach Sympathie und Antipathie mit einer Gewalttat verband. Nicolas war es nicht, stattdessen bedachte er mich mit einem verständnisvollen Blick, stand auf, ging zum Kühlschrank und holte uns zwei Blutkonserven, die er aber in Schalen umfüllte, mit Kräutern versetzte und in der Mikrowelle erwärmte.

»Trink!«

Wie schön – Nicolas kannte nicht nur die Rezepte der Nosferatu, er wusste auch, wie sie zusammengemixt wurden und besaß sogar die dafür notwendigen Kräuter.

»Ich habe mich im Kloster noch etwas eingedeckt.«, erklärte er und lenkte vom eigentlichen Thema ab »Aber keine Angst. Meine ehemaligen Mitbrüder werden uns sicher mit Nachschub versorgen.«

»Also gut, du willst mir nicht antworten. Ich zwinge dich nicht.«

»Ich mag Marco«, ging Nicolas dann doch auf das Thema ein, »Ich verstehe, wenn du damit Probleme hast. Hast du damit Probleme?«

»Ich weiß es nicht.«, gab ich zu, »Ich dachte, ich wäre über die Sache hinweg. Ich weiß auch, dass es mich nicht stört, mit ihm zusammenzuarbeiten. Aber das Abendessen vorhin fühlte sich merkwürdig an. Ich bin mir nicht sicher, ob ich das, was Marco mir angetan hat, wirklich verzeihen kann. Er war nicht brutal, wie die anderen. Ich würde jetzt nicht so weit gehen, zu behaupten, es zärtlich zu nennen. Weiß Gott nicht. Gefühlvoll trifft es noch am besten. Der Knackpunkt ist und bleibt, dass es nicht freiwillig war. Himmel, ich will ihm keinen Strick daraus drehen, weil ich weiß, warum er es tat. Aber das ist rein rational. Gefühlsmäßig bleibt, dass er meine Hilflosigkeit ausgenutzt und sich mir aufgezwungen hat.«

Nicolas sagte nichts, sondern nippte nur an seiner Schale mit Blut, wobei er mich über deren Rand hin aufmerksam betrachtete. Es machte mich nervös. Warum war mir die beschissene Vergewaltigung nicht egal? Sie betraf mich nicht mehr. Ich war jetzt ein verdammter Vampir. Wer immer auf die Idee kam, sich an mir vergreifen zu wollen, konnte gleich sein Testament machen.

Es war noch da. Dieses Gefühl der Ohnmacht, es lauerte immer noch in den dunklen Ecken meines Unterbewusstseins, bereit, bei unpassender Gelegenheit hervorzubrechen. Wie an diesem Abend, an dem ich den privaten Marco und nicht den Kollegen erlebte.

»So, unser Gast ist versorgt.«

Vor mich hin grübelnd hatte ich nicht bemerkt, dass Christiano zurückgekehrt war.

»Oh, das sieht lecker aus, was ihr da habt.«

Der fröhliche Portugiese hatte unsere blutgefüllten Schalen bemerkt und natürlich am Geruch erkannt, um was es sich bei ihrem Inhalt handelte. Nicolas sprang sofort auf.

»Setz dich!«, forderte er Christiano auf, »Ich mach dir auch eine Schale fertig. Das Zeug muss man frisch trinken.«

D-Day

Manche Fragen ließen sich einfach nicht an einem einzigen Abend klären. Wir drei Blutsauger hatten es uns auf der Sitzgruppe gemütlich gemacht und schlürften unsere eigentlichen Mahlzeiten. Die Pasta hatte zwar gut geschmeckt, lieferte uns aber keinerlei Nährwert. Christiano hatte die große Panoramawand wieder heruntergefahren und die Fenster geöffnet. Draußen wehte ein leichtes Windchen und beförderte die Düfte der Nacht zu uns hinein. Wir hockten nur da, das Licht im Raum war auf ein Minimum gedämpft, und genossen schweigsam die Nacht.

»Du wirst es nicht gerne hören, aber Marco tut mir ein wenig Leid.«, bemerkte Christiano nach einer Weile, »Ich habe seine Gedanken gelesen. Ich sollte es nicht, aber der Typ war so aufgewühlt, dass sein Hirn fast schon schrie.«

»Und?«, fragte ich lakonisch und nicht wirklich an einer Erklärung interessiert.

»Der Abend heute hat ihn ziemlich fertig gemacht.«

»Wie?«, jetzt wurde es doch interessant.

»Ist das nicht offensichtlich?«, fragte Christiano mit einem nachsichtigem Ton in der Stimme, »Er beneidet uns, begehrt uns. Wir leben ihm vor, was er sich ersehnt: Freundschaft, Vertrautheit, Zuneigung und Liebe. All die Dinge, die ihm in seinem Leben fehlen. Da steckt viel Verzweiflung in diesem jungen Mann.«

»Warum?«, wollte ich wissen, »Marco ist kein Zombie. Die Junge ist knuffig und charakterlich eigentlich nicht uneben.«

»Und schüchtern.«, fügte Christiano hinzu, »Ihr werdet es kaum glauben, aber er weiß nicht so recht, wie er mit seiner Sexualität umgehen soll. Er hat zwar akzeptiert, dass er auf Männer steht, zieht daraus aber keine Konsequenzen. Er weiß, dass es das Internet gibt, es weiß, dass es die Szene, Vereine und Organisationen gibt, wo er andere Leute treffen könnte, traut sich aber nicht. Er ist sich seiner selbst unsicher. Und...« Christiano stockte, schloss seine Augen und lauschte in sich hinein »Entschuldigt, aber seine Emotionen sind so stark, dass ich sie kaum überhören kann. Er weint. Dieser sonst so starke Kerl heult sich gerade in den Schlaf.«


Am nächsten Morgen war von der Dramatik des Abends nichts mehr zu spüren. Marco präsentierte sich nicht nur gut gelaunt, er wirkte auf uns auch frisch, erholt und sogar ein wenig aufgedreht. Während Nicolas und ich uns wunderten, meinte Christiano in einem von unserem Gast unbeobachteten Moment, dass er zurzeit keine depressiven Tendenzen empfinge. Marco spielte uns den gut gelaunten Kerl nicht vor. Ich muss zugeben, dass mich dieser Stimmungsumschwung erleichterte. Auch wenn ich dem Frieden nicht vollständig traute, bedeutete es ein Problem weniger, um das ich mich kümmern musste. Mir reichte völlig, mich damit beschäftigen zu müssen, dass Andreas, Mario und vor allem Momsen etwas gegen mich planten. Umso überraschter waren wir, dass sich die entspannte Grundstimmung bis in den Aufenthaltsraum bei Niederreuters fortsetzte.

An und für sich zeigte der Kalender einen gewöhnlichen Dienstag. Sollte ich jemals in die Verlegenheit kommen, eine Hitliste der Wochentage aufstellen zu müssen, hätte der Dienstag das Attribut okay bekommen. Zu meinen Lieblingstagen hätte ich den Freitag, vor allem dessen Abend und den Samstag gezählt – Wochenende, ausspannen und sich nicht von Kollegen ärgern lassen zu müssen. Es mag überraschen, aber die Sonntage zählten nie zu meinen Favoriten. Sonntagabend war immer die Vorstufe zum Montag, an dem der ganze Terror von vorne begann. Der Montag selbst besaß hingegen immer einen zwiespältigen Charakter. Einerseits markierte er den Beginn einer neuer Woche mit unzähligen Gelegenheiten meiner Kollegen, mich zu mobben, andererseits war es dann auch wieder egal, sobald ich etwas bei einem Kunden zu arbeiten hatte. Mein eigentlicher Horrortag war immer der Donnerstag gewesen. Ich weiß nicht wieso, aber von allen Werktagen war der Donnerstag immer der Tag, an dem ich mit an fast schon Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit zum Ziel von Übergriffen wurde. Vielleicht lag es an diesem Noch-ein-Tag-bis-zum-Wochenende-Gefühl, das uns alle quälte. Wenn irgendetwas schief ging, ein Kollege sich beim Aufmaß vertat, einer unserer Transporter in einen Unfall verwickelt wurde, sich jemand ernsthaft verletzte oder etwas richtig vermurkste, konnten wir uns sicher sein, dass es Donnerstag war.

Anders der Mittwoch. Am Mittwoch war unterbewusstes Bergfest. Am Abend eines Mittwochs wussten wir, dass mehr als die Hälfte der Woche rum war und es nur noch zwei Tage waren bis zum ersehnten Wochenende. Der Mittwoch war ein netter Tag. Und die Dienstage? Charakterlos, wischiwaschi, nicht hin und nicht her. So ein Dienstag war nicht richtig mies, wie ein Donnerstag, immerhin hatte man die Startschwierigkeiten des Montags überstanden. Aber richtig toll war er auch nicht. Dienstage waren halt das Äquivalent zu einem lauwarmen Okay.

Nicht so dieser Dienstag. Die Stimmung im Aufenthaltsraum war super. Die Kollegen lachten, alberten ausgelassen herum und scherzten miteinander, was sie sonst nie taten. Jemand hatte sogar mehrere Bleche Plattenkuchen besorgt. Letzteres erklärte sich ziemlich schnell. Hans, unser Springer, hatte Geburtstag und ich ein schlechtes Gewissen, dass ich daran nicht gedacht hatte.

»Ich hab' es auch niemandem erzählt.«, lehnte der Kollege die Entschuldigung für mein Versäumnis ab, »Schnapp dir einen Kaffee und ein Stück Kuchen und lass es dir gut gehen.«

An diesem Dienstag kamen die meisten Trupps ein wenig später zu ihren Baustellen, dafür aber wesentlich besser gelaunt. Niederreuter betrachtete die Veranstaltung mit einem gewissen Wohlwollen, schien das Klima in seinem Betrieb doch endlich etwas besser zu werden. Ich weiß nicht, ob es an meiner vampirisch geschärften Sinneswahrnehmung lag oder ob der Chef absichtlich so laut sprach, dass ich seinen für sich selbst bestimmten Kommentar hörte. Auf jeden Fall war er aufschlussreich.

»Vielleicht sollte ich Momsen dauerhaft außerhalb arbeiten lassen.«

Die Arbeit auf der Baustelle, unsere nette kleine Schwammsanierung verlief ebenfalls ausgesprochen entspannt. Selbst Mario schien gut gelaunt zu sein, wenn auch mit einem nervösen Unterton in seinem Verhalten, das an Nervosität zunahm, je näher der Feierabend rückte. Dass mir der Mann an den Kragen wollte, war bei seiner Fickerigkeit kaum vorstellbar. Anderseits beschlich mich das ungute Gefühl, dass beides miteinander im Zusammenhang stand.

An diesem Dienstagabend hielten Christiano und ich uns nicht länger als nötig in der Firma auf und fuhren unmittelbar nachdem wir geduscht und uns angekleidet hatten zurück ins Appartement. Marco hatte uns zuvor noch für den netten Abend gedankt und war unmittelbar nach unserer Ankunft in der Werkstatt nach Hause gefahren.

In Christianos Appartement erwartete uns eine kleine Überraschung. Wir hatten Besuch. Tasmanir Musferatu, der Stammvater der Nosferatu des Westens hatte sich selbst eingeladen und obendrein meinen Vater mitgebracht, dem ich sofort in die Arme fiel. Nach meiner Rückkehr aus dem Kloster hatte ich mehrfach mit dem Gedanken gespielt, Heim zu fahren, um meinen Paps wiederzusehen. Allerdings hatte Tamir nachdrücklich davon abgeraten. Solange die Nachfolgefrage nicht geklärt war, hielt er einen Besuch für viel zu gefährlich. Umso überraschter war ich, meinen alten Herren in Christianos Appartement zu sehen. Erfreut war ich trotzdem.

»Irgendwie gefiel mir der Gedanke nicht, deinen Vater allein in seiner Wohnung zu wissen«, erläuterte Tamir nebulös, ohne wirklich etwas zu erklären. Das war zwar unbefriedigend, aber inzwischen hatte ich damit aufgehört, von Tamir Antworten zu erwarten. Er entschied, wann der richtige Zeitpunkt gekommen war, seine Handlungen und Entscheidungen zu erklären.

»Paps, darf ich dir das erste Mitglied meines Hauses vorstellen?« Plötzlich packte mich ein Anflug von Stolz. Ich schnappte mir Nicolas, der bisher etwas abseits stand und zog ihn zu uns heran, »Paps, das ist Nicolas Margaux. Der erste Vampir des Hauses Margaux.«

»Nicolas, es freut mich, dich kennenzulernen.«

Mein Vater meinte es ehrlich, das konnte ich aus seiner Stimme heraushören. Ich meinte sogar, etwas Stolz zu entdecken. Ich fragte mich, wie er sich wohl dabei fühlte, einen Herzog der Vampire zum Sohn zu haben. Ein wenig merkwürdig musste es wohl sein, insbesondere, wenn dieser Sohn von Mitgliedern seines Hauses sprach.

»Es freut mich auch, Sie kennenzulernen.«, erwiderte Nicolas brav.

»Nicolas ist für die Sicherheit meines Hauses zuständig.«

Kaum war der Satz über meine Lippen geschlüpft, bereute ich ihn auch schon. Es war nie eine gute Idee, gegenüber seinen Eltern von Gefahren zu sprechen. Zum Glück wusste mein Vater um die Eigenheiten des Vampirlebens. Meine Mutter musste ihm einiges von unserer Welt erzählt haben, wahrscheinlich sogar weitaus mehr, als ich selbst über meine neue Welt wusste. Auf jeden Fall reagierte mein Vater überraschend. Er ergriff Nicolas Handgelenke und zog meinen Marschall dichter an sich heran.

»Pass mir gut auf meinen Sohn auf!«, redete Paps auf Nicolas ein, »Wenn er dir etwas bedeutet, dass lass niemals zu, dass man ihm etwas antut.«

»Florian bedeutet mir alles«, erwiderte Nicolas mit eiserner Entschlossenheit, »Er ist mein Herzog. Ich habe geschworen, ihn zu beschützen, notfalls auch mit meinem Leben.«

Das war dann doch ein wenig zu heftig für meinen Paps. Er schnappte nach Luft und starrte den ernst und entschlossen dreinschauenden Exnosferatu entgeistert an.

»Paps«, lachte ich meinen Vater möglichst offen an, »Entspann dich. Nicolas mag zwar mein Schutzengel sein, aber in erster Linie ist er ein guter Freund.«

»Dein Sohn hat recht«, mischte sich Tamir ein, »Lass dich von unserem martialen Auftreten nicht allzu sehr beeindrucken. Wir neigen leider ein wenig dazu, alles immer hochdramatisch klingen zu lassen.«

Mein Vater wirkte nicht völlig überzeugt, schien sich aber ein wenig zu entspannen: »Florian, du musst deinem alten Herrn ein wenig Zeit geben, sich an deine neue Welt zu gewöhnen. Aber ich will euch nicht länger aufhalten. Ihr habt bestimmt hochgeheime Staatsangelegenheiten zu besprechen, bei denen ich nicht stören will.«

Welch wahre Worte. In jeder Beziehung. Während die erwähnten Staatsgeschäfte warten konnten und mir momentan nicht wirklich wichtig waren, traf die erste Bemerkung meines Vaters einen Nerv. Auch ich suchte noch nach meiner Rolle in dieser seltsamen neuen Welt, was im Moment hieß, den Dingen seinen Lauf zu lassen und zu schauen, was andere für mich in Petto hatten.

In Falle von Nicolas hieß dies, erneut ein wohlschmeckendes Abendbrot kredenzt zu bekommen. Wo hatte der Junge nur so gut kochen gelernt? Mein Vater griff mehr als einmal zu. Und selbst Tamir ließ es sich schmecken, obwohl er seinerseits Kochkünste bewies und uns Blutsaugern besonders aromatisch gewürzte Kelche mit rotem Lebenssaft reichte. Mein Paps ließ die Blutmahlzeit nachvollziehbarerweise aus, störte sich aber überhaupt nicht daran, dass wir das rote Zeug mit ausgefahrenen Zähnen tranken.

»Was?«, lachte Paps, als er mein verwunderten Blick bemerkte, »Wer meinst du, hat deiner Mutter ihre Blutkonserven warm gemacht?«

Meine Mutter – an den Gedanken, dass meine Mutter eine Hämophagin war, hatte ich mich immer noch nicht gewöhnt, obwohl ich mehr oder weniger gerade damit beschäftigt war, ihr Erbe anzutreten.

Im Vergleich zum Abendessen des Vortags verlief dieses sehr entspannt. Konnte ich anfangs noch eine leichte Zurückhaltung, wenn nicht sogar Angst bei meinem Paps verspüren, war diese nach den ersten Minuten vollkommen verschwunden. Ganz im Gegenteil verschwor er sich sogar mit Nicolas und meinte, seine Zähne wären länger als meine – eine Frechheit. Mit der Länge meiner Zähne war alles in Ordnung, auch wenn diese unerwünschten E-Mails in meinem Postfach immer etwas anderes behaupteten und mir Zahnverlängerungen verkaufen wollten.

Nach dem Abendessen zog sich mein Paps alsbald zurück. Der nonverbale Dialog mit Tamir war eindeutig: Tamir wollte mit uns allein reden, weswegen er meinem Vater einen bittenden Blick zuwarf. Der nickte und erntete darauf einen dankenden Ausdruck.

»Gibt es etwas Neues?«, wollte Christiano von Tasmanir Musferatu wissen, kaum dass mein Vater im Gästezimmer verschwunden war.

Genau das gab es nicht. Die Nosferatu des Westens und ihre Freunde hatten ihre Fühler weit ausgestreckt und waren sogar bereit, selbst den abwegigsten Gerüchten nachzugehen, die im Zusammenhang mit der großen Ratssitzung stehen konnten. Es gab nur keine. Die Welt der Blutsauger war seit Tagen von einer totalen Nachrichtenlosigkeit geprägt. Die spektakulärste Meldung war der absurde Unfall eines freien Vampirs, der meinte, unbedingt als Wartungstechniker für professionelle Sonnenliegen arbeiten zu müssen. Ein Freund hatte ihn, nachdem dieser nicht ans Telefon ging, als Aschehaufen in seiner Werkstatt gefunden und sich an die Nosferatu gewandt, die ihn wiedererweckten. Derartige Nachrichten landeten normalerweise als Fünfzeiler in der Rubrik Vermischtes. Die aktuelle Nachrichtenlage beförderte den Blutsauger mit der unglücklichen Berufswahl auf die Titelseite der Nachtschatten, der Tageszeitung des gebildeten Hämophagen.

»Etwas gibt es dann doch noch zu vermelden«, verkündete Tamir, »Florian, hast du dich seit deiner Rückkehr aus dem Kloster schon mal in dein Bibliothekskonto eingeloggt?«

»Meinem was?«

Wie es aussah, verfügte ich über ein Onlinekonto der Bibliothek, mit dem ich auf die meisten digitalisierten Dokumente zugreifen konnte. Dieses Konto besaß auch eine Emailadresse. Im Prinzip war mir dies alles bekannt. Bruder Markus hatte mich höchstpersönlich in das System eingeführt. Ich hatte mich sogar ein paar Mal eingeloggt und war dabei über die bewussten Mails gestolpert, die meine Zahnlänge in unangemessener Weise thematisierten. Die letzten zwei Tage hatte allerdings überhaupt nicht mehr daran gedacht, und so war mir die offizielle Einladung zur außerordentlichen Ratssitzung entgangen.

»Hey, die Sitzung findet hier in der Nähe statt. Ich kenne das Haus. Dort habe ich Constantin kennengelernt!« Und die schönsten Tage meines alten Lebens verbracht. Es war das erste Mal, dass ich mich irgendwo wohl fühlte.

»Lucretia wird kotzen«, murmelte Christiano, sah drei fragende Gesichter und klärte uns auf, dass es sich bei Lucretia um die ebenso alte wie temperamentvolle bessere Hälfte Antons handelte, die zusammen das Haus managten. Sein Name war Charlottenhof und war so etwas wie eine Ferienresidenz. Tamir meinte, dass wir noch unbedingt die Dossiers der anderen Stammväter und Stammmütter durchgehen sollten, soweit wir dies noch nicht getan hätten. Außerdem bat er mich diskret, seine Abhandlung über Erdblut zu studieren. Warum, wollte er nicht sagen, nur, dass es überaus wichtig sei. Ich muss zugeben, dass wir weder mit dem Einen noch dem Anderen begonnen hatten. Um mein schlechtes Gewissen zu überspielen, schilderte ich das Gespräch mit Marco.

»Seid bitte vorsichtig«, warnte Tamir, »Ich weiß nicht wieso, aber ich habe ein ungutes Gefühl, wenn ich an eure Kollegen denke. Es sind zwar nur Menschen, aber...«

Der alte Nosferatu ließ seine Bedenken unausgesprochen. Vielleicht wusste er auch nicht, was ihn genau beunruhigte. Auf jeden Fall war er nervös, was an der Art, wie er das Wort »nur« aussprach, deutlich hörbar war. Eigentlich waren uns Menschen kräftemäßig nicht gewachsen und stellten im Allgemeinen keinerlei Gefahr dar. Allerdings gab es Vampirjäger, die durchaus zum Problem werden konnten. Nur waren unseres Wissens weder Mario noch Andreas oder gar Momsen Vampirjäger.

Nach einer letzten Ermahnung, wirklich vorsichtig zu sein, keine Risiken einzugehen und bei Gefahr lieber zu fliehen, als ihr entgegenzutreten, verließ uns Tamir und versprach, rechtzeitig vor der Ratssitzung zurückzukehren und mit uns zusammen zum Veranstaltungsort zu fliegen. Da die Sitzung nicht vor Mitternacht beginnen sollte, sollte uns genügend Zeit zur Verfügung stehen, um uns nach der Arbeit auf die Veranstaltung vorzubereiten.

Als Vampir sollte man nicht tagaktiv sein. Christiano und ich waren hundemüde, obwohl es Nacht und damit eigentlich unsere Zeit war. Nicolas zeigte sich verständnisvoll und meinte, uns ganz gut verstehen zu können. Er hätte einige Stunden um einzukaufen unter der Sonne verbracht und wisse daher, wie wir uns fühlten.

»Im Kloster bekommst du von der Sonne ja nie etwas mit.«

Stimmt, das Kloster der Bruderschaft der grauen Nebel befand sich in einer Höhle tief unter der Erdoberfläche. Während meines Aufenthalts wusste ich zwar immer, wann Tag und wann Nacht war, aber wirklich spüren konnte ich die Sonne dort nicht mehr. In Christianos Appartement war dies anders. Selbst wenn die massive Betonwand das Panoramafenster verschloss, blieb das Zentralgestirn immer fühlbar.


Mittwoch, der Tag der Tage. Heute Nacht sollte sich Constantins und damit auch meine Zukunft entscheiden. In der kommenden Nacht würde die Wahrheit über die große Verschwörung meines Lebens, den Mord an meiner Mutter und die Manipulation meines Lebens enthüllt werden. Für einen so bedeutungsüberladenen Tag begann er ziemlich profan – mit dem Klingeln des Weckers.

Ähnlich unspektakulär ging es weiter. So sangen weder Engelschöre noch bestreuten Jungfrauen unsere Wege mit Blumenblüten. Stattdessen gab es die obligatorische Dusche, das leidige Vergnügen, sich gegenseitig mit Sunblocker einzukleistern und einen frischen Satz UV-Filterkontaktlinsen ins Auge zu friemeln. Was anfangs noch den Reiz des Neuen haben mochte, war inzwischen zur öden Routine geworden. Einzig der morgendliche belebende Kaffee weckte ein wenig unsere Lebensgeister.

Die Tagesplanung präsentierte sich ebenfalls wenig spektakulär. Während Christiano und ich uns auf ein Neues mit unserem lieb gewonnen Schwamm amüsierten, wobei unser Team den Pilz inzwischen eigentlich ausgemerzt hatte und nun damit beschäftigt war, die Deckenunterkonstruktion wiederherzustellen, wollte Nicolas meinem Vater Gesellschaft leisten und auf ihn aufpassen. Tamir hatte nur bemerkt, dass es ihm nicht gefiel, meinen Paps allein in seiner Wohnung zu wissen. Eine Erklärung, was er damit konkret andeuten wollte, blieb er uns aber schuldig.

»Und, werdet ihr zwei miteinander auskommen?«, wollte ich noch von meinem Vater wissen, kurz bevor wir uns auf den Weg zur Arbeit machen.

»Da ich heute Morgen ohne Bissspuren aufgewacht bin, gehe ich davon aus, euch Blutsaugern vertrauen zu können.«, antwortete dieser.

»Wer behauptet«, bemerkte Nicolas mit ausgefahrenen Zähnen und frechem Funkeln in den Augen, »dass sich Menschen an unseren Biss erinnern könnten?«

»Oh, ich sehe schon, die beiden werden wunderbar miteinander klarkommen.«, fügte Christiano seine Tube Senf hinzu.

Wenig später erreichten er und ich Niederreuters Betrieb. Wir waren kaum von der Harley geklettert, da schlug uns bereits eine Welle schlechter Stimmung entgegen. Von der guten Stimmung des Vortages war nichts mehr zu spüren, stattdessen war sprichwörtlich die Kacke am dampfen. Es begann damit, dass sich nicht nur Mario und Andreas überraschend krank gemeldet hatten, sondern auch noch Niederreuter auf einer Tagung weilte. Die Abwesenheit unseres Chefs nutzte der wieder unter uns weilende Momsen prompt aus, um sich als Niederreuters Stellvertreter aufzuspielen. Seine erste Entscheidung bestand dann auch darin, mir in einem ziemlich rüden Tonfall mitzuteilen, dass er unseren Trupp als Ersatz für Mario begleiten wollte.

»Der Alte mag ja große Stücke auf dich halten«, begann Momsen, »Aber wir beide wissen, was für ein faules Stück du bist. Ich wollte mir schon lange den Pfusch ansehen, den du da verzapft hast.«

In einem Anfall von Déjà-vu verfiel ich für einen kurzen Moment in mein altes devotes Rollenverhalten, besann mich aber schnell eines Besseren. Niederreuter hatte mir die Leitung der Baustelle übertragen. Wenn Momsen uns begleiten und Mario ersetzen wollte, nur zu, aber der Boss war ich.

»Gut, begleiten Sie uns.«, erwiderte ich trocken, »Mit Marios Ausfall fehlt uns ein Mann mit Befähigungsnachweis für Injektionsfungizide.«

»Was fällt dir ein, mir erzählen zu wollen, was ich zu tun habe?«, explodierte Momsen, dessen Erregungsschwelle schon immer sehr niedrig war. Im Gegensatz zu früher sah ich die flache Hand, die darauf abzielte, mit meiner Wange harten Kontakt zu schließen, auf mich zufliegen. Abweichend vom bisherigen Ablauf kam es nicht dazu. Das Klatschen der Ohrfeige blieb aus. Stattdessen hielt meine Hand Momsens Handgelenk fest umschlossen und einige Zentimeter von meinem Kopf entfernt.

»Wagen Sie es nie wieder, Ihre Hand gegen mich oder irgendjemand anderen zu erheben!«, mit meiner Stimme hätte man Gemüse schockfrosten können. Momsen zuckte zurück und wollte sich meines Zugriffs entwinden. Ich ließ es nicht zu, sodass mich der Mann geladen und kurz vor dem explodieren anstierte.

»Pass bloß auf, mit wem du dich anlegst, Bürschchen!«

»Ich weiß, mit wem ich mich anlege.«, der Schraubstock um Momsens Handgelenk packte noch etwas fester zu, »Niederreuter hat mir die Leitung der Baustelle übertragen. Es ist mein Arsch, der dran glauben muss, wenn wir etwas verbocken. Also, solange der Chef mir nichts anderes sagt, habe ich weiter das Sagen. Es sei denn, wir machen es schriftlich. Wir können sofort ein Dokument aufsetzen, in dem Sie die Leitung aber auch die volle Verantwortung über die Baustelle übernehmen. Eine Kopie erhält der GU, eine der Auftraggeber, eine die Tante vom Denkmalschutzamt und das Original geht an Niederreuter.«

Zu behaupten, ich hätte Momsen verwirrt, wäre einer schamlosen Untertreibung gleichgekommen. Der Mann glotzte mich erst irritiert, dann entgeistert und schließlich ziemlich nervös an. Ich konnte richtig sehen, wie es in seinem Schädel arbeitete. Er hatte auf eine völlig andere und wesentlich persönlichere Form der Auseinandersetzung gesetzt, der ich aber die Grundlage entzog, indem ich ihm aus freien Stücken den Job des Teamleiters anbot. Wenn ich über Momsen jemals etwas gelernt hatte, dann dass er ein feiges Schwein war und Verantwortung hasste wie der Teufel das Weihwasser. Die Vorstellung, ganz formell für das Projekt verantwortlich zu sein, hatte ungefähr die gleiche Wirkung auf Momsen, wie eine Stecknadel auf einen Luftballon.

»Ach Flo«, schaltete der Tischlermeister auf Schleimmodus um, »Ich will Dir doch nur helfen. Natürlich ist das deine Baustelle. Du kennst sie ja viel besser als ich.«

Na also, es ging doch. Dermaßen zurechtgestutzt, ließ ich Momsens Handgelenk los und meinte nur noch knapp: »Abfahrt in einer Viertelstunde.«

Zum Glück wählte der unsympathische Mann den anderen Transporter, was mir die Zeit gab, über den Vorfall nachzudenken. Leider bot sich keine Gelegenheit, Christiano nach seiner Meinung zu befragen. Zu gerne hätte ich gewusst, ob er auch einen Zusammenhang zwischen Marios und Andreas Krankmeldung und Momsens Wunsch, uns zu begleiten, sah. Doch vorerst musste diese Frage unbeantwortet bleiben. Auf der Fahrt zur Baustelle saßen wie immer Marco und Jan mit im Wagen. Auf der Baustelle angekommen, wurde ich sofort vom GU und der Denkmalschützerin in Beschlag genommen, die mit mir die Planung zum Wiederaufbau der Decke besprechen wollten.

Es war wie verhext. Immer, wenn ich dachte, eine Minute für ein Gespräch mit Christiano zu haben, platzte etwas anderes dazwischen. Die Besprechung war kaum beendet, meldete sich der Fahrer eines Baustofflieferanten bei mir, der die erste Ladung neuer Deckenelemente brachte. Als ich endlich begann, ein wenig Luft zu bekommen, war bereits vier Uhr durch und Zeit für den Feierabend.

Zurück bei Niederreuter wollte ich nur noch eins: Nach Hause, um endlich ungestört mit Christiano sprechen zu können, aber irgendwie hatte sich alles und jedes gegen mich verschworen. Erst hieß es, Niederreuter wollte mich sprechen. Nachdem ich ihn eine halbe Stunde lang vergeblich auf dem Firmengelände gesucht hatte, meinte ein Kollege zu mir, dass Niederreuter von seinem Termin überhaupt noch nicht zurück wäre. Später, auf dem Motorrad, war eine Kommunikation mit Christiano kaum möglich. Seine telepathischen Fähigkeiten funktionierten primär bei Menschen. Mit Vampiren konnte er zwar auch kommunizieren, das war aber sehr anstrengend und nicht sonderlich empfehlenswert, solange er dabei ein Motorrad durch dichten Feierabendverkehr steuern musste. Bei all meiner Hektik entging mir ein Detail, dem ich anfangs keine Bedeutung beimaß. Kurz bevor mir der Kollege mitteilte, dass mich Niederreuter sprechen wollte, sah ich Marco, wie er mit dem Fahrer eines dunklen Kleinwagens diskutierte, der die Seitenscheibe auf der Beifahrerseite heruntergefahren hatte. Dem zornigen Gesichtsausdruck unseres Kollegen nach zu urteilen, führten die beiden kein angenehmes Gespräch. Irgendwie kam mir die Karre bekannt vor, doch bevor es mir einfiel, kam der Kollege mit der Falschmeldung auf mich zu. Es war wie verhext. Selbst die Fahrt nach Hause verlief nicht planmäßig. Völlig unerwartet signalisierte eine mahnende Kontrollleuchte des Motorrads das nahe Ende des Spritvorrats, weswegen Christiano notgedrungen die nächste Tankstelle ansteuerte.

»Ich hätte schwören können, dass die Karre noch halb voll ist.«, knurrte er.

Auf die Idee, die abendliche Fahrt nach Hause zum Tanken zu nutzen, waren auch andere Verkehrsteilnehmer gekommen, sodass wir gut eine Viertelstunde warten mussten. Leider wimmelte es nur so vor Kunden, dass ich die Wartezeit ebenfalls nicht für ein Gespräch nutzen konnte. Umso erleichterter war ich, als Christiano von der Kasse zurückkehrte und wir uns wieder auf den Weg machen konnten.

Und dann passierte es. Aus heiterem Himmel meinten meine Augen explodieren zu müssen. Zumindest fühlte es sich so an. Der Schmerz war derart überwältigend, dass Christiano meinen Schrei mitten auf der Autobahn durch zwei geschlossene Helme hindurch hören konnte. Doch als er gerade den Standstreifen ansteuern wollte, ließ der Schmerz auch bereits wieder nach. Trotzdem wusste ich, dass etwas geschehen war, etwas sehr, sehr schlimmes. Ich trommelte auf Christianos Rücken, um ihm zu signalisieren, schnell weiterzufahren, was bei der Verkehrslage alles andere als einfach war.

Umso erleichterter war ich, uns endlich in die Tiefgarage des Bürohauses einfahren zu sehen, bis mir plötzlich das Herz in die Hose rutschte. Christiano erging es ähnlich. Mit blockierendem Hinterrad, wodurch wir fast gestürzt wären, brachte der Topspion des Hauses Varadin sein Motorrad zum Stehen. Vor uns befand sich das Tor, welches Christianos Privatgarage vom Rest abtrennte. Es war aufgebrochen.

Wir hielten uns nicht damit auf, die Harley ordentlich zu parken, sondern sprangen einfach ab und rannten zum Aufzug. Dessen Kartenleser war herausgebrochen und mit einem kleinen PDA verbunden worden. Hier waren eindeutig Profis am Werk. Zum Glück funktionierte der Fahrstuhl noch, wenn ich ihn auch verfluchte, nicht schneller zu fahren. Die Sekunden, die er benötigte, um Christianos Appartement zu erreichen, kamen mir wie Minuten vor. Ich trommelte gegen die Kabinentür. Als sie sich endlich öffnete, wartete ich nicht ab, bis sie ganz offen stand, sondern quetschte mich sofort hindurch.

»Flo«, direkt vor mir auf dem Boden lag hilflos umhertastend Nicolas. Dort, wo eigentlich seine Augen sein mussten, klafften zwei schwarz verkohlte Löcher in einem ebenfalls verkohltem Gesicht. »Flo, sie haben deinen Vater!«

Massenweise lose Enden

Constantin

Millard C. Polk III, Sheriff Shelbyvilles, einer kleinen aber feinen Stadt im Staate Indiana, staunte nicht schlecht, als er eines Abends den steckbrieflich gesuchten Mörder vierer Familienväter, Harry Dawson jr., auf den Stufen seines Büros liegend vorfand. Wie ein Paket lehnte er gut verschnürt an der Hauswand und funkelte Sheriff Polk mit einer Mischung aus Panik und Hass an.

»Ja wen haben wir denn da?«, freute sich der Gesetzeshüter und rief nach seinem Deputy, damit dieser den Gefangenen in eine Zelle bringen sollte.

Keine Minute später tauchte Millard Polks Stellvertreter auf, sah fragend seinen Chef an, folgte dessen ausgestrecktem Zeigefinger und meinte: »Ist nicht möglich!«

»Henry, die Wege des Herrn sind eben unergründlich.«, erwiderte der bibelfeste Sheriff, »Los, lass ihn uns einsacken!«

Ein weiterer Deputy wurde herbeigerufen, um die Beute an Armen und Beinen zu packen. Die beiden Männer wollten gerade loslegen, als ihnen ein Briefumschlag auffiel, der aus Dawsons Weste hervorlugte.

»Chief«, rief der erste Deputy seinen Sheriff und händigte ihm das Schriftstück aus.

Der Angesprochene kramte umständlich eine Drahtbrille hervor und klemmte sie sich ebenso umständlich auf die Nase. Millard C. Polk III war nicht mehr der jüngste. Das Alter forderte seinen Tribut, auch wenn dies bisher nur hieß, zum Lesen auf eine Sehhilfe angewiesen zu sein.

»Na, was haben wir denn da.«, murmelte Sheriff Polk zum zweiten Mal und riss dabei den Briefumschlag auf, kramte den Brief heraus und entfaltete ähnlich umständlich, wie er seine Brille aufgesetzt hatte, das enthaltene Schriftstück. Leise vor sich hinmurmelnd las er es durch.

»Howow!«, rief Polk der Dritte aus und zog Augenbrauen und Nasenfahrrad empor, »Henry, wie viel Kopfgeld wurde auf unseren Freund hier ausgesetzt?«

»1000 Dollar, Chief!«, antwortete der Deputy.

»1000 Dollar«, wiederholte Sheriff Polk nachdenklich, »Wir sollen die Belohnung zu gleichen Teilen Dawsons Opfern zukommen lassen. Henry, Henry, Henry – wo soll das alles noch enden? Jetzt verzichten sogar die Kopfgeldjäger auf ihre Kohle.«

»Die Witwe Adams kann das Geld wirklich gut gebrauchen. Nach Zacharias Tod hatte sie es wirklich nicht leicht.«

»Yepp!«, erwiderte Sheriff Willard C. Polk III, nahm die Brille von der Nase und klopfte seinem Deputy auf die Schulter, »Bringt ihn rein. Ich besuche dann mal den Richter.«


Gut eine Woche zuvor zeigten sich die Einwohner eines kleinen Städtchens in den Weiten Iowas ähnlich überrascht wie Sheriff Polk, wenn auch beiweitem nicht so erfreut. Es dauerte geschlagene vier Tage, bis der erste der mordlüsternen Nachbarn Thurgoods es nicht mehr aushielt und zurück an den Ort seines Verbrechens ritt. Unheimliche Gerüchte hatten in den Reihen der Mörder die Runde gemacht. Jemand wollte aus der Ferne schwarze Schatten über dem Farmhaus kreisen gesehen haben. Andere sprachen von flackernden Lichtern, die das Haus nächtens erhellten, wohl wissend, dass dort niemand mehr lebte, der ein Licht entzünden konnte.

Am vierten Tag, die Sonne stand hoch im Zenit, wagte sich vorsichtig ein Reiter aus den Reihen der Mörder auf die Farm Thurgoods und seines Sohns. Doch was er dort entdeckte, war alles andere als dazu angetan, die immer lauter schreienden Stimmen in seinem Kopf zum Schweigen zu bringen – ganz im Gegenteil.

Wie erwartet war von der Scheune, in der sie Thurgood aufgehängt hatten, nichts mehr zu sehen. Sie war bis auf die steinernen Fundamente niedergebrannt. Was aber überhaupt nicht der Erwartung entsprach, waren die frischen Gräber, die jemand am Rande des kleinen Gemüsegartens angelegt hatte. Jedes Grab zierte ein schlichtes Kreuz mit dem Namen des darin beigesetzten Menschen.

Du bist ein Mörder. An deinen Händen klebt Blut.

Der von Schuldgefühlen zerfressene Besucher wirbelte herum. Woher kam die Stimme? Er hatte sie doch deutlich gehört, oder? Doch da war niemand, bis auf den Wind, der über die Felder wehte und leise wisperte.

»Hallo, ist da wer?«, rief er mit krächzender und erstickter Stimme.

Niemand antwortete. Es war still auf der Thurgoodfarm – totenstill – drückend still. Die Stille zerrte an den Nerven. Der Besucher wanderte herum. Sein Pferd, das er an einem Pfosten befestigt hatte, scharrte unruhig mit den Hufen. Eine Tür klapperte im Wind und ließ den Mann aufschrecken. Dies war ein verfluchter Ort. Er konnte es fühlen. Das Farmhaus, die Gräber, die Reste der Scheune, alles klagte ihn an und schrie Mörder. Was hatte er nur getan? Worauf hatten sie sich eingelassen? Warum hatten sie sich nur von Harry Dawson überreden lassen? Aber es änderte nichts. Dawson mochte ihn, sie alle aufgestachelt haben, aber gemordet hatten er und seine Freunde.

Verunsicherter als zuvor, bestieg der Mann sein Pferd und ritt davon. Er sollte nie wieder zurückkehren. Wenige Wochen später packte er seine Sachen, verließ heimlich Hof, Heim und Familie und floh vor dem Ort seiner Schuld. Bis zum Ende seiner Tage sollten ihn die Bilder, der Geruch des Todes, verfolgen und fast in den Wahnsinn treiben. Und so, wie es ihm erging, erging es auch den anderen, die sich wie er schuldig gemacht hatten.


»Es ist vollbracht«, verkündete Christiano und öffnete seine Augen. Vier Vampire, Orwell, Pete, Christiano und ich hockten im Keller des Farmhauses und warteten darauf, dass der Tag sich neigte und die Nacht anbrach. »Er wird keinen Frieden finden«, erläuterte Christiano. Mein Freund hatte auf telepathischem Wege einen kleinen Schuldkomplex in das Unterbewusstsein des Besuchers eingepflanzt.

Zwei Tage zuvor hatte ich Orwell und Pete das Angebot unterbreitet, nicht nur Mitglieder meines Hauses, sondern auch Teil meines Blutes zu werden. Weder Pete noch Orwell zögerten auch nur eine Sekunde, beide waren bereit, die Welt der Menschen zu verlassen und Teil der meinigen zu werden. Etwas verblüfft zeigten sich die beiden Männer, als wir ihnen unumwunden erklärten, wie diese Verwandlung vonstattenging. Ich war mit Christiano schon vorher übereingekommen, dass wir uns die Erweckung teilten. Zwei Menschen gleichzeitig in Vampire zu verwandeln war zwar möglich, aber nicht ratsam, da dieser Prozess für beide Seiten ziemlich anstrengend war.

»Nur um von vornherein Missverständnisse auszuschließen. Es spielt keine Rolle, ob ihr von mir oder Christiano verwandelt werdet. Er werdet beide Kinder meines Hauses sein. Ich behandle jeden gleich. Es ist also mehr eine Frage des persönlichen Geschmacks...«

Die kleine Ansprache war eigentlich nicht notwendig, da ich schon vorher wusste, dass Pete innerhalb der kurzen Zeit, die wir uns auf der Farm aufhielten, einen besonderen Draht zu Christiano entwickelt hatte. Die beiden Männer lagen auf einer ähnlichen Wellenlänge. Stellte sich mir die Frage, ob Orwell damit einverstanden war, sich von mir verwandeln zu lassen.

»Constantin?«, wandte sich der kräftige schwarze Mann an mich, »Wärst du so nett...«

Junge, wer hätte das gedacht. Der Kerl war schüchtern. Nun, ich war so nett. In dieser Nacht kamen uns Pete und Orwell näher, als sich die meisten Menschen vorstellen konnten. In dieser Nacht starben Peter und Orwell unter unseren Zähnen, um wenig später als Vampire wiederweckt zu werden.

Orwell erwachte in meinen Armen. Er schlug seine Augen auf und blickte mich an. Er lächelte, während ich seinen muskulösen Körper dichter an mich heran zog. Ein Blick ging kurz zu Pete und Christiano, die neben uns im Bett lagen. Für einen Moment blitzte Unsicherheit in seinen Augen auf. Ich ahnte, an was er dachte und legte ihm beruhigend eine Hand auf die Brust.

»Er liebt dich. Zweifle niemals daran!«, flüsterte ich Orwell ins Ohr, »Christiano und Pete, das ist nichts, um das du dir Sorgen machen solltest. Christiano respektiert euch und was ihr miteinander habt. Er hat geliebt, doch wurde seine Liebe ermordet. Ich befürchte, dass es noch eine ganze Weile dauern wird, bis er wiederfindet, was er verloren hat.«

Wie alle Neugeborenen benötigen auch frisch erweckte Hämophagen Nahrung, das heißt Blut. Allerdings war es noch nie eine gute Idee, Jungvampire ohne Schulung auf Hälse loszulassen. Selten, dass sie sich zurückhalten konnten. Aus diesem Grund übernahmen Christiano und ich die Nahrungsversorgung, indem wir wechselweise genau diejenigen Nachbarn besuchten, die für die Tragödie im Hause Thurgood verantwortlich zeichneten. Dort schlugen wir uns die Bäuche voll und ließen anschließend die beiden Neuzugänge von unseren Handgelenken trinken, bis diese ihr Verlangen soweit unter Kontrolle hatten, dass wir es wagen konnten, sie auf unsere Jagdzüge mitzunehmen.

Orwell und Pete lernten sehr schnell. Das mussten sie auch. Noch in der Nacht ihrer Erweckung begannen wir mit ihnen einen Crashkurs in Vampirkunde. Wir lehrten ihnen zu fliegen, wie sie Erinnerungen bei ihren Opfern löschen konnten und sich vor der Sonne schützten. Nach drei Tagen, einen Tag nach dem Besuch des ängstlichen Nachbarn, waren sie so weit, dass ich das Thema ihrer unmittelbaren Zukunft erneut ansprechen konnte.

»Habt ihr über meinen Vorschlag nachgedacht?«

Wir saßen in der Küche des Farmhauses. Christiano hatte Tee zubereitet und zusammen mit Pete Harry Dawson, unseren Gefangenen versorgt. Orwell wollte den Mann nicht mehr sehen müssen und war dankbar, dass sich die beiden um ihn kümmerten.

»Die Idee mit dem Testament?«, Orwell kratzte sich am Kinn, »Du bist ein ziemlich ausgebuffter Kerl, Constantin Varadin, das weißt du hoffentlich?«

»Bin ich das?«, hakte ich nach, »Ich versuche nur meine, das heißt unsere Interessen zu wahren. Wir sind eine Familie. Wenn du meinen Vorschlag annimmst, geht dieses Land, dein Land, das Land deines Vaters nicht verloren. Ich weiß, im Moment kannst du dir nicht vorstellen, jemals wieder hierher zurückzukehren, dafür lasten zu viele traurige Erinnerungen auf diesem Flecken Erde. Aber glaube einem alten Blutsauger wie mir. Irgendwann wirst du den Ort deiner Kindheit, deiner Herkunft vermissen und die guten und schönen Erinnerungen die dunklen verdrängen.«

»Also gut. Was verliere ich, wenn ich ja sage? Nichts, oder? Also lass es uns tun.«


Etwa drei Wochen später kreuzte ein kleiner Trupp besorgter und unbescholtener Bürger vor dem Farmgebäude der Thurgoods auf. Für die Mitglieder der mordenden Gang hatte sich der Ort zum Fluch entwickelt, der sie bei der kleinsten Erwähnung erbleichen ließ, weswegen niemand von ihnen diese Gruppe von Besuchern begleitete. Nein, die Männer und Frauen, die Orwells Farm besuchten, taten dies aus aufrichtiger und ehrlicher Sorge um ihre Nachbarn, Kunden und Geschäftspartner, die sie seit Wochen nicht mehr gesehen hatten. Man wählte für den Besuch extra die Abendstunde. Es gab Gerüchte. Die Farm sei verlassen, aber nachts solle im Farmhaus gelegentlich Licht brennen. Es klang alles sehr unheimlich und das merkwürdige Verhalten mancher Farmer, die panisch zusammenzuckten, sobald der Name Orwell oder Thurgood fiel, war auch nicht dazu angetan, die Furcht, die sie im Angesicht des Farmhauses beschlich, zu mildern.

Die Farm wirkte wirklich verlassen. Es war still, unheimlich still, aber auf eine eigentümliche Weise auch friedlich.

»Dort, in der Küche, da brennt ein Licht.«, rief einer der Besucher, der junge Sohn des Eisenwarenhändlers der Stadt. Kaum hatte sich die Aufmerksamkeit dem Fenster mit dem sanft flackernden Licht einer Petroleumlampe zugewandt, trat ein junger Mann aus der Verandatür des Hauses hervor.

»Ich habe euch erwartet«, verkündete der junge, südländisch wirkende Mann, »Kommt herein. Ich muss euch von einem Verbrechen berichten, das hier verübt wurde.«

Zögernd folgten die mutigsten dem seltsamen Mann in die Küche. Ein Wasserkessel zischelte auf dem Herd, eine Kanne mit Tee und ein Becher standen auf dem Küchentisch, auf der auch die Petroleumlampe ruhte. Der Mann setzte sich, nahm einen Schluck des heißen Getränks, musterte die Besucher einen nach dem anderen und wartete, bis sich alle vollständig in der Küche versammelt hatten. Eine gespannte Ruhe breitete sich in der Küche aus. Der Teetrinker nickte, griff in die Innentasche seiner Weste und holte einen Bogen Papier hervor, den er langsam und sorgfältig vor sich auf dem Tisch ausbreitete.

»Ich glaube, ihr kennt diesen Mann?«

»Das ist Harry Dawson!«, rief der Sohn des Eisenwarenhändlers, »Ich wusste, warum mir der Typ nie gefiel. Er war ein Mörder.«

Vor den erstaunten Augen der Anwesenden lag ein Steckbrief mit dem Bild Harry Dawson jr., das ihn wegen vierfachen Mordes im County Shelbyville in Indiana suchte.

»Ist einer von euch Richter?«, wollte der seltsame, teetrinkende Mann wissen.

»Ja, ich bin der Richter der Stadt.«, antwortete ein älterer, weißhaariger Mann, der sich bisher im Hintergrund gehalten hatte. Nun trat er vor und ließ sich auf einem der freien Stühle am Küchentisch gegenüber dem Mann mit dem Steckbrief nieder, »Wer seid ihr? Was wollt ihr?«

»Mein Name tut nichts zur Sache. Ich habe Dawson seit Monaten bis hierher verfolgt. Ich kam zu spät.«, erklärte der Mann und nahm einen Schluck Tee, bevor er fortfuhr, »Dawson hat wieder gemordet, und er hatte Hilfe.« Dabei schaute er forschend und bohrend in die Runde, mehr als einer schluckte, widerstand aber dem finsteren Blick. »Ich konnte es nicht verhindern. Sie sind alle tot. Mir blieb nur die Aufgabe, die Opfer zu bestatten. Hinter dem Haus, neben dem Gemüsegarten werdet ihr die Gräber finden. Hier«, mit diesen Worten überreichte der unheimliche Sprecher dem Richter einen versiegelten Umschlag, »Ich glaube, dies ist für Euch.« Auf dem Umschlag war mit feiner, geschwungener Handschrift Testamente geschrieben.


Während Christiano dem Richter das Testament aushändigte, mussten sich Orwell, Pete und ich uns arg zusammenreißen, um nicht vor Lachen zu platzen. Die Show, die unser Freund abzog, war wirklich ein wenig dick aufgetragen. Niemand ahnte, dass wir alles, verborgen in den Schatten der Nacht, mitanhörten. Für uns war es der vorerst letzte Akt der Geschichte.

Nachdem wir Pete und Orwell soweit auf Vordermann gebracht hatten, um für ein paar Tage auch ohne uns auszukommen, schnappten wir uns Harry Dawson und flogen mit ihm nach Indiana, um ihn dort auf den Stufen von Sheriff Polks Büro abzulegen. In Shelbyville nutzten wir eine der in der amerikanischen Provinz noch dünn gesäten Telegrafenstationen, um Ambrose Rutherford jr., den Geschäftsführer der Fearless Night TC Ltd. über die aktuellen und geplanten Entwicklungen zu informieren. Insbesondere sollte sich Ambrose nicht wundern, in einigen Tagen oder Wochen von einem Nachlassgericht kontaktiert zu werden. Nachdem dies erledigt war, gönnten wir uns eine kleine Stärkung und begannen unseren Rückflug.

Mein Plan nahm langsam Form an. Seinen Höhepunkt erreichte er mit der Übergabe der Testamente an den Gemeinderichter. Ihr Inhalt war überraschend. Der gesamte Besitz, das heißt die Farm, sämtliche Gebäude, die Felder, die Tiere und natürlich die Rücklagen auf der Bank gingen an eine unbekannte Bostoner Firma namens Fearless Night TC Ltd. Dass sich darüber niemand wunderte und auch niemand fragte, wer oder was dieser seltsame teetrinkende Typ war, dafür sorgte dieser selbst. Es war alles andere als Zufall, dass Christiano und nicht ich die Rolle des einsamen Kopfgeldjägers spielte. Er war einfach der stärkste Telepath in meinem Haus und in der Lage, dafür zu sorgen, dass sich alles so entwickelte, wie wir es wollten. Zum Glück war wenig Einflussnahme nötig. Es reichte, den Steckbrief mit Dawsons Bild zu zeigen, und schon wanderten die Überlegungen der besorgten Bürger in die richtige Richtung.

Wenige Tage später hatte sich eine Legende etabliert: Harry Dawson jr. hatte, zusammen mit einigen unbekannten Helfern Thurgoods Farm überfallen und dort ein Blutbad angerichtet. Um die Gründe rankten sich ebenso absurde wie falsche Gerüchte. Auf jeden Fall wurde ein Steckbrief auf Dawson jr. ausgestellt – 500 Dollar dead or alive. Dass Dawson zur gleichen Zeit in Shelbyville bereits der Prozess gemacht wurde, konnte natürlich niemand wissen.

Die meisten Bürger waren mit dieser Erklärung zufrieden. Nur diejenigen, an deren Händen Blut klebte, wurden ihre Schuldgefühle nicht mehr los, zumal es in der Gemeinde mehr und mehr zum offenen Geheimnis wurde, wer zu Dawsons Helfern zählte. Leider fehlten die Beweise, sodass niemand angeklagt werden konnte. Was blieb war, die Mörder zu schneiden. Niemand sprach die Täter auf ihre Tat direkt an, doch ließ man sie deutlich spüren, wie man dazu stand.

Unser Plan ging auf. Ein Mörder nach dem anderen floh und ließ Hof, Heim und Familie zurück, was nun aber wieder ein schlechtes Gewissen bei den unschuldigen Bürgern auslöste. Warum sollten die Kinder, Ehefrauen und sogar Angestellten zu weiteren Opfern der Täter werden? Doch da geschah etwas sehr überraschendes. Vertreter der geheimnisvollen Firma Fearless Night Trading Company Ltd. kreuzten in der Gemeinde auf, traten das Erbe Orwells an und begannen, in Not geratenen Farmern zu helfen. Dies war der Moment, zu dem wir die Farm verließen. Der Weg war bereitet. Das Haus Varadin, unsere Familie, würde sich ab sofort um die Verwaltung der orwellschen Farm kümmern und sein Erbe erhalten.


Es war interessant, dass mir ausgerechnet jetzt, wenige Stunden vor der großen Ratssitzung Orwells und Petes Geschichte in den Sinn kam, während neben mir Simon sich an mich geschmiegt hatte. Orwell, dieser stille sanfte Riese – wenige außerhalb meiner Familie wussten oder ahnten, dass dieser Mann eine der Stützsäulen meines Hauses bildete.

Die Säulen meines Hauses – die bekannteste verkörperte natürlich Laurentius. Er sorgte für Sicherheit und entwickelte die Strategien, wie wir unser Haus nach außen schützten. Christiano verkörperte die Säule, deren Sockel die Inschrift Informationsbeschaffung trug. Er versorgte uns mit dem überlebensnotwendigen Wissen über die Pläne und Absichten unserer Gegner und oft auch unserer Freunde. Gordon wiederum sicherte unser wirtschaftliches Überleben, ähnlich wie Ricardo, der unsere Nahrungsquellen erschloss und kultivierte. Orwells Position im Säulenwald meines Hauses befand sich ziemlich genau in dessen Mitte. Er verkörperte Muskeln und Rückgrat. Wann immer Worte nicht mehr reichten, betrat Orwell die Spielfläche, was zum Glück nur sehr, sehr selten notwendig wurde. Und selbst dann reichte oft nur die unausgesprochene Drohung, ihn und seine Männer von der Leine zu lassen. Seine Bedrohlichkeit spießte sich dabei paradoxerweise aus seinem sanften, friedfertigen, zurückhaltenden und stillen Wesen. Orwell, das war der sprichwörtliche Fels in der Brandung an dem sich jegliche Aggressivität einfach totlief.

»Wie geht es Pete?«, wollte ich von diesem Fels wissen. Die Erinnerung an unsere gemeinsame Vergangenheit ließ mich schmunzeln, obwohl der Anlass unseres damaligen Zusammentreffens alles andere als erfreulich war. Auf Orwells markantem Gesicht breitete sich ein Lächeln aus.

»Wie sollte es einem Cowboy in der Pampa Iowas schon gehen? Blendend!«

Sie stand noch, die Thurgood Farm. Jahre und Jahrzehnte waren ins Land gegangen, Kriege und Wirtschaftskrisen hatten die Welt gebeutelt, doch dieses kleine, bescheidene Farmhaus schien dem Druck der Veränderung widerstehen zu können. Es sah heute noch so aus, wie an dem Tag, an dem Orwell, Pete, Christiano und ich es verlassen hatten, das heißt, solange man von den hypermodernen Gebäuden in hundert Metern Entfernung absah. Die Produkte der Thurgood Organic Food Company hatten sich in den letzten Jahren vom absoluten Insidertipp zur hochwertigen Premium Biomarke entwickelt. Noch ein Geschäftsfeld, das die Varadin International Holding recht erfolgreich pflegte. Was von außen wie eine sehr moderne, aber ansonsten konventionelle Farm für höchstwertige Produkte des ökologischen Landbaus aussah, beherbergte unter der Erdoberfläche eines unserer Häuser. Und der Herr des Hauses war niemand anderes als Pete. Er liebte das Landleben, liebte die spröde Eintönigkeit Iowas, genoss es, des nächtens mit seinem Pferd über unsere Ländereien zu reiten. Pete war Orwells ruhender Pol. Wann immer es sein Job als Hauptmann zuließ, verbrachte er Zeit in seiner Heimat, im Haus seiner Eltern, von dem ich bereits bei unserer ersten Begegnung ahnte, dass er dorthin zurückkehren würde.

»Wenn das hier überstanden ist, nimm dir ein paar Wochen frei!«

»Danke Chef, aber zuerst, müssen wir das hier überstehen«, bei aller Freude über mein Angebot blieb Orwell der stets wachsame Hauptmann meiner Wache, »Als Veranstaltungsort ist Charlottenhof eine gute Wahl. Leicht zu sichern. Trotzdem, wir sprechen von keiner Null-Acht-Fünfzehn-Sitzung, sondern deiner Wahl zum König. Du weißt, dass du quasi eine Zielscheibe auf deiner Stirn trägst?«

»Attentäter bereiten mir keine Sorgen.«, knurrte ich halb scherzhaft.

»Lucretia?«, hakte Orwell nach. Mein darauf folgendes Grunzen sprach Bände.

Lichtdicht

»Constantin Varadin, was fällt dir ein, mir nur einen einzigen Tag Zeit zu geben?«

»Ich...«

»Nein, nein, nein! Spar dir deine Ausflüchte. Dafür habe ich keine Zeit. Ich muss eine Ratssitzung vorbereiten, von der ich erst vor drei Stunden informiert wurde. Du entschuldigst?«

Und weg war sie und ließ eine Horde gackernder, kichernder und sich auf meine Kosten amüsierender, illoyaler Ratten zurück.

»Constantin Varadin«, äffte Simon die Verwalterin Charlottenhofs nach, »Was fällt dir ein? Junge, du tust mir leid. Ich habe schon einige Geschichten über Lucretia gehört. Aber die Realität toppt einfach alles.«

»Du hast keine Ahnung, wovon du da redest«, knurrte ich amüsiert sarkastisch meinen Ritter an, »Gut, lasst uns loslegen.«

Die Vorbereitungen der Ratssitzung zogen sich bis zum Morgengrauen hin und weit darüber hinaus. Es war anstrengend, während des Tages zu arbeiten. Der Zeitdruck, unter dem wir standen, ließ uns keine Wahl. Wollten wir rechtzeitig bis Mittwochabend fertig werden, mussten wir durcharbeiten. Immerhin liefen wir nicht Gefahr, in einen Aschehaufen verwandelt zu werden, die UV-Filterschutzscheiben des Gebäudes zählten zu den besten ihrer Art und trugen nicht umsonst das Qualitätssiegel von fünf Fledermäusen.

Qualitätssiegel – so ein Schmarrn! Da wir nur mit relativ kleiner Besetzung angereist waren – der Rest unseres Teams sollte in der nächsten Nacht eintreffen – mussten wir die ganze Nacht durchschuften und jeder mit anpacken, inklusive des Fürsten des Hauses Varadin. Wir schleppten Tische und Stühle herum, richteten Appartements für unsere Gäste her, verteilten Bettwäsche und Handtücher, schleppten Minibarkühlschränke, in denen später unsere Gäste ihre Blutkonserven lagern konnten. Über all diesen Aktivitäten wachte mit Adleraugen unsere allseits beliebte Lucretia. Manchmal fragte ich mich, ob ihr Nachname nicht Varadin sondern Borgia lautete. Aber zurück zu den Fenstern mit dem Fünf-Fledermaus-Qualitätssiegel. Der Schrei ertönte ebenso plötzlich wie markerschütternd:

»Verdammte Scheiße! Nicht schon wieder!«

Die Lautstärke des Gebrülls ließ keinen Zweifel an seinem Urheber, und so war ich auch nicht sonderlich überrascht, Simon in einem der Appartements zu sehen. Dass er dabei aber auf nur einem Fuß rumhopste, während ein noch qualmender Schuh samt Aschehaufen in der Nähe des Fensters lag, kam hingegen sehr unerwartet.

»Ritter vom fehlenden Fuß?«, konnte ich mir einfach nicht verkneifen, ihn zu fragen.

»Sehr witzig«, knurrte Simon und hüpfte uns entgegen. »Kommt bloß nicht näher!«, befahl mein Adjutant nachdrücklich und deutete auf die Terrassentür des Raums. Charlottenhof war nicht als Vampirschloss erbaut worden, sondern als Refugium eines Landadeligen. Alle ebenerdigen Zimmer verfügten über Türen, die auf eine gemeinsame Terrasse führten, »Die beschissene Tür ist undicht. Ich habe es erst bemerkt, als mein Fuß in Flammen stand.«

»Wie ist das passiert?«, wollte ich wissen.

»Ich kam den Gang entlang, als ich in diesem Zimmer etwas klappern hörte. Ich ging hinein, bemerkte einen Luftzug um die Beine, doch bevor ich begriff was los war, stand mein Fuß auch schon in Flammen. Verdammte Kacke!«

Inzwischen war auch Lucretia herbeigeeilt. Ihre herrische Attitüde war vollkommen verschwunden. Stattdessen zeigte sie uns ihre wirkliche Seite, die einer liebevollen und führsorglichen Mutterglucke. Lucretia war eine Löwin, die ihre Familie bedingungslos verteidigte, wenn auch ihre Weise. Ein paar Sekunden später war der entsetzte Ausdruck wieder verschwunden und der Oberfeldwebel wiederhergestellt.

»Was steht ihr hier noch rum? Ruft einen Tischler!«, wies Lucretia einen ihrer Leute an, der sich sofort beeilte, den Befehl seiner Herrin unmittelbar umzusetzen. »So, mein Junge«, wandte sich die Hauschefin sanft Simon zu und griff ihm unter den Arm, »Du kommst mit mir. Keine Angst, das bekommen wir wieder in den Griff.«

In der Zwischenzeit war Laurentius vorgetreten, hatte sich schwarze Lederstulpenhandschuhe, eine ebenso lichtdichte Sturmhaube aus Leder übergezogen, eine Sonnenbrille aufgesetzt und begann die Tür zu untersuchen. Manchmal war mir dieser Mann einfach unheimlich. Simons Geschrei hatte massenweise Leute angezogen, die Lydia nun begann wieder an ihre Arbeitsplätze zu schicken. Leider verursacht Neugierde ein erstaunliches Beharrungsvermögen, sodass es eine ganze Weile brauchte, bis nur noch Lydia, Orwell und Michael mit mir im Flur vor dem Appartement standen.

»Und?«, wollte ich von Laurentius wissen, als dieser nach Abschluss seiner Untersuchung zurückkehrte.

Statt sofort zu antworten, schaute sich Laurentius sorgfältig um, um sicherzugehen, dass uns niemand zuhörte, der das nicht sollte. »Ich befürchte, wir haben ein Problem«, mein Marschall deutete auf ein rotes Lämpchen über der Appartementtür, »Es leuchtet nicht.«

Daran hatte ich nicht gedacht. Jeder Raum Charlottenhofs, der über Fenster verfügte, verfügte auch über so ein rotes Lämpchen, das zu blitzen begann, sollte hinter der Tür gefährliches Sonnenlicht herrschen. Mit den drei Worten »Es leuchtet nicht« hatte Laurentius nicht weniger gesagt, als dass wir es erneut mit einem Verräter in unseren Reihen zu tun hatten. So hatte nicht nur jemand die Sonnenlichtwarnanlage sabotiert, sondern auch an der Terrassentür herumgefummelt. In ihrem Rahmen klafften Löcher, die nicht dahin gehörten.

»Kannst du sagen, wann das Zimmer präpariert wurde?«, wollte Michael wissen.

»Das kann nicht lange her sein. Die Löcher im Holz sind frisch. Da liegen auch Holzsplitter rum.«

»Es muss vor weniger als vierundzwanzig Stunden passiert sein.«, hörte ich Antons Stimme, den Hausmeister Charlottenhofs und Ehepartner Lucretias, »Wir überprüfen die Warnanlage routinemäßig alle halbe Jahre oder wenn sich Besuch ankündigt. Nach eurem Anruf gestern bin ich alle Zimmer durchgegangen.«

Sprachs und hielt ein kleines optisches Gerät hoch, das plötzlich aufblitzte und uns Anwesenden zum Aufschreien brachte. Mir war, als hätte mir jemand einen kochend heißen Lappen ins Gesicht geschlagen.

»Ein sehr schwacher UV-Blitzer«, erläuterte Anton, »Er zickt ein wenig. Ist aber weit davon entfernt, Schäden zu verursachen. Kommt!«

Ohne auf uns zu warten, war der Hausmeister Charlottenhofs zum nächsten Appartement gegangen und hatte dessen Tür geöffnet. Dieses Mal blitzte er in den Raum hinein. Sofort begann das rote Lämpchen über der Tür hell und kräftig zu blitzen. Außerdem ertönte ein Warnton. Anton stellte beides ab.

»Mein Testblitz fühlt sich im schlimmsten Fall unangenehm an, löst aber absolut zuverlässig den Alarm aus. Wäre die Tür bereits gestern beschädigt gewesen, hätten wir es gewusst und Simon das Appartement nicht betreten.«

»Also hat jemand das Zimmer präpariert. Wozu? Warum?«, wollte Michael wissen und sprach damit unser aller Verwunderung aus. Zugegeben, das Lichtleck hatte Simon einen Fuß gekostet, was alles andere als angenehm war, mehr aber auch nicht. Aber kein Vampir wäre dadurch ernsthaft in Gefahr geraten, selbst ich nicht. Dafür waren die Löcher viel zu klein. Welche Absicht stand also hinter dieser absurden Aktion, außer dass sie bedeutete, einen weiteren Verräter in unseren Reihen zu haben?

»Ich habe nachgeschaut«, fügte Michael hinzu während er die Unterlagen auf einem Klemmbrett durchblätterte, »Mit den Appartements in diesem Teil des Hauses sind wir durch. Die nächsten, die es betreten hätten, wären unsere Gäste.«

»Ich brauche eine Liste aller Leute, die sich in Charlottenhof aufhalten. Niemand verlässt das Haus. Wir klären das hier und jetzt! Ich will mit jedem persönlich sprechen. Verdammt, unser Gegner ist uns immer noch einen Schritt voraus. Das muss sich ändern.« Langsam, ganz langsam war ich dabei, die Geduld und, weitaus schlimmer, meine Fassung zu verlieren. Die letzten Sätze sprach ich sehr, sehr laut aus. Man könnte es auch schreien nennen.

»Ähm«, machte sich Anton bemerkbar. In einer Hand hielt er seinen UV-Sensortester, in der anderen den Türgriff des übernächsten Appartements. Noch im Gang stehend schaute er hinein, machte aber keine Anstalten hineinzugehen. Stattdessen kräuselte sich seine Stirn, während gleichzeitig seine Schultern absackten, was eine gewissen Frustration ausdrückte: »Ich glaube, die Befragung hat sich soeben erübrigt.«

Ich wusste, dass mir das, was Anton in dem Appartement entdeckt hatte, nicht gefallen würde und überließ es Laurentius und Michael, sich die Sache anzusehen. Ich wartete und starrte stattdessen auf Simons noch leicht rauchenden Schuh. Ritter vom fehlenden Fuß – der Ritter war ernst gemeint, der Zusatz als Scherz und Aufmunterung. Simon hatte in wenigen Tagen so viel durchgemacht und dabei unendlich viel Tapferkeit bewiesen. Der Junge hatte es als jüngstes Mitglied der Wache alles andere als leicht, von den anderen Männern akzeptiert zu werden. Neben seiner Jugend zählte er nicht unbedingt zu den Muskelbergen, die sonst das Gros der Wachleute ausmachte. Aber was ihm an Stärke fehlte, machte seine überraschende Zähigkeit mehr als wett. Der Typ war ein Terrier.

»Es ist Leroy. Er ist tot, ausgeblutet. Ich vermute, er hat einen Gerinnungshemmer genommen und sich anschließend die Halsschlagader geöffnet.«

»Leroy?« Der Name wirkte wie ein Stromschlag und katapultierte mich unwillkürlich zum Ort des Geschehens. Es war tatsächlich Leroy, der Vampir, dem ich auf dem Weg zum Treffen mit Bastian und Phillip begegnet war. Ich verfluchter Idiot, ich Hornochse, inkompetente Amöbe, Pantoffeltierchen, warum hatte ich nicht auf seine Worte gehört? Was hatte er noch gesagt, unmittelbar bevor er floh? Constantin, es tut mir leid! Wie konnte ich ihn nur so missverstehen? Ich hatte unsere Begegnung vollkommen falsch interpretiert.

»Constantin?«, fragte Laurentius, der meine Gefühlsregungen besser kannte, als ich selbst.

»Wir sind letztens im Haus zusammengestoßen. Es war kurz nachdem mich Bruno und Ricardo aus dem Bratenschlauch geholt hatten.« Ich seufzte. Wieder so ein Vorfall, bei dem ich versagt hatte. »Als er mich erkannte, wurde er kreidebleich. Ich vermutete, dass er Angst hatte, dass ich ihm wegen Frantz Vorwürfe machen würde. Schließlich zählte er zu dessen Team. Aber dem war wohl nicht so. Offensichtlich war er Frantz Mitverschwörer.«

»Mag sein, aber nicht freiwillig.«, relativierte Michael und kam mit einem Blatt Papier in seinen Händen aus dem Appartement, das er sehr vorsichtig nur an dessen Ecken hielt und dabei schwarze Latexhandschuhe trug. Und ich dachte, Laurentius wäre bizarr, dass er Handschuhe und Schutzmasken mit sich rumtrug. Wieso trug Michael Latexhandschuhe mit sich? Offensichtlich tummelte sich eine ganze Horde seltsamer Leute in meinem Haus.

»Wenn das stimmt, was er in seinem Abschiedsbrief schreibt, hatte ihn Frantz in der Hand und erpresste ihn, Dinge zu tun, die er nicht wollte.«, fasste Michael zusammen, »Leroy schreibt, dass er keinen Ausweg mehr sieht. Nach Frantz Tod hatte er gehofft, endlich frei zu sein, doch dann wurde er angerufen. Der Anrufer wusste alles was auch Frantz wusste und verlangte nun ebenfalls, dass er ihm zu Diensten sei. Er wisse nicht, warum er das Zimmer präparieren sollte, aber er könnte damit nicht mehr leben und...« Michael brach ab, schaute traurig zur Leiche, die in einem See aus rotem Blut lag und meinte »Tja, das war's. Er hat die endgültige Entkörperung gewählt.«

»Armer Kerl«, hörte ich mich selbst sagen, schüttelte den Kopf und meinte »Okay, das mag jetzt kaltherzig klingen, aber wir haben immer noch eine Ratssitzung vorzubereiten. Wir müssen die Leiche wegschaffen und hier saubermachen. Allerdings möchte ich, dass Leroy ordentlich beigesetzt wird. Laurentius, du gehst mit Lydia bitte nochmal alle Personen durch, die zurzeit in Charlottenhof tätig sind. Wir haben einen Problemfall übersehen, einen zweiten können wir uns nicht leisten. Anton, sobald ein Zimmer oder Appartement fertig eingerichtet und bereit für seine Gäste ist, überprüfst du noch einmal ob die UV-Warnanlage funktioniert und versiegelst anschließend die Tür. Kein Gast soll seine Unterkunft betreten, sollte die Versiegelung beschädigt sein. Moment...«

Alles stoppte und harrte, was ich zu verkünden hatte. Dabei war es nur eine ziemlich vage Idee, die in mir kurz aufblitzte, aber vielleicht bot sich hier tatsächlich die Gelegenheit, die Regeln des Spiels ein wenig zu unseren Gunsten zu verändern und unserem Gegner eine kleine Falle zu stellen. Wenn ich mit meiner Vermutung nämlich richtig lag, hätte die Manipulation an der Terrassentür noch gar nicht entdeckt werden sollen. Was immer Leroy auch geplant haben mochte, er hatte bestimmt nicht damit gerechnet, dass Simon es im Appartement klappern hörte und dem nachging.

»Kommando zurück. Wir unternehmen vorerst nichts. Lucretia soll ihre Leute zurückpfeifen. Das Appartement bleibt, wie es ist. Mal sehen, was passiert.«

Onlinevideoüberwachung

Florian

»Ganz ruhig!«

Vom ersten Schrecken erholt war ich sofort auf Nicolas zugestürmt und hatte den blinden Vampir in meine Arme genommen.

»Ganz ruhig. Alles ist in Ordnung. Ich bin jetzt da. Was ist passiert?«

Sie hatten Nicolas überrumpelt. Dass es mehr als eine Person war, hatte er zwar nicht gesehen, dafür aber gehört, obwohl die Angreifer nicht miteinander sprachen. Es reichte, auf die Anzahl der Herzschläge im Raum zu achten. Dies änderte aber nichts daran, dass Nicolas seinen Gegnern hilflos ausgeliefert war.

Trotz aller Sicherheitstechnik, die Christiano in seinem Penthouse verbaut hatte, war es keine Festung. Ein zu allem entschlossener Angreifer konnte die Hindernisse und Sperren überwinden. Wie sich jetzt herausstellte, war es sogar genau diese Sicherheitstechnik, die ihnen dabei half.

»Ich hörte das Bimm des Fahrstuhls, drehte mich um und... Es gab einen gleißenden Blitz und plötzlich stand mein Gesicht in Flammen.«, schilderte Nicolas.

»Eine Lichtschockwaffe«, kommentierte Christiano, »Sie sendet einen hochkonzentrierten UV-Blitz aus. Ziemlich ekelhaft, aber zum Glück nicht tödlich. Ich geh schnell telefonieren, vielleicht kann ich einen meiner Blutspender kurzfristig dazu bewegen, uns einen Besuch abzustatten.«

»Flo, sie haben deinen Vater. Ich habe es total verbockt und mich wie ein Anfänger überrumpeln lassen.«, jammerte Nicolas, der ohne Augen in seinem Schädel jetzt wirklich wie eine Totenfratze aussah.

»Wir sind beide Anfänger.«, tröstete ich meinen Marschall bevor sich dieser weiter in Selbstmitleid erging. »Sie haben meinen Vater entführt? Gut, das heißt, dass sie etwas von uns wollen. S lange sie dies nicht haben, werden sie ihm nichts antun.«

In der Zwischenzeit hatte Christiano ein wenig rumtelefoniert. Brian und Marcus, die Cityboys aus der Londoner Niederlassung waren noch im Haus und sofort bereit, eine Notblutspende zu leisten. Keine fünf Minuten später kreuzten die beiden im Appartement auf und hatten auch noch John, den dritten aus der denkwürdigen Tiefgaragenszene mitgebracht.

»Huh!«, stöhnte Brian bei Nicolas Anblick, »Kleines Date mit einer Kochplatte gehabt?«

Auf diese zugegeben etwas gemeine Bemerkung verzog Nicolas sein Gesicht zu einem wirklich furchterregenden Grinsen, was wiederum ein paar seiner verkohlten Hautfetzen abbröckeln ließ. Der sonst nicht auf den Mund gefallene Brian musste schlucken und hauchte ein leises »Entschuldigung« dahin.

»Ähm, wenn einer von euch so nett wäre.«, bat Christiano seine Freunde, »Ich weiß, unser guter Nicolas sieht zum weglaufen aus, aber um das zu ändern braucht er dringend euer Blut. Ich kann verstehen, wenn ihr euch ekelt. Die sonst von euch so geschätzte erotische Komponente wird vermutlich auch auf der Strecke bleiben, aber...«

»Es ist gut«, unterbrach John, »Ich mach's.« Sprach's und hielt Nicolas vorsichtig sein Handgelenk vor den Mund: »Ich weiß, dass du meine Präsenz fühlen kannst. Mein Unterarm befindet sich direkt vor deinem Mund. Wenn es geht, sei bitte nicht zu brutal.«

Statt zu antworten, öffnete Nicolas langsam und vorsichtig seinen Mund. Seine Lippen waren ebenfalls verkohlt. Die entstandene Kruste platzte auf und ließ das darunterliegende rohe Fleisch erkennen. Noch vorsichtiger fuhr mein Exnosferatu seine Zähne aus. Das ganze musste unter starken Schmerzen erfolgen, da kleine Tränen unter der verknusperten Haut hervorquollen und in die leeren Augenhöhlen liefen. Ich wusste, dass wir unseren menschlichen Freunden einiges abverlangten. Der Anblick war nur etwas für Leute mit starken Nerven und einem Magen von der Gemütslage eines Wiederkäuers. Was mich überraschte, war meine eigene Reaktion. Vor ein paar Wochen hätte ich mit Sicherheit vor Ekel gekotzt, doch als Vampir störte mich der Anblick überhaupt nicht. Ich betrachtete Nicolas mit ganz anderen Augen. Ich sah unter das zerstörte Gesicht und sah die emotionalen Schmerzen, die er durchlitt.

Nicolas biss zu. Bei allem Verlangen, das er empfand, gelang es ihm, John halbwegs zärtlich anzuzapfen. Dieser Exnosferatu verfügte über eine unglaubliche Selbstkontrolle. Ich konnte mich noch ziemlich genau an Constantins verzweifelten Biss erinnern, nachdem ihn eine Autobombe erwischt hatte. Nicolas war zwar beiweitem nicht so schwer verletzt, wie seinerzeit mein Liebster, allerdings spielte dies kaum eine Rolle. Ab einem bestimmten Verletzungsgrad schaltet der vampirische Körper auf Autopilot. Wer glaubt, Nicolas Exemplar hätte dafür keinen Anlass, soll sich kurz vorstellen, sein Augenlicht zu verlieren.

»Uhhaaah...«, gurgelte der Vampir und schlürfte das lebensspendende Blut. Ich weiß nicht, was gruseliger anzusehen war: Eine verkohlte Totenfratze oder die gleiche Fratze, über die sich frische blaue und rote Blutgefäße schlängelten. Sprachlos sahen wir zu, wie sich frisches Muskelgewebe bildete und das alte verkohlte abstieß, während gleichzeitig in den Augenhöhlen erbsengroße Augäpfel sprossen und schnell größer wurden. Als wenn ein unsichtbarer Gurkenhobel rückwärts schälte, bildeten sich Hautschichten und wuchsen in Bahnen über Nicolas Schädel. Marcus, der Dritte der drei Cityboys musste dann auch ziemlich schnell zum Klo rennen.

»Lass uns wechseln!«

Brian mochte über ein loses Mundwerk verfügen, hatte aber auch Tiefgang, was er aber normalerweise gut verbarg. Nicolas, den wir als solchen inzwischen tatsächlich wiedererkennen konnten, zog sich aus John zurück und wechselte zu Brian, um auch von ihm einen kräftigen Schluck zu nehmen. Der Gebissene schloss seine Augen und entspannte sich. Inzwischen hatte sich Nicolas Gesicht soweit wiederhergestellt, dass es die Bezeichnung Gesicht auch verdiente. Den Abschluss bildeten dann auch nur noch die Augenbrauen und ein kurzer, etwa sechs Millimeter dichter Haarschopf, was dem Kerl von einem Schwertkämpfer ausgesprochen gut stand.

»Danke...«

Völlig wiederhergestellt ließ Nicolas von Brians Handgelenk ab und döste augenblicklich ein. Wie ich inzwischen wusste, erforderte die Selbstheilung nicht nur ausreichende Mengen körperfrischen Bluts, sondern war auch sehr ermüdend.

»Schaut euch den an!«, lachte Brian, »Der ist wie mein Ex. Der pennte nach dem Sex auch immer gleich ein.«

In diesem Moment kehrte ein ziemlich bleicher und verlegen dreinschauender Marcus aus dem Badezimmer zurück. Ihm war sein Verhalten sichtlich peinlich, weswegen ich mich an die drei Jungs wandte, während Christiano Nicolas zum Bett trug, um ihn dort sanft abzulegen.

»Brian, John Marcus, ich danke euch, euch dreien. Ich weiß, dass das eben nicht einfach war. Umso dankbarer bin ich, dass ihr euch trotzdem überwunden habt, zu helfen. Ich werde euch das niemals vergessen. Nicolas ist mein Geschöpf, sowohl mein Bruder als auch mein Sohn, wenn ihr versteht, wie ich das meine.«

»Hey, ist doch kein Problem«, Brian hatte seine Großmäuligkeit wiedergefunden, »Wir wissen, dass du nicht mehr zu Constantins Familie gehörst, aber du bist ein Freund Christianos. Das reicht uns. Mehr müssen wir nicht wissen.«

»Danke, Jungs! Auch in seinem Namen.«, erwiderte ich und deutete auf den schlummernden Nicolas, »Auch wenn er nicht so aussehen mag, er ist ein ganz lieber.«

Während ich noch mit Brian sprach, sah ich Christiano, wie dieser mit John sprach. Das Gespräch schien recht einseitig zu verlaufen, denn John nickte nur, schaute kurz nachdenklich zu mir und zu Nicolas und antwortete ansonsten, soweit ich das sehen konnte, recht einsilbig. Nachdem die beiden fertig waren, kamen sie zu uns.

»Brian, lass uns gehen.«

Kurze Zeit später hatten uns die drei Investmentbankerjungs verlassen und ich war mit Christiano und dem schlafenden Nicolas allein. Es war an der Zeit, etwas wegen meines Vaters zu unternehmen.

»Oh, schau an«, hörte ich Christiano rufen, mich wild zu sich heranwinkend. Mein Freund hatte sich an seinem Schreibtisch niedergelassen und auf dem Rechner das Programm für die Überwachungskameras aufgerufen. Das System lieferte nicht nur Livestreams, sondern natürlich auch Aufzeichnungen der letzten Stunden.

»Hier ist eine Aufzeichnung einer Kamera aus der Tiefgarage«, erläuterte Christiano und zeigte auf ein Videobild, auf dem drei Typen zu erkennen waren. Zwei von ihnen hantierten am Eingangstor des abgeteilten Bereichs mit Christianos Fahrzeugen, während der dritte sich im Hintergrund hielt. Leider konnten wir ihre Gesichter nicht erkennen. Während der ganzen Zeit hatten sie der Kamera den Rücken zugewandt. Außerdem trugen sie dunkle Kapuzenshirts, die sie sich über den Kopf gezogen hatten.

»Die wussten, wo die Kameras stehen.«, kommentierte ich das Bild. Immer, wenn sie einen Erfassungsbereich verließen und in einen anderen wechselten, drehten sie sich so, dass wir nur ihre Rückseite sahen.

»Stimmt, aber nur von den bekannten Kameras«, schmunzelte Christiano und tippte auf seiner Tastatur herum. Plötzlich öffneten sich zwei weitere Videostreams, wovon einer ebenfalls nur Rückenansichten lieferte. Der zweite aber zeigte das Bild einer Kamera, welche direkt die Fahrstuhltür des Appartements überblickte. Der Fahrrichtungszeiger neben der Fahrstuhltür leuchtete auf und zeigte abwärts. Es gab keine Tonspur, aber ich meinte trotzdem, ein Bing zu hören. Die Tür öffnete sich. Drei Typen sprangen heraus. Genau in dem Moment, als ich sie versuchte zu identifizieren, riss einer der drei seine Hand hoch. Es blitzte und das Bild wurde weiß, als der Blitz des UV-Schocker die Kamera übersteuerte. Es brauchte ein paar Sekunden, bis sich die lichtempfindlichen Teile erholt hatten und die Kamera wieder ein normales Bild zeigte. So konnten wir sehen, wie zwei der drei Typen meinen Vater packten und ihn zum Fahrstuhl schoben. Leider zeigte das Bild wieder nur ihre Rückseiten.

»Das war ein wenig schnell«, meinte Christiano breit grinsend, »Beim nächsten Durchlauf lasse ich die Aufzeichnung mit Viertelgeschwindigkeit durchlaufen.«

Er hatte wohl bereits eine Bildmarke gesetzt, denn die Aufzeichnung startete exakt an der Stelle, an der sich die Kabinentür des Aufzugs öffnete. Dieses Mal traten die drei Entführer sehr langsam heraus. Unmittelbar bevor der Blitz die Kamera killte, stoppte Christiano die Wiedergabe. Das Standbild zeigte alles, was wir wissen wollten.

»Mario, Andreas und Momsen?«

Schlachtplan

Warum war ich nicht wirklich überrascht? Obwohl, das ist nicht ganz korrekt. Ich war schon überrascht, dass die drei über eine Antivampirwaffe verfügten. Oder wussten sie vielleicht gar nicht, mit wem sie sich anlegten? Kein Mensch mit einem normal ausgeprägten Überlebensinstinkt würde wissentlich gegen einen Vampir antreten. Auch nicht, wenn er mit einem UV-Schocker bewaffnet war. Dass ihnen der Coup gelang, verdankten sie einzig dem Umstand, Nicolas wirklich vollkommen überrumpelt und ihn sofort ausgeschaltet zu haben. Außerdem zogen sie ihr Ding ohne zu Zögern durch. Hätten sie sich auch nur eine Minute länger Zeit gelassen, meinen Vater zu entführen, hätte sich Nicolas so weit berappelt, dass sich ein Besuch von Brian und seinen Freunden erübrigt hätte. Je mehr ich darüber nachdachte, desto mehr gelangte ich zu der Überzeugung, dass meine Kollegen nicht die geringste Ahnung hatten, in was sie hineingeraten waren. Wer immer hinter der ganzen Sache steckte, hatte sie, das heißt wahrscheinlich nur Momsen, gerade eben mit so viel Informationen versorgt, dass sie ihre Aufgabe erfüllen konnten.

»Woran denkst du?«, wollte dann auch Christiano von mir wissen.

»Dass meine lieben Kollegen nur Bauern auf einem Schachbrett sind. Die haben nicht den blassesten Schimmer, wer und was wir sind.«

»Und wieso hatten sie dann eine Schockwaffe dabei?«, wandte Christiano ein.

Der Einwand war berechtigt. Wer mit einer derartigen Waffe agierte, musste wissen, wem er gegenübertrat. Rein objektiv war gegen diese Argumentation nichts einzuwenden. Trotzdem sagte mir meine Intuition etwas anderes. Menschen, und wohl auch Vampire verhielten sich nicht immer logisch.

»Ich kann es dir nicht sagen.«, entgegnete ich dann auch, »Aber ich glaube nicht, dass sie wussten, was das für ein Ding war, mit dem sie Nicolas blendeten.«

»Was wirst du jetzt tun?«

»Warten«, erwiderte ich knapp, fügte dann aber doch noch eine Erklärung hinzu: »Was sollte ich sonst machen? Wir haben keine Anhaltspunkte, wohin sie meinen Paps gebracht haben. Wenn mich nicht alles täuscht, werden wir bald von ihnen hören. Ich könnte wetten, dass gleich mein Handy klingelt.«

Und das tat es auch, wenn auch anders, als erwartet. Anstatt dass mein Mobiltelefon klingelte, bimmelte Christianos. Ebenfalls unerwartet meldeten sich nicht die Entführer, sondern Marco. Christiano schaltete auf Lauthören.

»Hi, ich bin's, Marco«, hörte ich die Stimme unseres Kollegen flüstern, »Hört mir gut zu, ich kann nicht lange reden. Ich habe vorhin, kurz nach Feierabend, etwas merkwürdiges beobachtet. Ich wollte mich gerade auf den Weg nach Hause machen, als ich sah, wie Momsen in einen Transporter stieg, der auf ihn wohl gewartet hatte. Zuerst dachte ich, der Typ schafft abends noch schwarz was nebenbei und wollte die Sache schon vergessen, bis mir auffiel, dass Andreas hinterm Steuer saß. Mir kam das nicht geheuer vor. Ich habe die Typen angemacht, dass es echt Scheiße von ihnen ist, den Tag blau zu machen. Andreas ranzte mich dann an, dass ich mich lieber um meinen eigenen Kram kümmern soll und fuhr weg. Ich weiß auch nicht, was mich dann ritt, aber ich bin dem Transporter gefolgt und war ziemlich baff, dass er zu deinem Appartement fuhr.«

Noch während Marco erzählte, hatte Christiano die Aufzeichnungen der Überwachungskameras aufgerufen, die den Bereich um das Hochhaus und die Tiefgarage abdeckten. Für einen Experten wie meinen vampirischen Freund war es eine der leichtesten Übungen, unseren Kollegen auf den Videos innerhalb kürzester Zeit auszumachen. Marco hatte sich aber auch nicht sonderlich angestrengt, vor den Kameras in Deckung zu gehen. Sein Augenmerk bestand viel mehr darin, nicht von Momsen und den anderen beiden Kollegen entdeckt zu werden, wobei er sich gar nicht dumm anstellte. Er hielt Abstand, blieb in Deckung und achtete darauf, möglichst keine Geräusche zu verursachen, die in verraten hätten. Auf diese Weise gelang es unserem unerwarteten Helfer, sehr interessante Details der Entführung beizusteuern. Dass es sich um eine Entführung handelte, begriff Marco erst, als die drei Kollegen aus dem Appartement zurückkehrten und dabei einen gefesselten Mann mit sich schleppten, den sie recht unsanft in ihren Transporter verfrachteten. Es war genau jener Transporter, der mir vor Niederreuter aufgefallen war, was die Frage aufwarf, ob man mich wirklich nur aus Versehen auf die Suche nach meinem Chef geschickt hatte und ob beim leeren Tank der Harley nicht nachgeholfen wurde. Immerhin hatte beides Christiano und mich lange genug aufgehalten, um die Entführung meines Vaters ohne Zeitnot durchzuziehen.

»Wo bist du jetzt?«, wollte ich wissen. Wo Marco war, war auch mein Vater.

»Auf unserer Baustelle«, flüsterte Marco in sein Telefon, »Die halten sich im Bankettsaal versteckt.«

Das war schlau. Statt sich irgendeinen geheimen Unterschlupf zu suchen, wählten die Entführer meines Vaters einen halböffentlichen Ort, an dem wir sie als letztes vermutet hätten. Auf der Baustelle wurde in den letzten Wochen Tag und Nacht durchgearbeitet, da fielen ein paar mehr Leute kaum auf, zumal der Baustellensicherung Marios Gesicht bekannt war. Hinzu kam, dass wir an unserem Arbeitsplatz völlig ungestört waren. Unser Bereich war mit dicken Folien abgedichtet, die zwar Licht hindurchließen, aber zu trübe waren, um zu erkennen, was hinter ihnen vor sich ging. Am Eingang klebten reihenweise Schilder, die darauf hinwiesen, dass der Bereich wegen der Gefahr einer Sporenverschleppung für Unbefugte gesperrt sei. Zuwiderhandlung könne gegebenenfalls Schadenersatzansprüche nach sich ziehen. Insbesondere dieser letzte Hinweis hatte die Wirkung einer schier unüberwindlichen Barriere.

Was tun? Ich schaute auf meine Uhr. Es war halb sechs. Tasmanir Musferatu wollte uns gegen dreiundzwanzig Uhr abholen. Damit hatte ich rund fünfeinhalb Stunden Zeit, um etwas zu unternehmen. Nur was? Mein fragender Blick richtete sich auf Christiano. Der zuckte mit den Schultern und wandte sich an Marco.

»Bleib wo du bist und unternimm nichts. Wir kommen so schnell wie möglich.«

»Okay, ich bleib in Deckung. Bis gleich.«, erwiderte Marco, dessen Erleichterung auch noch durch das Mobiltelefon zu hören war, und legte auf.

»Schau mich nicht so an!«, meinte Christiano und schaute mich selbst so an, »Natürlich werden wir deinen Vater befreien.«

»Und ich komme mit!«, ertönte es von der Sitzgruppe. Nicolas war zu sich gekommen und sah für seine Verhältnisse ziemlich normal aus. Die Blutmahlzeit hatte ihre Wirkung nicht verfehlt.

»Natürlich kommst du mit!«

Etwas anderes stand überhaupt nicht zur Debatte. Nicolas musste uns aus zwei Gründen begleiten. Zum einen waren drei Männer einfach besser als zwei, obwohl eigentlich ein Vampir vollkommen ausreichte, um es mit drei menschlichen Gegnern aufzunehmen. Allerdings hatten diese bewiesen, dass sie ein paar Überraschungen auf Lager hatten. Zu dritt sollte sich das Risiko aber in Grenzen halten, erneut auf dem falschen Fuß erwischt zu werden. Der andere Grund, warum uns Nicolas unbedingt begleiten musste, war psychologischer Natur. Sein Ego war angeknackst. Sein erster Job als Schwert des Hauses Margaux, meinen Paps zu beschützen, war, um es plastisch auszudrücken, voll in die Hose gegangen. Auch wenn er nichts sagte, konnte ich sehen, dass sich Nicolas große Vorwürfe machte. Es war daher mein Job als sein Fürst, ihm zu zeigen, dass er nach wie vor mein Vertrauen besaß. Außerdem sollte er eine Gelegenheit bekommen, sich für das verknusperte Gesicht revanchieren zu dürfen.

Statt Hals über Kopf aufzubrechen, statten wir dem Badezimmer einem Besuch ab. Außerhalb des Appartements war es immer noch helllichter Tag, außerdem wollten wir gegen mögliche Schockangriffe mit UV-Waffen gewappnet sein. Eine extra dicke Schicht Sunblocker sowie frische Kontaktlinsen sollten ausreichenden Schutz bieten.

»Dir ist schon klar, worauf du dich einlässt?«, fragte mich Christiano während er meinen Hals und Nacken eincremte.

»Ja, ist es.«

Es wäre naiv gewesen, zu glauben, dass Momsen, Andreas und Mario meinen Vater freiwillig gehen ließen. Anders ausgedrückt hieß dies, dass uns ein Kampf bevorstand, bei dem es durchaus zu Verletzten wenn nicht Schlimmerem kommen konnte. War ich wirklich bereit, notfalls einen Menschen zu töten? In einer halben Stunde sollte ich es wissen. Länger brauchte Christiano nämlich nicht, um uns drei zur Baustelle zu fahren. Der Wachschutz winkte uns sofort durch und meinte im Vorbeifahren noch, dass unsere Kollegen schon da wären. »Wird wohl 'ne lange Nacht«, rief uns der Mann an der Einfahrt noch nach. Ich hoffte inständig, dass er damit nicht Recht hatte. Überraschenderweise hatten sich die Entführer bisher noch nicht bei mir gemeldet. Wieso? Worauf warteten sie?

Wir parkten den Wagen in der Nähe der Bürocontainer an denen Marco sehnsüchtig auf uns wartete. Christiano achtete darauf, dass uns die Gebäude Deckung gaben. So konnten wir aussteigen, ohne dass uns jemand dabei beobachtete. Inzwischen hatte Dämmerung eingesetzt. Zwischen den Containerreihen wuchsen die Schatten, in die wir sofort abtauchten.

Und damit Marco abhängten.

Ohne an unseren menschlichen Begleiter zu denken waren wir in die Schatten der Container instinktiv abgetaucht und sofort mit ihnen verschmolzen. Diese Fähigkeit, eins mit der Dunkelheit zu werden, diente primär der Jagd. Wenige Menschen, und die auch nur nach umfangreichem Training waren in der Lage, einen Vampir, der mit einem Schatten verschmolzen war, zu entdecken. Marco zählte nicht dazu. Umso erschrockener reagierte er, als plötzlich eine Hand aus der Dunkelheit hervorschoss, ihn packte und in die Finsternis hinein zog.

»Später!«

Es war weder der richtige Zeitpunkt noch der passende Ort, um einem verwunderten Marco zu erklären, was gerade geschehen war und warum ihn die Schatten einiger Bürocontainer wie einen Mantel einhüllten. Zum Glück zählte mein Kollege nicht zu den Menschen mit langer Leitung und wusste, Prioritäten zu setzen, welche momentan mein gekidnappter Vater darstellte.

Die Aufteilung unseres kleinen Teams folgte einem intuitiven Pragmatismus. Christiano, der als Agent die größte Erfahrung mit heimlichen Operationen verfügte, übernahm die Vorhut, Nicolas als ausgebildeter Kampfmönch sicherte unseren Rücken und die beiden unerfahrenen Mitglieder des Trupps, Marco und ich, drängten sich in die Mitte.

Die erste Aktion unseres Teamleaders bestand darin, zu prüfen, ob Momsen und seine Gang das Terrain vor dem Jagdschlösschen bewachten. Zwischen dem Sanierungsobjekt und den Containern lagen gute fünfundzwanzig Meter freies Gelände, das selbst uns keinerlei Deckung bot. Es sei denn, wir warteten, bis die Dämmerung in Nacht übergegangen war. Zum Glück zeigte sich die Lage unkritisch, sodass wir unauffällig bis zum Herrenhaus vorrücken konnten. Bis auf Nicolas kannten wir den Grundriss des Gebäudes im Schlaf. Die Wochen der Arbeit vor Ort waren nicht spurlos an uns vorbei gegangen. Wir kannten unsere Baustelle.

Und wir entdeckten unser Problem.

Wie erwähnt, wurde der gesamte Saal gleich zu Beginn der Sanierungsmaßnahmen von uns hermetisch mit dicken Folien abgedichtet. Neben einem Hilfszugang über die Terrasse des Herrenhauses gab es nur einen zentralen Zugang, an dem jeder, der den mit Schwammsporen kontaminierten Bereich betreten oder verlassen wollte, sich zwischen überlappende Folienbahnen quetschen musste. Damit wir nicht erstickten, wurde der Saal über einen dicken Schlauch und ein Gebläse mit Frischluft versorgt, während ein zweiter Schlauch, ein weiteres Gebläse und ein Hochleistungssporenfilter die verbrauchte Luft wieder ins Freie beförderte. Wollten wir zu den Entführern vordringen, gab es im Prinzip nur drei Möglichkeiten: Durch die Schleuse mit den überlappenden Folien, die beiden Luftschläuche, die durchaus groß genug waren, um durch sie hindurchzukriechen oder den Hilfszugang. Alle drei Varianten besaßen den gleichen Makel: Unbemerkt ließen sie sich kaum nutzen. Die Eingänge, da waren wir uns sicher, wurden von Mario oder Andreas bewacht. Die Luftschläuche mussten sie nicht bewachen, da es jeder sofort gehört hätte, sollte jemand durch die runden Kanäle robben. Erschwerend kam hinzu, dass wir nicht wussten, wo sich Momsen und die zwei anderen genau aufhielten. Es reichte nicht, einen oder zwei von ihnen auszuschalten, der Dritte hätte dann immer noch meinen Vater als Geisel in seiner Hand gehabt.

»Flo?«, flüsterte mir Christiano zu, »Hast du zufällig die Schlüssel für unseren Baucontainer dabei?«

Statt zu antworteten tastete ich meine Kleidung ab: Brust-, Innen- und Außentaschen meiner Jacke, sowie die Taschen meiner Hose. Da ich den Schlüssel gleich zu Anfang an meinen Schlüsselbund gefriemelt hatte, lautete die Antwort auf die Frage: Ja, ich habe. Den Schlüsselbund selbst fand sich in meiner rechten Jackentasche. Ohne von Christiano dazu aufgefordert zu werden, klemmte ich den gesuchten Schlüssel ab und hielt ihn für alle sichtbar in die Höhe.

»Sehr gut!«, erwiderte mein Kollege, schnappte sich das Schließgerät und gab es Marco: »Wärst du so nett und holst und das Endoskop? Es müsste rechts im Schrank liegen. Der große Alukoffer.«

Ebenso wortlos wie ich war Marco verschwunden. Die Idee mit dem Endoskop war genial. Wir benutzten es primär dazu, um Hohlräume in Gebäuden zu untersuchen, in die wir sonst nur mit erheblichem Aufwand schauen könnten. Statt eine ganze Wand aufzureißen, reichte es ein kleines etwa zwei Euro großes Loch zu bohren und den Schlauch mit Faseroptik einzuführen. Genau diese Idee musste wohl Christiano durch den Kopf gegangen sein. Statt aber nach Schwamm zu fanden, schwebten ihm die Entführer vor. Wir mussten nur eine Stelle finden, an der sich der Schlauch des Endoskops unbemerkte in den Saal bugsieren ließ. Aber auch daran hatte Christiano gedacht. Auf meinen fragenden Blick deutete er zur Decke. Wer war eigentlich der Zimmermann? Er oder ich? Ich scheinbar nicht, denn statt mir kam dieser blutsaugende Azubi auf die Idee, unsere kriminellen Kollegen von oben zu beobachten. Unsere Sanierungsarbeiten hatten zwar bereits die Phase der Widerherstellung erreicht, Teile der Decke lagen aber nach wie vor offen. Erdgeschoss und ersten Stock trennte hier nur eine Lage Dielen, und selbst diese waren zum Teil nur aufgelegt und noch nicht vernagelt. Die einzige Gefahr bestand darin, dass Momsen und die anderen unsere Schritte bemerkten.

Keine zehn Minuten später war Marco zurück und trug in seiner rechten Hand einen Alukoffer. Christiano nickte zustimmend und führte uns ins Obergeschoss. Statt dass wir uns alle zusammen in den Bereich direkt über dem Bankettsaal vorwagten, packte Christiano das Endoskop aus und deutete uns zu warten. Völlig geräuschlos schlich er davon und verschwand in den Schatten der Zimmer.

»Kann es sein, dass du ein paar Dinge vergessen hast zu erzählen?«, wollte Marco leise flüsternd wissen, »Wieso entführen Momsen, Andreas und Mario deinen Vater? Wieso tritt Christiano auf, als ob er ein ausgebildeter Squadleader sei?«

»Wenn das hier vorbei ist, reden wir. Das ist ein Versprechen.«, ich befürchte, ich war Marco wirklich eine Erklärung schuldig.

»Okay!«, stimmte er zu.

Wenige Momente später kehrte Christiano von seiner Erkundungstour zurück. Der Mann wirkte unsicher, wenn nicht sogar nervös. Das verhieß nichts Gutes.

»Was hast du gesehen?«

»Zuerst die gute Nachricht. Es sind wirklich nur Momsen, Andreas und Mario beteiligt. Dein Vater ist ebenfalls da. Sie haben ihn an einen Stuhl gefesselt, aber ansonsten scheint es ihm gut zu gehen. Was mir Sorgen macht ist, dass die Jungs bis an die Zähne bewaffnet sind.«

»Bewaffnet?«, wollte ich erstaunt wissen.

»Mario ist ein Waffennarr«, schaltete sich Marco in die Strategiediskussion ein, »Er hat da nie ein Geheimnis draus gemacht.«

»Na super!«, knurrte Christiano wenig begeistert, »Die haben da unten ein ganzes Waffenlager. Wenn wir nicht sehr überlegt vorgehen, könnte jemand ernsthaft verletzt werden.«

Womit er weniger sich, Nicolas und mich meinte. Auf jeden Fall verkomplizierte es die Lage. Uns musste etwas einfallen, die drei dermaßen zu überrumpeln, dass sie keine Chance hatten, sich zu wehren oder auf andere dumme Ideen zu kommen. Der Festsaal besaß zwei holzvertäfelte Stirnwände. Genau in der Mitte einer der Längsseiten befand sich eine prunkvolle Doppelflügeltür. Deren Türblätter hatten wir gleich zu Beginn der Bauarbeiten ausgehängt und dort unsere Zutrittsschleuse errichtet. Schleuse traf es sogar ziemlich genau. Bei einer Schwammsanierung stand immer im Vordergrund, eine Verschleppung der Pilzsporen in nicht infizierte Bereiche zu verhindern. Deswegen trugen wir bei den Arbeiten auch immer weiße Papieroveralls und Papierschuhüberzieher, die nach dem Arbeitstag vernichtet wurden. Damit ergab sich ein kleines Problem: Wo sollten die Overalls an- und ausgezogen werden? Zu diesem Zweck hatten wir außerhalb des Saals den Zugang mit einem kleinen Raum umbaut. Er bestand aus nicht mehr als Kanthölzern und Folie, schuf damit aber einen praktischen Schleusenraum.

An dieser Front war für uns kein Blumentopf zu gewinnen. Unsere Gegner hätten uns bereits in der Schleuse bemerkt und entsprechend gehandelt. Blieb also nur die andere Längsseite des Saals. Diese bestand primär aus Fenstern und einer weiteren, mit dem Zugang korrespondierenden Flügeltür, die sich aber in diesem Fall auf die Terrasse des Herrenhauses öffnete. Den größten Teil der Fensterfront hatten wir intakt gelassen und mit Brettern vernagelt, um sie gegen zufällige Beschädigungen zu sichern. Ein paar Fenster hatten wir allerdings für die Schläuche der Frisch- und Abluft ausgebaut. Blieb die große Terrassentür. Sie war ebenfalls ausgebaut, da wir diesen Zugang für schwere und sperrige Werkzeuge, Material und Maschinen nutzten. Für die tägliche Arbeit war dieser Weg allerdings ungeeignet. Um zur Terrasse zu gelangen, musste nämlich das Haupthaus umrundet werden. Obendrein war der Weg dorthin in einem herzhaft schlechten Zustand und bei Regen nicht wirklich zu gebrauchen. Für das, was wir jetzt vorhatten, war er hingegen der einzig gangbare.

Langsam wurde es ernst. Ich merkte, wie es in meinem Kopf Klick machte. Bisher war die Vorstellung, gegen meine Kollegen Gewalt anzuwenden fern und von rein abstrakter Natur. Als Christiano aber begann, uns die Situation taktisch darzulegen, etwa indem er die Positionen unserer Gegner im Saal skizzierte, dämmerte mir langsam die Tragweite dessen, was wir planten.

Dies bemerkte auch Christiano: »Flo, wir müssen das nicht tun. Wir können auch ganz konventionell die Polizei einschalten. Ein anonymer Anruf genügt.«

»Und wenn Mario Amok läuft? Du weißt, was ich meine?«, wandte ich ein und spielte direkt auf die Ritzereien an den Unterarmen unseres Kollegen an. Mario litt, davon war ich überzeugt, unter dem Borderlinesyndrom. In diesem Zustand war der Mann, sollte er unter Stress geraten, unberechenbar. Eigentlich gab es nur eine Möglichkeit: Drei Vampire, drei Gegner, drei Halsschlagadern. Doch dafür benötigten wir ein Ablenkungsmanöver.

»Gut, ziehen wir es durch«, verkündete Christiano unseren Entschluss, »Marco, wir brauchen deine Hilfe.«


Und so sah der Plan aus: Unser Kollege sollte den Entführern einen Besuch abstatten. Mit der Begründung, auf der Baustelle sein Handy oder irgendeinen anderen persönlichen Gegenstand vergessen zu haben sollte er den Saal durch die Schleuse betreten und sich sehr überrascht zeigen, ein paar Kollegen anzutreffen. Während diese vom unerwarteten Besuch abgelenkt waren, wollten wir die Terrassentür stürmen. Lief alles wie geplant, hatten unsere Gegner schneller unsere Saugzähne in ihren Hälsen, als sie Piep sagen konnten. Der Plan mochte nicht elegant sein, aber es war der einzige, den wir hatten.

»Uhrenvergleich! Zehn Minuten ab... Jetzt« Christiano gab das Kommando. Zehn Minuten war die Vorgabe für Marco. Danach sollte er mit seinem Schauspiel loslegen. Bis dahin wollten wir Position an der Terrassentür bezogen haben. Die Dämmerung war inzwischen so weit fortgeschritten, dass wir keine Schatten werfen würden, zumal Momsen und seine Leute mehrere Bauscheinwerfer im Saal eingeschaltet hatten. Ein typisches Verhalten für Leute ohne taktische Erfahrung, wie Nicolas bemerkte.

Die inzwischen vorherrschende Dunkelheit kam uns sehr gelegen. Kaum waren wir außer Sichtweite der auf der Baustelle herumwuselnden Arbeiter, verschmolzen wir mit den Schatten und huschten mit übermenschlicher Geschwindigkeit zu unserem Ziel. Im Vorbeigehen hatte Marco zwei Teppichmesser aus einer herrenlosen Werkzeugtasche gefischt.

»Für die Folie vor der Tür«, flüsterte er uns zu.

»Marco verwundert mich«, ergriff Nicolas, der bisher geschwiegen und sich im Hintergrund gehalten hatte, das Wort, »Vertraut ihr ihm?«

»In Grenzen«, entgegnete ich, »Warum?«

»Versteht mich nicht falsch. Ich mag ihn. Ich mag ihn sogar sehr. Aber er stellt mir zu wenig Fragen. Wenn ich ein Mensch wäre, würde ich mich über drei Typen, die überhaupt keine Angst vor Schusswaffen zu haben scheinen, arg wundern.«

»Er wundert sich. Sogar sehr.«, entgegnete Christiano und gab damit zu, Marcos Gedanken gelesen zu haben, »Aber er vertraut uns. Außerdem will er etwas gutmachen. Noch drei Minuten...«

Noch drei quälend lange Minuten, in denen wir schwiegen und nur noch mit Handzeichen unterhielten. Während Christiano als faktisch einzig erfahrener Kämpfer das Kommando übernommen hatte, postierten Nicolas und ich uns mit gezückten Teppichmessern neben den Holmen der Terrassentür. Sobald Marco die drei abgelenkt hatte, waren wir zur Stelle, um die Folie zu zerschneiden.

Noch eine Minute. Wir lauschten, richteten unsere vampirisch verstärkten Ohren auf das Innere des Festsaals. Unsere Gegner verhielten sich erstaunlich ruhig, wenn auch ihre Atmung und Herzschlag auf eine gewisse Anspannung hindeutete.

Eine halbe Minute. Ein Mobiltelefon klingelt. Momsen ging ran: »Momsen, Tischlerei Niederreuter, was kann ich für Sie tun? Wie? Ah, ich verstehe... Ja, kein Problem, dafür haben Sie... Genau, genau... Ja, wir kommen... Bis nachher.« Ein Piepen signalisierte das Ende des Gesprächs. Momsen wandte sich an seine Mitentführer: »Es ist soweit. Bereitet euch vor! Ich mach den Anruf.«

Scheiße, was ging da vor? Nicolas und ich bedachten Christiano mit fragenden Blicken, doch der zuckte nur mit den Schultern. Im gleichem Moment konnten wir die DTMF-Töne eines Handys hören. Momsen wählte eine Nummer und hatte auf Lauthören gestellt. Ihrer Länge nach musste es sich um eine Mobilfunknummer handeln.

»Hey, Leute, was treibt ihr denn noch so spät hier?«

Marcos Auftritt fiel genau auf den Moment, als Momsen seine Nummer zu Ende gewählt und die grüne Abhebentaste gedrückt hatte. Deutlich drang das Tuten eines Rufzeichens an unsere Ohren, während die Vermittlungsstelle die Funkzelle des Zielteilnehmers suchte. Plötzlich wurde mir heiß. Ich wusste, wessen Nummer Momsen gewählt hatte. Das gesuchte Mobiltelefon war nicht weit weg. Es war sogar sehr nah, extrem nah. Es steckte in meiner Hosentasche. Es klingelte.

Defilee

Constantin

Gegen halb zwei trafen die ersten Gäste ein. Es gab tatsächlich Vampire, sogar Stammväter, die sich nicht daran störten, am helllichten Tag vorzufahren. Zugegeben, keiner von ihnen war ein gebürtiger Vampir und lief somit auch nicht Gefahr, sein Leben im Strahl der Sonne zu verlieren. Ich wiederum ließ es mir nicht nehmen, jeden einzelnen bereits am Eingang Charlottenhofs zu empfangen. Ein großer Baldachin überspannte den roten Teppich, der bis zum Haltepunkt der Limousinen führte.

»Lord Peter, ich freue mich, Euch auf Charlottenhof begrüßen zu können.«

So oder ähnlich begrüßte ich alle unsere Gäste, die mal wohlwollend herzlich, mal zurückhaltend förmlich meinen Gruß erwiderten. Lord Berresford Eanruig Bromley reagierte für seine Verhältnisse ausgesprochen herzlich. Als Engländer zählte er nie zu den überbrausenden Charakteren. Umso mehr überraschte es mich, dass sich Lord Peter wirklich freute, mich gesund und munter zu sehen.

»Ihr seht gut aus, Fürst Varadin. Erholt und frisch.«

»Ich danke Euch, Lord Bromley«, bedankte ich mich für das Kompliment. Der so steife Engländer schien mich mehr zu mögen, als ich bisher immer gedacht hatte, »Aber lasst uns doch ins Haus gehen.«

Mein Gast blinzelte kokett in Richtung Himmel, grinste und meinte: »Eine gute Idee. Typisch für euer fürchterliches, sonniges Klima. Da lobe ich mir unser englisches Wetter: angenehm bedeckt und regnerisch.«

Die letzte Bemerkung bewies urbritischen Humor. Zufällig wusste ich, dass Lord Peter zu seinen menschlichen Zeiten, die zugegeben ein paar Jahrhunderte zurücklagen, ein wahrer Sonnenanbeter war, was immer noch sichtbar war. Seine Verwandlung in einen Vampir hatte seine damalige Sonnenbräune konserviert.

So ging es weiter. Ein Stammvater nach dem anderen trudelte samt Entrouage bei uns ein. Unsere Leute hatten alle Hände voll zu tun, die Neuankömmlinge zu ihren Unterkünften zu geleiten. Es mag ein wenig kalt klingen, aber im Prinzip hatten wir eine Art Produktionspipeline aufgebaut. Ich stand am Anfang der Kette und mimte den Grüßaugust. Herzlich willkommen auf Schloss Charlottenhof. Ich freue mich, Eure Lordschaft, Hoheit, Hochwohlgeboren bla bla bla. Anders ausgedrückt, der Gast und ich tauschten die rituellen Höflichkeiten aus, die, wie erwähnt, mal herzlich, mal neutral, vereinzelt aber auch ausgesprochen distanziert und äußerst formell ausfielen.

Sobald die Gäste die Empfangsförmlichkeiten hinter sich gebracht hatten, übernahmen Zwei-Mann-Teams, die sie zu ihren Unterkünften geleiteten. Das Hauptteam bestand aus Michael und Simon, dem Dank der fürsorglichen Pflege seitens Lucretias inzwischen ein neuer Fuß gewachsen war. Die anderen Stammväter und

-mütter sollten gleich sehen, dass wir die Vereinigung der Häuser Breskoff und Varadin vollzogen hatten. Michael war als Vladimir Breskoffs Adjutant im Kreis des Rates bekannt und geachtet. Simon, Christianos quirliger Liebling, Ritter vom fehlenden Fuß, dürfte den meisten Gästen hingegen unbekannt sein, obwohl er eine nicht unerhebliche Rolle während der Vorfälle um Vladimir Breskoffs Tod gespielt hatte. Ich bezweifelte aber, dass der hochwohlgeborenen Vampirschaft der kleine Wachsoldat aufgefallen war, dem die unerfreuliche Aufgabe zugedacht war, die Sonnenbadstrafe Laurentius zu exekutieren. Dass es damals völlig anders kam, stand auf einem anderen Blatt.

Charlottenhof genoss unter den hohen Häusern einen ambivalenten Ruf. Sie schätzten das kleine Jagdschlösschen für seine schöne Lage unweit eines Sees und umgeben von vielen alten und hohen, schattenspendenden Bäumen. Das Bauwerk selbst galt als stilistisches Einzelwerk. Noch nicht im Klassizismus angekommen aber bereits dem Barock entwachsen, zeigte es gleichzeitig Verspieltheit und Strenge. Sehr viele Vampire betrachteten die Zeit zwischen Anfang des siebzehnten bis zum Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts als unsere goldene Epoche. Wurden wir sogar in der Stilepoche der Romantik in ihren Werken der Literatur von Novalis über E.T.A. Hoffmann bis schließlich Bram Stoker ausgiebig thematisiert. Was meine Gäste hingegen überhaupt nicht schätzten, waren die großen Fensterfronten, die Charlottenhof zierte, obwohl sie wussten, dass die Scheiben den höchsten Schutzanforderungen entsprachen. Um die zuweilen etwas sensiblen Gemüter zu beschwichtigen, kam Antons Testblitzer ins Spiel. Bevor Michael und Simon einen Gast in seine Suite, Appartement oder Zimmer ließen, überprüften sie demonstrativ die korrekte Funktion des Sonnenlichtwarnsystems.

Nach dem Vorfall vom Vortag war die Prüferei eine reine Farce und diente einzig dem Zweck, unseren Vampirfürsten eine nette Show zu bieten, die beweisen sollte, wie sorgfältig wir arbeiteten und dass die Sicherheit perfekt gewährleistet war. In Wirklichkeit versuchten wir dahinterzukommen, warum Leroy den einen Raum präpariert hatte. Leider konnten wir ihn nicht mehr befragen. Alle Vermutungen und Gedankenspiele hatten in Sackgassen geführt. So hatte Simon die interessante Frage aufgeworfen, ob vielleicht die Belegung des Zimmers eine Rolle spielte.

Vampire sind eitel, ihre Stammväter eitler. So galt es als unverzeihlichen Affront, einen Grafen in kleineren oder gar gleich großen Räumen unterzubringen wie einen Baron. Einige Häuser kultivierten eine derartige Abneigung gegeneinander, dass es einer Staatsaffäre gleichgekommen wäre, sie dem gleichen Gebäudetrakt zuzuordnen. Die Aufstellung des Zimmerplans war ein fast unlösbares und überaus heikles Problem, gespickt mit Fettnäpfchen und Falltüren. Lydia, Laurentius und Michael hatten Stunden damit zugebracht, eine Belegung auszuarbeiten, bei der mit einem Massaker unter den Gästen wohl nicht zu rechnen war. Aber man weiß ja nie.

Genau dieser Plan warf nun mehr Fragen auf, als dass er Antworten bot. Wenn wir, wie Simon vorschlug, einen Grund für Leroys Manipulation in der Person des Gastes, dem dieses Zimmer zugedacht war, suchten, wurden wir enttäuscht. Markgräfin Charlotte von Tarnobrzeski, einem Landkreis der heutigen polnischen Woiwodschaft Karpartenvorland, herrschte als Stammmutter über eines der älteren Vampirgeschlechter, zählte aber nicht zu denen, die großen Einfluss besaßen oder ihn anstrebten. Sie konnte unmöglich der Grund für die Manipulation sein. Uns blieb nur eine Möglichkeit, dem Geheimnis auf den Grund zu gehen. Wir mussten einfach abwarten und schauen, was passierte. Laurentius, der alte Stratege, war sicher, dass die sonnlichtdurchlässige Tür zum Plan unseres Gegners zählte, meinte aber auch, dass wir im Vorteil waren. Wir wussten von der Manipulation und konnten entsprechend reagieren.

Gegen späten Nachmittag fuhr Charlotte von Tarnobrzeski in Charlottenhof in ihrer schwarzen S-Klasse vor.

»Kostja, mein Junge.«, stürmte die agile siebzehnhundertjährige auf mich zu, »Schön, dich endlich einmal wiederzusehen. Es muss eine Ewigkeit her sein.«

»Was ist schon Zeit, Tante Charlotte?«, über zig Ecken waren die Tarnobrzeskis tatsächlich mit den Varadins verwandt, was hieß, dass auch ein wenig Kodiacblut durch die Adern der eleganten Dame pulsierte. Die Anrede Tante war somit nicht völlig verkehrt. Der Name des kleinen Jagdschlösschens trug nicht zufällig den gleichen Namen. »Aber komm doch ins Haus.«

»Ja, es ist ein wenig sonnig hier draußen.«, erwiderte Markgräfin Charlotte und ließ sich ins Foyer geleiten. Dort angekommen wurden wir bereits von meinen beiden Raumeinweisern erwartet.

»Darf ich dir Michael und Simon vorstellen?«, machte ich die beiden Männer mit meiner entfernten Tante bekannt, »Michael dürfte dir noch als Adjutant Onkel Vladimirs bekannt sein. Simon, unser junger Freund hier, hat sich diese Position in den letzten Monaten durch außergewöhnliche Leistungen erarbeitet. Die beiden werden dich zu deinem Appartement bringen. Ich hoffe, du findest alles deinen Wünschen entsprechend vor. Sollte es irgendetwas geben, das ich für dich tun kann, lass es mich einfach wissen.«

»Na, du scheinst ja alles im Griff zu haben, da will ich alte Schachtel nicht im Weg stehen.«, meinte Tantchen und tätschelte mir die Wange, was eindeutig als Koketterie gemeint war. Charlottes Männerverschleiß war legendär. »Jungs, weist den Weg.«

Die Lunte brannte. In wenigen Minuten würden Simon, Michael und Marktgräfin Charlotte das für sie vorgesehene Appartement erreicht haben. Michael würde die Tür öffnen und Simon mit dem Testblitzer das Sonnenlichtschutzsystem auf seine Funktion überprüfen und dabei scheitern. Verwundert wird sich daraufhin Michael Handschuhe und Schutzmaske überziehen, den Raum betreten, sich umsehen und die beschädigte Tür entdecken. Von da an wollten wir den Dingen seinen Lauf lassen und beobachten, was passierte.

So war der Plan. Es kam – natürlich – anders.

Bevor Michael den Testblitzer anwenden konnte, schob sich Tante Charlotte an ihm und Simon vorbei und stürmte das Appartement. Wie am Tag zuvor hatte die Sonne einen Stand über dem Horizont erreicht, der den unteren Bereich des Raums, etwa auf Höhe der Wischleisten, in ein sonnenlichtverseuchtes Gebiet verwandelte. Der Schrei Marktgräfin Charlottes war dermaßen durchdringend, dass er halb Charlottenhof in Aufruhr versetzte. Dabei war zum Glück wenig passiert. Bis auf einen leicht qualmenden Fuß, der zum größten Teil durch schwarze Socken geschützt war, blieb die Stammmutter des Hauses Tarnobrzeski unverletzt. Mehr über ihre eigene Schreckhaftigkeit und ungestümes Wesen verärgert, ließ sie sich von Simon widerspruchslos in einen kleinen Salon führen, wo er sie mit frischen Blutkonserven versorgte. Durch den Aufstand hatte das ganze Haus vom Vorfall erfahren und wollte natürlich wissen, was eigentlich genau passiert sei. Ich konnte es meinen Gästen nicht verdenken und vertröstete sie nur ungern mit der Bemerkung, dass ich selbst erst in Erfahrung bringen müsse, was geschehen sei. Wollten wir unseren Gegner nicht warnen, mussten wir weiter die Ahnungslosen spielen.

Meine erste Aufgabe bestand dann auch darin, mich bei meiner Tante zu entschuldigen. Doch die wollte davon nichts hören.

»Kostja, lass es gut sein.«, stoppte sie meine Entschuldigungskaskade, »Es war meine eigene Dummheit. Hätte ich deine Jungs nicht beiseite gestoßen, wäre das alles nicht passiert und es ist ja auch gar nichts passiert. Himmel, ich bin schon so oft angeknuspert worden, dass ich aufgehört habe, es zu zählen.«

»Danke, Charlotte. Ich weiß zwar noch nicht wo, aber wir werden dir natürlich ein anderes Zimmer...«

»Papperlapapp!«, stoppte mich die resolute Stammmutter, »Lass die Sache in Ordnung bringen und ich werde mit Freude das Appartement in Beschlag nehmen.«

»Wie du wünschst. Ich werde mich sofort darum kümmern.«, in diesem Moment tauchte Lucretia im Salon auf und stürmte auf Charlotte zu, »Charlotte, du alte Giftmischerin, warum sagt mir niemand, dass du eingetroffen bist?«

»Lucretia, du alte Fregatte!«, erwiderte die bewusste Charlotte, sprang von ihrem Sessel auf und fiel ihrer alten Freundin in die Arme. Dies war mein Stichwort, mich unauffällig aus der Szene zu entfernen.

Das Kümmern bestand darin, mich mit Laurentius, Lydia, Simon und Michael in mein Arbeitszimmer zurückzuziehen und frustriert mit den Schultern zu zucken: »Das war wohl ein Satz mit X. Ich kann Charlotte keinen Vorwurf machen, aber ihr lautstarkes Organ dürfte die Sache verkompliziert haben. Jetzt weiß jeder von der Terrassentür. Ich hatte gehofft, wir könnten das eingrenzen, um zu sehen, wer sich verdächtig verhält, aber alle Anwesenden zu überwachen wird kaum gehen.«

»Vielleicht war genau das der Plan«, gab Laurentius zu bedenken.

»Ein Ablenkungsmanöver«, stieg Michael sofort auf den Gedanken ein, »Es geht gar nicht um die Tür. Sie sollte uns nur von etwas ablenken. Aber von was?«

So interessant die Idee war, auch sie führte ins Leere. Es fehlte einfach der Ansatzpunkt.

»Vergessen wir die Sache. Lasst uns lieber die Augen offen halten. Wenn jemand etwas ungewöhnliches bemerkt, soll er die anderen informieren. Jetzt nach einem Phantom zu suchen, macht keinen Sinn. Anton soll die Tür in Ordnung bringen und wir kümmern uns um unsere Gäste.«

Wir übersahen etwas. Ich war mir sicher, dass wir etwas übersahen, das so absolut offensichtlich war, dass wir es wahrscheinlich selbst dann nicht bemerkt hätten, sollten wir mit dem Kopf dagegen stoßen. Dummerweise blieb uns keine Zeit, weiter darüber nachzudenken, da die nächsten zwei Limousinen mit weiteren Gästen eingetroffen waren und empfangen werden wollten.


Das Herrenhaus füllte sich. Gegen Abend und mit Anbruch der Dämmerung hatten sich bereits mehr als zwei Drittel der Stammmütter und -väter bei uns eingefunden. Der Tradition derartiger Veranstaltung folgend, beschränkten sich die Aktivitäten vor der eigentlichen Ratsversammlung auf einen informellen Empfang mit Buffet. Natürlich musste ich mich dort sehen lassen, und natürlich waren sie alle da, die van Sandens, die Bronkovics, selbst Tante Charlotte beehrte uns mit ihrer Anwesenheit und zog wie so oft einen Großteil der Aufmerksamkeit auf sich.

So informell dieser social event auch scheinen mochte, hier spielte die Musik. Wie bei jeder Stehparty bildeten sich sofort kleine Gruppen, in denen intensiv miteinander getuschelt wurde, wobei ich feststellen musste, ziemlich außen vor zu stehen. Dies kam nicht wirklich überraschend. Beanspruchte ich doch nichts geringeres, als die Königswürde für mich. Und so stand ich ziemlich vereinsamt inmitten eines Saals voller Vampire, die sich angeregt miteinander unterhielten, mich aber wie einen Aussätzigen mieden. Eine wenig erfreuliche Erfahrung.

Nach einer Weile erbarmten sich dann doch noch zwei meiner Gäste, mir Gesellschaft zu leisten. Die eine war, wie konnte es sein, Tante Charlotte, die quasi im Schlepptau Lord Peter mit sich zog.

»Peter, Darling«, flirtete sie mit dem steifen Engländer, der bei der Bezeichnung als Darling sich sichtbar noch ein wenig mehr versteifte. Dabei kannten sich die beiden relativ gut. Auch Lady Charlotte zählte zur Gruppe der Isolationisten, deren inoffizieller Wortführer Lord Bromley war. »Wir müssen unseren jungen Gastgeber ein wenig aufmuntern. So allein, wie er inmitten dieses Teichs voll Hechte steht.«

»Nun, ein Karpfen scheint er mir nicht zu sein«, gab Lord Peter knochentrocken zu bedenken. In diesem Moment ging ein Raunen durch den Saal. Der Präsens der Synode der Nosferatu, der gleiche, der Breskoffs Tod und meinen Anspruch auf den Thron verkündet hatte, betrat mit drei weiteren Nosferatu den Saal.

»Eure Heiligkeit«, begrüßte ich Vater Norfun im Namen meines Hauses, »Es ist uns eine Ehre, Sie in diesem Hause begrüßen zu dürfen.«

»Die Ehre ist auf unserer Seite, Fürst Varadin. In der heutigen Nacht wird ein neues Kapitel im Buch der Hämophagen aufgeschlagen. Ein Kapitel, das auf die eine oder andere Weise Eure Handschrift tragen wird.«

»Ich danke Euch für Eure Worte, Bruder Norfun« Ich hatte nicht den blassesten Schimmer, wie dieser ausgebuffte Nosferatu die Sache mit der Handschrift meinte. Da war es besser, in Formalitäten zu flüchten, »Alles ist für die Sitzung vorbereitet.«

»Ah, Fürst Varadin«, drang das unverwechselbare Organ Baron van Sandens an mein Ohr, »Versuchen wir ein paar Punkte bei unseren verehrten spirituellen Führern zu schinden?«

Erst hörte man ihn, dann sah man ihn – nachdem van Sanden seine mehr als unangemessene Frage quer durch den Saal krakehlt hatte, trat er forschen Schrittes an uns, das heißt Bruder Norfun und mich, heran. Bevor es mir gelang, ein Wort zu erwidern, deutete mir der hohe Würdenträger mit einer sehr bestimmenden Handbewegung, zu schweigen und ergriff stattdessen selbst das Wort.

»Baron van Sanden, dass sich die Nosferatu nicht von Profanitäten beeinflussen lassen, wird Ihnen sicherlich bekannt sein?«, mit Norfuns Stimme hätte man Diamanten schneiden können, »Fürst Varadin war so freundlich, mich darüber zu informieren, dass der Ratssaal bereit stehe. Ich werde die Sitzung Punkt zwölf eröffnen.«

Sprachs, bedachte van Sanden mit einem tadelnden Blick und schritt von dannen. Synodale wie Norfun gingen nicht.

»Ich glaube, van Sanden, Sie haben unseren spirituellen Freund ein klein wenig verärgert.«

Diese Spitze konnte ich mir einfach nicht verkneifen. Der Baron reagierte erstaunlich beherrscht und grummelte nur ein wenig.

»Mimosen«, beschränkte sich sein Kommentar zu dem Thema, bevor er sich erschreckend gut gelaunt einem anderen zuwandte: »Und Sie, mein lieber Varadin, bereit für Ihren großen Tag?«

Die Zwischentöne, die ich aus seiner Stimme rauszuhören meinte, gefielen mir nicht. Der Baron stellte seine Frage auf eine Art, die durchblicken ließ, dass er mehr wusste als ich, aber nicht gewillt war, mich einzuweihen. Ganz im Gegenteil freute er sich diebisch darüber, mich zu verunsichern und im Unklaren zu lassen, was allerdings nur bedingt gelang.

»Großer Tag?«, ich wählte einen bewusst relativierenden Tonfall, »Glauben Sie wirklich, dass ich mich danach sehne, zum neuen König gewählt zu werden?«

Ein forschender Blick prüfte meine Ernsthaftigkeit und kam zu dem Schluss, dass ich tatsächlich meinte, was ich sagte. Van Sanden grummelte erneut und knurrte sich ein »Nein, Sie sind wahrscheinlich wirklich der einzige Mann in diesem Raum, dem nicht nach der Macht verlangt. Selbst Bromley wäre nicht abgeneigt. Nun, die Nacht ist noch lang. Vielleicht geht Ihr Wunsch ja noch in Erfüllung.«

Deutlicher ging es nicht. Van Sanden wusste etwas. Es konnte keine Kleinigkeit sein. Interpretierte ich die Worte des Barons richtig, stand meine Ernennung alles andere als fest. Andererseits deckte sich dies genau mit unseren Vermutungen. Was mich irritierte war die Person van Sandens. Bisher waren wir alle davon überzeugt, dass nicht er hinter den Intrigen gegen mich und Florian stand. Natürlich konnten wir uns irren, aber eigentlich glaubte ich das nicht. Da ging weitaus mehr vor, als wir vermuteten. Wie dem auch sei, die Wahrheit würde schon noch ans Licht kommen.

Gegen halb zwölf wurden von Lucretias und Antons Leuten die Türen zum zum Ratssaal umgebauten Festsaal geöffnet, damit die Stammmütter und -väter samt Gefolge sich langsam zu ihren Plätzen begeben konnten. Die Sitzordnung folgte einem strengen Protokoll und reflektierte das Gewicht der einzelnen Häuser im Rat. Lucretia, als defacto Protokollchefin meines Hauses, hatte dazu detaillierte Anweisungen von den Nosferatu erhalten und diese penibel umgesetzt. Die Anordnung der Tische folgte der Geometrie des Raums und entsprach drei hintereinander gestaffelten Us. In der ersten Reihe hatten die Nosferatu die höchsten Häuser wie den van Sandens, den Bronkovics und auch den Varadin-Breskoffs platziert. Die zweite Reihe nahmen kleine Häuser wie das der Bromleys ein. Tante Charlotte musste sich mit der dritten Reihe zufriedengeben, was sie aber überhaupt nicht störte. Für sie war diese Sitzung mehr ein gesellschaftliches als ein politisches Ereignis.

Je näher die Uhr gen Mitternacht vorrückte, desto mehr füllten sich die Reihen. Es wurde richtig voll. Ich vermutete, dass wenn sich die Entwicklung im gleichen Maße fortsetzte, zur Sitzung der Ratssaal bis auf den letzten Platz besetzt sein dürfte. Umso irritierter entdeckte ich einen leeren Tisch in der ersten Reihe und wandte mich an Laurentius, Simon und Lydia, die neben mir als meine Berater saßen.

»Habt ihr eine Ahnung, für wen der freie Tisch ist? Sollte der alte Steuben tatsächlich seinen Arsch aus dem Big Apple hierher bewegt haben?«

Baron Wilhelm Frantz Ferdinand August Steuben war ein gar nicht mal so alter Sack von einem Vampir. Der Mann war gute 120 Jahre alt, Amerikaner und Stammvater des mächtigsten Clans in New York. Eigentlich galt er als umgänglicher Kerl, bis auf eine Macke, die er bis zum Exzess kultivierte: Er verließ seine Stadt nie.

»Das wäre eine Sensation«, meinte Lydia und schüttelte ihren schönen Kopf, »Und total ausgeschlossen. Meine Agenten haben nichts dergleichen gehört. In den Anweisungen der Nosferatu stand auch nur, dass ich einen Tisch mehr in die erste Reihe stellen sollte.«

»Wer käme sonst noch in Frage?«, wandte ich mich an Laurentius. Der zuckte nur mit seinen Schultern.

»Lassen wir uns überraschen!«

Eine Glocke ertönte. Noch fünf Minuten bis zur Sitzung. Wer bis dahin den Saal nicht betreten hatte, blieb außen vor. Mit Beginn der Sitzung wurden die Türen verschlossen, dies forderte das Protokoll.

Die Glocke ertönte ein zweites Mal. Noch drei Minuten. Fast alle Plätze waren inzwischen besetzt. Das offene Ende des Us markierte ein langer Tisch, der aber nicht mit denen der Ratsmitglieder verbunden war, sondern allein stand. Hier würden in wenigen Minuten der Vorsitzende, seine Heiligkeit Bruder Norfun Platz nehmen. Die Schriftführer und Protokollchefs hatten bereits die Plätze rechts und links vom erhöhten Sitz des Vorsitzenden eingenommen und begonnen, ihre Notebooks zu starten. Notebooks? Natürlich! Wir Vampire mochten ein wenig mittelalterlich oder vielleicht barock wirken, dies hieß aber noch lange nicht, dass wir in eben jenem Mittelalter lebten. Auf fast allen Tischen standen Notebooks. Jeder Tisch verfügte über Stromanschlüsse. Der Saal als solches war vollständig mit WLAN ausgeleuchtet.

Das dritte und letzte Klingeln der Glocke erschallte. Die Saaldiener postierten sich an den Flügeltüren und machten sich bereit auf ein Handzeichen diese zu schließen. Das angeregte Murmeln ebbte ab. Erwartungsvolle und gespannte Stille breitete sich aus. Ein Augenpaar nach dem anderem richtete sich auf den Tisch des Vorsitzenden.

Und dann war es so weit. Es war Mitternacht. Ein Gong ertönte, die Türen wurden geschlossen. Der Protokollchef ergriff das Wort.

»Hört! Hört! Hört! Ehrenwerte und hochwohlgeborene Mitglieder des Rates, erhebt euch und ehrt seine Heiligkeit Bruder Norfun, Präsenz der Synode, Vorsitzenden der Ratsversammlung, Hüter und Bewahrer des Ritus.«

Dumme Klingeltöne

Florian

»Shit!«

Klingeltöne, oh Klingeltöne. Ich gebe es zu, ich hatte mir tatsächlich Klingeltöne aus dem Internet heruntergeladen. Und genau einer dieser Töne quäkte nun aus dem Lautsprecher meines Mobiltelefons. Und es quäkte laut und unüberhörbar. Wir benötigten genau zwei endlose Sekunden, in denen mich Nicolas und Christiano ebenso entsetzt wie entgeistert anstarrten, dann hatten wir den Schock überwunden und handelten. Unser Plan, soweit man ihn so bezeichnen konnte, war Makulatur. Jetzt hieß es improvisieren, den marginalen Überraschungsmoment nutzen und das Beste hoffen.

Zwei Teppichmesser blitzen kurz auf, dann fiel die Plane vor der Terrassentür in sich zusammen. Nicolas, Christiano und ich sprangen in den Festsaal. Die Situation war kompliziert. In einem Sekundenbruchteil hatten wir die Lage erfasst und analysiert. Vampirische Sinne können wirklich praktisch sein, änderten aber nichts am Gesamtbild.

Uns gegenüber am anderen Eingang stand Marco und glotzte verdattert in unsere Richtung. Er hatte wie alle im Raum mein Telefon klingeln gehört und war sichtlich verwirrt. Ein Telefongespräch zählte nicht zu den Bestandteilen unseres vorher besprochenen Plans und so wusste er nicht, wie er sich weiter zu verhalten hatte.

In fast direkter Line zwischen ihm und uns stand Mario und hielt eine Halbautomatik in seiner Hand. Ebenfalls vom Telefonklingeln überrascht, war er gerade damit beschäftigt, sich von Marco zu uns umzudrehen. Etwas Abseits und ebenfalls mit einer Halbautomatik bewaffnet, hatte sich Andreas postiert. Der Lauf seiner Waffe war auf mich gerichtet. Am weitesten von uns entfernt stand Momsen neben meinem Vater. Statt einer Waffe hielt er ein Mobiltelefon in der Hand. Genaugenommen ließ er es gerade aus seiner Hand gleiten, um nach der Waffe in seinem Hosenbund zu greifen. Vor ihm hockte auf einem Stuhl festgebunden und mit geknebeltem Mund mein Vater.

»Das ist jetzt aber dumm«, fand als erstes Momsen die Sprache wieder, »Wolltet ihr uns austricksen?«

Was dachte der denn? Natürlich wollten wir ihn und seine Spießgesellen austricksen.

»Momsen, was dachten Sie denn? Dass ich Ihnen einfach durchgehen lasse, meinen Vater zu entführen? Wenn Sie etwas von mir wollen, dann raus mit der Sprache! Nur keine Hemmungen!«

Auf diese Weise zu antworten war hoch gepokert, zumal ich die Lage als äußerst labil einstufte. Es war nicht zuletzt Marios Geisteszustand, der mir Sorgen bereitete. Während Momsen die Coolness selbst war, Andreas die Coolness spielte, zeigte Mario deutliche Anzeichen seiner latenten Borderlinepersönlichkeit: mühsam unterdrückter Tremor der Hände, Zuckungen der Gesichtsmuskeln, Schweißausbruch. Mario war, da war ich mir sicher, extrem gefährlich, weil er sich haarscharf am Rand des Überschnappens entlanghangelte. Ob Momsen bewusst war, dass er quasi mit einer entsicherten Handgranate spielte?

»Die wollen uns fertigmachen«, rief Mario mit einer quiekigen, hysterischen Stimme. Beim Sprechen glubschten seine Augen deutlich hervor.

»Niemand will euch fertigmachen«, hörte ich Christiano hinter mir auf unsere Gegner einreden. Mein Freund, Kollege und Lehrer hatte seinen Vampirruf voll aktiviert. Ich konnte fühlen, wie die telepathische Kraft als mächtige Welle über uns schwappte. Christiano war ein sehr starker Telepath, sowohl beim Lesen von Gedanken als auch dabei, sie zu beeinflussen. In jeder anderen Situation hätte sein Wirken unsere drei Freunde in debil sabbernde Schoßhündchen verwandelt, doch leider wirkte die psychische Anspannung, unter denen die drei standen, der Wirkung entgegen. Christianos Kraft reichte gerade einmal aus, um Mario ein wenig zu beruhigen. »Wir wollen nur mit euch reden.«

»Tja, dann haben wir ein Problem«, ging Momsen auf das Gespräch ein, »Es gibt nicht viel zu reden. Ich sehe nicht, dass ihr in der Position wärt, Forderungen zu stellen. Drei Pistolen gegen zwei Teppichmesser, muss ich mehr sagen?«

Was interessierten mich unsere Teppichmesser? In meinen wenigen Tagen als Vampir hatte ich noch nie so stark das Monster in mir gespürt wie in dieser Situation. Es war bereit zum Sprung, flüsterte mir zu, gab mir Kraft, Stärke, Selbstbewusstsein. Dieses Monster, es wollte losgelassen werden. Nochmal: Wozu brauchte ich ein Teppichmesser, eine Pistole oder irgendeine andere Waffe? Ich war die Waffe. Ich war Klauen und Zähne. Momsen hatte offensichtlich nicht den blassesten Schimmer, auf welches Himmelfahrtskommando ihn seine Geschäftspartner geschickte hatten. Damit meine ich nicht Mario und Andreas, sondern diejenigen, die Momsen die Anweisungen gaben.

Was sagte mir das über den Hintermann? Er war eindeutig ein Vampir. Ein eiskalter Vampir, dem es völlig egal war, was aus seinen entbehrlichen Helfern wurde. Obwohl... Vielleicht unterlag ich erneut dem Denkfehler, der mir schon vorher unterlaufen war. Je mehr ich das Verhalten und die Aktionen meines Gegenspielers und seiner Spielfiguren analysierte, desto mehr gelangte ich zur Überzeugung, dass mein Gegner nicht wusste, dass mich Constantin in einen Vampir verwandelt hatte. Andernfalls hätte er Momsen niemals in ein derart offenes Messer rennen lassen. Vielleicht ließ sich diese Erkenntnis zu unserem Vorteil nutzen.

»Also gut«, ging ich auf Momsen ein, »Du hast uns in der Hand. Was willst du?«

Offenbar traf meine Kapitulation genau Momsen Geschmack, in dessen Gesicht sich ein zufriedenes Grinsen ausbreitete. Christiano und Nicolas wirkten dagegen für einen kurzen Moment entsetzt, begriffen aber sofort, was ich plante und setzten eine neutral bis resignierte Miene auf.

»Du wirst mir helfen, eine Tür zu reparieren. Wir haben einen kleinen Noteinsatz bei deinem Freund Varadin.«

Ich Torfnase. Ich hätte mir am liebsten selbst in den Hintern gebissen. Mit einem Schlag wurde mir klar, was diese ganze schwachsinnige Entführungsaktion sollte. Im Plan unseres unbekannten Gegenspielers war ich der Hauptbelastungszeuge in der Anklage gegen Constantin. Worum ging es noch gleich? Constantin des Verbrechens eines illegalen Angriffskrieges gegen ein hohes Haus zu überführen. Das Haus war meins, Margaux sûr Rhone, der Beweis war ich und das Urteil war mindestens der Verlust der Fürstenwürde, wenn nicht sogar Verbannung oder gar endgültige Entkörperung.

Blieb noch eine Frage offen: Wie konnte es einem Gegner, der alles über Jahre bis ins kleinste hinein plante entgehen, dass ich kein Mensch, sondern ebenfalls ein Hämophage war? Es gab nur eine Möglichkeit, es herauszubekommen.

»Und wie soll das ablaufen?«

»Tja, eigentlich hatten wir das alles etwas geräuschloser geplant. Aber euer unerwartetes Aufkreuzen hat die Sache ein wenig kompliziert. Ich befürchte, deine Freunde werden als Geiseln herhalten müssen.«

Während Nicolas und Christiano mir für unsere Gegner unmerklich zunickten, reagierte Marco angsterfüllt und widerwillig.

»Ihr glaubt doch nicht, dass ihr damit durchkommt«, rief er und wurde dabei immer lauter. »Die Baustelle ist voller Monteure...«

Weiter kam Marco nicht, da ihn in diesem Moment der Kolben von Marios Waffe an der Schläfe traf. Kurzzeitig seiner Besinnung beraubt, sackte er zu Boden.

»Du verdammter Verräter«, fauchte Mario wie irre und demonstrierte damit seine geistige Labilität. Marco tat gut daran, sich nicht zu rühren.

»Fessel ihn!«, gab Momsen seinen Befehl, den Mario sofort befolgte und Marco mit Kabelbindern die Hände hinter dem Rücken zusammenband. »Setzt sie neben den Alten.«

Deutlich abgeklärter als sein Kollege deutete Andreas Christiano und Nicolas mit dem Lauf seiner Pistole, dass sie sich auf eine von Momsen aus Bretten und Kisten improvisierte Bank setzen sollten. Ohne ein Wort zu sagen, aber mit umso betretener Miene ließen sich meine Vampirbrüder auf den Brettern nieder und verschränkten ihre Hände hinter ihren Rücken, damit Andreas sie zusammenbinden konnte.

»Echt brav, die beiden«, merkte er an.

»Pass bloß auf«, mischte sich Mario ein, »Denen geht sonst noch einer ab. Die Arschficker stehen doch alle auf Fesselspiele.«

Wie schön, dass wir keine Vorurteile hatten. Nicolas konnte sich jedenfalls nicht beherrschen und musste kurz grinsen, was zum Glück nur mir und Christiano auffiel. Die Kabelbinder mochten einen Menschen immobilisieren, uns setzten sie hingegen nicht mehr Widerstand entgegen, als ein Bindfaden. Für Marco war die Fesselung hingegen absolut real und alles andere als angenehm, da Mario die Plastikbänder sehr stramm zusammengezogen hatte und diese sich nun in Marcos Handgelenke schnitten.

»Na, das sieht doch ganz nett aus. Florian, können wir dann?«, wandte sich Momsen an mich und deutete zum Ausgang.

»Keine Angst, ich bin bald zurück. Dann klären wir das, okay?«, ignorierte ich Momsen und wandte mich stattdessen an meine Freunde. »Ach ja«, fügte ich in Richtung Mario und Andreas hinzu, »Solltet ihr während meiner Abwesenheit meinem Vater oder einem meiner Freunde auch nur ein Haar krümmen, werdet ihr keine Zeit mehr haben, euer Testament zu machen.«

Diese Drohung war ein Fehler. Ich wusste es in dem Moment, als mein Blick auf Mario fiel. Seine Hände ballten sich zu Fäusten, wobei seine Knöchel weiß hervortraten.

»Du schwules Stück Scheiße«, fauchte mich mein Nochkollege an. Er hatte seine Waffe gezückt und hielt sie ähnlich klischeehaft wie die Gangmitglieder in schlechten Actionfilmen waagerecht. Mit geschwollenen Halsschlagadern kam er auf mich zu und drückte mir den Lauf seiner Knarre gegen die Schläfe. »Komm, Flo Baby, wiederhol doch bitte, was du eben gesagt hast. Du jämmerlicher Versager. Glaubst du wirklich, du hättest hier irgendetwas zu melden? Wir beide haben noch eine Rechnung offen.«

»Stimmt«, provozierte ich Mario. In diesem Moment lag die Phase der Diplomatie schlagartig hinter mir. War ich bis eben noch gewillt, auf Momsens Spiel einzusteigen und zu schauen, wo es uns hinführte, galten jetzt andere Ziele. Mario war fällig: »Ich wollte mich bei dir und Andreas noch angemessen für die nette Vergewaltigung bedanken.«

So berechenbar, so überaus berechenbar. Mario holte aus und wollte mir mit dem Lauf seiner Pistole das Gesicht neu dekorieren. Es kam nicht dazu. Das harte Metall der Waffe kam nicht entfernt in die Nähe meines Antlitz. Stattdessen fing meine Hand Marios ab, umschloss dessen Gelenk und drücke so fest zu, dass es erst fies knirschte, dann mein Gegenüber schmerzhaft aufschrie und anschließend seine Waffe fallen ließ.

»Ihr habt keine Ahnung, worauf ihr euch eingelassen habt, oder?«, fragte ich in Richtung Momsen, »Hat dein Auftraggeber etwa ein paar Details vergessen zu erwähnen?«

»Du...« Momsen geriet dermaßen in Rage, dass ihm sein Sprachzentrum die Gefolgschaft verweigerte. »Was weißt du schon?«, fauchte er und richtete seine Waffe gegen meinen Vater. »Komm ruhig näher und ich verteile das Gehirn deines Vaters in der Landschaft. Du wirst schön...«

Weiter kam Momsen nicht. Mit einer blitzschnellen Bewegung hatte Nicolas seine Fesseln gesprengt. Während sich Momsen auf mich konzentrierte, griff er zu und entwaffnete den fetten Tischlermeister auf die gleiche Art und Weise, wie ich vorher Mario. Synchron dazu entwaffnete Christiano einen völlig verwirrten Andreas.

»Hast du es dir doch noch anders überlegt?«, wollte Christiano schmunzelnd wissen und machte sich daran, einen ängstlich zitternden Marco von seinen Fesseln zu befreien.

»Ey, er hat mich provoziert«, entgegnete ich entschuldigend und wandte mich meinem Paps zu, um ihn ebenfalls von seinen Fesseln und vor allem dem demütigenden Knebel in seinem Mund zu befreien.

»Und deswegen musstest du ihm das Handgelenk brechen?«, hakte der Portugiese nach.

»Wo gehobelt wird...«, ich konnte nicht behaupten, dass mir Mario leid tat. Als erstes kniete ich mich vor dem Stuhl meines Vaters hin und zerriss das Seil, das seine Füße aneinander und an die Stuhlbeine band. Während ich mit den Befreiungsarbeiten beschäftigt war, hielten Nicolas und Christiano Andreas und Momsen in Schach. Dummerweise achtete währenddessen niemand auf Mario. Mit einem gebrochenen Handgelenk hielt ihn niemand für eine Bedrohung, weswegen meine beiden Vampirkollegen auch nicht bemerkten, wie er mit der anderen Hand nach der am Boden liegenden Faustfeuerwaffe griff und sie auf mich richtete. Mit gleichzeitig schmerzverzerrter und vor Wahnsinn stierender Miene, rollenden Augen und zuckenden Gesichtsmuskeln, richtete sich Mario auf. Zitternd begann er zu zielen.

»Florian, pass auf!«

Was uns entging, blieb Marco nicht unentdeckt. Bevor irgendeiner von uns reagieren konnte, war mein Kollege ohne nachzudenken aufgesprungen und hatte sich in die Schussbahn geworfen. Mario drückte ab.

»Nein!«

Zu spät. Marco brach von einer Kugel getroffen in sich zusammen.

»Flo, es tut mir Leid.«

Chefsache

»Scheiße«

Nicolas Bemerkung mochte nicht sonderlich gewählt sein, traf den Sachverhalt aber auf den Punkt. Marco lag von einer Pistolenkugel getroffen am Boden. Ein sich ausbreitender Blutfleck zierte das T-Shirt auf der Höhe seines Oberbauchs. Unser Tischlerkollege atmete flach und hielt sich den Bauch, was die Blutung aber nicht stoppte.

»Legt die anderen zwei auf Eis«

Schneller als Momsen »Was?« schreien konnte, hatten er und Andreas Saugzähne in ihren Hälsen. Sie verloren die Besinnung noch weit bevor ihr Verstand realisierte, dass Vampire Realität waren und mitten unter ihnen weilten. Das Ziel bestand nicht darin, sie leerzusaugen, sondern schlafen zu legen und sie den letzten Moment davor vergessen zu lassen, was mit einer guten Dosis Vampirgift kein Problem darstellte. Wenn sich Nicolas oder Christiano dabei einen Schluck gönnten, war mir das recht. Ich selbst verfolgte ein anderes Ziel, und das hörte auf den Namen Mario.

Es soll schon Leute gegeben haben, die sich beim Anblick eines Vampirs mit voll ausgefahrenen Zähnen eingepisst haben. Mario tat es nicht. Der entleerte stattdessen den Inhalt des Magazins seiner Waffe in meinen Körper, der aber die Einschüsse bestenfalls als Mückenstiche betrachtete. Erst danach pisste sich mein Kollege vor Panik ein.

»Hallo Abendessen«, grinste ich den Mörder Marcos an, packte ihn und biss zu. Bevor ich den Typen schlafen legte, gönnte ich mir einen kräftigen Schluck aus seiner Halsschlagader. Ich betrachtete es als Kompensation für die Einschusslöcher. Kaum war Mario kalt gestellt, stürmte ich auf Marco zu, kniete mich zu ihm auf den Boden, hob ihn ganz vorsichtig auf und nahm ihn in meine Arme.

»Florian?«, zwei müde Augen schauten mich an. Ich konnte es sehen. Marco starb. Es war zwar nur eine Kugel, die ihn getroffen hatte, aber diese hatte eine größere Vene perforiert. Er verblutete. Ein Notarzt oder Rettungswagen würde viel zu spät eintreffen, um ihn noch retten zu können.

»Ich bin da.«

»Es tut mir leid, was ich dir angetan habe. Ich wollte dir niemals wehtun, dich verletzen. Hätte ich doch ein wenig früher erkannt, was für ein guter und cooler Kerl du eigentlich bist. Wer weiß, vielleicht begleicht dies meine Schuld«

Es dauerte ein paar Sekunden, bis mir klar wurde, was Marco meinte. Er hatte sich mit voller Absicht in die Schusslinie geworfen. Er wollte mein Leben retten und hoffte damit, seine Schuld mir gegenüber zu begleichen. Dabei hatte ich ihm doch längst verziehen. Hilfesuchend schaute ich zu Christiano und Nicolas. Letzterem standen Tränen in den Augen. Er mochte Marco, sogar sehr. Christiano hingegen bedachte mich mit einem Gesichtsausdruck, der »Nah?« zu fragen schien. Ich verstand nichts.

»Du bist ein Stammvater. Es liegt in deiner Hand, ob Marco stirbt.«, half mir mein Freund auf die Sprünge. Trotzdem vergingen kostbare Sekunden, bis es bei mir Klick machte. Für meine Dummheit würde ich mich später Ohrfeigen, jetzt ging es darum, einen Freund zu retten.

»Marco, du stirbst.«, hoffentlich machte ich keinen Fehler und verletze mit meinen Bemerkungen kein Gesetz dieses verflixten heiligen Kodex, »Willst du sterben?«

»Nein, ich will leben!«, stöhnte der verblutende Mann in meinen Armen.

»Ich kann dich retten.«, flüsterte ich und wischte ihm kalten Schweiß sanft von der Stirn. Sein Kreislauf war kurz davor, zu versagen. »Aber du musst mich darum bitten. Du musst es wollen! Du musst dich aus freien Stücken dazu entscheiden, mir zu folgen, dich an mich zu binden. Willst du das?«

»Verzeihst du mir?«

»Ja, ich verzeihe dir. Ich habe dir schon vor langer Zeit verziehen.«

»Dann ist es gut so, wie es ist.«, kam die überraschende Antwort. Nicolas wollte aufschreien, doch eine entschiedene Handbewegung stoppte ihn.

»Bist du dir sicher? Gibt es nichts, niemanden, für das es sich lohnt, zu leben?«, während dieser Frage winkte ich Nicolas zu uns heran. Marco sollte ihn sehen, sollte erkennen, wie dieser Mann um ihn bangte. Damit dehnte ich bestimmt die Regeln und Gesetze des Kodex bis an ihre Grenzen, doch solange mein Ritter und Marschall nichts sagte und auch nicht beeinflusste, müssten wir eigentlich noch im grünen Bereich liegen. Okay, vielleicht im gelbgrünen oder kirschgrünen Bereich. Wen interessiert's?

»Nicolas?«, erkannte Marco meinen Vampir. Der formte stumm ein flehendes Bitte mit seinen Lippen. Eine Träne rann ihm aus dem Augenwinkel. »Willst du mich wirklich?«

Deutlicher als Nicolas es tat, konnte niemand Zuneigung zeigen. Das Verlangen, die Liebe, der Schmerz in seinen Augen waren fast physisch greifbar. Doch Marco brauchte lange, um dies zu erkennen und vor allen Dingen zu begreifen. Die Vorstellung, dass jemand wie er, der einem anderen Menschen fürchterliches Unrecht angetan hatte, gemocht wurde, brauchte einen Moment, um verdaut zu werden. Insbesondere, wenn derjenige gerade mit verbluten beschäftigt war.

»Ja, ich will leben.«, riss sich Marco mit allerletzter Kraft zusammen, »Ja, ich folge dir, Florian.«

»Dann soll es so sein.«, flüsterte ich Marco zu und strich ihm über die Haare, »Habe keine Angst. Alles wird gut.«


Sanft, fast zärtlich, ließ ich meine Zähne in Marcos Halsschlagader gleiten. Als Vampire verfügten wir über ein kollektives Wissen. Niemand musste uns erklären, wie eine Verwandlung eingeleitet wurde. Mein vampirischer Körper arbeitete auf Autopilot. Meine Zähne saugten und entrissen Marco den Lebenssaft, während mein Geist in den seinen eindrang, ihn umfing und mit ihm verschmolz. Auf eine eigentümliche Weise durchlebte ich meine eigene Erweckung erneut. Ich spürte, wie die Lebensenergie aus Marco wich, sein Herz immer langsamer schlug, um am Ende still zu stehen. Marco hatte jenen magischen Zustand zwischen nicht mehr Leben aber noch nicht tot erreicht. Sein Wesen, seine Existenz ruhte nun ihn mir, war für einen kurzen Moment Teil von mir und würde von nun an für immer an mich gebunden sein.

»Jetzt!«, hörte ich Christiano flüstern. Seine Hand ruhte auf meine Schulter und drückte sie, wofür ich ihn dankbar war, andernfalls hätte ich mich vielleicht in diesem fast schon heiligen Moment verloren. Mein Körper hatte inzwischen Marcos Blut umgewandelt und war bereit, wieder injiziert zu werden. Ich gab mir einen Ruck und ließ den Lebenssaft zurückströmen.

Und plötzlich war sie da, die Verbindung. Ich fühlte, was Marco fühlte. Ich fühlte das brennende Feuer, die Lava, die durch seine Adern schoss und sofort begann, die Verletzungen meines soeben erweckten Geschöpfes zu heilen. Ich konnte fast sehen, wie sich die Zellen der verletzten Adern duplizierten, miteinander vernetzten und die Blutung stoppten. Langsam begriff ich, was es wirklich bedeutete, Stammvater eines eigenen Vampirclans zu sein. Marcos Existenz war von nun an mit meiner verbunden. Ich durcherlebte seine Verwandlung fast so, als wäre es mein eigener Körper. Ich hielt aber nicht nur seinen Körper, sondern auch seinen Geist. Ich fühlte seine Ängste, seine Furcht vor der unbekannten Veränderung, die ihn ereilte, aber auch das Gefühl von Hoffnung und Zuneigung. Anfangs hielt sich beides die Waage, doch plötzlich keimte Panik in ihm auf. Von einer Sekunde zur nächsten gewann die Furcht die Oberhand in Marcos Bewusstsein, die primär von Einsamkeit und dem Gefühl vollkommener Verlassenheit bestimmt war.

»Du musst ihn fühlen lassen, dass du da bist. Zieh dich nicht zurück. Zeig ihm, dass du von nun an sein Beschützer und sein Vater sein wirst.«, flüsterte mir Christiano zu, »Öffne dich ihm!«

Was hätte ich nur ohne Christiano gemacht? Wenn es jemanden gab, der mir half, meinen Weg als Wesen der Nacht zu finden, dann er. Er war es, der mir nach meinem zum Glück vereitelten Selbstmordversuch das Wesen der Freundschaft zeigte, der mir später half, mein Selbstbewusstsein zu entdecken. Später, als ich verwandelt wurde, führte er mich in das Leben als Vampir ein, zeigte mir einerseits, wie wir jagten, gab mir aber auch anderseits, als ich an meinem neuen Leben zu zweifeln begann und in eine Sinnkrise stürzte ein Ziel und verdeutlichte mir die Bedeutung meiner neuen Existenz. Christiano war der erste Mann, noch vor Constantin, der mich fühlen ließ, was es bedeutete, gemocht und akzeptiert zu werden. Und jetzt, mit Marco in meinen Händen, zeigte er mir, wie ich diese Liebe und Zuneigung zurückgeben und teilen konnte.

»Ahhhhhhhgggghhhh...«

Es war vollbracht. Marco bäumte sich auf, riss seine Augen auf und japste nach Luft. Es war sein erster Atemzug als Vampir. Seine Lungen füllten sich, sein Brustkorb hob und weitete sich, sein Herz begann erneut kräftig und gewalttätig zu schlagen, sein Kreislauf kam auf Touren. Marco atmete aus, entspannte sich und ließ sich zurück in meine Arme sinken.

»Florian?«, flüsterte nach einer Weile ein schweißgebadeter, frisch erweckter Vampir und sah mich dabei gleichzeitig ängstlich, aber auch dankbar an, »Ist es wahr? Habe ich es nur geträumt oder bist du, seid ihr, bin ich...?«

»Habe keine Angst. Sprich es ruhig aus«, forderte ich mein Geschöpf und zweites Mitglied meines Hauses auf, »Sag es!«

»Bin ich... Bin ich ein Vampir?«

»Ja, das bist du. So wie Christiano, Nicolas und ich. Wir sind Geschöpfe der Nacht. So, wie jetzt du. Willkommen in unserer Familie, Marco Margaux!«, beantwortete ich feierlich seine Frage, um dann aber etwas betrübt dreinzuschauen, »Ich möchte dir so viel erklären, mit dir feiern und dir unsere Welt zeigen. Allerdings ist jetzt nicht die Zeit und nicht der Ort, darüber zu diskutieren. Wir müssen dringend zur Sitzung des Rats. Doch zuvor musst du essen!«

Noch bevor ich Marco mein Handgelenk vor den Mund halten konnte, hatte sich Nicolas dazwischen geschoben: »Du erlaubst?«

Natürlich erlaubte ich. Ja, mein Ritter hatte einen Narren an meinem Kollegen gefressen. Warum auch nicht? Und so überließ ich es Nicolas, sich um Marco zu kümmern. Der zögerte nicht lange, zapfte unseren besinnungslosen Gefangenen ein wenig Blut ab, um anschließend Marco von seinem Handgelenk trinken zu lassen. Einen gierigen kleinen Säugling hatten wir uns da angelacht. Während der ganzen Zeit wurden wir von meinem Vater aufmerksam beobachtet.

»Paps, ich...«, begann ich mich bei meinem Vater zu entschuldigen. Ich hatte nicht gewollt, dass er in diese Geschichte mit reingezogen wurde. Noch weniger wollte ich, dass er seinen Sohn als Stammvater eines Vampirclans erlebte. Hoffentlich hatte ich ihn nicht zu sehr geschockt.

»Oh, keine Angst«, zerstreute mein Vater meine Befürchtungen, »Ich habe deine Mutter jagen erlebt.«

»Oh...«, Eltern schafften es doch immer wieder, einen rot anlaufen zu lassen.

»Danke, Florian«, fügte mein Paps hinzu, »Ich wusste, dass ich mich auf dich verlassen konnte und du diesen Drecksäcken das Handwerk legst.«

Drecksäcken? Plötzlich wurde mir siedend heiß unsere augenblickliche Situation wieder bewusst. Mein Blick fiel auf Marios leergeschossene Waffe und mein von Einschusslöchern übersätes T-Shirt. Unsicher schaute ich zum Eingang und erwartete jede Sekunde ein SEK den Saal stürmen. Die Pistolenschüsse konnten unmöglich unbemerkt geblieben sein. Auf eine Konfrontation mit der Polizei hatte ich allerdings weder Lust noch die Nerven. Ich wüsste auch nicht, was ich den Staatsbeamten erzählen sollte. Bezweifelte ich doch arg, dass das Strafgesetzbuch oder die Strafprozessordnung spezielle Paragraphen für unsere Art bereithielt. Der menschliche Rechtsstaat und die hämophagische Kultur erschienen mir plötzlich wenig kompatibel. Willkommen in der Parallelgesellschaft.

»Wir müssen hier weg. Die Schüsse dürften nicht unbemerkt geblieben sein. Aber was machen wir mit den Typen?«

Die Frage ging an Christiano, der, so hoffte ich, mit solchen Situationen mehr Erfahrung hatte, als ich. Im Laufe seiner Tätigkeit als Constantins Agent dürfte er des Öfteren mit den Vertretern der menschlichen Staatsmacht in Kontakt geraten sein.

»Nichts überstürzen. Wir haben noch etwas Zeit.«, beruhigte mich der Portugiese, »Ich habe mich um die Arbeiter auf der Baustelle gekümmert und ihnen den mentalen Befehl erteilt, die Schüsse vorerst zu ignorieren. Die Wirkung wird aber nicht von Dauer sein und dann...«

Und dann werden sie sich fragen, was im Festsaal vorgefallen war, sich hierher trauen, den Ort des Geschehens in Augenschein nehmen und eine Blutlache vorfinden. Sie würden selbstverständlich die Polizei informieren, welche bei der Menge des Bluts sofort von einem Gewaltverbrechen ausgehen würde. Zusammen mit den Patronenhülsen hätte Mario einiges zu erklären. Aber wollte ich das?

»Warum nicht?«, fragte Christiano trocken, »Soll die Bullerei die Typen ruhig ein wenig ausquetschen. Ich hätte da eine Idee.«

Und die war ebenso einfach wie genial. Christiano wollte kurzerhand Marios, Andreas und Momsens Erinnerungen an diesen Abend löschen. Das heißt nicht ganz, sondern exakt ab dem Zeitpunkt, als mein Mobiltelefon so unerwartet losklingelte. Derartig isolierte Ereignisse, so meinte Christiano, hätten den Charme, dass sie sich sehr gut unter den tausenden und abertausenden anderen Erinnerungen identifizieren ließen. Durch einen weiteren mentalen Befehl wollte Constantins Topspion dann dafür sorgen, dass die drei erst wieder aus ihrer momentanen Besinnungslosigkeit aufwachten, wenn die Polizei hier aufkreuzte, die dann den Rest erledigte. Wir, das hieß auch mein Vater und unser Neuzugang, wären dann bereits über alle Berge.

»Soll sich die Kripo doch die Zähne an dem Fall ausbeißen.«, schlug Christiano vor, »Natürlich sollten wir, das heißt du, Marco und ich morgen oder spätestens übermorgen bei Niederreuter wieder auf der Matte stehen. Das dürfte unsere Kollegen komplett um den Verstand bringen. Allerdings wird es dann auch Zeit, die Segel zu streichen und Niederreuter zu verlassen. Wir haben jetzt schon mehr Aufmerksamkeit auf uns gezogen, als gut für uns ist.«

»Deine Idee ist gut, mit einer Ausnahme. Momsen nehmen wir mit.«

Deadlock

Constantin

»Ehrenwerte Mitglieder des Rates«, erhob Bruder Norfun, Präsenz der Synode der Nosferatu, Zeremonienmeister des königlichen Nachfolgeritus, seine Stimme, »Wir sind heute zusammengetreten, um eine klaffende Wunde in unseren Reihen zu heilen. Seine königliche Majestät Graf Vladimir Breskoff hat unsere Welt für immer verlassen. Doch es gibt einen unter uns, der Anspruch auf das Erbe erhebt. Dieser Anspruch wurde vernommen und für rechtens befunden.«

Mit diesen Worten begann eine Ratssitzung, wie sie seit tausendfünfhundert Jahren nicht mehr stattgefunden hatte. Sonderliche Feierstimmung kam trotzdem nicht auf, auch wenn Norfun sich alle Mühe gab, der Veranstaltung einen angemessen erhabenen und feierlichen Rahmen zu verleihen. Ganz im Gegenteil ertönten vereinzelte Zwischenrufe, in denen mehrfach das Wort Mörder hervorstach. Erst ein strafender und zorniger Blick Norfuns sorgte für Ruhe im Plenum. Trotzdem fühlte ich mich wie auf dem Präsentierteller. Alle Augen waren auf mich gerichtet. Entsprechend der Sitzordnung befand sich der Platz des Hauses Varadin-Breskoff am Rand des Us, sodass gut zwei Drittel der Ratsmitglieder zu uns herübersehen konnten. Immerhin sorgte eine Reihe Nosferatu, die in ihren Kutten eingehüllt die Rückwand hinter Norfun zierten, für ausreichend Drohpotenzial. Sollte die Ratssitzung aus irgendwelchen Gründen drohen, im Chaos zu versinken, standen sie bereit, um auf Geheiß des Vorsitzenden für Ordnung zu sorgen. Während all meiner Zeit als Mitglied des Rats, kam es nur ein einziges Mal vor, dass der Vorsitzende auf sie zurückgreifen musste, und selbst dabei reichte es, mit ihrem Einsatz zu drohen. Ich könnte nicht sagen, woraus sie ihre Wirkung bezogen. Waren es die durch Kapuzen verborgenen Gesichter? Ihre stoische Ruhe und Regungslosigkeit? Eine unmerkliche telepathische Beeinflussung? Ich konnte es nicht sagen.

»Entsprechend den Riten und Gesetzen des Kodex frage ich den hohen Rat: Gibt es jemanden, der ebenfalls Anspruch auf den Thron erhebt oder dem dieser zusteht?«

Und plötzlich wurde es sehr still. Alle Anwesenden folgten Norfuns Blick, der einen Platz nach dem anderen die Reihen absuchte, um zu sehen, ob außer mir noch ein anderes Haus Anspruch auf den Thron erhob. Am leeren Platz in der ersten Reihe stockte der Nosferatu kurz. Während die anderen Ratsmitglieder Norfuns Blickrichtung gefolgt waren, studierte ich seinen Blick. Für einen kurzen Moment meinte ich Sorge, aber auch Hoffnung und Freude aufblitzen zu sehen und fragte mich ernsthaft, was dies zu bedeuteten hatte. Doch im Moment gab es etwas wichtigeres zur Kenntnis zu nehmen: Niemand hatte sich auf die Frage nach einem weiteren Anspruch auf den Thron gemeldet. Die erste Hürde war genommen.

»Es wird festgestellt und verkündet: Dieser Rat schweigt.«

Damit war mein alleiniger Anspruch amtlich und ich wollte schon aufatmen als mich Laurentius anstieß und mir leise zuraunte: »Norfun hat die Formulierung geändert. Es heißt: der Rat schweigt. Er hat aber gesagt: Dieser Rat schweigt. Soll mich der Inquisitor holen, aber hier ist irgendetwas oberfaul.«

Offenbar war nicht nur meinem Marschall die minimale Textänderung aufgefallen, denn unmittelbar nach Norfuns Erklärung, erfüllte ein Murmeln und Wispern den Raum.

»Entsprechend den Riten und Gesetzen des Kodex frage ich den hohen Rat: Gibt es jemanden, der gegen den Anspruch Einspruch erhebt?«

»Ja, ich, Baron van Sanden erhebe Einspruch gegen den Anspruch Fürst Varadins: Er hat sich des unerklärten und illegalen Krieges gegenüber dem Hause Margaux schuldig gemacht. Ich verlange Fürst Varadin zu ächten und aus dem Kreis des Rates zu verbannen.«

Damit war die Bombe erwartungsgemäß geplatzt. Im Saal wurde es erst totenstill, dann brach die Hölle los. Zwischen den Häusern kam es zu tumultartigen Szenen. Während die einen Lüge und Verleumdung schrien, was mich überraschte, da ich niemals damit gerechnet hätte, tatsächlich Anhänger im Rat zu besitzen, forderten andere nicht nur meine Verbannung sondern gleich meinen Kopf. Ich glaube, es wäre glatt zu einer Schlägerei gekommen, hätte ich nicht das Wort ergriffen und ein Machtwort gesprochen. Die Klage war interessant. Der Name Margaux sagte mir nämlich rein gar nichts, obwohl mich ein Verdacht beschlich, worauf es möglicherweise hinauslaufen konnte. An dieser Stelle war mein Vertrauen gefordert, mein Vertrauen, dass Tamir, Christiano und Flo die Sache geregelt hatten, so wie es mir Simon versprochen hatte.

»Genug!«, brüllte ich in einer Lautstärke, die niemand, auch nicht Norfun von mir erwartet hätte. In ihr hatte ich die ganze ungezügelte Kraft des Kodiacs in mir gelegt. »Genug! Hoher Rat, Eure Heiligkeit Bruder Norfun, Baron van Sanden, der Anspruch auf den Thron darf von keinem Makel befleckt werden. Ich unterwerfe mich daher entsprechend unseres Kodex dem Richterspruch des Vorsitzenden dieses Rates. Mögen die Fakten und Beweise vorgetragen werden und über meine Schuld oder Unschuld entscheiden.«

»So sei es vernommen«, erklärte Norfun, den die Wendung im Protokoll in keiner Weise zu überraschen schien. Obwohl dies nichts heißen wollte, schließlich war er ein Nosferatu, deren Gedanken schon immer schwer zu lesen waren. »Baron van Sanden, seid ihr Willens und in der Lage, hier und jetzt Klage zu führen über einen der Unsrigen?«

»Eure Heiligkeit, das bin ich!«, verkündete van Sanden gut gelaunt.

Für meinen Geschmack freute sich der Baron ein klein wenig zu viel. Aber wann bekam einer wie er eine derartige zweite Chance, mich zu besiegen, nachdem die Sache mit dem Tribunal für ihn ziemlich unrühmlich ausgegangen war. Seine Freude war aus seiner Sicht durchaus verständlich.

»Erhebt Eure Klage!«, erteilte der Vorsitzende des Rates van Sanden das Wort.

»Herr Präsident, ehrenwerte Ratsmitglieder, ich klage Constantin Fürst von Varadin, Graf von Calastan und Baron zu Breskoff an, vorsätzlich gegen das Haus Margaux einen heimlichen, unerklärten Krieg mit dem Ziel der Vernichtung geführt zu haben. Ich rufe daher Fürst Constantin in den Zeugenstand.«

Zeugnisverweigerungsrecht? Eine nette Idee und in vielen Ländern wesentlicher Bestandteil der Rechtsprechung. Nicht so für uns Stammväter. Bei einer vor dem Rat geführten Klage war der Beklagte zur wahrheitsgemäßen Aussage verpflichtet, was von einem in Empathie kundigen Nosferatu überprüft wurde. In diesem Fall nahm einer der Beisitzer Norfuns die Aufgabe wahr. Ein Stuhl wurde gebracht und in die Mitte des Us gestellt. Die Rückenlehne war dem Vorsitzenden zugewandt, so dass der gesamte Rat mich und ich den gesamten Rat ansehen konnte. Und noch so eine Besonderheit: Ich war mein eigener Verteidiger. Unser Recht forderte von den Stammvätern höchste Rechtskompetenz, was aber auch hieß, dass sowohl van Sanden und auch mir alle Möglichkeiten zur Verfügung standen, um die Klage zu beweisen oder zu entkräften.

In diesem Bewusstsein nahm ich auf dem Zeugenstuhl Platz. Das Auge der Wahrheit, wie der Nosferatu genannt wurde, der den Wahrheitsgehalt meiner Aussage überprüfen sollte, stellte sich neben mich und legte eine Hand auf meine Schulter.

»Fürst Varadin, sagt Euch ein Tischlergeselle mit dem Namen Florian etwas?«, stellte van Sanden seine erste Frage.

»Selbstverständlich«, antwortete ich wahrheitsgemäß, »Er ist der Mann, den ich liebe.«

Ein Raunen brandete in den Reihen der Ratsmitglieder auf. Mit so viel Offenheit hatte niemand gerechnet, insbesondere nicht van Sanden, den meine Antwort sichtlich aus dem Konzept brachte. Allerdings befanden wir uns erst in der ersten Runde des gegenseitigen Abklopfens.

»Wie habt Ihr ihn kennengelernt?«

»Er war Teil eines Reparaturteams, welches die Schäden an der Vertäfelung dieses Saals behob, die durch den Bruch eines Warmwasserrohrs entstanden. Später hat er noch eine Anrichte in meinem Arbeitszimmer restauriert. Florian ist ein begnadeter Tischler, Schreiner und Zimmermann.«

Das Verhalten von Vampiren ist genauso wie das von Menschen oft sehr vorhersehbar. Während ich die Reparaturen erwähnte, zeigte meine Hand auf den betroffenen Bereich des Saals und alle Augen folgten, als ob es dort irgendetwas zu entdecken gab.

»Ich habe selten einen Menschen erlebt, der dermaßen in seiner Arbeit aufgeht und schnell bemerkt, dass Florian mit einer Leidenschaft an Aufgaben herangeht, die bewunderns- und beneidenswert ist.«

»Gut, gut«, stoppte van Sanden meine Schwärmerei, »Ich glaube, wir haben einen Eindruck gewonnen, nicht wahr?«

»Nein, haben Sie nicht«, korrigierte ich. Van Sanden hatten den Fehler begangen, seine letzte Feststellung, als Frage zu formulieren, was mir die Möglichkeit einer Antwort eröffnete. »Sie müssen verstehen, dass Florians Leben zu jenem Zeitpunkt die Hölle war. Er wurde von seinen Kollegen tyrannisiert, oder wie man es heutzutage ausdrückt, gemobbt.«

»Schön, dass Sie den Punkt selbst ansprechen.«, unterbrach der Ankläger meinen Redefluss, »Wenn ich richtig informiert bin, haben Sie Florian über einen langen Zeitraum beobachtet, sein Martyrium begleitet, aber nicht eingegriffen?«

»Ja, das habe ich und ich gestehe offen und ehrlich vor diesem hohen Rat und seiner Heiligkeit dem Vorsitzenden Bruder Norfun, dass ich mehr als einmal kurz davor stand, die Gesetze unseres Kodex zu brechen und Florian zu erlösen, indem ich ihn in einen der Unsrigen verwandelte. Ich tat es nicht, was ein Teil von mir aus tiefstem Herzen bis heute bereut.«

Der Punkt ging an mich. Eine beinahe Gesetzesverletzung offen zu gestehen, brachte mir tatsächlich ein paar Sympathiepunkte ein. Wir Blutsauger waren doch in unserem Innersten alles verkappte Romantiker. Auch wenn die meisten meine Liebe zu einem Mann nicht nachvollziehen konnten, fühlten sie meine Leidenschaft.

»Am Ende erübrigte sich die Frage nach einem Rechtsbruch, oder?«, hakte van Sanden nach.

»Ja, in der Tat. Eines Abends, nach einem Einsatz in diesem Haus, fielen fünf Kollegen über Florian her und vergewaltigten ihn auf die denkbar brutalste Art und Weise. Ich werde dem Rat die Details nicht schildern, weil dies bedeutete, meinem Freund und Geliebten erneut Gewalt anzutun. Nur so viel. Florians Seele zerbrach. Ohne Hoffnung wählte er den undenkbaren Ausweg, den Selbstmord. Er fuhr zur nahegelegenen Talbrücke und stürzte sich herunter. Jeder von uns kennt die Regeln des Kodex. In diesem Moment war ich berechtigt zu intervenieren und Florian die Wahl zwischen dem Tod und unserer Welt anzubieten. Er wählte unsere Welt. Er tat dies aus eigenem und freien Willen.«

»Der Zeuge spricht die Wahrheit«, ergriff das Auge der Wahrheit erstmals das Wort. Normalerweise sprach es nur, sobald ein Zeuge log. Bestimmte Kernaussagen wurden aber ebenfalls explizit bestätigt, statt sie durch Schweigen implizit als wahr zu bewerten.

»Ich danke dem Zeugen. Er ist vorerst entlassen.« Und wieder so eine Besonderheit. Zeugen konnten jederzeit erneut gehört werden. »Ich rufe als nächsten den Zeugen Nummer 1 von meiner Liste.«

Weder Kläger noch der Beklagte musste seine Zeugen der Gegenseite vorher benennen. Selbst die Liste mit Namen, die im Allgemeinen dem Vorsitzenden übergeben wurde, war nicht Pflicht. Solange der Prozess lief, konnten beide Seiten jeden und jede benennen, den sie wollten. Norfun gab seinem zweiten Beisitzer ein Zeichen, der daraufhin den Saal verließ, um den Zeugen zu holen. Wie Laurentius, Lydia, Michael, Simon und ich bereits vermutet hatten, war der Coup mit der Klage detailliert vorausgeplant worden. Wir spielten auf Risiko. Simon hatte uns zwar mit Informationen von Christiano versorgt und auch in groben Umrissen skizziert, worum es bei der Klage ging, Details aber mit der Bitte für sich behalten, Christiano und Tamir, dem alten Strippenzieher zu vertrauen. Leichter gesagt als getan. Schließlich ging es um nichts geringeres als um meinen Hals.

Es waren rund fünf Minuten vergangen, da kehrte der Nosferatu mit einem für die meisten völlig unbekannten Mann zurück. Kaum hatte er den Saal betreten, brandete erneut ein Raunen auf. Der Mann war kein Vampir, sondern ein Mensch.

»Bitte, seid so nett, nehmt bitte auf dem Stuhl in der Mitte Platz.«, forderte van Sanden den Mann auf, der seiner Bitte mit einem leichten Zögern folgte. Verständlich für einen Menschen, der nicht wusste, wo er sich befand und worum es ging.

»Dies ist eine Art Hearing, in dem es um eine wichtige Frage für unsere Gesellschaft geht.«, erklärte der Baron dem Mann, »Es ist wichtig, offen und ehrlich zu antworten. Der Mann neben euch, ist so etwas wie ein lebender Lügendetektor, kann also Wahrheit und Unwahrheit voneinander unterscheiden. Keine Angst, Ihr steht nicht unter Anklage. Aber bitte, antwortet nur auf die von uns gestellten Fragen.«

»Kein Problem«, erwiderte der Mann.

»Ihr wisst, was wir sind?«

»Ihr seid Vampire und Nosferatu« Das Raunen brauste wieder auf und ich muss zugegeben, dass ich meinen Teil zur Geräuschkulisse beitrug. Hier saß ein Mensch inmitten eines Saals voller Blutsauger und zeigte sich alles andere als beunruhigt. Mehr noch, er kannte sogar den Unterschied zwischen Vampiren und Nosferatu.

»Ihr scheint euch gut auszukennen. Woher stammt Euer Wissen über uns?«

»Ich war viele Jahre mit einer Vampirin verheiratet.« Nach dieser Bemerkung konnte man beim besten Willen nicht mehr von einem Raunen sprechen, dafür waren die Zwischenrufe entschieden zu laut. Ein Beziehung, sogar eine Ehe zwischen einem Menschen und einem Vampir war eine Ungeheuerlichkeit, ein Sakrileg, das erstaunlicherweise aber nicht gegen unsere Gesetze verstieß.

»Wenn Ihr so nett währt uns den Namen Eurer Frau zu nennen?«, wollte van Sanden wissen.

»Der Name meiner Frau lautete Großherzogin Isabell Maria Mercedes Margaux sûr Rhone.«, erwiderte der Mann.

Margaux? Ich hatte den Namen früher schon gehört. Mein Vater hatte von den Margaux gesprochen. Während es im Saal zu tumultartigen Szenen kam und der Vorsitzende Norfun einige Mühe hatte, wieder Ordnung in die Sitzung zu bekommen, wandte ich mich an Laurentius: »Was weißt du über das Haus Margaux?«

»Dass es ausgestorben ist.«, antwortete mein Marschall hinterhältig, »Allerdings gab es immer wieder Gerüchte, dass die Margaux in den Untergrund abgetaucht sein sollen. Es heißt, dass sie in Folge einer Blutfehde mit einem anderen Hohen Haus bis auf wenige Mitglieder dezimiert wurden. Um ihre Linie vor dem Aussterben zu retten, soll die Herzogin alle Mitglieder ihres Hauses vom Eid auf ihr Blut entbunden haben und anschließend von der Bildfläche verschwunden sein. Dies war vor ein paar Jahrhunderten. Seitdem hat niemand wieder etwas von den Margaux gehört oder gesehen, sodass das Gerücht entstand, die Margaux wären in der Tat ausgestorben. Aber dies war wohl ein Irrtum.«

In der Zwischenzeit war es im Saal ruhiger geworden. Nachdem das Auge der Wahrheit die Aussage des Mannes auf dem Zeugenstuhl ausdrücklich bestätigte, blieb den Mitgliedern des Rats wenig anderes übrig, als ihm Glauben zu schenken. Sie hatten keine Ahnung, was ihnen van Sanden noch präsentieren wollte. Ich wusste es, weil ich den Mann im Zeugenstuhl kannte. Ich hatte Florian lange genug als Schatten verfolgt und sein Leben als Prügelknabe seiner Kollegen und seines Vaters begleitet. Der Mann war niemand anderes als Florians Vater. Ich musste keine Mikrobiologie studiert haben, um zu ahnen, worin die Verbindung zwischen Florians Vater, Florian und Großherzogin Margaux bestand. Florian war der Sohn der Großherzogin und damit königlichen Bluts. Van Sanden hatte mich tatsächlich am Arsch.

»Mein lieber Simon«, wandte ich mich an meinen jungen Ritter, »Ich hoffe ihr, du, Flo, dein Schatz und dieser durchtriebene Hund von einem Nosferatu wisst, was ihr tut. Van Sanden hat Recht, wenn die Herzogin Flos Mutter ist, bin ich schuldig.«

Simon erwiderte meinen Blick, wirkte aber nervös. »Es kann nichts schief gehen.«, meinte er nach ein paar Sekunden. Es klang, als wenn er sich selbst davon überzeugen wollte.

»Ist Ihr Sohn Florian ein Nachkomme von Großherzogin Margaux?«, holte van Sanden zum finalen Schlag aus.

»Ja, das ist er. Florian ist das Produkt unserer Liebe und das einzige, was mir von Isabella geblieben ist, nachdem sie einem feigen Mordanschlag zum Opfer gefallen ist.«

»Ich danke Euch für Eure Offenheit. Seid versichert, dass Euch nichts geschehen wird.«, was redete dieser Mann für einen Stuss. In meinem Haus wurde kein Mensch gegen seinen Willen ausgesaugt, das brauchte van Sanden nicht extra zu betonen. Der Baron wartete geduldig ab, bis Flos Vater den Saal verlassen hatte, bevor er mit seiner Klage gegen mich fortfuhr.

»Ich rufe erneut Fürst Varadin in den Zeugenstand«

Wie konnte ich nur van Sandens Eitelkeit vergessen. Jeder andere hätte sein Schlussplädoyer gehalten. Nicht so der Baron. Ich wusste, was jetzt kam. Er wollte, dass ich mein Verbrechen zugab. Wenn Tamir einen Coup zur Rettung meines Halses geplant hatte, sollte er endlich aktiv werden, da mir so langsam die Optionen ausgingen.

»Fürst Varadin. Sie haben Florians Vater gehört, Sie haben zugegeben, Florian zum Mitglied Ihres Hauses gemacht zu haben. Als ein Mann, der mehrfach eine außerordentliche Kompetenz bezüglich des Kodex und seiner Kommentare bewiesen hat, welchen Schluss würden Sie ziehen?«

Natürlich musste er sich für die damalige Schlappe vor dem Tribunal, als ich mit der Anrufung der Inquisition einen Schuldspruch erfolgreich abwehrte, revanchieren. Geschenkt. Wenn es ihn freute, wollte ich nicht als Spielverderber dastehen.

»In Anbetracht der vorgebrachten Fakten habe ich mich der Anklage schuldig gemacht« Im Saal wurde totenstill. Mehr als ein Clanchef hielt die Luft an. Es kam selten vor, dass ein Thronanwärter ein ihm vorgeworfenes Verbrechen, insbesondere ein derart schwerwiegendes ohne Ausflüchte zugab. Aber warum sollte ich? Van Sanden hatte Recht. Das Gesetz war schwachsinnig, aber eindeutig. Wenn es für mich noch einen Ausweg gab, dann nur auf der Basis formaler Fehler. Ich kannte das Recht und die Prozessordnung, überlegte einen Moment und kam auf eine absurde Idee. Verdammt, Tamir, warum hast du mir nicht verraten, wie ich hier wieder raus komme?

»Allerdings«, erhob ich meine Stimme und zog damit die Aufmerksamkeit erneut auf mich, »bezweifle ich Euer Recht auf Klageerhebung. Mein Verbrechen betrifft das Haus Margaux und nur das Haus Margaux kann mich der verdeckten Kriegsführung anklagen.«

»Und hier irrt Ihr, mein lieber Fürst. Florian Margaux ist kein freier Mann, wofür Ihr verantwortlich seid. Ihn zu einem der Euren zu machen, hat ihn seiner Souveränität beraubt. Er ist Euer Sklave. Damit steht jedem Haus des Rates das Recht zu, die Interessen Florian Margaux zu vertreten.«

Shit! Van Sanden hatte seine Lektion gelernt und war gut vorbereitet. Anders ausgedrückt: Ich war total im Arsch. Wenn jetzt nicht noch ein Wunder geschah, konnte ich gleich freiwillig ein Sonnenbad nehmen.

»Nicht so voreilig, Baron van Sanden«, erschallte plötzlich eine ebenso unerwartete wie bekannte Stimme im Saal.

Die Nöte eines Hausverwalters

Florian

»Aufwachen, Dickerchen!«

Ein paar harmlose Klapse Christianos und Tischlermeister Momsen weilte wieder unter uns. Ganz im Gegensatz zu Mario und Andreas, die friedlich auf dem Boden des Festsaals vor sich hin schlummerten und darauf warteten, von den Arbeitern der anderen Gewerke entdeckt zu werden. Doch bevor es so weit war, wollten wir uns bereits auf dem Weg zum Jagdschlösschen Charlottenhof befinden, doch dazu benötigten wir einen ebenso wachen wie gefügigen Momsen.

Widerwillig schlug mein alter Meister seine Augen auf und erblickte als erstes einen breit grinsenden Christiano, der sämtliche Zurückhaltung aufgegeben hatte und unseren Freund recht ruppig auf die Beine stellte.

»Sie haben keine Ahnung, auf was Sie sich eingelassen haben, oder?«, wollte der Portugiese von unserem geschätzten Meister wissen, »Hat Ihnen irgendjemand erklärt, was es mit dem Blitzlicht auf sich hat, das Sie bei der Entführung verwendet haben?«

»Ich wüsste nicht, was dich das angeht.«, knurrte Momsen wütend, der sich wie geplant kein bisschen an die spitzen Saugzähne erinnern konnte, die ihn ins Land der Träume verfrachtet hatten. Was auch erklärte, warum er für einen Moment überlegte, Christiano an die Gurgel gehen. In Anbetracht der Mehrheitsverhältnisse entschied er sich dann doch dagegen und bemüßigte sich stattdessen auf die Frage zu antworten, »Nein, aber die Reaktion des Typen war erstaunlich. Er brach sofort zusammen, schrie, ach was, brüllte und hielt sich die Hand vor's Gesicht.«

»Das war ganz toll!«, knurrte Nicolas, der damit beschäftigt war, Marco dabei zu helfen, sich in seinem veränderten Körper zurechtzufinden. Er hatte sich neben ihn hingehockt und einen Arm um seine Schulter gelegt. Der Jungvampir nahm diese Zuwendung dankbar an und schmiegte sich an Nicolas. In der Zwischenzeit war ich damit beschäftigt, meinen Paps von den letzten Resten seiner Fesselung zu befreien. Wenige Momente später konnten wir ihm auf die Beine helfen. Seine Entführer waren nicht wirklich zimperlich mit ihm umgegangen und so musste er sich erst kräftig die Hand- und Fußgelenke reiben, um seinen Kreislauf wieder in Gang zu bekommen.

»Okay, Momsen, wie war der Plan?«, wandte ich mich an meinen Lieblingstischlermeister, »Und keine Tricks. Wir merken, wenn du lügst.«

»Es gibt da ein Lagerhaus...«, begann Momsen, wurde aber von Christiano gestoppt, der einfach nur mitleidig seinen Kopf schüttelte.

»Danke!«, Christiano grinste einen verwirrten Tischlermeister an, hielt sich mit ihm aber nicht weiter auf, sondern wandte sich direkt an mich, »Mit der Entführung wollten sie dich dazu zwingen, nach Charlottenhof zu fahren. Unser Dickerchen hätte dort auf dich gewartet. Ach ja, er hat nicht den blassesten Schimmer, was hier abläuft, abgesehen von einer Heidenangst vor seinem Gönner.« Und dann doch wieder Momsen zugewandt: »Scheiße, wenn man spielsüchtig ist, was?«

Nach dieser kleinen Telepathienummer nahm Momsens Gesicht eine ungesund blassgrünliche Farbe an: »Wer seid ihr? Verdammt, was seid ihr?«

»Lassen Sie sich überraschen. Aber jetzt: Abmarsch. Charlottenhof wartet auf uns.«, übernahm ich das Kommando.

Wir verließen den Ort des Geschehens und kehrten über den Umweg der Terrasse zum Baucontainer zurück. Mit Momsen, Marco und meinem Vater im Schlepptau passten wir unmöglich alle zusammen in Christianos Wagen, sodass wir uns aufteilen mussten. Christiano, Momsen und ich nahmen den Transporter, während uns Marco, Nicolas und mein Vater im Auto folgten.

»Kommst du klar?«, wollte ich von Marco wissen. Ich war ein bisschen um meinen Kollegen besorgt, wie er die Entwicklung der letzten Stunde verkraftete. Er wurde tödlich verletzt, stand kurz davor zu sterben und wurde dann doch gerettet, indem ich ihn in einen Vampir verwandelte. Niemand steckte so etwas einfach weg. Leider hatte ich nicht die Zeit, um mich um Marco zu kümmern und so hoffte ich, dass Nicolas und mein Vater während der Fahrt ein wenig beruhigend und stabilisierend wirkten. Wir konnten uns in dieser Phase keinen Fehler leisten. Ich spürte, dass Constantins und meine Zukunft an einem seidenen Faden hingen.

Charlottenhof lag wenige Kilometer von unserer Baustelle entfernt. Nach rund einer Viertelstunde, bestenfalls zwanzig Minuten, hatten wir unser Ziel erreicht. Mir wurde warm ums Herz. Es war der Ort, an dem ich Constantin Varadin das erste Mal begegnete.

»Laurentius hat mächtig was aufgefahren«, meinte Christiano und zeigte mit seiner Hand in Richtung des kleinen Wäldchens, das Charlottenhof umgab. Und tatsächlich, gut verborgen und für Menschen unmöglich zu erkennen, bewachte eine ganze Armada von Vampiren das Anwesen und registrierte ganz genau, wer kam und ging. Obwohl wir unbehelligt bis zum Parkplatz vorfahren konnten, war ich mir sicher, dass Laurentius oder einer seiner Hauptmänner bereits über den unerwarteten Besuch informiert waren.

Unerwartet? Wir hatten kaum den Transporter zum Stehen gebracht, stürmte bereits ein elegant gekleideter Mann auf uns zu.

»Oh Shit!«, fluchte Nicolas, »Das ist Anton, Lucretias Mann. Die beiden sind die Haushälter Charlottenhofs. Verdammt, ich hätte nicht mitkommen dürfen.«

»Was? Wieso nicht?«, fragte ich panisch, während sich Momsen zu amüsieren schien.

»Hast du vergessen, dass ich ein Geächteter bin? Um den Verräter in unseren Reihen in Sicherheit zu wiegen, hat mich Constantin doch offiziell verbannt. Ich bin vogelfrei. Wenn ich Glück habe, jagt er mich nur vom Hof.«

Weiter kam er nicht. Haushälter Anton hatte unseren Wagen erreicht, erkannte mich, nickte zufrieden, erkannte Momsen, nickte unterkühlt und erkannte Christiano und nickte nicht, sondern reagierte ungehalten, aber auch unsicher, weil er nicht so recht wusste, wie er sich verhalten sollte. Wäre Christiano alleine gewesen, wäre es garantiert zu einer unschönen Szene gekommen. Mit Momsen und mir als seine Begleitung ging das nicht ganz so einfach. Warum reagierte er eigentlich nicht auf mich? Dass Anton ein Vampir war, konnte ich mit einem Blick erkennen. Aber vermutlich sorgte einfach seine Erwartungshaltung für eine eingeschränkte Wahrnehmung. Er hatte einen Tischler gerufen, Momsen und ich waren Tischler und ihm als solche auch bekannt. Ich muss zu meiner Schande allerdings gestehen, dass ich mich nicht wirklich an den Mann erinnern konnte. Ich hatte damals nur Augen für Constantin.

»Tischlerei Niederreuter«, nahm ich das Heft des Handelns in die Hand, »Sie haben uns gerufen. Es soll ein dringendes Problem zu beheben geben?«

»Ähm, ja«, antwortete Anton auf meine Frage, ohne mich dabei anzusehen, stattdessen hielt er Christiano mit seinen Augen fixiert. »Schön, dass Sie sofort gekommen sind.«, jeder konnte sehen, dass dies nicht für Christiano galt, »Wie Sie sehen, beherbergen wir zurzeit eine etwas größere Gesellschaft und benötigen jeden Raum, den wir haben. Bei einem ist die Terrassentür beschädigt. Da pfeift es durch wie Hechtsuppe. Wir wären Ihnen wirklich dankbar, wenn Sie das Problem beseitigen könnten. Allerdings...«

Wenn Blicke töten könnten hätte Christiano ziemlich geröchelt. Der Hausverwalter Charlottenhofs wirkte nicht wirklich glücklich. Alles in ihm rebellierte gegen den Gedanken, einen Verbannten ins Haus zu lassen. Gleichzeitig stand er unter erheblichem Druck, einem Haufen ewig nörgelnder und quengelnder Stammväter und

-mütter beherbergen zu müssen, was seine ganze Aufmerksamkeit beanspruchte. Da wollte und konnte er sich nicht auch noch mit einem Haufen Handwerkern beschäftigen, wäre da nicht ausgerechnet dieses verbannte Mitglied des Hauses. Hin und hergerissen konnte sich Anton zu keiner Entscheidung durchringen. Da half nur noch, ihm die Entscheidung dreist abzunehmen.

»Dafür sind wir da«, erwiderte ich fröhlich, ignorierte das Allerdings und spielte das totale Unschuldslamm. »Es kommen gleich noch drei Kollegen, mit etwas Material«, fügte ich hinzu, entdeckte Christianos Wagen im Seitenspiegel hinter uns und fuhr fort, »Ah, da sind sie ja schon. Wenn Sie uns das Problem dann zeigen könnten, sind wir schneller weg, als Sie gucken können.«

Als wenn die drei hinter uns im Wagen wussten, was ich Anton gerade sagte, sprangen sie aus ihrem Fahrzeug und kamen zu uns gelaufen. Der gute Hausverwalter machte einen leicht überforderten Eindruck. Mit so vielen Handwerkern hatte er nun wirklich nicht gerechnet. Auf der anderen Seite wollte er seinen Clanchef nicht enttäuschen, indem er gegen die Menge Einspruch erhob und riskierte, dass wir unverrichteter Dinge wieder abzogen.

»Also gut, folgen Sie mir«, Anton hielt inne, ein plötzlicher Gedanke flammte in seinem Hirn auf. »Aber der bleibt hier. Dieser Mann ist in unserem Haus eine unerwünschte Person.«

Ein ausgestreckter Finger zeigte wenig höflich auf Christiano und wollte bei mir schon reflexartigen Protest auslösen, wäre mir das Subjekt der Aufregung nicht ins Wort gefallen.

»Kein Problem. Ich kann im Wagen warten.«, gab sich mein Freund und Kollege konziliant. Rein handwerklich hätte ich ihn wirklich nicht gebraucht, obwohl Christiano für einen studierten Pharmazeuten einen erstaunlich guten Tischler abgab. Während seiner Zeit bei Niederreuter war niemand auf die Idee gekommen, der Mann wäre kein Azubi. Obwohl seine Hauptaufgabe darin bestand, mich zu beschützen und meine Entwicklung zu begleiten, nahm er die Arbeit im Betrieb ernst und arbeitete die ganze Zeit voll mit. Trotzdem, für die Reparatur einer Terrassentür reichte mir Marco als Unterstützung voll und ganz. Momsen hingegen sollte man grundsätzlich von jeglichen Holzarbeiten fern halten. Der Mann war ein derartiger Stümper in seinem Fach, dass sich jeder fragte, wen er bestochen hatte, um an einen Meisterbrief zu gelangen.

»Was machst du hier?«, vergaß Anton seine Zurückhaltung und fauchte Christiano dermaßen scharf an, dass ich befürchtete, er würde ihm gleich an die Kehle gehen. Bisher hatte ich noch nie gesehen, wie Vampire miteinander kämpften, allerdings hatten mir sowohl Nicolas als auch Christiano recht plastisch geschildert, wie solche Auseinandersetzungen aussahen. Es war dann auch Nicolas, der als erstes in eine typische defensivaggressive Pose ging und damit seine Identität als Blutsauger preisgab. Die Situation drohte plötzlich zu entgleisen. Anton wirbelte herum und betrachtete mich erneut, dieses Mal bemerkte er, was ich war und wechselte nun seinerseits in eine Angriffsposition.

»Wer seid ihr?«, fragte er scharf. Anton mochte schon etwas älter sein, auch nach vampirischen Maßstäben, aber keineswegs weniger gefährlich. Ich konnte es, während er mich fragte, am Spiel seiner Gesichtsmuskeln erkennen. Sein Körper war maximal angespannt. Eine falsche Bewegung, ein verdächtiges Zucken meinerseits, und er wäre losgesprungen.

»Im Moment sind wir ein Trupp Handwerker, der gerufen wurde, um eine defekte Terrassentür zu reparieren.«, begann ich gleichzeitig sanftmütig, aber auch mit aller mir zur Verfügung stehenden Autorität als Nosferat und Hati. Gab es so etwas wie eine aristokratische Aura? Vielleicht nicht aristokratisch, aber mein Ursprung als gebürtiger Vampir schien eine nicht zu unterschätzende Wirkung zu besitzen. So schien nicht nur Anton in meinen Augen zu schrumpfen, auch Christiano und Nicolas zuckten zusammen und schauten mich erschrocken an.

»Entschuldigt Sire, aber ich weiß nicht...«Sire? Diese Anrede konnte nur bedeuten, dass Anton mich als Stammvater erkannte, »Wenn Ihr mir den Namen eures Hauses nennt, könnte ich...«

Scheiße! Das war genau das, was wir nicht wollten: Aufmerksamkeit erregen. Um der verfluchten Verschwörung ein für alle Mal auf den Grund zu gehen, musste der Terrassentürreparaturbesuch genau so ablaufen, wie es unser Gegner geplant hatte, was hieß, dass meine wahre Identität verborgen blieb. Was wir am allerwenigsten gebrauchen konnten, war ein verzweifelter Hausverwalter, der den gesamten Varadin-Breskoffschen Hofstaat davon in Kenntnis setzte, dass ein weiterer Stammvater vor der Tür stand. Am liebsten hätte ich Anton ausgeschaltet. Nein, nicht umgebracht, aber ins Lalaland geschickt. Ich war mir sicher, dass Christiano dazu durchaus in der Lage war. Nur hätte ich damit meinem geliebten Constantin den Krieg erklärt. Keine gute Lösung.

»Anton, das wird nicht nötig sein!«, donnerte eine Stimme hinter uns durch die Dunkelheit und verkündete unser aller Rettung. Tasmanir Musferatu, der Stammvater der Nosferatu des Westens war eingetroffen. »Florian, wolltest du nicht auf mich warten?«

»Ähm, es ist etwas dazwischengekommen.«, meinte ich kleinlaut.

»Das will ich wohl glauben.«, hörten wir Tamir amüsiert aus der Dunkelheit antworten, bevor er zu uns ins Licht trat, »Anton Varadin, ich Tasmanir Musferatu, Stammvater der Nosferatu des Westens, bürge für diese Männer. Was Christiano betrifft, genießt er den Status eines Botschafters der Nosferatu und ist von diesem Moment unantastbar.«

»Selbstverständlich Eure Heiligkeit. Ich werde den Wachen gleich bescheid...«

»Nein!«, unterbrach Tamir und trat einen Schritt dichter an Anton heran, der sich beim Anblick des Nosferatu fast in die Hose geschissen hätte, »Du wirst nichts dergleichen tun. Anton, bitte, vertrau mir. Was hier und heute passiert, wird das Schicksal deines Stammvaters, deines Hauses und das des Hauses von Florian bestimmen. Dunkle und böse Mächte sind am Werk, die beide zerstören wollen. Deswegen ist es von imminenter Wichtigkeit, dass du Florians Wünsche ganz genau befolgst. Ich verspreche dir, dass er keine schlechten Absichten gegen euch hegt. Ganz im Gegenteil.«

Nach dieser Ansage veränderte sich Anton. Er richtete sich auf, reckte sich, sah mir direkt in die Augen, schluckte einmal und meinte: »Sagt, was ich für Euch tun kann!«

»Zuerst könntet Ihr mir eine Frage beantworten: Warum habt Ihr Niederreuter angerufen?«

Die Antwort war erstaunlich unspektakulär. Nachdem bei der Durchsicht der Appartements und Zimmer des Hauses eine Beschädigung einer Terrassentür entdeckt wurde, sollte der Schaden so schnell wie möglich behoben werden. Niederreuters Telefonnummer, das heißt genaugenommen die Mobilfunknummer von Herrn Momsen war für derartige Fälle im Adressbuch hinterlegt worden. Die Reparatur der durch den Rohrbruch vor ein paar verursachten Wasserschäden hatte gezeigt, dass die Firma Niederreuter vorzügliche Arbeit leistete. Das hatte Herr Varadin mehrfach betont.

War es reiner Zufall, dass wir hier waren? So ganz konnte ich mir das nicht vorstellen. Christiano ebenfalls nicht.

»Anton, kannst du dich daran erinnern, wie du damals auf Niederreuter gekommen bist?«

»Ich wüsste nicht, was dich das angeht? Du bist ein...«

»Bitte, es ist wichtig«, flehte ich und hatte damit Erfolg.

»Moment, wie war das noch?«, überlegte der Hausverwalter, »Es ist schon ein paar Jahre her. Ah, ich weiß wieder. Ich wollte eigentlich die Auskunft anrufen, als... Oh, Gott, nein, das darf nicht wahr sein!« Anton wurde blass »Es war Frantz, der Niederreuter vorschlug.«

Bingo!

Erkenntnisse eines Tischlermeisters

»Du hast verstanden?«, fragte ich Anton gleichzeitig flehend und nachdrücklich.

»Ja, hab ich. Meine Aufgabe besteht darin, nichts zu tun. Ich lasse euch die Tür reparieren, als wenn ihr ganz normale Handwerker wärt.« Der Hausverwalter seufzte, »Ich hoffe, ich werde es später nicht bereuen, euch und Tamir vertraut zu haben, insbesondere wegen dem da!«

»Ich gebe dir mein Wort als Stammvater des Hauses Margaux: Meine Absichten sind rein und aufrichtig. Das schwöre ich bei meinem Blute!«

Das hatte Anton noch nie erlebt. Ein Stammvater leistete ihm gegenüber einen Blutschwur. Er wusste zwar nicht, wer oder was das Haus Margaux war, ob es zu den edlen oder eher zu den drittklassigen Häusern zählte, aber darauf kam es nicht an. Ein Schwur war ein Schwur.

»Okay, ich lasse euch dann allein.«

Und so standen wir, Nicolas, Marco, mein Vater, Momsen und ich allein – Christiano war Tamir gefolgt – aber mit Werkzeugtaschen und Reparaturmaterial bewaffnet in Tante Charlottes Appartement und betrachteten die beschädigte Tür. Das heißt primär betrachtete Marco die Tür und machte sich auch sofort an die Arbeit. Ich ließ ihn, weil ich wusste, was er eigentlich tat. Er lenkte sich ab, um nicht über die Vorfälle der letzten Stunden nachdenken zu müssen. Erschossen zu werden, entdecken, dass es Vampire gab, selbst in einen verwandelt zu werden... Wie verkraftet man das? Er brauchte einfach Zeit, um seine Gedanken zu ordnen und was war besser dazu geeignet, als sich auf eine Aufgabe zu konzentrieren, die man im Schlaf beherrschte?

Ein anderer aus unserer Truppe zeigte sich weniger fokussiert. Tischlermeister Momsen hatte während der Unterhaltung mit Anton mehr und mehr Farbe verloren und machte inzwischen der weißen Wandfarbe hinter sich Konkurrenz. Langsam dämmerte dem fetten, faulen und skrupellosen Arschloch, dass er in etwas hineingeraten war, das viel, viel tiefer ging, als er auch nur ansatzweise geahnt hatte.

»Wer seid ihr? Was seid ihr?«, wiederholte Momsen eine Frage, allerdings erst, nachdem er all seinen verbliebenen Mut zusammengekratzt hatte. Ich war erstaunt, dass er überhaupt über so etwas wie Mut verfügte. Wer weiß, vielleicht besaß er sogar noch ein Rückgrat.

»Oh, Meister«, grinste ich meinen ehemaligen Lehrmeister provozierend an, »Ist Euch das immer noch nicht klar? Ich will Euch eine Gegenfrage stellen: War es das wirklich wert?«

»Was?«, stellte sich Momsen dumm. Ich überging es und hakte nach: »Mir das Leben für ein paar Spielschulden über Jahre zur Hölle zu machen?«

»Lieber deins als meins«, erwiderte der Tischlermeister lakonisch und hätte dafür von Nicolas fast sein Gesicht neu arrangiert bekommen, hätte ich ihn nicht mit einem Kopfschütteln davon abgehalten. Niemand beleidigte oder provozierte seinen Stammvater ungestraft. Dies war auch dem Besitzer des betreffenden Gesichts nicht entgangen. Wie jeder kluge Mensch verabscheute Momsen Schmerzen, insbesondere wenn sie drohten, ihn zu treffen, weswegen er sich schnell beeilte, seine Provokation mit beschwichtigenden Erklärungsversuchen wettzumachen.

»Ein paar Spielschulden? Florian, du hast keine Ahnung, wovon du sprichst. Die Typen, denen ich die Kohle ursprünglich schuldete, sind nicht zimperlich, wenn es darum geht, ihr Geld zurückzubekommen. Zahlungsaufschub? Klar, aber mit Aufpreis. Für eine Woche Fristverlängerung musst du dir nur den Arm brechen lassen. Die Wucherzinsen laufen natürlich weiter. Bei mir war es... sagen wir es Mal so. Ich hätte selbst dann keine Stunde Aufschub bekommen, hätte ich meine beiden Beine dafür geopfert. Ab und an waren meine Geschäftspartner der Meinung, ein Exempel statuieren zu müssen. Den Brückenpfeiler, dessen Fundament ich bereichern sollte, hatten sie schon ausgesucht. Doch dann rief mich dieser Typ an und meinte, ich solle mir keine Sorgen mehr machen, er hätte mein Problem gelöst, als Gegenleistung müsste ich ihm nur einen kleinen Gefallen erweisen. Nichts kompliziertes und nichts, was mir schwer fiele. Ich sollte nur dafür sorgen, dass ein gewisser Florian, der bald als Azubi bei Niederreuter anfangen sollte, keinen Fuß auf den Boden bekäme. Ich sollte ihm das Leben so richtig schön zur Hölle machen, es aber auch nicht übertreiben. Man wäre nicht an einem Selbstmord interessiert – vorerst nicht!«

Die Schilderung deckte sich mit dem, was Tamirs Leute in Erfahrung gebracht hatten, was bedeutete, dass Momsen im Moment nicht log. Ohne Christiano, den wandelnden Lügendetektor, war es recht kniffelig zu entscheiden, wann jemand die Wahrheit sagte und wann nicht. Mir blieb nur meine Intuition, der ich nicht unbedingt traute. Aber vielleicht konnte ich im Bluff weitere Wahrheiten aus meinem Kollegen heraus kitzeln?

»Oh, versuchen wir es zur Abwechslung mal mit der Wahrheit?«, provozierte ich meinen ehemaligen Vorgesetzten, »Das mit dem vorerst...«

»Wirklich! Florian, bitte glaub mir!«, flehte Momsen, der vor mir Angst zu haben schien, »Der Anruf kam, als du bei Varadin warst und diese Anrichte restauriertest. Ich habe schon vor Ewigkeiten entdeckt, dass du eine Klemmschwester bist und hatte damit den idealen Hebel. Es war ein Kinderspiel, dich zu quälen. Typen wie Andreas und Mario sind so leicht zu beeinflussen. Nach all der Zeit bei uns, wusste ich, auf welche Knöpfe ich drücken musste. Wie auch immer. Mein heimlicher Gönner meinte, ich solle die Sache zu Ende bringen, was Andreas, Mario und selbst dieser Wicht Marco ja dann auch taten. Hm, ich wüsste zu gerne, was du danach getan hast. Ich habe nur gesehen, dass du mit deinem Roller auf die Landstraße zur Talbrücke gefahren bist.«

»Momsen, Sie machen mich krank«, spie ich dem Typen die Worte ins Gesicht, »Was sind Sie nur für eine abartige Kreatur, die...«

...die auf Kosten anderer lebt? Die Selbstgefälligkeit dieses Gedankens fiel sogar mir auf. Mit einer gewissen Berechtigung konnte man den Standpunkt vertreten, dass Vampire nichts anderes als Schmarotzer waren, die auf Kosten der Menschen lebten. Zwischen uns und einem Floh bestand bei dieser Sichtweise nur ein gradueller Unterschied, obwohl ich selbst es nicht so sah. Ich versuchte, wie Constantin oder Christiano zu leben und meinen Opfern etwas zurückzugeben und sei es auch nur der geilste Orgasmus ihres Lebens.

»Sprache verschlagen?«, stichelte Momsen, dem natürlich mein Stocken nicht entgangen war. »Ich habe doch nicht etwa einen wunden Punkt getroffen?«

»Mein lieber Tischlermeister Momsen, ich wäre sehr vorsichtig, mit wem ich es mir verscherze.«, ein bisschen Furcht schüren, konnte nicht schaden, insbesondere, wenn es meinen Gesprächspartner einschüchterte, »In diesem wunderschönen Landhaus bin ich vielleicht der einzige Freund, den Sie zurzeit haben. Meine beiden Freunde dort würden Ihnen mit Vergnügen den Kopf abreißen und auf die Güte meines Vaters würde ich auch nicht setzen. Ich glaube, dass er es überhaupt nicht schätzt, entführt zu werden.«

Momsen schluckte und sagte nichts mehr.

»Wie soll die Sache hier eigentlich weitergehen?«, wollte Nicolas daraufhin wissen. Inzwischen hatte Marco die Tür so gut wie fertig.

»Mein Kontaktmann hatte mich angewiesen, mit Florian und seinem Vater hier zu warten. Nach Mitternacht sollten Leute kommen und Florians Vater zu einer Befragung mitnehmen. Man versprach mir, dass dabei niemand zu Schaden kommen soll.«

Wer's glaubt wird selig. »Es ist nach Mitternacht«, bemerkte Nicolas trocken. Wie auf Kommando, klopfte es an der Tür. »Momsen, öffnen Sie! Und keine Tricks!«, wies ich unseren Freizeitentführer an.

Ängstlich zitternd erhob sich der fette Tischlermeister und ging zur Tür. Im Gang standen zwei Vampire, die Marco, Nicolas und mich als selbige erkannten, uns neutral zunickten und fragten: »Sind Sie Momsen?«

»Ja, das bin ich.«

»Wir sind hier, um den Vater zur Befragung abzuholen.«

Wenn es eine Sache gab, die ich jetzt unter keinen Umständen tun durfte, war einzugreifen. So sehr es mir widerstrebte, meinen Vater wildfremden Blutsaugern anzuvertrauen, ich durfte nicht reagieren und musste der Sache ihren Lauf lassen. Paps hatte dies begriffen. Nachdem Momsen mit dem Finger auf ihn zeigte, erhob er sich und ging ohne zu Zögern auf die beiden Männer zu. Die verhielten sich insoweit korrekt, dass sie Paps nicht anfassten, sondern ihm den Weg wiesen. Momsen schloss die Tür.

»Würde mir jetzt endlich jemand verraten, was hier eigentlich abgeht?«, wollte der Mann wissen.

»Sie haben immer noch keine Idee?«, lachte Marco sarkastisch, »Ich frage mich, warum Niederreuter einen Versager wie Sie so lange durchgeschleppt hat.«

»Warte Bürschchen, ich werde dich lehren, so mit mir zu reden.«, fauchte ein zorniger Momsen und beging den Fehler, auf Marco zuzustürmen. Der stoppte ihn ganz locker mit ausgestrecktem Arm, hielt seinen Kopf schief und betrachtete seinen Aggressor mit dem neugierigen Blick eines Insektenforschers, der gerade einen neuen Käfer entdeckt hatte: »Und Sie habe ich früher respektiert. Momsen, Sie und Florians Vater sind die einzigen Menschen in diesem Haus. Alle anderen, mich, Nicolas und Florian eingeschlossen, sind Wiedergänger, Hämophagen oder ganz einfach: Vampire!«

Was könnte überzeugender sein, als ein Paar ultraspitzer Saugzähne, die Marco gekonnt ausfuhr. Momsen schluckte und für einen Moment befürchtete ich fast, dass der Mann die Kontrolle über seine Köperfunktionen verlor und eine Sauerei anrichtete. Zum Glück fing sich der Dicke wieder und wurde nur schlaff wie ein nasser Sack. Was für ein jämmerlicher Typ. Marco hatte recht: Warum hatten wir den Mann jahrelang respektiert oder sogar gefürchtet. Er war ein erbärmlicher Opportunist und Feigling, der sich hinter seiner vermeintlichen Führungsposition in der Firma versteckte. Das einzige, was er wirklich konnte, war aufstacheln und Intrigen spinnen.

»Wollt ihr mich töten? Mich aussaugen?«

»Bäh!«, machte Marco, fuhr seine Zähne ein und verzog sein Gesicht, als ob er in eine Zitrone gebissen hätte, »Wollen Sie mich umbringen? Ich muss auf mein Cholesterin achten!«

Respekt! Unser Küken hatte Humor, obwohl Momsen das nicht so empfand.

»Hören Sie zu«, was sprach dagegen, unserem menschlichen Gast ein klein wenig von der Geschichte zu erzählen, in der er seit Jahren kräftig mitmischte. Natürlich nicht zu viel, damit er sich nicht doch noch in die Hose schiss. »Was glauben Sie, wer Ihre Spielschulden beglichen hat? Sie waren nicht mehr, als eine Figur auf einem Schachbrett. Ein paar Meter von hier entfernt tagt der Hohe Rat der Vampire und entscheidet über unseren neuen König. Derjenige, der Sie beauftragt hat, mich zu tyrannisieren, tat dies aus einem einfachen Grund: Um den rechtmäßigen Thronanwärter zu schwächen, wenn nicht sogar zu stürzen. Das ganze ist ein episches, auf Jahre und Jahrzehnte angelegtes Spiel. Und was glauben Sie, Momsen, wird ihr Gönner mit Ihnen veranstalten, sobald Sie Ihre Aufgabe und Nützlichkeit erfüllt haben? Sie sind nicht nur entbehrlich, Sie wissen zu viel.«

»Hallo Abendessen!«, grinste Nicolas den blassgrünen Mann mit ausgefahrenen Zähnen an.

»Aber...«, stammelte das Dickerchen verzweifelt.

»Tja, sieht so aus, als ob Ihr Leben vom Wohlwollen ausgerechnet des Schwanzlutschers abhängt, den sie jahrelang schlechter als Dreck behandelt haben.«, grinste ich zum Schluss Momsen ebenfalls an und tätschelte ihm die Wange, »Also, schön lieb sein ja, und ich könnte mich erbarmen, Sie nicht meinen Mitbrüdern zum Fraß vorzuwerfen.«

Wie lautet noch das alte klingonische Sprichwort? Rache ist ein Gericht, das am besten kalt serviert wird.


Die Befragung meines Vaters währte nicht lange. Es war eine gute Viertelstunde vergangen, da klopfte es an der Tür und mein Vater betrat eskortiert von fünf verhüllten Nosferatu das Appartement. Einer der heiligen Brüder schloss die Tür, schaute sich kurz um und schlug dann seine Kapuze zurück. Es war Petrus, Tamirs Sekretär und engster Freund. Es blieb aber nicht bei dieser Enthüllung. Ein weiterer Nosferatu schlug ebenfalls seine Haube zurück und zeigte, dass er kein Nosferatu war, sondern Christiano im Gewand eines Nosferatu.

»Es wird Zeit. Die Show nähert sich ihrem Höhepunkt«, verkündete Petrus und reichte mir, Nicolas und Marco je eine Kutte, »Schnell, zieht sie euch über, wir müssen zurück in den Saal. Ihr nehmt die Plätze von Christopher, Angelus und Thomas ein, die in der Zwischenzeit dafür sorgen werden, dass deinem Vater und diesem widerlichen Individuum dort, nichts passiert.«

Schlau eingefädelt. Fünf Nosferatu hatten den Saal verlassen und fünf würden ihn auch wieder betreten. Dass es sich bei dreien um völlig andere Personen handelte, genaugenommen sogar vieren, denn Christiano hatte ebenfalls den Platz eines Nosferatu eingenommen, würde niemand bemerken, bevor wir uns nicht enthüllten. Tamir, die alte Ratte, hatte dadurch das Protokoll der Krönungszeremonie ausgetrickst, die eigentlich hinter verschlossenen Türen stattfinden sollte.

Mit tief in unsere Gesichter gezogenen Kapuzen und gesenkten Hauptes folgten wir Petrus durch die Gänge Charlottenhofs. Ich kannte das Anwesen von unseren Reparaturarbeiten noch ziemlich gut und hätte auch so zum Festsaal gefunden. Vor der großen, weißen und mit Blattgold verzierten Doppelflügeltür standen sechs Nosferatu und bewachten den Eingang. Auf ein fast unsichtbares Nicken Petrus griff einer der sechs zur Klinke, öffnete vorsichtig einen Flügel und ließ uns hinein. Schweigend und den Stimmen im Saal lauschend, schlichen wir unauffällig, wie es für Nosferatu angemessen war, an den Wänden entlang. Niemand nahm von uns Notiz. Alle Anwesenden hatten nur Augen für das Schauspiel in der Mitte des Saals, in der ein unsympathischer aber umso eloquenter argumentierender Vampir meinen Constantin in die Zange nahm.

Am liebsten wäre ich dem Typen an die Gurgel gegangen. Ich spürte, wie das Monster in mir danach verlangte, freigelassen zu werden. Doch in meinem Körper hatte nur einer die Kontrolle, und das war ich, Florian Margaux sûr Rhone. Tief atmend folgte ich Petrus, der uns hinter den Tisch des Vorsitzenden, eines typischen Nosferatu brachte. Dort angekommen stellten wir uns mit dem Rücken an die Wand, wie es für namenlose Helfer üblich war.

»In Anbetracht der vorgebrachten Fakten habe ich mich der Anklage schuldig gemacht«, beantwortete Constantin eine Frage des unsympathischen Vampirs, der offensichtlich sein Ankläger war. Im Saal wurde totenstill. Ich konnte sehen, wie die anderen Clanchefs die Luft anhielten und sich manche sogar gespannt vorbeugten.

»Allerdings«, erhob Constantin erneut seine Stimme, »bezweifle ich euer Recht auf Klageerhebung. Mein Verbrechen betrifft das Haus Margaux, und nur das Haus Margaux kann mich der verdeckten Kriegsführung anklagen.«

»Und hier irrt Ihr, mein lieber Fürst. Florian Margaux ist kein freier Mann, wofür Ihr verantwortlich seid. Ihn zu einem der Euren zu machen, hat ihn seiner Souveränität beraubt. Er ist Euer Sklave. Damit steht jedem Haus des Rates das Recht zu, die Interessen Florian Margaux zu vertreten.«

Der Ankläger war wirklich gut und er genoss es sichtlich, Constantin vorzuführen. Da schwang eine Menge verletzter Eitelkeit mit. Ob er es war, der uns vernichten wollte?

»Nicht so voreilig, Baron van Sanden«, erschallte plötzlich eine ebenso unerwartete wie bekannte Stimme im Saal.

Eine Frage der Glaubwürdigkeit

Constantin

Dass die Nosferatu immer etwas unheimlich wirkten, lag zu einem großen Teil auch dran, dass sie abgesehen von der Größe mit ihren Kutten und den von Kapuzen verhüllten Gesichtern wie ein Ei dem anderem glichen. Mit drei Nosferatu konnte man das alte »Wo ist die Erbse?«-Spiel nachspielen. Nur dass man dafür statt drei Bechern und einer Erbse drei Kapuzenträger verwendete: Einer enthüllt kurz sein Gesicht, dann rennen sie wild durcheinander und man muss raten, wer der richtige ist. Die Chancen, richtig zu tippen, lagen faktisch bei null.

Etwas ähnliches galt auch für die Reihe Nosferatu, die entlang der Wand hinter Norfun aufgereiht standen. Wenn ich mich richtig erinnerte, hatte der Vorsitzende fünf von ihnen losgeschickt, um Florians Vater zurück in seine Unterkunft zu bringen. Wahrscheinlich war dies eine gute Idee. Ich war mir nicht sicher, ob alle Blutsauger sich beherrschen konnten und sich nicht doch gehen ließen und den Mann zur Ader ließen. So richtig wollte ich aus Florians Paps nicht schlau werden, insbesondere, weil er mir bisher zwei sehr unterschiedliche Gesichter von sich gezeigt hatte. Vor Flos Selbstmord war er ein unerträglicher Tyrann, dem regelmäßig die Hand ausrutschte. Der Mann, der vorhin auf dem Zeugenstuhl saß und von dem Christiano berichtet hatte, war ein völlig anderer Mann. Ich gebe zu, dass es mir zeitweise sehr schwer gefallen war, nicht die Beherrschung zu verlieren, wenn der Typ wieder zu seinem Gürtel griff und meinem Liebling eine Abreibung verpasste. Doch dieser brutale unmenschliche Mann schien verschwunden zu sein. Stattdessen sahen wir einen Vater, der von unüberhörbarem Stolz auf seinen Sohn erfüllt war und mich damit sehr verwirrte. Da Flo ihm verziehen hatte, wollte ich mir kein Urteil anmaßen.

Nach ein paar Minuten waren die fünf Nosferatu zurückgekehrt und postierten sich wieder hinter Norfun an der Wand. Van Sanden war gerade damit beschäftigt, mir den verbalen Todesstoß zu versetzen. Warum verfiel ich nicht in Panik? Ich hatte Angst, sogar Existenzangst und sorgte mich um die Zukunft meiner Familienmitglieder. Was würde mit ihnen geschehen, sollte man mich schuldig sprechen? Aber Panik? Vielleicht lag es auch daran, dass ich keine Schuld in mir entdecken konnte. Hatte ich ein Gesetz gebrochen? Ja, sicher. War ich schuldig? Niemals! Ich konnte und wollte nicht glauben, dass unsere Vorväter meine Tat im Sinn hatten, als sie die entsprechenden Paragraphen zu Papier brachten. Konnte Liebe eine Kriegserklärung sein? Äh... Ja, auf jeden Fall! Liebe war Krieg, aber ein wunderschöner.

»Nicht so voreilig, Baron van Sanden«, erschallte plötzlich eine ebenso unerwartete wie bekannte Stimme im Saal.

Da war sie, die Erbse unter dem Becher, der Nosferatu unter der Kapuze. Seine Stimme holte mich zurück in die Wirklichkeit, riss mich aus meinem Tagtraum. Er, das war einer, der an der Wand gestanden hatte und wenn ich mich nicht fürchterlich täuschte, zu den fünf zählte, die den Saal gerade wieder betreten hatten.

»Wer seid Ihr? Was könnt Ihr zu dem vor diesem Tribunal verhandelten Fall beitragen?«

»Ich bin... Nein, ich war Christiano Varadin, bis mich mein Fürst verbannte.«, ertönte eine unendlich vermisste Stimme. Während Christiano noch sprach, trat er vor, schlug seine Kapuze zurück und enthüllte uns allen sein Gesicht. »Ich kann bezeugen, dass Florian Margaux kein Gefolgsmann Constantin Varadin-Breskoff ist.«

Was? Wie? Warum? Wieso das denn nicht mehr? Ich hatte Flo unter der Brücke nach unseren Regeln gefragt, ob er frei und aus eigenen Willen meinem Banner folgen wollte und er hatte Ja gesagt. Wieso sollte dieses Bündnis nicht mehr gültig sein? Abgesehen davon war er... Oh, Tamir, du alte Ratte. Mein Geschöpf war er nicht mehr. Diese Verbindung wurde durch ein ominöses Ritual gelöst.

»Lüge!«, fauchte van Sanden, der es gar nicht witzig fand, dass ihm erneut die Felle wegzuschwimmen drohten. »Mir wurden eindeutige Beweise zugespielt, dass Constantin Varadin-Breskoff Florian Margaux in sein Haus aufgenommen hat. Wir haben alle das Geständnis selbst gehört. Außerdem ist Christiano nicht nur ein Geschöpf Constantins sondern einer seiner engsten Freunde. Der würde alles für ihn aussagen.«

»Junger Mann«, wandte sich Norfun mit scharfem und prüfendem Blick an Christiano, »Ich hoffe, dass Ihr wisst, was ein Meineid vor diesem Gericht für Euch bedeuten kann. Wenn Ihr behauptet, das Bündnis des Florian Margaux mit dem Haus Varadin-Breskoff würde nicht mehr bestehen, müsst Ihr dies beweisen. Könnt Ihr Eure Aussage beweisen?«

»Ja, das kann ich.«, verkündete Christiano mit fester Stimme, »Seine Heiligkeit Tasmanir Musferatu, Stammvater der Nosferatu des Westens validierte eine Aussage Florian Margaux, die dessen Unabhängigkeit vom Hause Varadin beweist. Ich war der beeidende Zeuge der Validierung.«

Wenn bisher der eine oder andere Clanchef daran gezweifelt hatte, eine wirklich spannende Nacht zu erleben, wurde er spätestens mit dieser Wendung der Geschichte eines besseren belehrt. In dieser Sitzung explodierten die Bomben im Sekundentakt. Aller anwesenden Aufmerksamkeit ruhte auf Christiano und dem, was er zu sagen hatte. Van Sanden kochte. Die Validierung einer Aussage durch einen Nosferatu, zumal durch einen ihrer Stammväter, ließ sich nicht ohne weiteres aus der Welt schaffen. Entsprechend heftig fiel dann auch die Reaktion der Zuschauer dieses Spektakels aus. Jeder hatte von Tasmanir Musferatu, einem der legendären Führer der Nosferatu gehört, obwohl die meisten ihn noch nie zu Gesicht bekommen hatten.

»Oh, wie praktisch«, versuchte van Sanden dann auch Christianos Validierung zu entwerten, »Wie überaus praktisch. Da beruft Ihr Euch auf einen unserer spirituellen Führer und wir armen, weltlichen Kreaturen sollen vor Ehrfurcht erstarren und Euch unreflektiert glauben?«

»Ihr müsst mir nicht glauben«, erwiderte Christiano trocken, wandte sich um und deutete zur Reihe der verhüllten Mönche, »Fragt ihn doch selbst?«

»Äh... Was?«, stammelte der Baron, verstummte dann aber, als er bemerkte, dass es im Saal totenstill geworden war. Die sprichwörtliche Stecknadel hätte einen ziemlichen Krach gemacht, wäre sie auf den Marmorboden gefallen. Egal ob Baron, Baroness, Fürstin, Freifrau oder Graf, ob Marschall, Adjutant oder Sekretär, alle Blicke waren auf die Reihe der vermummten Kuttenträger hinter Norfun gerichtet.

»Tamir?«, hörten wir den bisher so reservierten und formellen Norfun einen vertraulichen Tonfall anschlagen.

»Schon gut«, brummelte es unter einer Kutte, kurz bevor ihr Träger vortrat, die Kapuze zurückschlug und sich an das Auditorium wandte, »Ich bin Tasmanir Musferatu, Stammvater der Nosferatu des Westen. Ich stehe vor euch als Validator und werde die Richtigkeit der Aussage des seinerzeit anwesenden Florian Margaux bestätigen. Christiano Varadin war mein Zeuge und bürgt mit seinem Blut.«

»Dann sprecht, mein Freund!«, forderte ein im Gegensatz zu uns wenig beeindruckter Norfun den Zeugen auf.

Wer von Tasmanir Musferatu eine große Show erwartet hatte, wurde enttäuscht. Er trat genauso schlicht und unprätentiös auf, wie er gekleidet war. Was aber nicht hieß, dass wir seinen Worten nicht umso gespannter lauschten.

»In diesem Prozess verhandeln wir darüber, ob Fürst Constantin einen verdeckten Krieg gegen das Haus Margaux führt. Erlaubt mir eine Frage. Was soll das für ein Krieg sein? Die beiden Jungs lieben sich.« In diesem Moment zuckte van Sanden zusammen und wollte seine Stimme erheben. Doch Tamir winkte ab. »Ich weiß, Baron, ich weiß. Ich kenne unsere Gesetze, auch die schwachsinnigen, und die sind eindeutig. Aber trotzdem musste es gesagt werden, bevor Ihr Euer Urteil fällt. Zurück zum Thema. Ich hatte die Ehre, eine Aussage Florian Margaux validieren also ihren Wahrheitsgehalt bestimmten zu dürfen. Unser ehrenwerter Constantin wird sich sicherlich an den Vorfall erinnern. Es war unmittelbar nach dem Attentat seiner Wagenkolonne, bei dem Fürst Varadin tödlich verletzt wurde. Baron van Sanden, Sie werden sich sicherlich gut daran erinnern, schließlich waren es Ihre Leute, die für das Attentat verantwortlich waren.«

»Das ist eine infame Unterstellung!«, tobte der Baron, wurde aber von Senator Robertson, einem von zwei Vampiren im US-amerikanischen Kongress unterbrochen: »Van Sanden, sparen Sie sich die das. Jeder hier im Saal weiß, dass es Ihre Leute waren.«

»Constantin, wärst du so nett und schilderst uns selbst, was nach dem Attentat passierte?«

Warum nicht? Es dürfte nicht der einzige private Moment bleiben, dessen Schilderung in dieser Nacht sein Publikum finden würde.

»Florian rettete mich. Ich habe ihn nicht darum gebeten. Ich war überhaupt nicht mehr in der Lage dazu. Er wusste, dass es seinen eigenen Tod bedeuten konnte, mir sein Blut zu schenken. Laurentius und Christiano haben ihm abgeraten, ihn angefleht, es nicht zu tun. Aber er wollte es, aus Dankbarkeit, aus Liebe oder einfach, weil Florian der liebste und selbstloseste Mann ist, der mir je begegnete.«

»Fürst Varadin-Breskoff«, wurde Tamir wieder förmlich, nachdem er seiner letzten Frage einen persönlichen Ton verliehen hatte, »stimmt es, dass Sie Florian gegenüber sagten, dass er Ihnen nichts schulde? Wörtlich, dass er frei sei, zu entscheiden, was er wolle?«

Wie konnte ich das vergessen? Natürlich hatte ich es nicht vergessen, aber mir wurde die Bedeutung meiner Worte erst jetzt wirklich klar. Florian schuldete mir in der Tat nichts. Er hatte mein Leben und ich das seinige gerettet. Unser Bund, die Schuld gegenüber dem Haus, wenn man es denn überhaupt als Schuld betrachten wollte, war beglichen. Ja, Florian war ein freier Mann. Tamir, diese Ratte, hatte tatsächlich die Hintertür gefunden, die mich und ihn rettete. Und dabei war es noch nicht einmal ein Trick. Denn was ich Florian sagte, war wirklich ernst gemeint. Es gab wenige Dinge, die ich so ernst wie diesen Satz meinte.

»Ja, das habe ich gesagt!«, bejahte ich deswegen Tamirs Frage und fügte hinzu, »Ich mag Florian gerettet haben, aber auch er rettete mich. Wir retteten uns gegenseitig. Ja, ich gab ihn frei, erlaubte ihm, sich frei zu entscheiden, was er wollte. Und er entschied sich für mich. Nicht als seinen Fürst, sondern als seinen Freund, Partner und Geliebten, wofür ich ihm ewig dankbar sein werde.«

Ich konnte nur hoffen, dass Florian meine Gefühlsduseleien nicht hörte, denn peinlicher konnte es kaum noch werden. Es verwunderte daher auch nicht, dass van Sanden die Augen verdrehte.

»Mein lieber Fürst Varadin, Sie haben Ihren Beruf verfehlt. Sie hätten Autor von Liebesromanen werden sollen!«, lachte mich der Baron aus. Im Auditorium fiel die Resonanz auf meine Beichte wesentlich vielfältiger aus. Natürlich gab es eine ganze Reihe Stammväter und auch Stammmütter, die mit dem Kopf schüttelten und »Was für ein Kitsch!« murmelten. Andere, wie zum Beispiel Tante Charlotte, schauten mich verträumt oder berührt an. Der Baron war aber noch nicht fertig: »Nun, Eure Beteuerungen mögen schön und gut sein, aber ehrlich gesagt fehlt mir etwas. Die ganze Zeit reden wir über diesen ominösen Florian Margaux. Wo ist er denn? Ich kann ihn nicht sehen. Es tut mir leid, wenn ich erneut den Spielverderber spielen und die romantische Stimmung stören muss. Der Kodex ist eindeutig. Florian Margaux muss hier vor unserem Hohen Rat bezeugen, dass er kein Angehöriger Eures Hauses ist. Bis dahin steht jedem Mitglied des Rates das Recht zu, in seinem Namen zu klagen, was ich hiermit nochmals wiederhole. Eure Aussage kann und darf nicht verwertet werden, da Ihr der Beklagte seid. Selbst Christiano Varadins Zeugnis einer vom ehrenwerten und heiligen Tasmanir Musferatu validierten Aussage kann nicht verwendet werden. Christiano ist Euer Geschöpf, ein Kind Eures Hauses.«

»Nein, ich bin ein Verbannter!«, korrigierte Christiano sofort, »Ich wurde aus dem Hause Varadin ausgestoßen. Mich in den Räumen des Hauses aufzuhalten, ist mir verboten und wird mit dem Tode bestraft. Dass ich hier und jetzt zu Euch sprechen kann, verdanke ich seiner Heiligkeit unter dessen diplomatischem Schutz ich zurzeit stehe.«

»Also bitte, dieses Märchen glaubt Euch nicht mal meine Großmutter! Wie lange wird denn diese Verbannung noch gelten, wenn diese Sitzung erst vorüber ist? Fünf Minuten? Eine Stunde? Oder vielleicht doch einen ganzen Tag?«

Zu behaupten, Baron van Sanden wäre ein leichter Gegner hieße, ihn deutlich zu unterschätzen. Wir mochten uns in der Vergangenheit in allen wichtigen und vor allem essenziellen Auseinandersetzungen gegen ihn durchgesetzt haben, nur war fast immer eine gehörige Portion Glück dabei. Dass die Einschläge näherkamen und er sich ziemlich gut auf uns einschoss, konnte jeder am Beispiel des Tribunals wegen Breskoffs Tod sehen, bei dem der Baron ebenfalls wie jetzt die Anklage geführt hatte. Damals konnte ich mich nur durch einen zwar völlig legitimen aber deswegen nicht minder abwegigen und vor allem hochriskanten Trick retten, der genauso gut in etwas weitaus schlimmerem als dem Tod hätte enden können. Die Frage, wie ernst ich es wirklich mit Christianos Verbannung meinte, zeigte erneut, wie gefährlich der Mann war. Er hatte natürlich vollkommen Recht. Bei einem planmäßigen Verlauf der Ratssitzung hätte eine meiner ersten Amtshandlungen als König aller Vampire darin bestanden, Christiano zu begnadigen und in einem Akt von Güte und Barmherzigkeit meinen verlorenen Sohn wieder in meine Familie aufgenommen. Genau solche Dinge erwarteten die Hohen Häuser von einem Frühstücksdirektor, wie unser König einer war.

Van Sanden hatte mit seiner Frage genau diese Planung durchkreuzt. Würde ich meinen Freund jetzt offiziell begnadigen, sähe es nicht mehr wie ein Akt der Barmherzigkeit sondern sehr nach einem abgekarteten Spiel aus, was es im Prinzip ja auch war. Inzwischen dürften van Sandens Spione ein ziemlich genaues Bild von den Vorgängen in meinem Haus gewonnen haben und wissen, dass Christianos Verbannung einzig den beiden Zwecken diente, einerseits den Spion in unseren Reihen in Sicherheit zu wiegen und andererseits meinen Florian zu beschützen. Die erste Aufgabe war bereits erledigt und die zweite stand unmittelbar davor, es ebenfalls zu sein. Es sprach also nichts dagegen, Christiano wieder ins Haus zu holen – bis eben. Jetzt sprach seine Glaubwürdigkeit dagegen oder genau, der Verlust selbiger. Da mochte Tamir noch so sehr Florians Aussage validieren. Christianos Aussage als notwendiger Zeuge dieser Validierung verwandelte sich in dem Moment in nasses Klopapier, sobald ich ihn offiziell begnadigte. Jeder wusste es: Tamir, van Sanden, ich, aber vor allem auch mein engster, liebster und wichtigster Freund – Christiano.

Es gibt ein Verhalten, das sich nicht mit so profanen Dingen wie Loyalität erklären lässt. Ich sah Christiano an, schaute ihm in die Augen und wusste nicht nur, was er dachte, sondern auch, wie er wollte, dass ich auf van Sanden reagieren sollte, nämlich seinen Anschuldigungen den Boden entziehen, wohl wissend, welchen Preis wir dafür bezahlen mussten. Von fast allen unbemerkt griff ich zum Knie des neben mir sitzenden Simon und drückte es. Abgesehen von Christiano dürfte ihn meine Entscheidung am härtesten treffen.

»Eine Begnadigung Christiano Varadins steht in absehbarer Zeit nicht zur Diskussion«, verkündete ich mit eiskalter Stimme. Nur meine Augen, die fest auf Christiano gerichtet waren, sagten etwas anderes. Sie flehten ihn an und baten um Verzeihung. Und wie reagierte mein tapferer Spion? Er nickte zufrieden.

»Damit, Baron, sollte die Glaubwürdigkeit des Zeugen außer Zweifel stehen?«, fasste Norfun das Ergebnis in Form einer Frage zusammen, »Florian Margaux ist ein freier Mann und nicht an das Haus Varadin-Breskoff gebunden. Das Recht auf Klage wegen regelwidriger Kriegsführung fällt nur ihm zu. Die stellvertretende Klageerhebung durch einen Vertreter der Hohen Häuser ist obsolet.«

»Einen Moment, Herr Vorsitzender«, eins musste man van Sanden lassen, er war zäh, »Das Stellvertretungsrecht wäre nur dann hinfällig, wenn der betreffende Stammvater oder die betreffende Stammmutter Mitglied dieses Hohen Hauses wäre. Allerdings kann ich keinen Vertreter des Hauses Margaux erkennen. Ich frage Eure Heiligkeit, Präsenz der Synode, wo ist Großherzog Florian Margaux sûr Rhone?«

Erdblut

Florian

Ja, wo war Großherzog Florian Margaux sûr Rhone? Ich weiß, wo er war. Ich stand im doppelten Sinne mit dem Rücken zur Wand, nämlich einerseits ganz real an der Wand des Festsaals hinter Norfun in einer Reihe mit den Nosferatu, Marco und Nicolas. Doch viel mehr stand ich im übertragenen Sinne mit dem Rücken zur Wand. Denn wieder einmal, zwang jemand anderes mich zu einer Entscheidung. Ich konnte schweigen und zusehen, wie Baron van Sanden aller Wahrscheinlichkeit nach seinen Fall gegen Constantin doch noch gewann. Oder ich konnte vortreten, die Kapuze meiner Kutte zurückschlagen und mich zu erkennen geben.

Worauf wartete ich? Die Entscheidung war längst gefallen. Nicht während dieser Sitzung, nicht während wir uns zusammen mit Tamir einen Schlachtplan zurechtlegten. Sie war bereits gefallen, als ich Constantin das erste Mal begegnete. Schon damals, als blonder, schüchterner, ängstlicher, weinerlicher, ja jämmerlicher Tischlergeselle, der zusammen mit einem ihn quälenden Meister namens Momsen die Schäden eines Rohrbruchs beseitigte, wurde über diesen Moment entschieden.

Der Saal war still. Van Sandens Stimme war verklungen. Die Spannung im Raum war greifbar. Mehr als ein Mitglied hielt den Atem an. Einige beugten sich sogar vor, wandten sich zu ihren Nachbarn. Forschend und suchend wanderten ihre Blicke die Reihen ab. Doch nichts geschah, denn ich regte mich nicht. Dabei bestand meine Absicht gar nicht darin, die Ratsmitglieder zappeln zu lassen. Ich hatte schlicht und ergreifend Angst. Trat ich jetzt vor und verließ ich die Reihe der Nosferatu, bedeutete es das Ende meines bisherigen Lebens. Denn dann war ich...

»Ich bin Großherzog Florian Margaux sûr Rhone«

Meine Stimme zerriss die angespannte Stille wie ein Donnerschlag. Mein erster Schritt war noch unsicher, ängstlich und leicht zitternd. Der nächste Schritt schon fester. Beim dritten Schritt auf den Weg in die Mitte des Saals richtete ich mich auf und nahm Haltung an. Im Verlauf des vierten und fünften schlug ich die Kapuze der Kutte zurück und erlaubte dem Rat einen Blick auf mein Gesicht. Während sechs, sieben, acht und neun legte ich die Kutte ganz ab und präsentierte mich dem Rat so wie ich war, als einer der Ihren. Aufrecht, mit erhobenem Haupt und klarem Blick wandte ich mich an Norfun.

»Bruder Norfun«, wählte ich eine Anrede, die bei jedem anderen als Unverschämtheit betrachtet worden wäre. Nicht so bei mir. Norfun stutzte einen Moment, erkannte dann aber den Nosferatu in mir. Mit einem wohlwollenden Nicken gab er mir zu verstehen, dass er meine Form der Anrede nicht nur akzeptierte, sondern sogar begrüßte.

»Verehrte Stammmütter und Stammväter, Hoher Rat«, fuhr ich fort, »Ihr habt nach mir gerufen. Hier bin ich und stehe Euch zu Diensten.«

»Aber der ist ja noch ein Kind«, ertönte ein erster Kommentar und ließ mich schmunzeln.

»Ein Kind? Ich sage eine Göre! Habt ihr nicht gehört, wie er seine Heiligkeit angesprochen hat?«, setzte eine Stimme nach und trat damit eine wilde Diskussion um meine Person und mein vermeintlich ungebührliches Verhalten los.

»Genug!«, brüllte van Sanden nachdem er mich ganz genau studiert hatte und brachte die Stimme der anderen zum Verstummen, »Dieser Bursche ist nicht nur ein Kind, er ist einer von uns. Sagt, Florian Margaux, wer hat Euch erweckt, wer ist Euer Stammvater?«

Bis zur Ratssitzung kannte ich Baron van Sanden nur aus den Schilderungen meiner Freunde, vornehmlich durch Christiano und hatte ein eher diffuses Bild vom wichtigsten Gegenspieler meines Geliebten entwickelt. Danach hatte ich mir einen fiesen Widerling vorgestellt, der geifernd mit Gehässigkeiten um sich warf und von Ehrgeiz und Neid zerfressen war. Das Bild war so falsch wie klischeehaft und wohl mehr aus dem Wunsch entstanden, einen Gegner Constantins einfach nicht akzeptieren zu wollen. Liebe macht eben nicht nur blind, sondern auch fehlsichtig. Im elektrischen Licht der Realität des Ratssaals erkannte ich einen Mann, der selbstredend engagiert und auch ehrgeizig war, aber eben auch kultiviert, fokussiert und auf keinen Fall verbissen. Vielleicht hatte er auch einfach nur dazugelernt. Sein Ausfall nach dem Tribunal, als er Constantin entgegen dem Spruch Tamirs doch noch auf dem Richtstuhl umbringen wollte, zeichnete kein wirklich sympathisches Bild. Allerdings war ich nicht selbst dabei gewesen und kannte die Umstände nicht. So sehr ich in Baron van Sanden das Böse sehen wollte, so wenig gelang es mir. Er war schlicht ein Gegner aus Überzeugung, aber nicht aus niederen Motiven.

Aus dieser wichtigen Erkenntnis folgte unmittelbar eine weitere. Baron van Sanden konnte unmöglich Momsens heimlicher Gönner sein. Der eigentliche Feind, wenn man ihn mit diesem Begriff wirklich bezeichnen wollte, hielt sich weiterhin bedeckt.

»Ich bin der Stammvater des Hauses Margaux sûr Rhone.«, beantwortete ich die erste Hälfte der Frage, wartete ein paar Sekunden, in denen ich dem Saal Zeit gab, sich auf mich zu konzentrieren, und ließ die Bombe platzen, »Ich bin ein Hati und Nosferat, ein gebürtiger Vampir.«

»Lüge!«, verlor van Sanden seine Beherrschung und zeigte dann doch eine weniger kultivierte Seite seines Charakters, »Ihr wart ein Mensch! Dafür gibt es Beweise. Ich warne Euch, Ich steht vor dem Hohen Rat unserer Art. Versucht wenigstens, ihm den Respekt zu zollen, der ihm zusteht!«

»Also gut«, erwiderte ich ruhig und tat dann etwas, was mich selbst am meisten überraschte. Der Rest des Saals dürfte nämlich weniger überrascht, als entsetzt gewesen sein. Ich enthüllte mich. Ich ließ mein Monster, den Urvampir in mir, den Jäger die Kontrolle über meinen Körper übernehmen und verwandelte mich in meine Urform. Meine langen blonden Haare wurden zur Mähne eines Löwen. Unter Krachen und Ploppen transformierte sich mein Körper. Aus meinen Händen wurden Pranken, aus meinem Mund eine Schnauze mit rasiermesserscharfen Reißzähnen. Mein Körper war mit einem blonden, zotteligen Fell bedeckt. Meine Füße wurden zu Tatzen mit ausfahrbaren Krallen.

Die Reaktion der direkt in meiner Umgebung befindlichen Personen war interessant und zeigte eine erstaunliche Bandbreite. Tamir nickte zufrieden, was mich vermuten ließ, dass er meine Shownummer gelungen fand. Von allen Anwesenden hatten bisher nur er und Nicolas mich in dieser Form gesehen. Hoffentlich versetzte ich Marco nicht in Angst und Schrecken. Der Baron war sichtlich überrascht und beeindruckt, aber nicht so sehr, dass er sein Ziel aus dem Auge verlor. Wenn ich ihn richtig einschätzte, nahm er meine Identität als gebürtigen Vampir zur Kenntnis. Er respektierte sie, doch bevor er darauf reagierte, schien er genau zu überlegen, welche Konsequenzen sich daraus ergaben.

Aber all diese Reaktionen waren für mich bedeutungslos. Es gab nur eine, die mir wirklich wichtig war: Constantins. Ich hatte alles um mich herum ausgeblendet. Meine Augen kannten nur ein Ziel. Mein Blick ruhte auf nur einem Mann, dem Mann, den ich bisher meinen Geliebten nannte – bisher.

Doch hatte sich so viel geändert. Verstand er, was ich war? Konnte er es akzeptieren? Was dachte er, wenn er mich so sah, als löwenartiges Monster? War ich für ihn immer noch der Florian, in den er sich verliebt hatte? Denn ich liebte ihn, mehr denn je, und das obwohl ich nicht mehr seinem Blut angehörte. Es gab niemand anderen, der dieses Verlangen bei mir auslöste, wie dieser Mann. Christiano hatte mir Freundschaft gezeigt, aber Constantin, das war Liebe, so unlogisch, ungreifbar und unerklärbar sie auch sein mochte.

Constantin?

Jemand sprach mich an. Ich glaube, es war Norfun, aber ich hörte ihn nicht. Ich hatte nur Augen für Constantin.

Constantin?

Er... Er lächelte nicht. Er sah mich an und...

»Großherzog Margaux?«

Fuck! Norfun wurde laut, während van Sanden sich zwischen mich und Constantin geschoben hatte.

»Oh, entschuldigt bitte. Wie war die Frage?«

Der abschätzige Blick, mit dem mich der Baron bedachte, war ziemlich anmaßend. Aber in meinem momentanen Körper ließen mich derartige Versuche, mich zu provozieren, vollkommen kalt.

»Ihr seid also ein gebürtiger Vampir. Somit existieren also doch noch zwei reine Blutlinien.«, meinte der Baron, »Entschuldigt, wenn ich trotzdem Eure Geduld strapazieren muss, aber soweit ich informiert bin, wurdet Ihr nicht als einer von uns geboren. Wer hat Euch verwandelt?«

»Das war ich!«, rief Constantin und gab mir keine Chance, selbst zu antworten, »Ich habe Florian verwandelt. Er ist...«

»Entschuldigt«, schnitt ihm van Sanden das Wort ab, »Aber in diesem Fall mag Großherzog Florian Margaux zwar nicht mehr in Eurem Dienst stehen, doch ist er von Eurem Blute und damit nicht berechtigt, Klage gegen Euch zu führen. Es schmerzt mich, erneut darauf hinweisen zu müssen, aber Gesetz ist Gesetz und unseres ist absolut eindeutig. Fürst Constantin Varadin, Ihr habe euch des zweifachen Verbrechens eines heimliches Krieges schuldig gemacht und ich, Baron van Sanden, klage Euch an.«

Ein Terrier! Jetzt wusste ich, woran mich dieser Mann erinnerte, an einen Terrier, der, einmal festgebissen, sein Opfer nicht mehr losließ. Zum Glück war ich vorbereitet. Tamir hatte genau diese Situation mit uns mehrfach durchgespielt. Die nächsten Worte beherrschte ich im Schlaf.

»Eure Heiligkeit, Bruder Norfun, mit Eurer Erlaubnis und der des Hohen Rates: Ich bin Florian Margaux sûr Rhone. Ich stehe vor Euch als mein eigener Herr im freien Blute. Nicolas, bitte!«

»Aber das...«, wollte sich Terrier van Sanden erneut echauffieren, bemerkte dann aber den strafenden Blick Norfuns und schwieg. Nicht so der Ratssaal, den eine zunehmende Unruhe ergriff. Köpfe reckten sich über andere Köpfe, versuchten an ihnen vorbeizuschauen, um zu sehen, was sich im Zentrum des großen Us des Sitzungssaals tat. Ein weiterer vermeintlicher Nosferatu war vorgetreten und hatte seine Kapuze zurückgeschlagen. Diesem nahm man sogar noch ab, ein Nosferatu zu sein. Jedenfalls erinnerte er stark an einen, was bei Nicolas natürlich nicht verwunderte. Mein Ritter trat auf mich zu und reichte mir eine Phiole in der eine tiefschwarze, viskose Flüssigkeit hin und her schwappte.

»Ihr wisst, was dies ist?«, fragte ich direkt den sonst so wortgewandten Baron. Dem hatte es aber die Sprache verschlagen. Mit bleicher Miene und panischem Blick starrte er auf die Flüssigkeit.

»Ja«, stammelte mein Gegenüber, »Es... es ist Erdblut.«

Mindestens ein Mitglied des Rates schrie entsetzt auf. Während eben noch alle genau sehen wollten, was sich zwischen van Sanden und mir tat, hatte ich jetzt das Gefühl, der gesamte Saal wollte vor uns zurückweichen, einschließlich des Barons.

»Worüber diskutieren wir eigentlich?«, fragte ich van Sanden, um mich dann aber allen Ratsmitgliedern zuzuwenden, »Diskutieren wir darüber, ob Constantin Varadin mich in sein Haus aufgenommen hat oder mich in einen von euch verwandelte? Nein, denn er gibt es zu. Er hat zu keinem Zeitpunkt bestritten, die ihm zur Last gelegten Taten begangen zu haben. Aber was sind das für Taten? Wollt ihr wirklich einen der nobelsten, gütigsten, liebenswürdigsten und barmherzigsten Mitglieder dieses Rates dafür bestrafen, mich gerettet zu haben? War es wirklich der Wille unserer Gesetzesväter, einen Akt der Liebe zu bestrafen? Nun, ich will euch die Mühe einer Antwort ersparen. Ich werde euch beweisen, dass ich niemandes Knecht bin.«

Erdblut – wenige Personen im Festsaal, wie Tamir und Petrus, kannten diese Substanz so gut wie Nicolas und ich. Hassten sie so wie wir und liebten sie so wie wir. Erdblut, das war der Kern des Servius-Novatin Rituals. Erdblut, das war Yin und Yang, Leben und Tod, Existenz und Nirwana, Lüge und Wahrheit. Erdblut war Substanz gewordener Vampirismus. Die Gründer der Bruderschaft der grauen Nebel hatten ihr Kloster über einer der wenigen natürlichen Quellen errichtet. Es war ihre Aufgabe, ihre Passion, diese Quelle, diesen Schatz zu bewahren und zu behüten. Erdblut war kostbar. Kostbarer als Diamanten, als Gold und Platin. Selbst Tinte für Tintenstrahldrucker konnte es im Wert nicht mit Erdblut aufnehmen, denn dieser war primär virtueller Natur. Für Menschen war Erdblut vollkommen uninteressant. Längerer Kontakt konnte einen leicht juckenden Hautausschlag verursachen und führte in seltenen Fällen zu Durchfall. Für uns Vampire und Nosferatu hingegen reichte die Wirkung von lebensspendend bis absolut tödlich.

In allen Bädern des Klosters enthielt das Quellwasser Spuren von Erdblut. In dieser schwachen Konzentration wirkte es belebend, anregend und besaß sogar heilende Wirkung, etwa gegen Fußpilz und andere kleine Wehwehchen. Die Nosferatu der Bruderschaft der grauen Nebel hatten in ihrer jahrtausendalten Geschichte eine ganze Reihe von Medikamenten aus Erdblut entwickelt, die speziell auf unsere sehr eigene und ungewöhnliche Physis abgestimmt waren. Hämophagische Biologie war in keiner Weise mit menschlicher vergleichbar, zumal eine ordentliche Portion Magie darin steckte. Als Blutsauger waren wir gegen eigentlich alle menschlichen Krankheiten immun, wurden dafür aber von anderen Leiden gequält.

Während Erdblut als Inhaltstoff aller möglichen Elixiere, Tinkturen, Pülverchen, Tränke, Tabletten, Dragees und sogar Zäpfchen vielfältige Anwendung fand, ließen sich die Nutzungsbereiche reinen, konzentrierten Erdbluts an einer Hand abzählen. Die drastischste war das Servius-Novatin Ritual. Die zweitdrastischste plante ich vor den Augen aller Ratsmitglieder zu vollziehen. Ich entfernte die golddurchwirkte Kordel, mit der der Glasschliffstopfen der Phiole gesichert war, entfernte vorsichtig den Verschluss, betrachtete nochmals kurz die Mitglieder des Rates, fixierte dann Constantin mit meinen Augen und verkündete: »Ich bin Florian Margaux, ein freier Vampir«. Daraufhin setzte ich ohne den Blickkontakt abbrechen zu lassen die Phiole an meinen Mund, trank die tiefschwarze Flüssigkeit – Schatz und Bürde – und betete zu mir selbst, dass der Mann, den ich liebte begriff, was ich mir erhoffte. Dies war meine letzte Prüfung. Genau so, wie es Bruder Theodor vorhergesagt hatte.


Sich verlieren – sich finden – Wissen, warum man existiert.

Nicolas, die Ersten, auf alle Fälle Christiano, Constantin, Simon, sogar Marco und der quirlige Blutspender Tommi hatten mir etwas gezeigt, was ich bis vor kurzem nicht kannte: Freundschaft und Liebe.

Worin bestand das Geheimnis, den Servius-Novatin zu überleben und sich nicht zu verlieren im Nichts der Schwärze des Bluts der Erde?

Ein Anker ¬– Hoffnung – Wille – Liebe

Erdblut erlaubt keine Lüge. Erdblut ist brutal, grausam und erbarmungslos. Er zersetzt dich, es löst dich auf. Erdblut ist eine Säure für den Geist. Scheidewasser der Seele wurde es genannt. Denn genauso wie Salpetersäure vulgo Scheidewasser edle Metalle nicht angreift, aber die unedlen auflöst, trennt Erdblut edle und unedle Gedanken, Überzeugungen und Gefühle.

Im Erdblut bist du nichts. Nur deine Gedanken, dein Verlangen, dein Lebenswille kann dich retten. Aber nur, wenn du ein Ziel hast, von dem du selbst überzeugt bist, dass es sich dafür lohnt, zu leben.

Alles andere führt in unendliche, unumkehrbare Dunkelheit.

Liebe, Vertrauen und Hoffnung

Constantin

»Ich bin Florian Margaux, ein freier Vampir«

Ich hörte mich schreien. Florian setzte die Phiole voller tödlichem Erdblut an seine Lippen und trank das Teufelszeug in einem Zug aus. Blankes Entsetzen erfasste den Saal. Mehrere Stammväter brüllten, dass Tamir oder Norfun etwas unternehmen sollten, um den armen Jungen zu retten. Doch die blieben erstaunlich gelassen. Ganz im Gegensatz zu mir. Ich war wie gelähmt, unfähig, mich zu regen, bis auf den einen markerschütternden Schrei.

Bitte, Florian, verlasse mich nicht! Ich brauche dich! Ich kann nicht ohne dich leben. Du gibst mir Kraft. Du verleihst mir Stärke.

Meine Augen füllten sich mit Tränen. Von den tumultartigen Szenen, die in den Reihen der Vertreter der Häuser ausbrachen, bekam ich kaum etwas mit. Meine Wahrnehmung schrumpfte auf das Bild Florians zusammen. So bemerkte ich genauso wenig, dass mir Laurentius seine Hand auf die Schulter legte, wie dass der Vampir oder Nosferatu mit dem Namen Nicolas etwas ähnliches bei Florian tat. Er griff nach seinem Handgelenk und packte es fest, fast brutal.

Florian, Bitte...

»Habe keine Angst«

Er sah mich an! Florian sah mich an. Er blickte nicht einfach in meine Richtung, sondern schaute mich an. Blickte mir tief in die Augen.

»Ich liebe dich, Constantin Varadin«

Seine Stimme war in mir. Sie war stark, kraftvoll, ja geradezu urgewaltig und entsprach ganz seiner vampirischen Urform. Florians Lippen bewegten sich nicht, trotzdem hörte ich seine Stimme in mir. Es war nicht dieses telepathische stimmlose Wispern, wie mit Simon oder Christiano, sondern eine richtig kraftvolle Stimme, die meinen ganzen Körper erfüllte.

Dieser Blick...

Er bohrte sich in mich hinein, in meinen Verstand. Die brutale Kraft des Erdbluts hatte Florian voll erfasst. Wenn auch nur ein Bruchteil der Gerüchte zutraf, die über diese Teufelsplörre kursierten, litt der Mann Höllenqualen, die locker mit meiner Mikrowellengrillparty mithalten konnten, wenn sie diese nicht sogar überstiegen. Doch Florian stand einfach nur da. Regungslos, bis auf ein ganz feines Vibrieren, das seine Muskeln erfasst hatte und ahnen ließ, was er gerade ertrug. Zu allem Überfluss begannen sich seine Augen auch noch schwarz zu verfärben. Tiefschwarze, glänzende Augäpfel ohne Struktur oder Konturen zierten seinen Schädel und trotzdem fühlte ich, wie er mich ansah, mich anflehte...

Diese Sehnsucht...

»Ja!«, brüllte ich plötzlich in meinen Gedanken, nachdem es in meinem Kopf Klick gemacht hat. Ich wusste, dass er mich hören konnte, denn er war, wenn auch nicht körperlich, in mir. »Ja, Florian Margaux, ja, ja, ja. Ich liebe dich! Ich will dich! Ich brauch dich! Bitte, komm zurück! Komm zu mir zurück!«

Und das brach den Bann. Ich erhob mich, wenn auch eher schlafwandlerisch. Während andere zurückwichen, um einen möglichst großen Abstand zwischen sich und den erdblutverseuchten Blutsauger zu schaffen, ging ich die Handvoll Schritte bis zu meinem Liebsten und nahm ihn in meine Arme. Ich hatte keine Angst. Nicht vor Florian, dessen Zähne meinen Hals berührten, zustachen und tief in mich eindrangen. Flüssiges, glühendheißes Eis, geschmolzenes Blei, flüssiger Stickstoff schoss in meine Blutbahn und mit ihm alles, was Florian für mich empfand. Es war mehr als einfach nur überwältigend und kaum zu verkraften. Was das auch immer für ein Teufelszeug sein mochte, dieses Erdblut, es verstand sehr gut, wie man jemand in die Mangel nahm, indem es mich Florians bedingungslose Liebe in jeder Faser meines Körpers spüren ließ.

»Du musst es zurückgeben...«

Leise geflüsterte Worte drangen an mein Ohr und sehr langsam in meinen Verstand. Ich schwelgte gleichzeitig im siebten Himmel und im neunten Kreis der Hölle. Mein Körper brannte, mein Geist stand in Flammen. Ja, Florian, ja!

Ich biss zu und gab diesem liebsten aller Männer das zurück, was er mir an Liebe und Freundschaft geschenkt hatte. Für einen Moment wurden wir eins. Das Erdblut schuf eine Verbindung zwischen uns, die über alles mir bekannte hinausging. Ich fühlte, wie zwischen uns ein Bund jenseits von Sterblichkeit und Unsterblichkeit geknüpft wurde.

Ich glaube, wir hätten ewig so aneinander gebunden, wechselseitig von uns trinkend, im Ratssaal stehen können, hätte das Erdblut nicht seine eigenen Pläne gehabt. Ohne Anstoß trennten wir uns voneinander. Kurze Zeit später begann ein merkwürdiger Geschmack meinen Mund auszufüllen. Ich wollte gerade meine gute Kinderstube vergessen und die seltsam metallisch und klebrige Substanz ausspucken, als Nicolas nach meiner Hand griff und mir die Phiole reichte. Ich setzte sie an meine Lippen und sofort, als wenn das Zeug in meinem Mund wusste, was ich tat, strömte es von selbst in das Glasgefäß. Ein paar Sekunden später war alles vorbei und die kleine Flasche mit schwarz glänzendem Erdblut gefüllt.

»Ich sehe, du verstehst es jetzt?«, bemerkte Tamir leise.

»Ja, ich glaube schon.«, erwiderte ich leise, drückte den in meinen Armen liegenden Florian an mich und gab den löwenartigen Monster einen sinnlichen Kuss, woraufhin mein Schatz begann, sich zurückzuverwandeln. Noch bevor er nackt vor dem versammelten vampirischen Adelsstand stand, hatte Nicolas ihm eine Kutte übergeworfen.

Langsam fiel mir wieder ein, wo wir waren und aus welchem Grund wir zusammengekommen waren. Baron van Sanden stand etwas abseits, wirkte im Gegensatz zu den meisten anderen Stammvätern aber bei weitem nicht so geschockt, sondern ziemlich abgeklärt. Kaum war die Phiole mit dem schwarzen Zeug wieder sicher verschlossen und in den Untiefen der Kutte Nicolas verschwunden, ging er auf Florian und mich zu und erhob seine Stimme.

»Wie dramatisch! Wie überaus dramatisch!« Der Mann klang sarkastisch. »Für diese Vorführung solltet ihr Eintritt verlangen. Irgendeinem drittklassigen Varieté wird die Nummer bestimmt gefallen. Mir beweist sie nur, dass ich Recht habe: Ihr zwei seid Herr und Knecht.«

»Van Sanden, Shut up!«

Damit hatte wohl niemand gerechnet. Ausgerechnet Lord Peter Bromley schnitt van Sanden das Wort ab. Wer sich die Mühe machte, sich die Miene des sonst so stoischen englischen Gentleman anzusehen, erkannte eines: Lord Peter war not amused!

»Was?«, schnappte der Gestoppte.

»Sie sollen die Klappe halten!«, rief Tante Charlotte wenig damenhaft, »Kasi, Schätzchen, lass es einfach gut sein.«

»Verdammt«, brüllte Kasi Schätzchen, »Könnte jemand die Güte haben, mich aufzuklären?«

»Lesen Sie die alten Texte«, riet Lord Peter, »Was fällt Ihnen zum Begriff Hochzeit des Blutes ein?«

Völlig entgeistert glotzte der Baron mich an, dann Florian, wieder mich, wieder Florian, Lord Bromley, Tamir, Tante Charlotte, Norfun und wieder uns beide.

»Soll das heißen...«, traute er sich nicht, die Frage zu Ende zu formulieren.

»Ja, es bedeutet genau das. Florian und Constantin haben soeben den heiligen ewigen Bund des Blutes geschlossen, der ursprünglichsten Form der vampirischen Hochzeit, geknüpft und besiegelt durch das heilige Blut der Erde. Es wurde, wenn Sie so wollen, ein Gottesurteil gesprochen. Der Ritus, den die beiden eben vollzogen haben, hätte beide getötet, wäre ihr Bekenntnis zueinander nicht frei, gleich und unabhängig erfolgt.«, erläuterte Lord Bromley ruhig und wieder ganz der Gentleman, »Mit anderen Worten: Ihr Recht auf Klage ist hinfällig, denn Ihre Argumente wurden widerlegt. Als Ratsmitglied stimme ich deswegen gegen Ihre Klage. Außerdem gratuliere ich dem jungen Paar.«

Das war's. Ein Ratsmitglied nach dem anderen erhob sich von seinem Sitz und gab sein Urteil zum vorgetragenen Klagerecht gegen mich, Constantin Varadin-Breskoff ab. Es lautete einstimmig, bis auf van Sanden, auf abgelehnt.

»Also gut«, nickte der Baron, der wusste, wann er geschlagen war, »Ich ziehe meine Klage zurück.«

»So wurde es vernommen«, verkündete Norfun.

Hieß das, wir waren gerettet?


Was folgte war Routine. Ich glaube, die Ratsmitglieder, Stammmütter und Stammväter der Hohen Häuser waren froh, sich nach der Aufregung der letzten Stunde an die bewährten, langweiligen Formalismen einer Tagesordnung klammern zu können. Wer kennt das nicht: TOP 1 – Begrüßung durch den Vorsitzenden, Eröffnung der Sitzung mit Feststellung der Beschlussfähigkeit, TOP 2 – Anträge an die Geschäftsordnung, TOP 3 – Bestätigung des Anspruchs Fürst Constantin Varadin-Breskoffs auf die Krone. An dieser Stelle waren wir hängengeblieben. Wenn die Nosferatu wirklich etwas konnten, dann Sitzungen leiten.

»In Ergänzung der Tagesordnung«, fuhr Norfun dann auch unbeeindruckt von den bisherigen Ereignissen mit der Sitzung fort, »Möchte ich Großherzog Florian Margaux sûr Rhone im Kreis des Hohen Rates willkommen heißen und ihn bitten, wie auch alle anderen Mitglieder des Rates Platz zu nehmen.«

Der Seitenhieb ging an van Sanden und mich, die nach wie vor wie Falschbier inmitten des Plenums standen. Genaugenommen hielt ich Florians Hand und wollte sie eigentlich nicht loslassen, hätte ihr Eigentümer nicht die meine getätschelt und leise »Später!« geflüstert. Also trollte ich mich zurück auf meinen Platz und sah zu, wie Florian, Nicolas und noch ein weiterer Vampir aus den Reihe hinter Norfun am freien Tisch in der ersten Reihe Platz nahm.

»Ich nehme freiwillig ein Sonnenbad«, knurrte Laurentius, »wenn Tamir bei alldem nicht wieder seine Finger im Spiel hatte.«

»Feigling«, raunte Lydia ihm zu, »Wetten auf sichere Plätze sind keine Wetten. Mein Gott, wer hätte gedacht, dass in dem Kerlchen ein Großherzog steckt. Und ich hätte ihn fast zum Abendbrot vernascht. Entschuldige Constantin, aber ich wusste nicht, dass er dein Schnuckel war.«

»Wir alle wussten damals zu wenig.«, erklärte ich kryptisch. Mich bewegte etwas anderes, eine Frage, die ich mir bisher nie gestellt hatte: Erfüllten wir tatsächlich unser Schicksal, war unser Handeln und die sich daraus ergebenen Folgen vorbestimmt oder waren wir unseres eigenen Glückes Schmied? Dies war eine gewagte Frage für einen Vampir, der bisher nach dem Motto carpe noctem – Nutze die Nacht – lebte.

»Hohe Mitglieder des Rates«, nahm Norfun die Sitzung wieder auf. »Großherzog Margaux, Bruder Florian« Warum nannte Norfun meinen Flo Bruder? »Ihr habt die Klage Baron van Sandens vernommen. Sein Recht auf Klage wurde verneint. Als freier Mann, Stammvater eines Hauses, liegt das Recht, Klage zu erheben gegen Fürst Varadin-Breskoff bei Euch. Wollt Ihr Klage erheben?«

»Das ist ein Witz, oder?«, Florians vollkommen entgeisterter Gesichtsausdruck war unbeschreiblich und brachte mehr als ein Ratsmitglied zum Schmunzeln. »Natürlich will ich keine Klage erheben. Falls es niemandem aufgefallen sein sollte, aber ich bin mit dem Mann gerade vor aller Welt den ewigen Bund eingegangen.«

»Oh, keine Sorge, es ist uns aufgefallen.«, Norfun schüttelte den Kopf und musste selbst über die Absurdität seiner Frage schmunzeln. »Wenn unserer neues Ratsmitglied Bruder Florian erlaubt, möchte ich eine weitere Frage stellen.«

Süß, Florian wurde rot. Lernte er etwa gerade auf die harte Tour, dass es nie eine gute Idee war, einen Nosferatu zu provozieren, auch wenn dies nur scherzhaft gemeint war?

»Nun gut, ich werte Euer Schweigen als Zustimmung.«, setzte Norfun noch einen drauf. »Fürst Varadin-Breskoff, es wird keine Anklage gegen Euch erhoben. Erlaubt mir eine persönliche Anmerkung. Ich stimme dem weisen Tasmanir Musferatu zu und teile die Fassungslosigkeit unseres jungen Mitglieds. Gesetze existieren nicht als Selbstzweck und auch nicht aus sich heraus. Die Absicht unserer Vorväter kann niemals darin bestanden haben, Regeln zu erlassen, die einer gewollten, gesunden und offensichtlich liebevollen Partnerschaft entgegen gehen, sie sogar zu verhindern suchen. Nicht die Handlung war falsch, sondern die Gesetze. Doch was sollen wir tun, wenn wir eine Diskrepanz zwischen Anspruch und Wirklichkeit entdecken. Blind unseren Gesetzen folgen und Verfehlungen ahnden, oder unsere Regeln anpassen und ihre Fehler korrigieren? In diesem Sinne wiederhole ich den Nachfolgeritus und frage erneut: Gibt es jemanden, der ebenfalls Anspruch auf den Thron erhebt oder dem dieser zusteht?«

Die Frage mag rein rhetorisch geklungen haben, doch wenn ich wetten sollte, gab es mindestens drei Anwesende im Saal, die wussten, dass sie alles andere als eine Floskel darstellte: Tamir, Norfun und das Ratsmitglied, das sich zur Überraschung aller anderen zu Wort meldete.

»Ja, den gibt es: Florian Margaux sûr Rohne steht der Anspruch zu.«

Politik

Florian

Ratsmitglied? Ich?

Stand ich eben noch zwischen Leben und Tod, hockte ich jetzt am offiziellen Ratstisch des Hauses Margaux. Bizarrer konnte diese Nacht eigentlich nicht mehr verlaufen.

Das Erdblut

Ja, ich hatte das Dossier schließlich doch gelesen. Wie konnte ich es ignorieren, wo doch Tamir nicht müde wurde, mich daran zu erinnern und seine Wichtigkeit betonte. Die meisten Eigenschaften dieser Substanz kannte ich bereits aus eigenem Erleben, obwohl ich die Erinnerung daran gerne gelöscht hätte. Dann stolperte ich über das Kapitel über das heilige ewige Band des Blutes, der Urform der vampirischen Hochzeit und wusste, worauf Tamir hinauswollte. Die Phiole mit der fürchterlichen Flüssigkeit steckte er uns auf dem Weg zum Ratssaal zu. Worte wurden nicht gewechselt. Der durchtriebene Nosferatu wusste, wofür ich mich entschieden hatte. Entschieden? Wenn ich an Bruder Theodor und seine eigentümliche Prophezeiung dachte, ich bezweifelte ein wenig, dass es meine Entscheidung war. Mein Weg schien vorbestimmt.

Aber warum nicht? Warum nicht alles auf eine Karte setzen? Ich liebte Constantin. Warum es nicht vor aller Welt, wenn diese der Rat der Vampire der Welt war, herausschreien. Ja, es war der pure Wahnsinn, das Erdblut zu trinken, ohne zu wissen, ob Constantin meine Liebe erwiderte. Danach gab es nur noch zwei Möglichkeiten: Tod oder Liebe.

War mein Verhalten fair? Oder nötigte ich Constantin erneut, mich zu retten?

Es spielte keine Rolle. Die Frage war in dem Moment beantwortet, als Constantin aufstand, zu mir kam und das Band mit mir knüpfte, mit mir verschmolz und eins wurde.

Und jetzt das: Tagesordnungspunkte. Wie schafften es Sitzungen dieser Art, jeden feierlichen Moment innerhalb kürzester Zeit verdampfen zu lassen? Klagerecht: abgehakt. Neues Ratsmitglied willkommen heißen: abgehakt. Norfun exekutierte die Ratssitzung mit der Präzision eines schweizer Uhrwerks und so erbarmungslos wie die Banker derselben Nation. Fragte mich der Kerl doch allen Ernstes, ob ich Klage gegen Constantin erheben wollte. Ja geht's noch?

Meine Reaktion entsprach dann wohl nicht ganz den Gepflogenheiten. Die Quittung kam prompt. Langsam begriff ich, warum Bruder Norfun die Sitzung leitete. Mit dem Mann würde ich so schnell kein Rededuell ausfechten. Doch als ich schon dachte, dass in ihm nur ein ausgebuffter, rabulistischer Bürokrat steckte, dem Kodex und Gesetze über alles gingen, überraschte er uns mit einer zwar sehr formellen, aber eben auch unerwarteten persönlichen Bemerkung. Ihre Quintessenz war einfach: Gesetze sollten sich nach dem Leben richten, nicht das Leben nach den Gesetzen.

Und dann war es endlich so weit. Bruder Norfun nahm den unterbrochenen Nachfolgeritus wieder auf. In wenigen Minuten würden wir Constantin als unserem neuen König zujubeln. Er war der richtige. Wer sollte sonst diese Meute auseinanderdriftender Interessensgruppen einen.

»Ja, den gibt es: Florian Margaux sûr Rohne steht der Anspruch zu.«

»Was?«, rief ich in die Runde. Erdblut zu schlucken machte müde. Das Zeug war einfach die Hölle. Ich muss zugeben, mich aus Norfuns Vortrag ausgeschaltet zu haben und hatte stattdessen vor mich hingeträumt. Deswegen wäre mir fast die Frage nach anderen potenziellen Anwärtern entgangen. Ich schreckte erst auf, als mein Name fiel. Es brauchte eine Weile, bis ich realisierte, dass jemand mich in den Ring geworfen hatte und dass dieser jemand niemand anderes war, als mein geliebter Constantin.

»Was?«, wiederholte ich meine Frage und starrte meinen Freund, Liebhaber und Ehemann an. »Das meinst du nicht ernst, oder?«

»Todernst«, erwiderte Constantin todernst lächelnd, »Flo, ich habe dir zugehört. Du hast selbst gesagt, dass du ein Hati, ein Nosferat seist. So stehst du nun vor uns. Florian Margaux sûr Rhone, Vater des lange verloren geglaubten Stammes der Nosferat, dem Königsgeschlecht.«

»Aber...«, stammelte ich am Rande der Verzweiflung. Ich? König?

»Constantin hat recht«, unterbrach mich Tamir, »Mit der Erlaubnis des Vorsitzenden möchte ich dich etwas fragen: Was hast du im Kloster der grauen Nebel erlebt? Wessen Erinnerungen hast du geteilt?«

»Die der Ersten«, gestand ich matt, weil ich ahnte, dass ich aus dieser Nummer wohl nicht mehr heraus kam, »Die Säulenmänner der Ersten haben mit mir gesprochen und mir ihre Erinnerungen geschenkt. Ich habe gesehen, wie die Baku, die Kodiac, die Dracul und die Nosferat den Grundstein dieses Rates legten. Ich wurde Zeuge fürchterlicher Kriege, an die sich heute niemand mehr erinnert, ich war dabei, als die erste Schrift entstand, ich sah Imperien entstehen und wieder vergehen, Kaiser und Könige kamen und gingen, nur wir, die Beschützer waren immer da und wachten über die Menschen. Denn das ist unsere Bestimmung. Ich weiß, einige unter euch sind der Meinung, wir sollten die Menschen unterjochen, sie zu unseren Sklaven oder eher zu unserem Zuchtvieh machen. So wie sich die Menschen Tiere halten, sollten wir sie ebenfalls kultivieren. Aber dies entspricht nicht dem, was ich gesehen habe. Wir sind die heimlichen Geschöpfe der Nacht, die dann wachen, wenn andere schlafen. Das Blut der Menschen ist unser Preis für ihren Schutz, den sie, so zeigten es mir die Ersten, gerne bereit waren zu zahlen.«

»Wen wählten die Ersten zu ihrem Ersten?«, wollte Tamir wissen, obwohl ich vermutete, dass er die Antwort längst kannte.

»Die Vier, das waren Kodiac, der Bär, Dracul, der Luchs, Baku, der Wolf und Nosferat, der Löwe, wählten meinen Vorfahren, das löwenartige Monster.«, gab ich gesenkten Hauptes zu.

»Nosferat leo, die Könige der Vampire. Ja, Florian, das sind deine Vorfahren.«, verkündete Tasmanir Musferatu feierlich.

»Shit!«, kam wenig königlich meine Entgegnung, die den Rat aber größtenteils zum Schmunzeln brachte. Aber nicht alle. Baron van Sanden hockte mit versteinerter Miene an seinem Platz. Dass wir Vampire nicht Herrscher sondern Beschützer der Menschen sein sollten entzog dem politischen Dracul, als dessen Wortführer er sich verstand, die Basis und Legitimation. Seine Fraktion dürfte mit Sicherheit nicht zu meinen Anhängern zählen.

»Nein, nein, nein«, ergriff ein merkwürdiger Typ plötzlich das Wort, »Wir können unmöglich ein Kind zu unserem König wählen. Wo kommen wir denn da hin? Sag mir Knabe, wie alt bist du. Ich meine dein Vampiralter.«

»Nur einige Wochen. Wenn Ihr befürchtet, ich sei unerfahren, dann habt Ihr Recht. Ich habe nicht den blassesten Schimmer, war von mir als König erwartet wird.« Sollte ich abdanken, bevor ich überhaupt angetreten war und Constantin die Aufgabe aufhalsen, die er freiwillig an mich abgetreten hatte? Wen würden wir dann zu unserem König wählen?

»Ich bin bereit, dieses Risiko einzugehen. Wer von uns könnte von sich behaupten, zu wissen, was es braucht, ein König zu sein? Ich finde den jungen Margaux wundervoll natürlich. Der könnte etwas frischen Wind in diesen verstaubten Laden bringen.«, meldete sich eine ältere Dame zu Wort, von der mir Christiano zuraunte, dass es sich bei ihr um Tante Charlotte, eine entfernte Verwandte Constantins und Stammmutter eines kleinen Clans handelte. Der Portugiese hatte sich zu uns gesetzt, obwohl er offiziell als Gast Tamirs an der Sitzung teilnahm.

»Also ich bin nach wie vor dagegen.«, polterte der Typ vor Tante Charlotte erneut los. Dank Christiano erfuhr ich, dass es sich bei ihm ebenfalls um einen Baron handelte, der auf den Namen Bronkovic hörte. Niemand, so mein guter Freund, würde ihn wirklich ernst nehmen, da es sich bei Bronki, wie ihn jeder nannte, um einen fürchterlichen Laberkopf (O-Ton) handelte, der sein Mäntelchen notorisch nach dem Wind hing. »Pass auf, sobald sich die Mehrheit für dich ausspricht, wird er eine 180 Grad Wende vollziehen und sich ihr anschließen.«, wurde mir noch ins Ohr geflüstert.

Dem mochte so sein. Aber irgendetwas störte mich an diesem Baron Bronkovic. Sein Gesicht ließ etwas bei mir klingeln, zwar leise, aber dennoch laut genug, dass ich es nicht überhören konnte. Was störte mich an dem Mann? Wo war er mir früher schon einmal begegnet?

»Vielleicht sollten wir vorübergehend statt eines Königs einen Kronrat einsetzen«, schlug der Baron vor und überraschte damit nicht nur mich. Mit der Idee eines Kronrats hatte der Mann tief in die Trickkiste des Nachfolgeritus gegriffen. Wie mich Nicolas aufklärte, der in diesen Dingen eine ausgesprochene Kompetenz war, erläuterte, dass das Konzept früher, vor Breskoffs Regentschaft, üblich war, sogar beim ihm selbst. Bevor er den Thron bestieg, regierte siebenundzwanzig Jahre lang ein Kronrat.

»Baron Bronkovic«, fragte Norfun mit scharfer Stimme, dass mehr als einer überlegte, ob diese Schärfe dem Lärm im Sitzungssaal oder einer Ablehnung der Idee seitens Norfuns geschuldet war. Letzteres war natürlich unvorstellbar, die Nosferatu waren neutral – offiziell. »Bringen Sie den Antrag ein, statt eines Königs einen Kronrat einzusetzen?«

»Bist du taub?«, platzte es aus dem Mann hervor, »Natürlich ist das mein Antrag.«

»So wurde es notiert.«, erklärte Norfun unbeeindruckt und sehr professionell, »Entsprechend den Regeln des Nachfolgeritus unterbreche ich diese Sitzung für vier Tage. Sonntagnacht werden wir uns hier erneut einfinden und entscheiden. Die Sitzung ist beendet.«


Die Sitzung war zu Ende und alles strömte aus dem Saal in Richtung Foyer, um sich mit frischen Blutkonserven zu versorgen. Derartige Veranstaltungen machten wohl fürchterlich hungrig. Ich wusste nicht so recht, wohin ich mich zuerst wenden sollte. Ich wollte zu meinem Vater, ich wollte aber auch zu Constantin. Hin- und hergerissen lief ich auf meinen Freund, Geliebten und jetzt wohl auch Ehemann zu. Statt ebenfalls ins Foyer zu eilen, saß er immer noch an seinem Ratstisch und unterhielt sich mit Laurentius. Kaum dass ich mich den beiden Männern näherte, hielten sie inne und sahen mich an.

»Hallo Laurentius«, grüßte ich den immer so finsteren Marschall, der auf mich mit den Augen eines Mannes, durch dessen Adern auch etwas Nosferatublut strömte, gar nicht mehr so finster wirkte, »Erlaubst du, wenn ich mir deinen Fürsten ausleihe?«

Laurentius blieb Laurentius. Er richtete sich zu seiner ganzen Größe auf, schaute mich an, musterte mich, schaute genauer hin und nickte ganz leicht, als er die Verwandtschaft in mir erkannte. Der Hauch eines Lächelns erfasste sein Gesicht.

»Ausleihen? Er gehört dir, Bruder Florian«

Da stand ich nun vor Constantins Tisch. Schüchtern, ein wenig ängstlich, ein wenig verlegen, mit ein wenig geröteten Wangen schaute ich ihn an.

»Na?«

»Na?«

Ein schüchterner, ängstlicher, verlegener Constantin mit leicht geröteten Wangen schaute mich an.

»Krasse Nummer«, begann mein Mann das Gespräch.

»Das Erdblut?«

»Oh bitte, erwähne es nicht.« Constantin bekam einen Schweißausbruch, was eine sehr typische Reaktion bei Vampiren war, die mit Erdblut in Kontakt gekommen waren.

»Bestimmt nicht«, beruhigte ich den schwitzenden Vampir.

»Wir beide sind also...?«

»Verheiratet, ja. Ist das okay für dich?«

»Oh ja, natürlich, total okay. Und für dich?«

»Ja auch. Auf jeden Fall. Mega okay.«

»Ähm...«

»Ähm...«

»Jetzt reicht’s aber!«, fuhr uns plötzlich Christiano, der drei Schritte neben uns stand, an. »Was für ein Glück, dass du mich bereits verbannt hast, da meine nächste Bemerkung als Majestätsbeleidigung durchgehen könnte: Constantin, krieg deinen Arsch hoch und nimm deinen Kerl verdammt noch mal in den Arm! Und du, mein lieber Florian, hörst damit auf, das Weichei zu spielen. Ihr wolltet euch. Nun, ich habe eine Überraschung für euch: Ihr habt euch!«

Danke Christiano! Schneller, als ich denken konnte, lagen Constantin und ich uns in den Armen. Wir schauten uns an, blickten uns total verliebt und megakitschig in die Augen. Unsere Köpfe bewegten sich aufeinander zu, erreichten einen kritischen Abstand, ab dem sich die Vorwärtsbewegung beschleunigte und in einem fantastischen Kuss endete.

»Hey, Zähne einfahren!«

»Tschuldigung!«

Dieser Kuss brach den Bann. Mit ihm verwandelten wir uns in ein total debiles, frischverliebtes Ehepaar mit dauerverklärtem und leicht entrücktem Gesichtsausdruck. Gut, ganz so schlimm war es dann doch nicht. Aber dass wir mit einem Arm des anderen um unsere Schulter den Saal verließen, musste dann doch sein. Christiano grinste breit und war mit dem Ergebnis seiner verbalen Kopfdusche sehr zufrieden. Dass wir im Foyer mit Ohs und Ahs empfangen wurden, war dann doch ein wenig peinlich, was wir mit verlegenem Lächeln zu überspielen versuchten.

In manchen Dingen sind Vampire wie Menschen, zum Beispiel in Fragen der Toleranz. Während ein Großteil der Sitzungsteilnehmer angenehm wohlwollend auf die Verbindung zwischen Constantin und mir reagierte, mussten wir uns auch mit zurückhaltenden und mehr oder weniger offen ablehnenden Reaktionen auseinandersetzen. Aber als erstes rollte die bewusste Tante Charlotte auf uns zu. Constantin gelang es, mir noch ein »Jetzt musst du stark sein!« zuzuraunen, dann hatte sie uns am Wickel.

»Kostja, Kostja, Kostja. Du böser Junge. Wie konntest du so gemein sein, deiner armen alten Tante deinen süßen Freund vorzuenthalten?«

Oh, mein Gott! Tante Charlotte war ein Wangenkneifer. So eine Tante hatte ich auch gehabt. Die Schwester meiner Mutter konnte nicht anders und musste mir bei jedem Familientreffen dermaßen in die Wange zwicken, dass mir diese noch Stunden später wehtat. »Nein, was bist du groß geworden, Der süße Flori!«, schnatterte Tante Lisbeth, wie sie hieß, sofort los, um sich dann ermahnend an meinen Vater zu wenden, »Aber du solltest ihm unbedingt die Haar schneiden lassen. Er sie ja aus wie ein Mädchen!«

Auch so ein Thema. Meine Haare ließen mich immer extrem engelhaft aussehen und sorgten sicherlich für einen Gutteil des Stresses, der mir permanent widerfuhr. Statt mir die goldenen Locken aber absägen zu lassen, bestand ich auf meiner Engelsmähne, die in Wirklichkeit wohl eher eine Löwenmähne war. In faktisch allen Aspekten des Lebens war ich ein Weichei und knickte bei jeder Konfrontation sofort ein. Nur bei meinen Haaren verstand ich keinen Spaß und wurde aggressiv, wollte man ihnen an die Strähnen. Komischerweise wurde dieser Tick von meiner Umwelt akzeptiert. Der Rest von mir hingegen nicht.

Im Gegensatz zu Tante Lisbeth, die immer etwas etepetete daherkam, präsentierte sich Tante Charlotte als Frau mit dem Herz am richtigen Fleck, die es einfach diebisch genoss, Constantin ein wenig aufzuziehen. Wenn ich allerdings das diabolische Funkeln in ihren Augen richtig verstand, hatte sie soeben ein neues Opfer für sich entdeckt.

»Oh, ihr zwei seid ja so ein süßes Paar!«, jubilierte die Dame in einer Lautstärke, dass es niemand überhören konnte. »Doch, doch, ihr passt wirklich gut zusammen. Florian«, geriet ich in Tantchens Fokus, »du bist wirklich ein leckeres Kerlchen. Wärst du ein Mensch, hätte ich dir nur zu gerne meine Zähne in deinen attraktiven Hals gebohrt.«

»Bitte, Charlotte«, protestierte Constantin halb ernst, »Sind dir deine polnischen Bauernlümmel nicht mehr genug?«

Wie mich Constantin später aufklärte, lebte Markgräfin Charlotte von Tarnobrzeski in einer ländlich geprägten Gegend, was auch ihren Speiseplan bestimmte, der sich eben aus der jüngeren männlichen Landbevölkerung rekrutierte.

»Das Geheimnis eines erfüllten Lebens besteht in der Abwechslung«, dozierte die Stammmutter spitz, um sich wieder an mich zu wenden, »Das mit dem Kronrat ist Quatsch. Florian, du hast heute mehr Mumm bewiesen als so mancher alte Sack während der letzten fünfhundert Jahre. Und dann noch die Sache mit dem fürchterlichen schwarzen Zeug... Entschuldige Constantin, du, du bist mein Lieblingsneffe, aber ich kann mir keinen besseren König vorstellen, als Florian.«

»Ähm, Tantchen, ich bin dein einziger Enkel. Aber du hast Recht. Florian ist die richtige Wahl. Nicht nur, weil er königlichen Geblüts ist, sondern, weil er stärker ist, als wir alle zusammen.«, erklärte Fürst Varadin-Breskoff lauter, als es für Charlotte und mich notwendig war. Etwas leiser fügte er hinzu: »Was meinst du, warum ich ihn vorgeschlagen habe?«

»Du meinst das wirklich ernst, oder?«, hakte ich nach. Statt direkt zu antworten, zog mich Constantin zu sich heran, gab mir einen verliebten Kuss und meinte, »Todernst!«

Die letzte Demonstration zwischenvampirischer Zuneigung kam nicht überall gut an. Ich kannte die meisten Clanchefs natürlich noch nicht, weswegen ich nicht sagen konnte, wer die Personen waren, die uns ihre Ablehnung zeigten. Die Reaktionen bestanden zum Glück nur aus missbilligenden Blicken oder demonstrativem Wegschauen, böse Worte wurden uns nicht entgegengeschleudert.

Für uns alle überraschend gesellte sich Baron van Sanden zu unserer kleinen Gruppe aus Tante Charlotte, Constantin und mir. So richtig schlau wollte ich aus dem Mann nicht werden. Im krassen Gegensatz zu seinem Auftritt im Ratssaal zeigte er sich im Foyer recht jovial, fast kumpelhaft und ein wenig spitzbübisch.

»Wer hätte das gedacht? Constantin Varadin unter der Haube.«, fühlte sich der Mann aufgerufen, meinen Mann zu necken, »Aber Respekt, Constantin, mit Florian haben Sie jemanden gefunden, der Sie in Schach halten kann. Aber halt, wo sind meine Manieren?« Van Sanden wandte sich mir zu: »Willkommen in unseren Reihen, Großherzog. Ich freue mich schon auf die kommenden Schlachten im Rat. Ihre kleine Rede vorhin war interessant. Wir sind also die Beschützer der Menschen? Na wenn das keine Optionen eröffnet.«

Es wäre naiv anzunehmen, dass der Baron meine Schilderung unwidersprochen schlucken würde. Als inoffizieller Sprecher der Dracul konnte er natürlich nicht klein beigeben und einfach die Existenzgrundlage seiner Allianz beerdigen lassen.

»Oh, ich bin mir sicher, dass Ihnen etwas einfallen wird. Aber danke für Ihre Willkommensworte.«

»Sie nehmen mir doch hoffentlich nicht übel, dass ich Ihre Souveränität in Zweifel ziehen musste?«, fragte der Baron erstaunlich freimütig.

»Nur, wenn Sie Erfolg gehabt hätten.«, erwiderte ich sybillinisch und erntete ein feines Lächeln des gegenseitigen Verstehens. Von nun an waren wir offizielle Gegner im Rat, würden uns aber mit ausgesuchter Höflichkeit und vollstem Respekt begegnen. Auf gut Deutsch: Wir würden uns bis aufs Blut bekämpfen, dabei aber immer nett bleiben. Wie Constantin später anmerkte, sollte ich diese Rivalität auf keinen Fall persönlich nehmen, denn das war es nicht. Van Sanden, so Constantin, war bestimmt schon damit beschäftigt, einen netten kleinen Attentatsplan gegen mich auszuhecken, umgekehrt hätte er aber auch keine Probleme, sein eigenes Leben für das meinige zu opfern, würde er mich dadurch gegen Feinde von außen schützen. Da sollte jemand erst mal durchsteigen.

»Florian«, wurde van Sanden plötzlich sehr vertraulich, fast sanftmütig, »Ich mag Sie. Wenn Sie wirklich die Erinnerungen der Ersten empfangen haben, woran ich nicht zweifle, dann können Sie sich als erwählt betrachten. Ich kann auch sehen, dass ein wenig Nosferatu in Ihnen steckt und wie die heiligen Jungs Sie ansehen. Sie verehren Sie, ist Ihnen das eigentlich klar. Natürlich werde ich für Bronkis Vorschlag stimmen, einen Kronrat einzusetzen, das ist Politik. Weiß der Teufel, wie dieser Depp auf solch eine hinterhältige Idee gekommen ist. Persönlich glaube ich, wären Sie ein guter König, davon bin ich überzeugt. Einen schönen guten Tag noch.«

Tag? In der Tat, die Dämmerung hatte bereits eingesetzt. Das Foyer lichtete sich, als immer mehr Clanchefs und ihre Entourage sich in ihre Gemächer zurückzogen.

»Oh Shit!«, entfuhr es mir, »Ich habe meinen Paps und Momsen vergessen. Die hocken immer noch in diesem dummen Appartement mit der kaputten Tür.«

»In meinem Appartement?«, wollte Tante Charlotte wissen, »Warum?«

»Ich bin Tischler.«

Im Bett mit Florian

Constantin

Ich war am Ziel meiner Träume. Florian, mein Florian lag neben mir in meinen Armen. Er hatte sich fest an mich gekuschelt und seinen Rücken gegen meine Brust geschmiegt. Statt im Familiensarg zu liegen, hatten wir uns ein ganz normales Bett gesucht, ganz klassisch mit schneeweißer Bettwäsche und riesiger Bettdecke, in der man sich fast verirren konnte. In genau diesen Berg Stoff hatten wir uns gehüllt und die Umwelt ausgeschlossen. Florian war einfach einzigartig. Hatte er wirklich noch nicht begriffen, wer und was er eigentlich war?

Ihn als Messias zu bezeichnen, wäre zu hochgegriffen, aber nur ein wenig. Seine Abstammung von den Hati machte ihn zum Vampir der Vampire, dem mächtigsten Urmonster unserer Art, das unter dem Mond wandelte. Gleichzeit schlug der Hauch des Nosferatu in ihm, eine Brücke zwischen uns und den spirituellen Wesen der Nosferatu. Und genau das war es, was ihn so einzigartig machte. Bei allem historischen Erbe, das auf seinen Schultern ruhte, blieb er Florian, der Tischler, der nicht abhob, sondern sich, ganz der liebe und bescheidene Junge der er war, in meine Arme kuschelte und sich einen Dreck darum scherte, wo er in Thronfolge, Ansehen im Rat und Einfluss rangierte. Florian war Florian, wofür ich ihn liebte, in meinen Armen halten musste und nie mehr loslassen wollte.

»Deine Zähne kratzen«, flüsterte der süße Zimmermann, während ich spielerisch seinen Hals piekste. Ich stoppte, doch Flo schnurrte kurz, schmiegte sich noch etwas dichter und fester an mich und meinte »Hör bloß nicht auf!«

Ich hätte den Teufel getan, den Wunsch meines Liebhabers zu ignorieren. Es war eine viel zu lange und ereignisreiche Nacht, viel zu lange Wochen der Warterei, als dass irgendetwas unsere Zweisamkeit trüben durfte. Stattdessen schlang ich die Decke noch fester um uns, küsste seinen Nacken und knabberte weiter an seinem Hals. Er schnurrte wie eine Katze, oder eher wie ein vampirischer, monströser Kater.


Nachdem sich die Versammlung mit Anbruch des neuen Tages langsam auflöste, packte Florian plötzlich die Panik, als ihm einfiel, dass er in einer halben Stunde zur Arbeit musste. Schließlich hätte er einen Job und wollte nicht gefeuert werden. Ich glaubte nicht, was ich hörte und musste laut loslachen. Man stelle sich das vor: Der designierte König der Vampire sorgte sich um seinen Job als angestellter Tischler und Zimmermann eines mittelständigen Kleinunternehmens. Ein Anruf später und das Problem war gelöst. Anton, der Haushälter Charlottenhofs, informierte Niederreuter, dass drei seiner Mitarbeiter den Abend einen Noteinsatz bei uns angenommen hätten, der sie bis in die frühen Morgenstunden beschäftigt hätte, weswegen sie sich jetzt erholten und schliefen. Natürlich würde man für die Kosten aufkommen und wäre für die hervorragende Arbeit dankbar. Niederreuter murmelte etwas von, nicht die auch noch, bedankte sich dann aber artig für den Anruf.

»Oh Shit, Andreas und Mario. Die hab ich völlig vergessen.«, kreischte Florian, als ihn Anton über den Anruf informierte, und nahm dies als Anlass, um uns gegenseitig über die jeweiligen Vorgeschichten des denkwürdigen Abends ins Bild zu setzen. So erfuhr ich von der Entführung von Florians Vater durch Andreas, Mario und Momsen, der Schießerei im Bankettsaal, der Verwandlung Marcos zu einem Vampir und worin das Geheimnis der manipulierten Terrassentür bestand.

»Eins muss man unserem unbekannten Gegner attestieren. Er versteht sein Handwerk. Wir haben wie die Idioten bei den Gästen nach einem Grund für die manipulierte Tür gesucht, dabei ging es nur darum, Momsen ins Haus zu bekommen, ohne eine offensichtliche Verbindung zu schaffen. Wer kommt auf solche Ideen?« Ich gebe zu, dass mich der Einfallsreichtum unseres Gegenspielers beeindruckte. Sein Vorgehen auf Florians und meiner Seite für sich betrachtet, ergab wenig Sinn, zusammen fügte sich aber alles zu einem stimmigen und vielsagenden Bild zusammen. Doch damit war es jetzt vorbei. Nur ein dummer Zufall verhinderte, dass der Plan erfolgreich war. Es war niemand geringeres als Baron van Sanden, der Florian und mich gerettet hatte. Ohne ihn und sein ebenso dummes wie überflüssiges Attentat wäre ich nicht verletzt worden, Florian hätte mir nicht sein Blut geschenkt, ich ihn nicht umgekehrt gerettet und später aus Dank freigegeben. Der daraus folgende Hauch eines Vampirs in ihm veränderte seine Persönlichkeit, gab ihm Selbstbewusstsein und Stärke. Und noch mehr: Ohne Anschlag hätte ich Laurentius nicht bestrafen müssen, Christiano wäre nicht verbannt worden und hätte nicht auf meinen Schatz achtgeben können. Eine kleine unerwartete Abweichung im Ablauf und der ganze Plan kam ins Wanken.

»Sag mal, hat Mario nicht auf dich geschossen?«, wollte ich von Florian wissen. Mir gefiel der hinterhältige Humor meines Freundes. Mario und Andreas einfach am Ort des Verbrechens samt Blutlache und Patronenhülsen liegen zu lassen und ihnen die Erinnerung zu löschen, hatte einen wirklich morbiden Charme. Die beiden dürften ziemlich ins Schwitzen kommen, sobald die Polizei sie mit Fragen begann zu löchern, zu denen sie keine Antworten hatten. Und auch die Polizei hatte eine Nuss zu knacken, die nicht zu knacken war. Das Opfer, Marco, war keines mehr.

»Ähm ja, wieso?«, antworte der Angeschossene mit einer Gegenfrage.

»Och, nichts. Wunder dich nur nicht, wenn's irgendwann klötert.«

»Klötert?«

»Klötert!«

War es das? Hatten wir gewonnen? In gewisser Weise schon, nur, dass es sich nicht so anfühlte. Eigentlich war alles super: Flo und ich waren zusammen. Wir waren ein Paar, was sich fantastisch anfühlte. Ich konnte Florian in meine Arme nehmen, mit ihm kuscheln, schmusen, fummeln, blasen, poppen, halt alles, was man miteinander anstellt, wenn man sich gern hat. Gut, das konnte ich auch vorher, aber jetzt offiziell als meinen Ehemann. Ich konnte mit ihm als meinen legitimen Partner an meiner Seite auf Empfängen, Ratssitzungen und Banketten erscheinen. Oder er mit mir. Eigentlich sogar nur er mit mir, denn als Großherzog stand er im Adelsranking deutlich über mir, über uns allen. Was meinem Schatz aber rein gar nichts bedeutete.

Die Antwort lautete also: Ja, wir hatten gewonnen und die Sache mit dem Kronrat auch noch in den Griff kriegen. Also, wenn wir gewonnen hatten, warum fühlte sich das nicht so an?

»Weil die Geschichte noch nicht zu Ende ist.«, meinte Christiano.

Bevor wir uns zur Tagruhe betteten, das heißt bevor ich mich mit Florian zum kuscheln zurückzog, fand sich noch eine kleine Gruppe nur Nachlese in meinem Büro ein. Zuvor hatte Florian noch seinen hundemüden Vater besucht und ihn in ein eigenes kleines Appartement gebracht, in dem er sich ausschlafen sollte, während Christiano Momsen mit einem mentalen Befehl schlafen legte und ihn von Anton sicher verwahren ließ, bis uns etwas eingefallen war, wie wir mit ihm weiter verfahren sollten. Als wir danach in meinem Büro aufkreuzten, wurden wir schon sehnsüchtig erwartet. Neben Laurentius, Lydia, Orwell, Anton, Michael, Timon und Simon hatten sich auch Nicolas, Marco und eben auch Christiano dazugesellt. Während Simon Christiano mit schmachtenden Blicken bedachte, zeigten sich Anton und Orwell wenig begeistert und bedachten den Portugiesen mit finsteren Blicken.

»Leute, lasst das! Van Sanden hatte Recht. Christianos Verbannung war nie ernst gemeint und nur vorgespielt. Wir wussten, dass wir einen Verräter in unseren Reihen hatten. Um ihn nach dem Attentat in Sicherheit zu wiegen und um jemanden zu haben, der Florian beschützte, kamen wir auf die Idee mit der Ächtung. Christiano war und ist ein treues Mitglied unseres Hauses und ein wirklich guter Freund.«

Die um sich greifende Erleichterung im Raum war deutlich spürbar, weswegen mir meine nächste Bemerkung umso schwerer fiel.

»Nun, der Verräter wurde dingfest gemacht. Frantz ist tot und Christianos Aufgabe erledigt. Eigentlich spräche nichts dagegen, ihn wieder in unsere Reihen aufzunehmen.«

»Eigentlich?«, hakte Orwell nach, der nicht an der Ratssitzung teilgenommen hatte, aber ahnte, dass es ein Problem gab.

»Constantin kann mich nicht begnadigen. Nicht in der nächsten Zeit.«, erklärte Christiano traurig, »Es geht um die Aussage, die ich vor dem Rat getätigt habe. Meine Glaubwürdigkeit hängt an der rein formalen Aufrechterhaltung der Verbannung.«

»Jedem im Rat ist inzwischen klar, dass die Verbannung nur gespielt war.«, fuhr ich fort, »Nur spielt dies für die rechtliche Bewertung keine Rolle. Eine Verbannung ist eine Verbannung. Van Sanden, diese Ratte, nutzt diesen Umstand, um uns zu schwächen, indem er uns Christiano als Agenten raubt.«

»Aber...«, stammelte Simon, der den Tränen nah war. Er wollte auf seinen Christiano einfach nicht mehr verzichten müssen.

»Keine Angst, Simon«, beruhigte ich den jungen Vampir, »Dir mag ab und an ein Fuß fehlen, Christiano soll es hingegen nicht. Ich mag ihn zwar nicht begnadigen können, aber ich kann die Form seiner Verbannung bestimmen. Christiano Varadin-Breskoff, hiermit ernenne ich dich zum Botschafter unseres Hauses und entsende dich an den Hof des Großherzogs Margaux. Dein Entsendungsschreiben wirst du in den nächsten Tagen erhalten. Hoffen wir bloß, dass dich der Großherzog auch akzeptiert.«

Der bewusste Großherzog saß neben mir und hatte einen Arm um mich gelegt: »Das muss ich mir noch genau überlegen.«

»Moment!«, Simon sprang auf und fuchtelte mit seinem Finger herum, »Florian, wo residierst du denn eigentlich?«

»Ähm, tja also, darüber habe ich mir mit Nicolas auch schon Gedanken gemacht. Mittelfristig beabsichtigen wir ein Haus zu erwerben. Im Moment wohne ich noch bei meinem Paps.«, erklärte Flo, »Nur wird der sicherlich nicht sonderlich begeistert sein, seine 3-Zimmer Wohnung mit vier Blutsaugern zu teilen. Ich kann aber auch nicht von Christiano erwarten, dass er uns in seinem Appartement aufnimmt.«

»Erwarten nicht, aber ich würde mich freuen, wenn ihr drei zu mir kämt.«, erwiderte der Angesprochene erwartungsgemäß.

»Beides kommt überhaupt nicht in Frage.«, meinte ich, gab meinem Schatz einen kleinen Kuss und meinte, »Ein Großherzog sollte auch wie ein Großherzog residieren. Ich schenke dir dieses Haus, Charlottenhof. Ich habe schon mit Anton und Lucretia gesprochen und beide würden sich sehr darüber freuen, wenn du hier einziehst und sie dein Haus bestellen könnten. Flo, bitte nimm dieses Geschenk an. Es ist ein gutes Haus, aber viel wichtiger, es ist das Haus, in dem wir uns kennengelernt haben.«

»Du meinst das ernst, oder? Du willst mir ernsthaft ein Haus, einen ganzen Palast schenken?«, wandte sich Flo mit skeptisch nach oben gezogener Stirn an mich.

»Rate mal!«

»Ich habe es befürchtet«, knurrte er, schüttelte seinen hübschen Kopf und die daran hängende Mähne und meinte, »Ich soll hier mit Nicolas, Marco und Christiano einfach so einziehen?«

»So habe ich mir das vorgestellt, ja.«

»Also gut, da ich fest davon ausgehe, dass ich dir diese wahnwitzige Idee nicht ausreden kann, gebe mich ohne Kampf geschlagen und sage bescheiden Danke: Danke!«

»Allerdings«, fuhr ich mit einer spannungserhöhenden Pause fort, »gehe ich eigentlich davon aus, dass du das Haus gar nicht brauchst und als mein Mann die meiste Zeit an meiner Seite verbringst.«

»So so, bin ich also dein folgsamer Gatte an deiner Seite?«, hakte Florian spitzbübisch nach, »Wer ist hier der Großherzog? Ich oder du?«

»Schau an, du hast aber schnell dazugelernt. Noch grün hinter den Ohren und schon den Rang ausspielen wollen.«

»Oh bitte! Erbarmen!«, schrie Lydia hysterisch und hielt sich mit hochdramatischer Geste die Ohren zu, »Das hält ja kein Vampir aus. Wenn ihr weiter so turtelt, bekomme ich noch Hirnerweichung.«

»Ähm, ich glaube, ich leide bereits unter Hirnerweichung«, murmelte ein verzweifelter Simon, »Aber ich komme nicht mehr mit. Wenn Flo und Christiano hier leben und wir in der Zentrale, dann sind wir doch trotzdem getrennt.«

»Sind sie nicht!«, knurrte Michael grinsend, »Charlottenhof wird offizieller Stammsitz der Margaux. Mehr nicht. Wo Flo wirklich lebt, steht auf einem anderen Blatt. Unser Chef und er sind ein Paar. Schau sie dir an! Glaubst du, die zwei können länger als fünf Minuten ohne einander auskommen?«

»Gar nicht wahr«, maulte Florian halbherzig.

»Entschuldigt, wenn ich meiner Rolle als Stimmungstöter erneut gerecht werden muss«, meldete sich Laurentius zu Wort, dem es bei seiner Physiognomie wenig schwer fiel, extrem ernst und finster dreinzuschauen, »Ich muss auf die Frage von vorhin zurückkommen: War es das? Nein, das war es nicht. Die Oper ist erst zu Ende, wenn die dicke Dame gesungen hat, doch das war bisher noch nicht der Fall. Wir mögen viel erreicht haben. Florians Herkunft wurde enthüllt, die unmittelbare Gefahr für unsere beiden Häuser abgewendet. Mein Fürst hat nach all den Jahrhunderten endlich einen Partner gefunden. Ja, wir könnten mit der heutigen Nacht zufrieden sein, wäre da nicht nach wie vor eine entscheidende Frage offen: Wer steckt hinter den Intrigen?«

Wie Florians Team und mein Team unabhängig voneinander vermuteten, hatte sich auch dieses Mal der eigentliche Strippenzieher während der Ratssitzung zurückgehalten und den Baron vorgeschoben. Ich muss gestehen, dass ich ihn oder sie, selbst das Geschlecht war uns unbekannt, bewunderte. Obwohl der gesamte über Jahrzehnte minutiös ausgeheckte Plan während der wenigen Stunden der Ratssitzung in sich zusammenbrach, blieb sein Urheber verborgen. Wie viel Selbstbeherrschung musste es kosten, vor Wut und Frustration nicht zu explodieren. Ich an seiner oder ihre Stelle wäre komplett ausgerastet, hätte ich miterleben müssen, wie meine Fische davonschwammen.

»Nun, die Angelegenheit ist noch nicht ausgestanden, oder?«, gab Christiano zu bedenken, »Dank Bronkis, ähm Baron Bronkovics Vorschlag, statt Flo zum König zu wählen einen Kronrat einzusetzen, ist die Ratssitzung noch nicht zu Ende. Bis Sonntag kann noch viel passieren.«


»Und, wie fühlst du dich?«

Nach einer Weile der Knabberei an Florians Nacken und Hals wechselte ich auf Küsse.

»Glücklich«, schnurrte Flo und begann sich wie ein Aal zu winden, um mir statt seines Rückens seine Front zu präsentieren, »Wirklich glücklich. Ich liege in deinen Armen, kann mit dir schmusen. Was will ein Mann mehr?«

»Den Thron?«, wollte ich wissen.

»Hör bloß auf«, winkte Florian ab, »Ich und König. Die anderen lachen mich doch aus.«

»Ich habe niemanden lachen gehört.«, gab ich zu bedenken, »Die anderen Ratsmitglieder nehmen dich ernst. Tante Charlotte ist eh völlig vernarrt in dich.« Ich schaute meinen Schatz lange und intensiv an.

»Was?«, fragte Flo verunsichert.

»Dieser Hauch Nosferatu gibt dir etwas unterschwellig leicht Verwegenes. Es ist Nicolas, oder?«

Statt sofort zu antworten, schloss Flo seine Augen, drehte mir wieder seinen Rücken zu, schnappte sich meine Arme und schlang mich wie einen Mantel um sich.

»Es ist Nicolas. Ein Teil von ihm wurde ein Teil von mir und ein Teil von mir wurde ein Teil von ihm. Weißt du, worin der Servius-Novatin Ritus besteht? Eigentlich wollte ich darüber nie sprechen, aber mit dir ist es etwas anderes. Wir sind eins. Du hast das Erdblut in dir gespürt und seine Kraft erlebt. Es hat uns aneinander gebunden, ähnlich dem Servius-Novatin, wenn auch tausendmal harmloser.«

Ich schwieg und ließ Flo reden. Statt zu antworten oder blöde Kommentare von mir zu geben, verstärkte ich unseren Körperkontakt. Flo sollte fühlen, dass ich da war.

»Sie haben uns mit Peitschen die Haut vom Leib gerissen.«, begann Flo seine Schilderung, »Nicolas und mir. Sie fingen unser Blut auf, bearbeiteten uns, bis wir kurz davor waren, die Besinnung zu verlieren. Doch das war nichts gegen das, was dann kam. Wir wurden zusammen in einen Steintrog gelegt, der daraufhin mit einer schweren Steinplatte verschlossen wurde. Von den Schlägen geschwächt, gehäutet und eines Teils unseres Bluts beraubt, leiteten sie Erdblut in den Trog. Erdblut – ich hasse es und ich liebe es. Es drang in unseren Körper ein, nutzte jede offene Wunde, jede Körperöffnung, um sich seinen Weg in uns zu bahnen und uns aufzulösen, wie eine Säure. Verstehst du? Das Erdblut zersetzte unsere Körper, verflüssigte sie, löste sie auf. Da war nichts mehr. Gar nichts. Nur unser Geist, unsere Seelen wurden bewahrt.«

Flo zitterte. Sein ganzer Körper war am beben, als er sein Erlebnis mit diesem verdammten Ritual schilderte. Und auch mich ließ seine Erzählung nicht kalt und versetzte mich sogar in Angst und Schrecken. Als könne sich Flo plötzlich verflüssigen, klammerte ich mich an ihn und hielt ihn ganz fest.

»Doch die Qualen, die Tortur, erst ausgepeitscht und dann aufgelöst zu werden, war nichts dagegen, körperlos im Erdblut zu treiben. Es lebt!«

»Was?«, rutschte mir raus und ließ mich vom Klang meiner eigenen Stimme zusammenzucken.

»Das Erdblut... ich weiß nicht, wie ich es besser beschreiben soll. Es lebt oder lebte oder... keine Ahnung, was es ist. Aber auf jeden Fall hat es einen eigenen Willen. Es ist erbarmungslos, zwingt dich zur Wahrheit dir selbst gegenüber. Es hätte uns zerstört, Nicolas und mich. Es hätte unsere Seelen genauso zersetzt, wie unseren Körper. Es fordert. Es will, dass du dich bekennst, dass du ihm zeigst, dass du ein Ziel hast, für das es sich zu leben lohnt. Für Nicolas war es einfach. Er war auf der Suche. Er will dienen. Nicht unterwürfig, sondern selbstbewusst und aufrecht. Seine Suche war die Suche nach einem Wesen, das ihm diesen Wunsch erfüllte, und dieses Wesen war ich. Er liebt mich, so wie dich Laurentius liebt und würde alles für seinen Großherzog tun, was nötig ist, um sein Haus zu beschützen. Seine Hingabe erfüllt mich mit Stolz, ängstigt mich aber auch.«

»Er ist ein guter Junge, ein guter Mann.«, pflichtete ich bei, »Ich habe ihn beobachtet: Nach der Sitzung im Foyer hielt er sich im Hintergrund und beobachtete hellwach, bereit, sofort einzugreifen, wie sich die Clanchefs um uns drängten. Hätte dich auch nur einer schief angesehen, ich glaube, er hätte seinen Kopf verloren. Du kannst wirklich stolz auf Nicolas sein.«

»Das bin ich. Stolz und dankbar, denn ohne ihn läge ich jetzt nicht neben dir in diesem Bett.« Florian legte eine kleine Pause ein, sammelte sich und fuhr dann leise flüsternd fort: »Ich war orientierungslos. Ich wusste, dass du und Christiano meine Freunde seid. Nur was bedeutete Freundschaft wirklich? Was Liebe? Was ist ihr Wesen? Nicolas zeigte mir einen Weg, ihr Wesen zu erkennen. Ich besuchte die Halle der Ersten. Sie wird auch die persönliche Hölle genannt, denn sie konfrontiert dich mit deinen innersten Ängsten. Und so sah ich, was ich am meisten fürchtete: Einsamkeit. Diese Erkenntnis haute mich ziemlich um. Ich weiß nicht, wie lange ich schluchzend und heulend in der absoluten Dunkelheit der Halle der Ersten am Boden hockte. Du hast dort kein Zeitgefühl. Es konnten zwei Minuten aber auch zwei Stunden sein. Ich weiß es nicht. Ich weiß nur, dass ich plötzlich begriff, dass ich nicht allein war. Solange ich Freunde hatte, richtige Freunde, wie Christiano und dich, konnte ich nicht allein sein, selbst dann nicht, wenn wir über hunderte Kilometer voneinander getrennt sein sollten. Diese Erkenntnis war es, die mich vor dem Erdblut rettete. Es war mein Anker, mein Fels in der Brandung, an dem ich mich festhalten konnte, bis...«

»Was?«, hauchte ich fast völlig ohne Stimme.

»Ich weiß es nicht. Ich kann dir nicht sagen, was wirklich passierte. Das Erdblut hatte Nicolas und meinen Körper vollkommen aufgelöst. Alles, was von uns übrig war, waren unsere Seelen, unser Bewusstsein, welche im schwarzen Blut der Erde dahintrieben. Ich hatte gedacht, dass es ohne Körper keine Wahrnehmung geben kann. Das stimmt aber so nicht. Zuerst war es nur absolute undurchdringliche Dunkelheit, die sich aber plötzlich aufhellte und in das genaue Gegenteil kippte. Gleißendes Weiß durchflutete uns und... wir erwachten. In neuen Körpern. Oder waren es unsere alten? Ich kann es nicht sagen. Ich weiß nur, dass mir das Ritual mehr Rätsel aufgibt, als es beantwortet. Ich vermute, dass ich einen neuen Körper erhielt. Anders könnte ich mir nicht erklären, wie unsere Blutsbindung aufgehoben werden konnte. Was ich weiß ist, dass mich das Ritual verändert hat. Ich fühle mich kräftiger, im wahrsten Sinne des Wortes meiner selbst vollkommen bewusst.«

»Ja, das hat es.«, flüsterte ich immer noch, »Du bist jetzt aus einem völlig anderen Holz geschnitzt, einem, aus dem Könige geformt werden. Keine Angst, du hast nichts verloren, nur hinzugewonnen. Du bist nach wie vor mein blonder Engel, den ich am liebsten niemals wieder loslassen möchte.«

»Ist das wahr?«, Flo klang ängstlich.

»Ja, natürlich. Warum fragst du?«

»Ich hatte Angst, du würdest mich vielleicht fürchten. Du hast das Monster in mir gesehen. Dieser Löwe in mir, er ist eine Urgewalt, die mir selbst Angst einjagt. Er ist immer da, lauert, wartet darauf, loszuspringen zu können.«

»Ich fürchte dich nicht.«, auch mein Monster war immer präsent, »Wir sind gebürtige Vampire. Es sind diese Monster, die uns unsere Kraft geben. Ich bin ein Kodiac, ein Bär, oder zumindest etwas Bärenähnliches ruht auch in mir und es schläft nie. Diese Wesen, sie sind pure animalische Urkraft, rein von Instinkten getrieben. Sie denken nicht, sie handeln, das macht sie schnell und tödlich. Es ist unser Geist, unsere Rationalität und Vernunft, die es bindet. Vergiss dies nie: Du hast die Kontrolle. Du bestimmt das Handeln. Nicht das Ding in dir, denn das ist ein unersättlicher Killer. In deinem Fall ein ziemlich zotteliger und sehr flauschiger. Ich mag deinen Löwen. Er ist mächtig.«

»Was passiert, wenn ich wirklich die Kontrolle verlieren sollte?«, wollte Florian wissen und berührte damit ein sehr heikles Thema, über das wir Vampire sehr ungerne sprachen.

»Es gibt eine Krankheit, das Vladsyndrom, nach Graf Vlad, dem Pfähler, dem die zweifelhafte Ehre zuteilwurde, Namensgeber dieses Leidens zu werden. Graf Dracula, ein gebürtiger Vampir und genau der, nach dem die Romanfigur benannt wurde, litt ebenfalls unter dieser Krankheit. Es ist eine Erbkrankheit, die viele Jahrhunderte, vielleicht sogar Jahrtausende ruhen kann. Bricht sie aus, degeneriert das Nervensystem und der Patient verfällt dem Wahnsinn und kann das Monster in sich nicht mehr kontrollieren. Jeder Vampir und jeder Nosferatu trägt ein Monster in sich, wenn nur wir gebürtigen Vampire es wirklich hervorrufen können. Aber seine übermenschliche Stärke, seine magischen Fähigkeiten stehen auch den erweckten Vampiren zur Verfügung.«

»Oh Shit, das ist es.«, Flo wirbelte erneut herum und schaute mich mit leuchtenden Augen der Erkenntnis an, » Steh auf, zieh dich an und such Tamir, wir müssen ins Kloster der grauen Nebel.«

»Was? Wie? Warum das denn?«

»Weil ich jetzt weiß, wer unser Gegenspieler ist und warum er uns vernichten will. Dich, Vladimir Breskoff und mich!«

Das Heft in die Hand nehmen

Florian

Vielleicht war wissen, wer uns ans Leder wollte, zu hoch gegriffen. Ahnung traf es wahrscheinlich besser, dass ich ihr nachgehen musste, was hieß, Bruder Markus einen Besuch abstatten zu müssen. Den Gedanken, kurzfristig wieder bei Niederreuter auf der Matte zu stehen, und mich mit Schwammsanierungen zu beschäftigen, hatte ich längst beerdigt. Allerdings tat es mir Leid, meinen Chef bei dem Großprojekt hängen zu lassen, weswegen mich der Anstand einfach dazu zwang, mich in der Firma nochmals zu melden.

»Florian, mein Junge«, rief Niederreuter mit einer Mischung aus Niedergeschlagenheit und Freunde in der Stimme, »Nett dass du dich meldest. Hast du schon von Mario und Andreas gehört?«

»Ähm, nein. Was ist denn mit denen?«

Die zwei waren verhaftet worden. Wie erwartet hatte Christianos mentaler Bann über die Arbeiter der anderen Gewerke nach einiger Zeit nachgelassen. Da die meisten die Schüsse Marios gehört hatten, brauchte es nicht lange, bis die Neugierde siegte und sich über die Anweisung, denn schwammsporenverseuchten Bereich nicht zu betreten, hinwegsetzte. Was die Werker vorfanden rechtfertigte einen Anruf bei der Polizei: Zwei bewusstlose Männer, drei Handfeuerwaffen und eine große Blutlache. Die eintreffenden Ordnungshüter kamen sofort zu der Überzeugung, den Schauplatz eines Gewaltverbrechens vor sich zu haben. Ein eiligst hinzugerufener Gerichtsmediziner bestätigte dann auch die Vermutung, dass kein Mensch einen Blutverlust der Große ohne sofortige Notmaßnahmen überleben konnte. Während Kripo, SPUSI und Gerichtsmedizin noch rätselten und den Tatort sicherten, kamen unsere beiden Kollegen wieder zur Besinnung, konnten sich aber an rein gar nichts erinnern, außer meinen Vater entführt und an diesen Ort gebracht zu haben. Diese Information behielten sie verständlicherweise für sich und äußerten sich daher nur sehr vage. Die Polizei hatte aber schon Blut geleckt. Zwei weitere Teams wurden angefordert, die sich Durchsuchungsbefehle beschaffen und die Wohnungen der beiden durchsuchen sollten.

Wir mir Niederreuter schilderte, wurden Mario und Andreas nicht zuletzt wegen dieser Durchsuchungen vorläufig festgenommen. Obendrein wurde der Tatort versiegelt. Die nächsten Tage sollte er, Niederreuter, so die Kripo, nicht damit rechnen, auf der Baustelle weiterarbeiten zu können. Theoretisch würde somit nichts dagegen sprechen, wenn Marco und ich Sonderurlaub nähmen täten, allerdings nur unbezahlten.

»Florian, mein Junge«, leitete Niederreuter seine Antwort mit seiner Lieblingsfloskel für mich ein, »es tut mir leid, aber ich muss sehen, wie ich den Stillstand auf der Baustelle kompensiert bekomme. Der Kunde macht mir die Hölle heiß und droht bereits mit Schadensersatzklagen, wenn die beiden Spinner etwas angestellt haben, was zu der Bauverzögerung führte. Ach, sollte Momsen noch bei dir sein... Die Polizei hat da ein paar Fragen an ihn. Er soll sich bei der Kripo bei einem KHK Müller melden.«

»Mach ich. Und das mit dem unbezahlten Urlaub geht in Ordnung.« Ich hatte nicht das Gefühl, mich in größeren Geldnöten zu befinden und meine beiden Vampire damit auch nicht, sodass ich einfach für Marco mitentschied. Die Sperrung der Baustelle, die Niederreuter einige graue Haare mehr bereitete, passte mir eigentlich ganz gut in den Plan. Genauso hatte ich wenig Probleme damit, Marco und Andras in U-Haft zu wissen. So konnten sie wenigstens solange keinen Unsinn anstellen, bis ich mich um sie kümmern konnte, was, wenn alles klappte, wie ich es plante, am kommenden Montag nach der letzten Ratssitzung der Fall sein sollte.

Endlich, lange hatte es gedauert, aber jetzt entschied ich über mein Leben.

Der nächste Punkt auf meiner Liste hörte auf den Namen Tasmanir Musferatu, der im Gegensatz zum ehrwürdigen Norfun noch in Charlottenhof weilte. Wenig respektvoll klopfte ich am späten Vormittag, die Sonne stand hoch am Himmel, an seiner Appartementtür und weckte ihn aus seinem Schlaf.

»Florian, weißt du wie spät es ist? Was weckst du mich zu so tagschlafender Zeit?«, grummelte der Stammvater der Nosferatu des Westens.

»Ich muss zurück ins Kloster, und zwar jetzt!«, entgegnete ich entschieden, aufrecht, mit klarer Stimme und auch ein wenig wütend, dass mein Gesprächspartner zusammenzuckte.

»Ist es so ernst?«

»Ja, denn ich glaube, das Rätsel gelöst zu haben. Ich muss noch etwas überprüfen, aber das kann ich nur im Kloster der grauen Nebel.«

Sie mochten heilige Männer sein, denen wir Respekt und Verehrung schuldeten. Dies hieß aber noch lange nicht, dass wir die immer leicht mitschwingende Arroganz der Nosferatu akzeptieren mussten.

»Dies ist keine Bitte. Ich werde fahren, mit oder ohne deine Zustimmung.«

Wer hätte das gedacht? Der weise Tasmanir Musferatu zuckte zusammen und begann mich wütend anzustarren. Aber auch damit hatte er nicht gerechnet, ich hielt seinem Blick nicht nur stand, ich brachte ihn dazu, seinen Blick abzuwenden. Geschlagen senkte Tamir seinen Kopf und nickte.

»Du bist schneller und höher gewachsen, als ich dachte, Florian Margaux. Ich werde dich begleiten und ich werde dich unterstützen. Immer!«

Was war das jetzt? Tamir ordnete sich mir unter. Wieso? Warum er es auch immer getan haben mochte, die Antwort musste warten, da ich keine Zeit verlieren wollte. Drei Stunden nachdem ich meinen Entschluss gefasst hatte, ins Kloster zurückzukehren, waren wir abfahrtbereit. Wir reisten in kleiner Gruppe in relativ unscheinbaren Minivans. Außer Constantin und mir begleiteten uns nur meine beiden Männer und Christiano, Orwell, Simon und Laurentius aus Constantins Haus, sowie Tamir und Petrus. Wir fuhren mit zwei Fahrzeugen. Laurentius nutzte die Gelegenheit, Petrus und Tamir Gesellschaft zu leisten. Als ehemaliger Nosferatu schätzte er die Nähe seiner früheren Brüder. Außerdem waren noch Nicolas und Marco mit von der Partie. Die fünf schienen sich gut zu verstehen. Marco und Nicolas waren inzwischen unzertrennlich.

Die Zusammensetzung der Reisegesellschaft unseres Wagens ergab sich zwangsläufig aus den übriggebliebenen. Orwell, der Leiter der Wache Constantins, saß hinter dem Steuer, während Simon und Christiano auf einer Bank hockten, teilten Constantin und ich uns die andere.

»Wo geht es eigentlich hin?«, wollte Simon wissen.

»Zum Kloster der grauen Nebel.«, erklärte ich, »Dem Ort, an dem ich ein zweites Mal erweckt wurde.«

»Du glaubst, die lassen mich dieses Mal rein?«, wollte Christiano wissen, den es nach wie vor wurmte, beim ersten Mal nicht mit dabei gewesen zu sein.

»Oh, glaub mir, sie werden dich reinlassen. Sie werden uns alle hineinlassen.«

»Warum sollten sie?«, hakte Christiano nach.

»Ganz einfach: Weil ich es ihnen sage!« - Nein, mir sagte niemand mehr, was ich zu tun und was zu lassen hatte.


Ich musste Abt Markus gar nicht viel sagen. Ganz im Gegenteil zeigte er sich hoch erfreut, mich wiederzusehen. Außer Tamir, Petrus und mir wären Laurentius und Nicolas als ehemalige Nosferatu jederzeit willkommene Gäste, Constantin als letzten Kodiac begrüßen zu dürfen, eine Ehre und Christiano, Simon und Marcus als unsere Gäste selbstverständlich ebenfalls willkommen.

»Nicolas, wärst du so nett, und zeigst Marco, Simon, Orwell und Christiano den Speisesaal. Ich könnte mir vorstellen, dass die vier eine gut gewürzte Schale Blut zu schätzen wissen.«

»Du willst uns doch nicht etwa loswerden, oder?«

»Ich werde euch allen alles erzählen. Aber bevor ich das tue, muss ich mir tausendprozentig sicher sein. Deswegen muss ich vorher noch etwas überprüfen. Entschuldigt, wenn ich ein wenig geheimnisvoll auftrete, aber diese Sache reicht wahrscheinlich weit in unsere Geschichte zurück.«, bat ich lammfromm, »Bitte, ich verspreche es euch.«

»Du musst uns nichts versprechen«, meinte Nicolas und wurde dabei von Christiano sekundiert, »Das ist eine verdammt große Sache, an der du da dran bist. Bevor du irgendetwas unternimmst, sichere dich lieber dreimal ab. Wenn du unsere Hilfe brauchst, weißt du, wo du uns findest.«

Mit den Worten »Na, dann kommt mal mit!« führte Nicolas seinen kleinen Trupp zur Tränke. Zurück blieben nur noch der Abt, Petrus, Tamir, Laurentius, Christiano und ich.

»Ich muss zurück in die Halle der Ersten und Constantin wird mich begleiten.«, bat ich den Abt, »Anschließend müsste mir Nicolas in der Bibliothek helfen. Er war doch bei euch als Historiker tätig, oder?«

»Ja, das war er«, bestätigte der Abt, »Nicolas war ein hervorragender Historiker. Wenn du etwas bestimmtes suchst, wird er dir bestimmt helfen können, es zu finden.«

»Ich danke Euch, ehrwürdiger Abt.«, erbot ich Bruder Markus den ihm zustehenden Respekt und wandte mich an Tamir, Petrus und Constantin, »Ich muss mich bei euch entschuldigen, insbesondere bei Euch, Bruder Tasmanir. Ich glaube, dass weder Tonfall noch Verhalten vorhin ganz angemessen war.«

»Mach dir darüber keine Sorgen, Flori... Nein.«, stoppte sich Tamir, »Entschuldige, aber es ist diese uns zu eigene Arroganz, jeden nicht Nosferatu mit einer gewissen Hochnäsigkeit und Herablassung zu behandeln. Ihr, du, Constantin, ihr alle habt mehr Respekt verdient. Deine Wut war mehr als gerechtfertigt. Wie Markus sagte, wir werden dich in jeder Weise unterstützen, die uns möglich ist.«

Dass nennt man dann wohl eine Duftmarke setzen. Meine Wut war verraucht. Außerdem zählte ich Tamir nach wie vor zu einem wohlmeinenden Geist. So weit zu gehen, ihn als Freund zu bezeichnen, wollte ich nicht. Dafür kochte er dann doch noch sein eigenes Süppchen.

»Mit Eurer Erlaubnis, Bruder Abt, würde ich jetzt Fürst Varadin in die Halle der Ersten führen.«

»Florian, Ihr seid ein Mitglied unserer Bruderschaft. Ihr müsst nicht fragen. In diesem Kloster werdet Ihr keine verschlossenen Türen finden.«

Ich dankte dem Abt und deutete Constantin mir zu folgen. Die Neugier der drei Nosferatu war greifbar. Natürlich wollten sie ebenfalls wissen, wer hinter der großen Intrige stand, die das gesamte Machtgefüge des Hohen Rates gefährdete. Im Moment gab es aber nur eine einzige Person, die das Geheimnis kannte oder zumindest ahnte, was und wer dahinter steckte – nämlich mich.

»Wie kannst du dich in diesem Irrgarten nur zurecht finden.«, wollte Constantin wissen, als wir durch die Gänge und Flure der Abtei eilten. Ich musste grinsen, erinnerte mich seine Frage doch an meine eigene Verwirrung. Und genau so, wie mich Nicolas im Regen stehen ließ, grinste ich nur frech und eilte weiter.

Es brauchte eine paar Minuten, bis wir die untere Ebene des Klosters erreichten, den Tunnel ohne Farben, der nur noch mit schwarzen und weißen Stoffbahnen dekoriert war, den goldgelb schimmernden Öllampen und Kerzen und der schweren und knorrigen Holztür.

»Was ist dahinter?«, fragte Constantin ängstlich.

»Nur das, was du mit hinein bringst.«


Constantin war im Vorteil, denn er brachte mich mit sich hinein, der ich die Wirkung dieser Stätte bereits kannte. Trotzdem erwischte es ihn. Die geballte Wirkung der Halle schlug über ihm wie eine Flutwelle zusammen. In der absoluten Dunkelheit begann er erst zu zittern, dann zu beben und schließlich weinend zusammenzubrechen. Dieser große und weise Vampir weinte. Ich hielt ihn sanft in meinen Armen. Aber auch er musste sich seinen Ängsten stellen, weswegen ich nichts sagte.

Es dauerte dann auch eine kleine Ewigkeit, bis sich Constantin fing und aufrichtete. Er griff nach mir, zog mich zu sich heran, umarmte mich, küsste mich sinnlich und wisperte mir »Danke« in mein Ohr.

Statt zu antworten, drückte ich ihn. Danach griff ich nach seinem Handgelenk und zog ihn mit mir mit. Natürlich gab es nichts zu sehen. Es herrschte absolute Dunkelheit. Trotzdem kannte ich den Weg und erreichte das Zentrum der riesigen Halle nach knapp zweihundert Schritten. Dort verharrte ich und spähte gebannt in die Dunkelheit. Ob sich die Ersten uns zeigten? Waren sie bereit, dass ich das Wissen mit Constantin teilte? Bange Sekunden verstrichen, ich wollte schon aufgeben, als es am Rande meines Sichthorizonts zu schimmern begann.

»Da ist ein Schimmer«, rief Constantin im gleichen Moment und zerriss die andächtige Stille.

»Ja«, flüsterte ich leise und drückte Constantin. Er verstand, schwieg und schaute zu.

Wie bei meinem ersten Besuch gewann das Schimmern nach einer Weile an Kontur. Als erstes bildeten sich die großen Strukturen, wie die Wellenlinien der langen Gewänder der Säulenmänner heraus. Mit wachsender Helligkeit gewann der Raum an Tiefe und ließ immer mehr Details erkennen, bis sich die Säulenmänner deutlich erkennen ließen. Als Constantin neben mir den Kopf hob, wusste ich, dass er sah, was ich sah: die marmornen Abbilder unserer Ahnen. Noch waren die Gesichter nur blanke Marmormasken, doch der schimmernde Dunst kroch weiter die Säulenmänner empor, floss über die abstrakten Kopfformen, verdichtete sich und bildete am Ende Gesichter aus.

»Oh Shit!«, entfuhr es Constantin, womit er meine Reaktion fast identisch wiederholte.

Langsam begann sich mein Geliebter um die eigene Achse zu drehen, um die einzelnen Säulenmänner genauer zu betrachten.

»Das ist Vladimir«, flüsterte er, um sich sofort selbst zu korrigieren. »Nein, ist er nicht. Aber einer seiner Vorväter. Oh, mein Gott, der sieht aus wie ich und der wie du.«, fuhr Constantin fort, um sich dann dem letzten Säulenmann zuzuwenden: »Nein, das kann nicht sein. Der? Aber wieso versteckt er sich?«

Constantin starrte fassungslos auf die vierte Marmorsäule. Es dauerte eine Weile, aber dann machte es im Kopf meines geliebten Mannes ebenfalls Klick.

»Wow, Flo, Baby, du könntest wirklich Recht haben. Oh ja, jetzt wird mir klar. Aber warum dieser Hass?«

»Deswegen sind wir hier. Nicolas war Historiker, bevor er mein Marschall wurde. Er weiß, wo wir in den Unterlagen der Bibliothek suchen müssen, um die Hintergründe aufzudecken. Dies hier, unser Erbe, wollte ich dir zeigen, damit du weißt, woher wir stammen. Lausche, öffne deinen Geist, lass die Ersten dir ihr Wissen schenken.«

Und wie zuvor bei meinem ersten Besuch teilten auch dieses Mal die Säulenmänner ihre Erinnerungen mit uns. Constantin wurde Zeuge längst vergessener Schlachten, lauschte dem Klang ausgestorbener Sprachen, wandelte auf längst verwehten Pfaden. Die gesamte Vorgeschichte unserer Art entrollte sich vor unseren inneren Augen und Ohren. Wir rochen die exotischsten Gerüche, schmeckten die fremdesten Aromen.

»Es ist fantastisch. Ich bin am Hofe der Pharaonen in Ägypten, ich stehe an Bord eines Wikingerschiffs, bade im Ganges. Es ist unglaublich. Diese Erinnerungen, sie sind so real. Aber auch so kostbar.«

»Das sind sie.«, pflichtete ich bei, klopfte meinem Freund auf die Schulter und meinte, »Komm, lass uns zu den anderen gehen. Ich habe Hunger.«


Wie bei meinem ersten Besuch der Säulenmänner differierte auch bei diesem die empfundene Aufenthaltsdauer mit der tatsächlichen erheblich. Oder auch nicht. Vielleicht hatten wir wirklich nur eine halbe Stunde in der Halle der Ersten verbracht, während außerhalb drei Stunden verstrichen. Magie war zu erstaunlichen Effekten fähig.

Wie von mir erwartet, fanden wir unsere Freunde im großen Speisesaal. Auf dem Weg dahin versuchte Constantin erneut, dahinterzukommen, wie ich mich in diesem Wirrwarr der Gänge, Treppenhäuser, Tunnel und Flure zurecht fand. Dass ich mir nicht immer ganz sicher war, ob ich die Symbole und Farbcodes richtig interpretierte, musste ich Constantin ja nicht unbedingt auf die Nase binden.

»Wow, was für ein Saal«

Auch mich beeindruckte der Anblick des Speisesaals mit seinen Bänken, den großen Kandelabern und der Kuppeldecke immer wieder aufs Neue. Während unseres Besuchs bei den Säulenmännern war es Abend geworden. Es herrschte somit Hauptfrühstückszeit. Die meisten Bänke waren bis auf den letzten Platz besetzt, dass wir kaum darauf hoffen konnten, einen freien zu erobern, hätte uns Nicolas nicht zwei freigehalten. Während ich mir mit Constantin im Schlepptau einen Weg durch die Tischreihen bahnte, kamen ständig Mönche auf mich zu, die mich freudig grüßten und deutlich zeigten, dass sie sich über meinen Besuch freuten. Mein letzter Auftritt, während dem ich Nicolas zum Ritter schlug, musste einen nachhaltigen Eindruck hinterlassen haben.

»Kennst du die alle?«, wollte Constantin wissen.

Er klang nicht direkt verschnupft oder gar verärgert, aber doch ein wenig überrascht, nicht selbst im Mittelpunkt des Interesses zu stehen. Als Fürst eines der einflussreichsten Häuser war er es gewohnt, dass ihm der Hauptteil der Aufmerksamkeit gehörte. Hier, in einem der spirituellen Herzen der Nosferatu, war Constantin nicht mehr als mein Begleiter, ich dafür aber einer der ihren. Einer, der sich ihrem heiligsten Ritual unterzogen hatte.

»Nicht alle, nein.«, erwiderte ich sanftmütig, »Sie sind Familie. Die Nosferatu betrachten mich als einen entfernten Vetter. Du kennst die Geschichte der Nosferat und Hati?«

Meinen letzten Satz hatte ich zwar als Frage stellt, war aber mehr als Feststellung gemeint. Natürlich verfügte Constantin über ein umfangreiches historisches Wissen.

»Ja, natürlich.«, ging er dann auch nachdenklich auf mich ein, »Darüber in einem Geschichtsbuch zu lesen oder es hier live zu erleben, sind zwei paar Hüte. Himmel, die Jungs strahlen ja richtig, wenn sie dich sehen.«

»Ich weiß, und es ist mir auch ein wenig unheimlich. Auf der anderen Seite freue ich mich. Sie schenken mir ein Gefühl von Zugehörigkeit und bedingungsloser Zuneigung, die einfach überwältigend ist. Sie erwarten keine Gegenleistung, außer der, dass ich ich sein soll. Ich glaube, dass an keinem anderen Ort im Kloster als hier im Speisesaal die spirituelle Aura dieses Ortes stärker ist. Sieh dich um, öffne deinen Geist! Fühle!«

Constantin schwieg, sah sich um und tat, was ich ihm riet. Er öffnete sich. Ich konnte es an seinen Augen sehen. Er fühlte.

»Wow!«

»Genau das! Und jetzt lass uns Essen.«

Wir hatten die von Nicolas freigehaltenen Plätze gerade erreicht, als auch schon ein mir wohlbekanntes Gesicht uns zwei Schalen gewürztes Blut brachte.

»Logan!«, rief ich leise, aber umso erfreuter aus, »Du bist noch hier?«

»Yepp! What did you expect? I am a historian. This is a library full of history! I call that a perfect match, don't I?«

Historiker? Bingo! Den Mann hatte mir der Himmel geschickt. Zusammen mit Nicolas sollten die beiden in der Lage sein, meinen Verdacht mit Fakten aus den Archiven der Bibliothek zu untermauern.

»Logan, würdest du mir einen Gefallen tun?«

»Shoot!«

In einigen wenigen Sätzen skizzierte ich Nicolas und Logan den Rahmen dessen, woran ich interessiert war. Bereits nach den ersten zwei Sätzen war ihnen klar, dass es um etwas sehr großes ging. Entsprechend motiviert zeigten sie sich und wollten so schnell wie möglich mit den Nachforschungen anfangen, bis ich meinte, dass zuerst aufgegessen wird.

»Wie weit sollen wir gehen?«, fragte Nicolas nachdenklich, »Was, wenn uns die Spur zu jemandem führt, der uns nahe steht?«

»In dieser Sache kann es keine Geheimniskrämerei geben. Besorgt die Information, egal wohin sie euch führt!«

Ein paar Minuten später verabschiedeten sich die beiden Historiker und ließen den Rest von uns zurück. Zufrieden damit, die ersten beiden Punkte auf meiner ToDo-Liste abgehakt zu haben, konnte ich mir die Ruhe, meine Schale Blut zu schlürfen und die spirituelle Atmosphäre des Speisesaals zu genießen leisten. Bei Simon, Orwell und Markus zeigte diese ebenfalls ihre Wirkung. Mit verzauberten, glasigen Augen betrachteten sie ihre Umgebung, nahmen ab und zu einen Schluck aus ihren Schalen, hockten aber ansonsten völlig überwältigt auf ihrem Platz. Für Simon und Orwell, die schon mehrere Jahrzehnte als Vampire lebten, dürfte der Kulturschock nicht ganz so gewaltig ausgefallen sein als für Marco, der noch keine vierundzwanzig Stunden den Blutsauger gab. Für ihn musste diese Welt ebenso fremdartig wie überwältigen wirken.

»Wie geht es dir?«

Ich hatte mich neben meinem blutjungen Vampir niedergelassen. Hier in der kontemplativen Ruhe des Klosters wollte ich nachholen, was in der Hektik um die Entführung meines Vaters zurücktreten musste. Den armen Mann hatte es wie einen Paukenschlag aus seinem bisherigen Leben gerissen. Wie verdaute er das? Wie kam er damit klar, von jetzt auf gleich in ein völlig anderes Leben katapultiert zu werden. Seine Augen sprachen Bände. Sie wirkten verloren, suchten nach etwas gewohntem, an dem sie sich festhalten konnten. Gleichzeitig schimmerte aber eine Faszination in ihnen auf, die hoffen ließ.

»Wenn ich das wüsste«, war Marcos frustrierte Antwort.

»Es ist etwas viel, was?«

»Hm«, brummelte Marco Zustimmung, »Kannst du mir sagen, wo ich reingeraten bin? Vorgestern war ich noch ein unauffälliger Bauhandwerker. Und jetzt? Ich trinke Blut aus Holzschalen? Das Zeug schmeckt sogar super lecker. Nein, ich weiß nicht, wie es mir geht. Hast du eine Ahnung, wie es jetzt mit mir weitergeht?«

»Zukunftsangst?«

»Ein wenig. Flo, das hier ist alles ein wenig zu viel für mich. Obwohl«, er sah sich um, »hier ist es sehr friedlich. Diese Nosferatu, auf den ersten Blick sehen sie unheimlich aus, aber die Typen sind cool und scheinen verdammt relaxed.«

»Verzeihst du mir?«, wollte ich wissen und erntete totales Unverständnis: »Verzeihen? Dir? Was sollte ich verzeihen?«

»Dich hier mit reingezogen zu haben. Ich hätte niemals zulassen dürfen, dass du uns bei der Befreiung meines Vaters hilfst. Mario hätte dich nicht angeschossen und...«

»Quatsch!«, Marco schüttelte energisch seinen Kopf, »Glaubst du, ich hätte mich aufhalten lassen. Flo, hätte, sollte, müsste... Was passiert ist, ist passiert. Wenn wir weiter mit dem hadern, was geschehen ist, kommen wir niemals vorwärts. Ich hätte dich nicht vergewaltigen sollen und du mir nicht erlauben dürfen, dir zu helfen. Wir haben es trotzdem getan. Das ist die Realität.«

»Du hast Recht.«, gab ich zu, »Und nu?«

»Das fragst du mich?« Marco lachte etwas bitter. »Ich habe keine Ahnung, wie es weitergehen soll. Das ist es ja gerade, was mich so kirre macht.«

»Willkommen im Club«, meinte ich und nahm einen Schluck aus meiner Schale, »Was meinst du, wie es mir ging. Deswegen reden wir miteinander. Die letzten Stunden waren etwas hektisch. Ich konnte mich nicht so um dich kümmern, wie ich es sollte. Es tut mir leid. Du bist mein Geschöpf. Auch wenn manche Stammväter es anders sehen, aber für mich ist das Blutband zwischen uns keine Einbahnstraße, bei dem ich Befehle gebe und du gehorchst. Ganz im Gegenteil bin ich der Meinung, dass es meine Aufgabe als Stammvater ist, dafür zu sorgen, dass es unserer Familie gut geht.«

»Wow!«, stöhnte Marco, »Flo, es ist okay. Ich komm schon klar. Ich will dir nicht zur Last fallen. Du hast mir das Leben gerettet.«

»Stopp! Stopp! Stopp! So wollen wir gar nicht erst anfangen. Ich komm schon klar. So nicht. Ich will, dass du dich gut fühlst. Und wenn du soweit bist, dir eine Aufgabe in unserem Haus suchst.«

»Aufgabe?« Marco wurde neugierig.

»Klar. Hey, wenn es dir nicht aufgefallen sein sollte: Wir sind ein Mikrohaus. Du, Nicolas und ich. Aus die Maus. Ich mache den Vorturner. Nicolas... du hast sein Schwert gesehen? Das ist kein Dekor. Der Mann ist der Marschall unseres Hauses und für unsere Sicherheit verantwortlich. Vorturner, Sicherheit, die Themen sind besetzt. Aus dem Rest kannst du dir was aussuchen.«

»Du verarschst mich?«, war sich Marco nicht sicher.

»Ich doch nicht«, grinste ich Marco an, der langsam auftaute, »Gegenfrage: Willst du weiter bei Niederreuter arbeiten? Ganz ehrliche Antwort. Wenn das dein Wunsch ist, können...«

»Nein, ich möchte bei dir und Nicolas bleiben.«, unterbrach mich Marco nachdenklich. Für einen Moment schloss er seine Augen, schlug sie wieder auf, schaute sich um und wandte sich dann wieder an mich: »Wir sind also wirklich echte Vampire?«

»Yupp!«

»Krass!«

»Ebenfalls Yupp!«

Von Säulenmännern und Kerzenwechslern

Constantin

Ich war beeindruckt, und das ist eine Untertreibung. Das Kloster der grauen Nebel war einfach nur atemberaubend. Dabei präsentierte sich das Äußere der Abtei wenig spektakulär. Nach einer mehrstündigen Autofahrt erreichten wir einen ziemlich abgelegenen Biobauernhof, was der hektischen Betriebsamkeit keinen Abbruch tat. Als wir auf den Hof einbogen, waren mehrere Mitarbeiter damit beschäftigt, diverse offene Holzkisten mit Gemüse in zwei kleine Transporter einzuladen, wovon der eine mit dem Namen eines Feinkostladens beschriftet war, während der andere Logo und Namen eines Feinschmeckerlokals trug. Dass es sich doch nicht um einen normalen Biohof handelte, dämmerte mir, als unsere Fahrzeuge direkten Wegs in eine große Garage fuhren, deren Metalltüren unmittelbar nach uns geschlossen wurden. Kein Sonnenstrahl drang hier herein, weswegen klassische Leuchtstoffröhren für Licht sorgen mussten.

»Was treibt euch denn wieder her?«, begrüßte uns eine sympathische Frau mit sehr sportlicher Erscheinung, »Ihr habt doch nicht etwa Sehnsucht nach meinen Bauernschränken, oder?«

Ich mag Insiderwitze nicht. Ich fühle mich dann immer total ausgeschlossen. Dieser war offenbar auf Florian gemünzt, da er sofort reagierte und lachte: »Nein, leider nicht. Wir müssten leider dringend nach unten.«

»Kein Problem, folgt mir!«

Wir folgten. Die sympathische Frau führte uns quer durch diverse Gebäudeteile bis zu einem Keller, in dem offensichtlich die eigenen Produkte des Hofes gelagert wurden. Als einfachem Menschen wäre einem die Besonderheit des Weges kaum aufgefallen, doch als Vampir entging mir natürlich nicht, dass wir zu keinem Zeitpunkt Bereiche mit offenem Sonnenlicht kreuzen mussten. Darauf angesprochen musste unsere Begleiterin lachen und meinte, dass wir uns nicht täuschen sollten. Es hätte mehr Besucher als erwartet gegeben, denen das Fehlen von Fenstern aufgefallen wäre. Allerdings würden sich alle mit der Begründung zufriedengeben, dass das nur dem Schutz der Produkte diene.

»Und, Florian, willst du uns nicht die Tür öffnen?«

Wir hatten einen Kellerraum erreicht, der außer der Tür, durch den wir ihn betreten hatten, keinen weiteren Zugang besaß. Nur eine schwere, alte und leicht rostige, eiserne Tür ließ ahnen, dass hier der Zugang zum eigentlichen Klosterkomplex verborgen lag. Tamirs Frage schien meinen Schatz zu verwirren. Er drehte sich um und schaute den Nosferatu verstört an.

»Ich?«

»Sicher«, erwiderte Petrus ernst, »Du bist ein Bruder unseres Ordens. Vergiss dies niemals. Es ist dein gutes Recht, jederzeit zu uns zurückzukehren. Genauso wie es dir zusteht, jeden Gast mitzubringen, den du dir wünschst. Nur zu, habe vertrauen. Du hast gesehen, wie ich das Tor öffnete.«

Florian nickte und drehte sich wieder um. Etwas zögerlich ging er auf die Eisentür zu, stellte sich einfach vor sie hin, strich etwas planlos über diverse Stellen von Zarge und Türblatt und zuckte erschrocken zusammen, als sich die Tür für ihn unerwartet öffnete.

»Die Nacht ist Euer!«, rezitierte die Frau feierlich als auch ein wenig amüsiert.

»Die Nacht ist unser!«, stammelte Flo und deute uns, ihm zu folgen.

»Dies ist der Weg in das Kloster der grauen Nebel.«, ergriff Petrus das Wort, »Es ist ein Ort der Einkehr, des Studiums und der Meditation. Es gibt kein Schweigegebot, allerdings ist dies auch kein Ort des lauten Wortes. Lasst diesen Ort auf euch wirken und er wird euch willkommen heißen und inneren Frieden schenken. Willkommen im Kloster der grauen Nebel.«

Petrus, der soweit ich wusste die Stellung von Tamirs Sekretär einnahm, war ein begnadeter Redner. Seine Stimme war von einem feierlichen Timbre durchzogen, dessen ich mich und die anderen Vampire in unserer keinen Truppe nicht verschließen konnte. Simons und Christianos Augen glänzten verzaubert im Schein der unzähligen Karbidlampen, die die steinerne Wendeltreppe erleuchteten, auf der wir den Weg in die Tiefe nahmen.

»Das Kloster verfügt zwar über Elektrizität, die Beleuchtung erfolgt aber ausschließlich mit Kerzen, Gas-, Öl- und Karbidlampen. Es ist einfach ein schöneres, lebendigeres Licht.«

»Und wofür verwendet ihr die Elektrizität?«, wollte Simon wissen.

»Computer funktionieren nicht ohne Strom. Dieses Kloster beherbergt eine der großen Bibliotheken unserer Art. Unsere Server, die Arbeitsplatzcomputer und Notebooks kommen nicht ohne Elektrizität aus. Genauso wenig die Wäscherei. Unser Geschirr wird hingegen von Hand gespült.«

Es ging wirklich tief in die Erde hinab. Ich fragte mich schon, wie weit sich die Nosferatu noch in den Fels gegraben hatten, als die Treppe plötzlich endete, wir einen Torbogen durchschritten und in eine großen Säulenhalle traten.

»Nein! Das darf nicht wahr sein!«, uns direkt gegenüber zierte ein riesiger Teppich die Wand. Ich hatte schon von den fantastischen Webearbeiten der Nosferatu gehört, doch was ich hier unten sah, übertraf alle meine Erwartungen. Der feine Stoff zeigte ein fotorealistisches Bild dreier Männer: Vladimir Breskoff, Tasmanir Musferatu und das Bild meines Vaters.

»Ja, Constantin«, Tamir hatte sich neben mich gestellt, »Wir drei waren Freunde, die besten und engsten, die man sich vorstellen kann. Ich habe die beiden geliebt, als wären sie meine Brüder und es stimmt mich traurig, dass sie nicht mehr unter uns wandeln. Umso mehr freue ich mich, dich hier bei uns willkommen zu heißen, denn den Sohn meines Freundes will ich ebenfalls meinen Sohn nennen. Ich schäme mich, Constantin. Ich hätte dich schon früher zu uns einladen sollen, viel, viel früher!«

»Danke Tamir. Danke Freund meines Vaters, den ich meinen Freund nennen will!«

Ob die Mönche der Luft des Klosters einen Stoff beimischten, der einen zu Rührseligkeiten und geschwollener Sprache verleitete? Mir verschlug es zumindest die Sprache, womit ich nicht allein war. Egal ob Orwell, Simon, Christiano oder Marco, alle vier Männer standen staunend mit mir in der Empfangshalle und wussten nicht, was sie sagen sollten. Mussten wir auch nicht, denn in diesem Moment kam ein Mann zu uns, der unschwer als Abt erkennbar war.

Es war merkwürdig. Als Fürst und Stammvater eines Hauses war ich es gewohnt, im Mittelpunkt zu stehen. Während sich sonst immer alles um mich drehte, war ich hier einfach nur ein Gast unter anderen Gästen. Natürlich begrüßte mich der Abt höflich und mit den meinem Stand entsprechenden Floskeln. Aber genau das waren sie auch: Floskeln, die zwar ernst und ehrlich gemeint waren, aber gerade deswegen auch den Unterschied zwischen dem Abt und mir unterstrichen. Florian hingegen wurde mit einer Herzlichkeit begrüßt, wir sich sonst nur sehr nahestehende Familienangehörige begrüßten. Es war eine interessante Erfahrung, zu erleben, wie jemand anderes als ich selbst im Zentrum des Geschehens stand. Und während meine Augen noch auf Florian ruhten und beobachteten, wie er gleichzeitig selbstbewusst und respektvoll mit dem Abt auf Augenhöhe sprach, begriff ich plötzlich, dass ich Zeuge meiner eigenen Zukunft wurde. Sollte mein Florian wirklich zum König der Vampire gewählt werden, stand mir nur die Rolle des Prinzgemahls zu. Ich blieb zwar Herr meiner beiden Häuser, aber die Nummer eins war er.

Fasziniert stellte ich fest, dass mich dieser Gedanke überhaupt nicht störte. Ganz im Gegenteil. Florians Unbefangenheit, seine natürliche Art, mit seiner neuen Position umzugehen, war bewundernswert und machte ihn zum besten aller möglichen Kandidaten.

Nach einer kurzen Diskussion, teilte sich unsere Gruppe auf. Tamir und Petrus folgten dem Abt. Nicolas nahm sich Orwells, Simons, Christianos und Marcos an und führte sie zum Speisesaal. Ich wäre ihnen gerne gefolgt, aber Florian hatte andere Pläne mit uns beiden und führte uns durch ein Wirrwarr an Gängen, Fluren und Treppenhäusern. Wie fand er sich hier nur zurecht. Das Kloster war ebenso überwältigend wie verwirrend. Ich ahnte zwar, dass die dekorativen Stoffbahnen, die die Flure zierten, irgendeinen Raumcode trugen, hatte aber keine Ahnung, wie dieser zu entschlüsseln war. Ich bemerkte nur, dass Florian uns immer tiefer hinabführte. Zum Schluss erreichten wir einen Gang, der nur noch von weißen und schwarzen Stoffbahnen gesäumt war und an einer kleinen, alten Holztür endete. Ich hatte Angst. Ich weiß nicht wieso, aber ich hatte Angst.

»Was ist dahinter?«, fragte ich Florian ängstlich.

»Nur das, was du mit hinein bringst.«


Die eigene persönliche Hölle. Ich kannte diesen Spruch, hielt ihn bisher aber für ziemlich abstrakt. Die Halle der Ersten belehrte mich eines Besseren. Sie war erbarmungslos und brutal. Obwohl Florian neben mir stand, seine Hand sogar auf meiner Schulter ruhte und mich dadurch stärken wollte, erwischte es mich wie mit einem Vorschlaghammer.

Diese Halle war ein Reflektor. Wie Florian sagte: In ihr befand sich nur das, was ich mit hinein brachte – Eitelkeit.

Oh ja, ich war eitel. Ich suhlte mich sogar in meiner Eitelkeit. Ich kultivierte, hegte und pflegte sie, indem ich den überselbstkritischen Stammvater gab, der sich als erster Asche aufs Haupt streute, wenn etwas schieflief. Oh, Himmel, was für ein erbärmlicher Wurm war ich nur? Meine Reaktion auf Frantz Verrat war absolut typisch. Am liebsten wäre ich im Büßerhemd durch mein Haus gewandert und hätte bei jedem einzelnen meiner Vampire nach Absolution gebettelt, um nichts anderes zu hören, als dass ich nichts falsch gemacht hätte und der beste Stammvater sei, den man sich wünschen könne.

Aber warum? Warum dieses penetrante fishing for compliments? Warum dieses lächerliche Flehen nach Anerkennung?

Meine persönliche Hölle – die Halle brach bis zum Kern meiner Persönlichkeit vor und entblätterte sie. Jede einzelne Schicht meiner unzähligen Schalen und Hüllen wurde abgepult, bis zuletzt nicht mehr übrig blieb, als ein kleiner schüchterner Junge, die viel zu früh lernen musste, ein Haus zu führen. Ein Junge, der Angst hatte, Fehler zu begehen, der Angst hatte, von den anderen erwachsenen Vampiren ausgelacht zu werden. Ein Junge, der sein fehlendes Selbstbewusstsein hinter unzähligen Masken versteckte.

Du bist Constantin Varadin! Erkenne dich selbst!

Wer war ich? Was war mein Kern, mein Wesen? Diese Halle war wirklich die Hölle. Sie hielt mir einen Spiegel vor. Nein, nicht einen, sondern viele Zerrspiegel, von denen ich einen nach dem anderen zerschlagen musste, bis am Ende mein nacktes, wahres Selbst übrigblieb. Ich glaube, ich sah mich wirklich das erste Mal in meinem Leben, wie ich wirklich war: Einerseits stark und selbstbewusst, dann aber auch unsicher und verletzlich. Ich wollte es allen recht machen, obwohl ich wusste, dass dies nicht möglich war, und so scheiterte ich.

Ja, dieser Ort war durchaus in der Lage, das eigene Ego zu zerstören, sobald man begriff, dass da keins war. Ich konnte mich glücklich schätzen, dass die Halle so gnädig war, mir meines zu lassen und mir sogar einen Fingerzeig zu geben, was ich machen musste. Es war ebenso banal wie klischeehaft: Ich musste aufhören, es jedem rechtmachen zu wollen. Niemand ist perfekt, auch nicht Constantin Varadin.


Die Ersten – was für ein phantastisches Erlebnis. Ich hatte mich gerade erst von meinem inneren Seelenstrip berappelt, wobei mir Flo durch seine pure Nähe half, als er mir auch schon die gigantischen Säulenmänner zeigte. Warum hatte ich eigentlich noch nie zuvor das Kloster der grauen Nebel besucht? Wenn Tamir ein so enger Freund meines Vaters und Vladimirs war, hätte er mir sicherlich eine Pilgerreise ermöglicht. Obwohl, hätte ich mich wirklich getraut? Die Gerüchte, die sich um diesen Ort rankten, hatten sich wenige Minuten zuvor mehr als bewahrheitet.

Sah ich wirklich was ich sah?

Ein schimmernder Dunst begann erst die Halle zu erhellen, dann vier monumentale Marmorfiguren emporzukriechen und ihnen nach einem wilden Herumgewabere sogar Gesichter zu geben. Ich sah jemanden, der Florian erschreckend ähnlich sah, einen Vorfahren von Onkel Vladimir, ein fast perfektes Ebenbild meines Vaters und...

»Nein, das kann nicht sein. Der? Aber wieso versteckt er sich?«

In diesem Moment herrschte totales Chaos in meinem Kopf. Ein Varadin, ein Baku, ein Nosferat und ein Dracul? Wo war das verbindende Element? Ich schaute von einem Säulenmann zum nächsten, sah zu Flo und... Klick!

»Wow, Flo, Baby, du könntest wirklich Recht haben. Oh ja, jetzt wird mir klar. Aber warum dieser Hass?«

»Deswegen sind wir hier. Nicolas war Historiker, bevor er mein Marschall wurde. Er weiß, wo wir in den Unterlagen der Bibliothek suchen müssen, um die Hintergründe aufzudecken. Dies hier, unser Erbe, wollte ich dir zeigen, damit du weißt, woher wir stammen. Lausche, öffne deinen Geist, lass die Ersten dir ihr Wissen schenken.«

Was folgte war ein Ritt durch die Geschichte der Menschheit und Vampire. Nosferatu existierten zu dieser Zeit noch nicht. Es war beeindruckend, sogar überwältigend, aber eigentlich reichte mein Wortschatz nicht aus, um das Erlebnis angemessen zu beschreiben.


Der Speisesaal – ahnte Flo, was er mir antat? Ich glaube nicht. Ich glaube sogar, dass er eine ganze Reihe Dinge nicht ahnte. Jeder konnte es sehen. Hier schlich kein einfacher Vampir durch die Reihen der Nosferatu, hier ging ein König. Hatte Flo seine Bestimmung wirklich schon akzeptiert, oder konnten wir seine Vorbestimmung bei der Arbeit sehen. Flo ging im besten Sinne des Wortes selbstbewusst, aber nicht arrogant oder gar überheblich. Dieser schüchterne kleine Junge hatte sich in einen charismatischen jungen Mann verwandelt. Ein Mönch nach dem anderen kam auf ihn zu und begrüßte ihn wie einen der Ihrigen. Jeder, der Flo erblickte, begann freudig zu lächeln, sogar zu strahlen. Und Flo genoss es. Er nahm die Zuneigung in sich auf, behielt sie aber nicht für sich, sondern gab sie verstärkt zurück. Flo sah wirklich glücklich aus.

Für einen Vampir geht natürlich nichts über Blut direkt aus der Halsschlagader. Allerdings kamen die gewürzten Blutgetränke der Nosferatu dieser Referenz sehr, sehr nahe. Unsere totenschädelartigen Vettern hatten den Vorteil, nicht auf körperfrisches Blut angewiesen zu sein. In vielen Bereichen waren wir uns sehr ähnlich, aber darin unterschieden wir uns deutlich. Trotzdem schien mir die Zubereitung in meiner Holzschale ausgesprochen belebend. Das Zeug stieg mir tatsächlich zu Kopf und versetzte mich in einen gutmütigen, seligen Zustand. Statt den machtbewussten Stammvater geben zu müssen, konnte ich einfach ein Vampir sein, der sein Blut schlürfte und die fantastische Umgebung genoss und auf sich wirken ließ. Und so sah ich interessiert zu, wie mein Liebling seinen sympathischen Marschall Nicolas und einen Mönch namens Logan bat, ein paar Nachforschungen in den Archiven unter Bibliothek des Klosters anzustellen. Es war wirklich sehr erholsam, eine Weile nicht der Boss sein zu müssen.

»Constantin, benötigst du mich im Moment?«

Tief in einen wohligen Tagtraum versunken, brauchte ich ein paar Sekunden, um zu begreifen, dass mir Orwell eine Frage gestellt hatte.

»Ähm, nein, nicht wirklich.«, stammelte ich, schob aber unsicher nach, »Du solltest aber vielleicht Florian fragen, ob es hier irgendwelche Verhaltensregeln gibt.«

Der große, kräftige Mann tat genau das, aber auf eine Weise, die mich wirklich überraschte. Orwell ging auf Florian zu, ging in die Hocke, um auf gleiche Höhe mit meinem Schatz zu kommen und sprach ihn leise flüsternd und mit den Händen gestikulierend an. Flo hörte zu, nickte zustimmend, lächelte und gab Orwell offensichtlich sein okay. Wofür sollten wir wenige Sekunden später erfahren. Orwell erhob sich zu seiner vollen Größe, ging gemessenen Schrittes den breiten Gang entlang, um vor einem Mönch zum Stehen zu kommen, der gerade dabei war, die Kerzen eines der großen Kandelaber zu wechseln. Der Mönch sah auf, wollte gerade seinen Hals recken, als Orwell wieder in die Hocke ging. Die beiden Männer sprachen eine Weile miteinander, der Mönch nickte und klopfte Orwell auf die Schulter. Und dann passierte etwas, das ich nie für möglich gehalten hätte. Orwell begann die abgebrannten Kerzen auszuwechseln. Niemand hatte ihn darum gebeten. Er tat es aus freien Stücken und schien es zu genießen. Ich glaube, ich habe noch nie einen Mann gesehen, der mit solch einer Passion wie er simple Kerzen austauschte. Da stand nichts schief. Jede einzelne Kerze stand perfekt senkrecht in seiner Halterung. Natürlich bemerkte er, dass wir ihn beobachteten. Er blinzelte uns kurz zu und widmete sich dann wieder seiner Aufgabe. Orwell wirkte glücklich.

Ohne meinen großen Kämpfer waren wir nur noch fünf: Florian, Simon, Marco, Christiano und ich. Gemütlich zuzelten wir unsere Getränke, genossen die friedliche Atmosphäre, vergaßen die Zeit, plauderten miteinander über Belanglosigkeiten und waren einfach nur wir selbst. Irgendwann, der Speisesaal hatte sich inzwischen deutlich geleert, betrat ein Mönch, nach seiner Statur zu schließen ein eher jüngerer Mann, die Halle und hielt direkt auf Florian zu.

»Bruder Florian, ich weiß nicht, ob du dich an mich erinnerst, ich bin Bruder Jakob. Bruder Markus bat mich dir mitzuteilen, dass für euch Nicolas alte Zelle und die drei Zellen rechts daneben als Unterkunft hergerichtet wurden und hoffen, dass sie euch zusagen.«

»Das werden sie ganz bestimmt, Jakob. Bitte richte Bruder Markus meine Dankbarkeit darüber aus, uns so kurzfristig in eurer Mitte aufzunehmen. Ich stehe tief in eurer Schuld.«

»Flo...«, rutschte es Jakob raus, »Entschuldige, ich wollte nicht respektlos erscheinen.«

»Ich mag es sehr, wenn du mich Flo nennst.«

»Du und alle deine Freunde werden uns immer willkommen sein.«, sprachs und verabschiedete sich. Jakobs Besuch wirkte wie ein Weckruf und riss uns aus unserer Lethargie. Florian, der für das Gespräch mit Jakob aufgestanden war, setzte sich erst gar nicht mehr hin, sondern sah uns fragend an.

»Wie ist, wollen wir uns die Unterkünfte ansehen?«

Und wieder zeigte uns Florian seinen erstaunlichen Orientierungssinn. Innerhalb weniger Minuten hatten wir einen Gang erreicht, der aussah wie zig andere Gänge, die wir zuvor passierten. Einzig die Farben und Symbole der Wandbehänge hatten sich leicht geändert.

»So, wir sind da«, verkündete unser klosterkundiger Anführer und öffnete die Türen dreier nebeneinanderliegender Mönchszellen, »Mein Vorschlag wäre, dass sich Simon und Christiano, Nicolas und Marco und Constantin und ich je eine Zelle teilen, für Orwell bliebe dann die vierte übrig.«

Der Vorschlag wurde einstimmig angenommen und die Räume sofort in Beschlag genommen. Florian zeigte Marco, welche Zelle ursprünglich Nicolas war und meinte, er solle es sich ruhig darin gemütlich machen. Simon und Christiano hatten erst gar nicht abgewartet, dass ihnen eine Unterkunft zugewiesen wurde und sich gleich die nächstgelegene geschnappt, womit sich für Florian und mich die Frage der Wahl von selbst erledigte.

»Wir werden ein paar Tage unter den Mönchen leben.«, rief uns Flo nochmals in den Flur zusammen, »Ich möchte euch einen Vorschlag unterbreiten, den ihr aber nicht als Bitte oder gar Wunsch meinerseits werten dürft. Ich werde mich gleich in eines der Bäder dieses Klosters begeben, meinen Körper reinigen und mich nach einem entspannenden Bad in die Gewänder meiner Brüder hüllen.«

Wer hätte gedacht, einen abgefuckten Kerl wie Christiano rot anlaufen zu sehen. Mein Topspion sah an sich herunter, betrachtete Simon, Marco, Florian und mich und wurde rot. Der Portugiese wusste, dass er einen geilen Körper besaß und gut aussah. Egal, was er trug, ob lässige Freizeitkleidung, formalen Businessdress, feierliche Abendgarderobe oder krasse Clubware, der Mann war Sex pur. Zusätzlich reflektierte diese Zurschaustellung körperlicher Attraktivität die Rolle des dummen Partyhäschens, die er perfekt zu spielen wusste. Umso peinlicher schien ihm nun sein eigenes Erscheinungsbild unangenehm aufzustoßen. Leicht geduckt murmelte er sich dann auch ein »Ich bin dabei.« von den Lippen.

Wie auf Kommando kam in diesem Moment Nicolas, der ehemalige Nosferatu den Gang entlang gelaufen.

»Ah, wie ich sehe, hat euch Markus Nachricht erreicht. « Mit einem frechen Grinsen auf den Lippen fügte er in Richtung Florian hinzu: »Chef, sag nicht, du hast die Zelle ohne Hilfe selbst gefunden?«

»Pöh!«

Badetag

Erwischt! Florian tat nur so selbstsicher, dabei beherrschte er die Orientierung im Kloster gar nicht so perfekt, wie er uns allen weismachen wollte. Von mir darauf angesprochen, grinste er mich nur an, gab mir total kindisch ein Küsschen auf die Nase und meinte: »Warum nicht? Hat doch gut funktioniert.«

Die Mönche des Klosters hatten unser aller Gepäck in die ehemalige Zelle Nicolas gebracht. Viel war es sowieso nicht, was wir dabei hatten, da der Aufbruch von Charlottenhof sehr spontan erfolgt war und wir keine großen Gedanken an einen längeren Aufenthalt verschwendet hatten. Zum Glück war dies auch nicht nötig. Nicolas klärte uns auf, dass das Kloster sich um sämtliche Bedürfnisse seiner Bewohner kümmerte, was seine Gäste miteinschloss.

»In Spitzenzeiten beherbergten wir mehr als zweihundert Gäste, wie Pilger aus anderen Bruderschaften oder Nutzer unserer Bibliothek. Gäste, die längere Zeit bei uns verbringen, übernehmen kleinere Aufgaben, mit denen wir das Kloster am Leben erhalten. Es hat bisher noch nie jemandem geschadet, ein paar Flure zu fegen, das Geschirr zu spülen oder Wäsche zu waschen.«

»Orwell scheint seine Aufgabe bereits gefunden zu haben.«, meldete ich mich schmunzelnd zu Wort, »Er hat sich einem Mönch angeschlossen und wechselt Kerzen.«

»Das«, Nicolas zog das S dramatisch hinaus, »ist etwas anderes. Kerzen wechseln oder Karbidlampen auffüllen ist Meditation und Arbeit für die Bruderschaft zugleich. Orwell wird es erleben. Mit der Zeit verändert es die Art und Weise, wie du die Welt wahrnimmst.«

»Oh bitte, das hat mir noch gefehlt.«, seufzte ich scherzhaft, »Ein kerzenwechselnder Hauptmann der Wache.«

»Manche erlangt der Ruf zu hören spirituellen Weihen an den ungewöhnlichsten Orten.«, ging Nicolas sybillinisch auf mich ein. Florians Geschöpf hatte einen sympathisch subversiven Humor. »Was meinst du Chef«, fuhr er an Flo gewandt fort, »Lust auf ein Bad?«

»Zwei Idioten, ein Gedanke«, erwiderte mein Liebling, »Mir war die gleiche Idee gekommen. Sollen wir die Bande mitnehmen?«

»Auf jeden Fall.«

Die Nosferatu waren ein unheimliches Völkchen, aber auch ein bewundernswertes. Florian und Nicolas führten uns in einen Umkleideraum, der... ich weiß nicht, wie ich es besser beschreiben soll, aber ich hatte selten einen so behaglichen Raum gesehen. Die handwerkliche Ausführung war einfach nur perfekt und dokumentierte die berühmte Hingabe der Nosferatu zu allem, was sie taten. Zusätzlich bewies die Materialauswahl, die Formensprache der Sitzbänke, Tische, Regale, der gesamten Einrichtung einen tiefen Sinn für Harmonie. Ich könnte nicht sagen warum, aber sich in diesem Raum zu entkleiden, schien etwas vollkommen natürliches zu sein. Nackt und mit einem gleichzeitig festen und weichen Handtuch bewaffnet, welche in einem Regal lagerten das aussah, als ob es speziell für diese Handtücher gebaut wurde, betraten wir die Duschen.

Duschen im Schein von Karbidlampen war ein Erlebnis für sich. Die Lampen befanden sich hinter dünnen Scheiben aus Bergkristall die als Spritzschutz dienten. Gleichzeitig brach sich aber auch das Licht darin und fächerte sich zu unzähligen Lichttupfern auf, ohne dabei kitschig oder schwülstig zu wirken. Dafür war der Duschraum ähnlich der Umkleide viel zu klar, sachlich und postmodern gestaltet.

Vier in den nackten Fels gehauene Nischen bildeten die eigentlichen Duschen und wurden prompt von Nicolas und Florian in Beschlag genommen. Flos Blick sprach Bände. Voller Verlangen und Leidenschaft bedachte er mich mit provozierenden Blicken, die mir prompt eine Erektion einbrachten, während er sich gleichzeitig ziemlich aufreizend unter der Brause räkelte. Ich wollte gerade meinen Schritt bedecken, als Florians Hand vorschnellte, mich am Handgelenk packte und zu sich unter den Wasserstrahl zog.

»Oder wolltest du den Rest der Nacht nur dastehen und mir beim Duschen zusehen.«, flüsterte mir mein Schatz ins Ohr, »Komm, sei lieb und seif mir den Rücken ein.«

Zwei Nischen neben spielte sich eine ähnliche Szene ab. Mir war schon vorher aufgefallen, dass zwischen Nicolas und Marco etwas lief, wenn auch noch auf einer Vorstufe zur vollen Beziehung. Während Flo einfach zugepackt hatte, beschränkte sich Nicolas darauf, seinen Arm als Einladung an Marco auszustrecken. Nach einem Moment des Zögerns nickte Florians Tischlerkollege und ging auf den Exnosferatu zu, der ihn sofort in seinen Arm nahm und sanft mit Seife einschäumte.

Bei so viel offen demonstrierter Zweisamkeit konnten Simon und Christiano unmöglich nachstehen. Während sie eben noch jeder für sich vor einer Nische standen und überlegten, ob sie unter den Brausekopf treten sollten, teilten sie sich Sekunden später nur noch eine und alberten wie pubertierende Jugendliche herum, was ansteckend war. Innerhalb weniger Momente entwickelte sich eine handfeste Wasserschlacht. Es war toll, einfach loslassen zu können und sich frei und unbeschwert austoben zu dürfen. Ich glaube, dass ich mich seit Jahrhunderten nicht mehr so jung, lebendig und glücklich gefühlte habe, wie in diesen Momenten unter der Dusche im Kloster der Bruderschaft der grauen Nebel. Allein für dieses Erlebnis war ich Florian sehr, sehr dankbar. Doch da ahnte ich noch nicht, was als nächstes kommen sollte.

Nachdem wir uns ausgetobt und nebenbei kräftig abgeseift und gewaschen hatten, wollte ich, wie Christiano, Simon und Marco ebenfalls, mein Handtuch greifen und in die Umkleideräume zurückkehren. Wie wir später erfuhren, beging jeder, der die Bäder des Ordens nicht kannte, diesen Fehler. Statt also den Rückweg anzutreten, wurden wir mehr oder weniger nachdrücklich von Florian und Nicolas in einen weiteren Raum befördert, der allerdings überhaupt keiner war, sondern eine unterirdische Grotte von überirdischer Schönheit. Dies war das eigentliche Bad. Ohne auf uns zu warten stiegen unsere beiden Freunde in das beleuchtete Wasser, ließen sich in das Nass hineingleiten und sich von ihm umschließen.

Die Albernheit war vergessen. Ich schaute zu Simon, zu Christiano und auch zu Marco, und sah sofort, dass sie von diesem Ort ebenso fasziniert waren wie ich. Hier rumzutoben, verbot sich von selbst. Dieser Ort war heilig. Ich spürte es in dem Moment, als mein Fuß die Wasseroberfläche berührte. Das Wasser war einzigartig. Langsam und anfangs etwas unsicher stieg ich die Stufen des Beckens hinab und ließ mich am Ende in das belebende Nass hineingleiten. Flo war zu mir geschwommen und nahm mich in seine Arme, schmiegte sich an meinen Körper und küsste mich.

»Ich weiß nicht, was ich sagen soll.«, flüsterte ich ihm zu.

»Dann sag einfach nichts und genieße das Wasser.«, erwiderte Florian und begann mit mir sanft zu schmusen.

Während handfester Sex an diesem Ort mehr als unangemessen war und sich daher ausschloss, galt körperliche Nähe, das Zeigen von Zuneigung durchaus als akzeptiert. Und so schwommen wir durch das Wasser, ließen uns den Wasserfall auf den Köper prasseln, tauchten durch die Fluten oder schmiegten uns aneinander. Nachdem uns eine ganze Weile moderat ausgetobt hatten, fanden wir uns einer nach dem anderen im seichteren Bereich am Beckenrand ein. Paarweise aneinander gekuschelt dümpelten wir entspannt vor uns hin.

Christiano hielt Simon in seinen Armen, Flo hatte sich an meinen Oberkörper geschmiegt und auch Nicolas und Marco zeigten, dass zwischen ihnen mehr war, als sonst bei den Mitgliedern eines Hauses üblich.

»Flo?«, durchbrach Nicolas die andächtige Stille, »Wir, also Logan und ich, sind ziemlich zuversichtlich, die Informationen, die du haben wolltest, rechtzeitig zusammenzubekommen.«

»Super, ich wusste, dass ihr das schafft. Danke!«, bedankte sich Florian.

»Boss?«, meldete sich Simon zu Wort, »Warum sind wir eigentlich hier? Nicht, dass es mir nicht gefällt. Ganz im Gegenteil. Hier ist es... unbeschreiblich. Die Nosferatu sind völlig anders, als ich sie mir vorgestellt habe.«

»Eigentlich könntest du Flo selbst fragen«, piekste ich Simon an. Meine Leute sollten von Anfang an begreifen, dass Florian mein gleichberechtigter Lebensgefährte war. »Um es aber abzukürzen: Florian hat entdeckt, wer hinter dem Angriff auf unsere beiden Häuser steckt.«

Diese Antwort reichte, damit es laut und deutlich platschte. Simon, Christiano, Marco und Nicolas sprangen fast aus dem Wasser.

»Du weißt es?«, wollte Christiano wissen, »Wer ist es?«

»Ich bin mir noch nicht sicher«, relativierte Florian, der eindeutig nicht gewillt war, seinen Verdacht preiszugeben, »Bitte versteht das nicht falsch. Ich vertraue euch allen hundertprozentig. Ich will bei dieser Sache nur absolut sicher sein. Deswegen auch die Nachforschungen im Archiv und der Bibliothek. Wenn Logan und Nicolas mit den Informationen aufwarten können, die ich erwarte, ist das Rätsel gelöst. In der Theorie passen alle Mosaikstücke perfekt zusammen, weswegen ich nicht riskieren will, dass mir die Realität auf dem letzten Meter noch ein Bein stellt.«

»Klingt vernünftig.«, meinte Simon und war mit dem Thema durch, was er damit unterstrich, ein paar Runden durch das Becken zu schwimmen.

»Ist es eigentlich wahr«, wechselte Marco nachdenklich das Thema, »dass du ein Anrecht auf die Krone hast?«

Florian antwortete nicht sofort, sondern löste sich erst von mir, ließ sich einen Moment durch das Wasser treiben, tauchte kurz unter und meinte: »Ich befürchte, dass Constantin nicht gescherzt hat, als er mich vorschlug und selbst auf die Krone verzichtete.«

Der Ball lag nun bei mir: »Die Thronfolge ist klar geregelt. Ich will keine große Geschichtsstunde abhalten, deswegen nur so viel: Unter den Vampiren gab es vier Blutlinien gebürtiger Hämophagen, wie Florian und ich es sind: die Dracul, die Baku, die Nosferatu und die Kodiac. Aus diesem Kreis haben die Ersten ihren König gewählt und die Thronfolge festgelegt. Danach stehen die Nosferat an erster Stelle, gefolgt von den Dracul, den Baku und zuletzt von den Kodiac. Nach der Legende erfolgte die Wahl geheim. Danach soll der erste König der Vampire mit drei zu einer Stimme gewählt worden sein. Die eine Gegenstimme war seine eigene. Und so bestieg ein Vorfahre Florians den Thron. Er herrschte viele Jahrhunderte, während die anderen Stämme entstanden. Vampire, die von ihren Stammvätern für ihre Dienste und Treue mit voller Souveränität und Freiheit belohnt wurden, gründeten eigene Häuser. Worauf die vier Ersten entschieden, einen Rat einzurichten, in dem jeder Stammesführer unabhängig von Ansehen oder Herkunft die gleiche Stimme erhielt. Jahrtausende bevor die Menschen die konstitutionelle Monarchie für sich entdeckten, war dies für unsere Vorfahren längst gängige Praxis. Auf Vorschlag des Königs wurde der Großteil seiner Macht auf den Rat übertragen. Dieser Weg hat sich so sehr bewährt, dass sich die Rollen von Thron und Rat kaum verändert haben. Unser Herrscher herrscht nicht. Seine Aufgabe besteht darin, unsere Art zu repräsentieren. Außerdem schlichtet er Streitfälle zwischen den Häusern und fungiert als oberster Richter. Aber um auf die ursprüngliche Frage zurückzukommen. Natürlich müsste Florian noch durch den Rat bestätigt werden, sein Anspruch auf die Krone ist hingegen unbestreitbar. Als Nosferat respektive Hati würde das Geschlecht unserer ersten und wahren Könige zurückkehren. Dafür verzichte ich gerne auf meinen Anspruch.«

»Ähm, ich bin ja noch neu in solchen Dingen«, hakte Marco nach, »Bitte reißt mir nicht den Kopf ab, wenn ich etwas dummes oder verbotenes sage, aber woher wissen wir, dass Florian ein Nosferat ist?« Unsicher schaute er zu seinen Stammvater: »Flo, versteh mich bitte nicht falsch. Ich glaube dir. Ich kann in mir fühlen, dass du die Wahrheit sagst. Aber was ist mit den anderen Häusern? Während der Ratssitzung habe ich mich die ganze Zeit gefragt, warum niemand einen Beweis von dir verlangte?«

»Oh«, entfuhr es mir, »Ich glaube, du hast da gerade einen verdammt heiklen Punkt entdeckt.«

»Nicht, wenn mir Nicolas und Logan die Informationen liefern, die ich suche.«, entgegnete mein Schatz unbekümmert und kletterte vergnügt aus dem Bad, »So meine Lieben, mir reicht es für heute. Es ist jetzt Mitternacht. Zeit, um der Bibliothek einen Besuch abzustatten. Constantin, hättest du Lust, mich zu begleiten?«

Was hatte dieser Junge jetzt wieder vor? Natürlich wollte ich wissen, was der Mann vorhatte und wollte ihn auf jeden Fall begleiten. Simon, Christiano und Marco entglitten bei dem Wort Bibliothek hingegen die Gesichtszüge. Ihr Verlangen nach staubigen Folianten hielt sich in Grenzen. Stellvertretend für die anderen beiden Männer fasste Marco ihre Haltung mit den Worten »Alte Bücher muss jetzt nicht sein« zusammen und fragte Nicolas, ob er ihnen nicht helfen könne, für sie eine produktive Beschäftigung zu suchen. Die ganze Nacht im Bad abhängen oder im Speisesaal Blut schlürfen wäre auf Dauer ein wenig zu öde.

»Kein Problem. Wenn ihr etwas helfen wollt, dann lässt sich das einrichten.«, freute sich der ehemalige Mönch der grauen Nebel, kletterte ebenfalls aus dem Wasser und wandte sich Florian zu, »Wenn du erlaubst, bringe ich sie zum Cellerar und folge dir anschließend in die Bibliothek. Ich glaube, ich weiß, wo ich dich suchen muss.«

Das klang geheimnisvoll. Florian verstand und nickte seinem Marschall zu. In der Zwischenzeit waren auch Simon, Marco und Christiano aus dem Becken geklettert, denen ich nach einer kurzen Runde folgte. Das Bad war eine schöne Überraschung gewesen, was folgte war auch eine, wenn auch einer völlig anderen Art. Statt unsere Straßenkleidung wieder anzuziehen, drückten uns Nicolas und Florian Mönchskutten in die Hand.

»Bitte...«, wo hatte mein Schatz nur diesen herzerweichenden Hundewelpenblick gelernt?

»Menno, sieh mich nicht so an. Natürlich ziehe ich die Kutte an. Hältst du mich für den totalen Trampel?«

»Nein!«, strahlte Florian unerträglich glücklich und drückte mir verliebt einen Kuss auf die Nase, »Ich halte dich für einen Schatz!«

Dass war's! Ich wurde rot, knallrot, insbesondere, als sich Simon, Nicolas, Christiano und Marco wenig erfolgreich versuchten, ein Kichern zu verkneifen.

Fünf Minuten später sahen wir alle gleich aus... Fast, denn Christiano schaffte es, auch in einer Mönchskutte einfach nur geil auszusehen. Wie machte der Typ das nur? Egal wo mein Topagent auftrat, er zog die Blicke auf sich. Ich glaube, er hätte den Leuten auch dann noch den Kopf verdreht, wenn er in fadenscheinige Kartoffelsäcke gehüllt daherkäme.

Wie versprochen, schnappte sich Nicolas unsere drei Jungs und brachte sie zum Cellerar, während Florian mit mir in Richtung Bibliothek aufbrach. Was wusste ich über die Bibliothek? In ihr wurden das Wissen und die Geschichte unserer beiden Arten, der Vampire und Nosferatu, bewahrt. Sie war unser Gedächtnis. Alle Häuser verfügten über einen geschützten Zugang zu diesem Wissen, wobei ich aber immer vermutete, dass uns im Gegensatz zu den Nosferatu nicht alle Informationen zugänglich waren. Da die Mitglieder meines Hauses und ich immer nur per Computer auf die Bibliothek zugriffen, hatte sich bei mir die Vorstellung von einem großen Serversaal ausgebildet. Umso beeindruckter war ich, als Florian mit mir den Lesesaal betrat und uns der Geruch echter Bücher in die Nase stieg.

Wir betraten die Bibliothek über eine Galerie, die mir einen vorzüglichen Blick über den gesamten Lesesaal bot. Eine Wendeltreppe führte uns hinab zu den Lesetischen, an denen fleißige Mönche intensiv an dicken Folianten, Heftern mit einzelnen Blättern, Computern, kleinen Büchern, einfach mit allem, was das geschriebene oder gesprochene Wort enthielt, arbeiteten. Allerdings schienen diese Arbeitsplätze nicht unser Ziel zu sein, da Florian stramm voranschritt und auf eine Art Supervisorplatz zuhielt.

»Florian, ich habe mich schon gefragt, wann du hier aufkreuzt.«, begrüßte uns ein Mönch hinter dem Tresen.

»Albert, glaubst du, ich wäre wieder abgereist, ohne dir und Jost einen Besuch abzustatten?«, lachte mein Geliebter.

»Das hätten wir dir auch niemals verziehen«, hörte ich eine Stimme hinter mir sagen, die einem Mann gehörte, der dem auf den Namen Albrecht hörenden wie aus dem Gesicht geschnitten war, woraus ich gepaart mit seiner Bemerkung schloss, dass es sich um Jost handelte und dieser offensichtlich der Zwillingsbruder Albrechts war.

»Seid ihr die Bibliothekare?«

»Das sind wir!«, bestätigte Albrecht, um nahtlos von Jost ergänzt zu werden: »Und mit wem haben wir das Vergnügen?«

»Constantin Varadin-Breskoff, zu euren Diensten!«, stellte ich mich mit leichter Verbeugung vor.

»Zwei Stammväter in einer Nacht. Ich bin beeindruckt.«, lachte Jost, um dann wiederum von Albrecht fortgesetzt zu werden, »Ich nehme an, ihr wollt zu eurer Kaverne?«

Kaverne? Ich verstand gar nichts mehr, Florian dafür umso mehr. Was blieb mir also anderes übrig, als den drei Männern zu folgen? Wobei ich es sehr merkwürdig fand, wohin wir gingen. Albrecht und Jost führten uns in einen Seitenstollen, von dem ich zuerst dachte, bei ihm würde es sich um die erwähnte Kaverne handeln. Dem war aber nicht so. Es handelte sich einfach nur um ein riesiges Bücherlager an dessen Ende sich eine Panzertür befand, die von den beiden Bibliothekaren geöffnet wurde. Hinter der Tür erblickte ich elektrisches Licht. Doch bevor ich mich wundern konnte, wurde ich von Florian darüber aufgeklärt, dass es sich bei diesem Raum um einen von zwei Serverräumen der Abtei handelte. Hier, genau hier lagerten das Wissen und die Geschichte unserer beiden Arten.

»Bei deinem ersten Besuch haben wir dich zu deiner Kaverne geführt, was eigentlich nicht üblich ist.«, wandten sich die beiden Mönche in ihrer eigentümlichen Wechselsprechweise an Florian, »Das Gebot der Diskretion verlangt, dass wir nicht weiter gehen und den Eigentümern der Kavernen ungestörten Zugang gewähren. Wir werden euch daher jetzt verlassen. Ihr könnt die Panzertür von innen öffnen, indem ihr auf diesen Knopf drückt.«

Jost zeigte auf einen roten Knopf, während Albrecht auf die Server zeigte: »Ich weiß, dass ihr unsere Server niemals anfassen werdet. Trotzdem muss ich euch warnen, sie nicht zu berühren.«

Mit diesen Worten verließen uns die beiden merkwürdigen Männer, worauf sich Florian ebenfalls in Bewegung setzte und uns in einen alten, muffigen Gang führte, den eine Reihe von seltsamen, weil unterschiedlichsten, Türen säumte. Erstmals nach Verlassen des Bades sprach mich Florian wieder an.

»Ich muss mich bei dir entschuldigen«, begann er sanft, blieb stehen und sah mich entschuldigend und nach Verständnis heischend an, »Aber dieser Ort ist keiner, über den in der Öffentlichkeit gesprochen werden sollte. Was nicht heiß, dass ich auch nur einem unserer Freunde misstraue. Nicolas kennt das Geheimnis dieses Ortes. Die Türen, die du hier siehst, verschließen Kavernen, die du am besten mit schweizer Nummernkonten vergleichen kannst. Manche Kavernen sollen seit Ewigkeiten bestehen. Die Nosferatu beschützen sie und sorgen dafür, dass nur diejenigen Zugang zu diesem Gang erhalten, die dazu berechtigt sind. Die Kavernen selbst werden durch Türen gesichert, die jeder Inhaber selbst gestalten kann. Ich glaube, dass du nirgends tödlichere und gemeinere Fallen finden wirst, als hier.«

»Ich verstehe«, murmelte ich nervös und wich unwillkürlich von der Wand mit den Türen zurück. Ich ahnte die Antwort auf meine nächste Frage, trotzdem musste ich sie stellen: »Und was hat das mit uns zu tun?«

»Das hier!«

Florian hatte uns bis vor eine eher schmucklose, um nicht zu sagen sachlich nüchterne Tür geführt. Soweit ich das beurteilen konnte bestand sie aus schlichtem Edelstahl, in das vier dunkle Ringe eingelassen waren.

»Was siehst du?«

»Eine Stahltür mit vier Ringen.«

»Schau genauer hin!«

Ich schaute, konnte aber nichts entdecken, bis auf die langweile Tür, ihre dunklen Ringe und... na aber hallo! Was war das? Unter der Tür kam der gleiche schimmernde Dunst wie in der Halle der Ersten hervorgekrochen und bildete ein virtuelles Tastenfeld mit der Frage: »Wer bist du?«

Ohne nachzudenken, wie die Frage gemeint war, tippte ich »Kodiac« ein und wurde mit einem Klicken belohnt. Die Tür schwang auf.

»Wow!«

»Wem sagst du das?«

Wir gingen hinein. Kaum hatten wir den ersten Schritt in die Kaverne getan, klickte es erneut, unzählige Gasleuchten flammten auf und erhellten den langgezogenen Stollen. Ich war sprachlos. Wo waren wir? Was war dies für eine Kaverne? Welchen Zweck erfüllte sie? Was wurde hier gelagert? Florian schien meine Gedanken zu erahnen. Er ging ein paar Schritte voran, drehte sich zu mir herum und meinte: »Dies ist das Archiv der Ersten. Wenn ich es richtig verstanden habe, wird hier das geheime Wissen unserer Vorväter gelagert. Sieh dir diese Bleche an. Sie bestehen aus Nickel und sind mit einer ultrafeinen Mikroschrift bedeckt. Diese Bleche halten ewig, das heißt sie sind auch noch in tausend oder zehntausend Jahren lesbar. Hier drüben findest du ein Inhaltsverzeichnis, während in den Regalen die eigentlichen Dokumente lagern.«

Florian geriet mehr und mehr in Fahrt. Wie ein Kind im Spielzeugladen strahlten seine Augen, während er mir die Schätze der Kaverne zeigte.

»Du hättest mir Charlottenhof nicht schenken müssen«, meinte mein Schatz und holte eine Schachtel herbei, die er vor meinen Augen öffnete. Der etwa Schuhkarton große Behälter war bis zum Rand mit Diamanten gefüllt, »Wie es aussieht, haben meine Vorfahren für mich vorgesorgt.«

»Ich habe dir Charlottenhof nicht als Almosen geschenkt, sondern weil ich dir eine Freude machen wollte und glaube, dass du es gut gebrauchen kannst.«

»Ich weiß.«, erwiderte Florian, der sich seiner Bemerkung plötzlich schämte, »Ich... Ich habe das nicht so gemeint. Ich weiß, dass du mir eine Freude machen wolltest. Ich...«

Darum liebte ich Flo – seine Bescheidenheit, sein Wunsch, niemandem zur Last zu fallen. Auch, wenn er es damit manchmal ein wenig übertrieb. Deswegen nahm ich ihm seine Diamantenschachtel aus den Händen und stellte sie beiseite, um dafür ihn in den Arm zu nehmen.

»Ich weiß, Flo, ich weiß.«, stoppte ich sein Gestammel, küsste ihn kurz und stellte dann eine Frage, die mich viel mehr bewegte und wie ein Stachel im Fleisch schmerzte: »Kannst du mir verraten, warum ich von dieser Kaverne überhaupt nichts wusste?«

Nosferatische Schließfächer

Florian

Genau das war der Punkt – warum wusste Constantin nichts von dieser Kaverne. Die Tür hatte ihn hereingelassen, oder? Er war zweifelsfrei ein Kodiac. Genauso wie sein Vater einer war. Der Wandteppich in der Eingangshalle mit seinem Konterfrei ließ nur einen Schluss zu: Er kannte nicht nur das Kloster, er kannte die Kaverne. Stellte sich die Frage, warum er seinem Sohn und Stammhalter davon nie etwas erzählte. War es zu weit gegriffen, einen Zusammenhang mit unserer aktuellen Situation zu unterstellen?

»Du denkst das gleiche wie ich, oder?«, fragte Constantin.

»Nach allem, was Christiano und du mir erzählt habt, waren Vladimir Breskoff und dein Vater die besten Freunde. Wenn weder dein Vater noch Baron Breskoff etwas von diesem... Schließfach erzählten, kann es nur bedeuten, dass es hier etwas gibt, wovon sie nicht wollten, dass du davon erfährst. Weswegen auch immer.«

Constantin rollte mit seinen Augen: »Du brauchst mich nicht zu schonen. Natürlich wollten mir die zwei etwas verheimlichen. Ich habe nach Vladimir Breskoffs Tod in seinem Siegelring eine Speicherkarte gefunden. In Wirklichkeit war es nämlich nicht der Originalring, den er am Finger trug, sondern ein Duplikat mit einem Hohlraum. Mir fiel es nur auf, weil mein Vater den gleichen Ring besaß, nur ist seiner deutlich schwerer. Wie auch immer... Diese Speicherkarte enthält das gesamte Haus Breskoff: Konten, Bankschließfächer, eine Auflistung aller Liegenschaften, Verträge mit anderen Häusern, halt alles, was rechtlich ein Haus ausmacht. Ich gebe zu, dass ich noch nicht dazu gekommen bin, alle Dateien zu sichten, aber ich bin mir sicher, dass mir ein Hinweis auf dieses – wie hast du es so treffend formuliert? Schließfach? – dass mir ein Hinweis auf dieses Schließfach garantiert aufgefallen wäre. Wenn wir eins und eins zusammenzählen, was ergibt das dann?«

»Also gut«, ich konnte verstehen, dass es mir Constantin überließ, die wenig erfreuliche Schlussrechnung durchzuführen, »Breskoff und dein Vater haben etwas getan, was sie nicht nur vergessen wollten, was auch für alle anderen vergessen und begraben bleiben sollte. Da sie davon ausgingen, dass nur noch ihre beiden gebürtigen Blutlinien bestanden, haben sie alles, was es darüber gibt, hier eingelagert. Sie konnten ja nicht wissen, dass sie nicht die einzigen Blutlinien waren.«

»Dem ist wohl nichts mehr hinzuzufügen.« Das klang nicht nur bitter, es klang verbittert. Constantin Unterlippe zitterte. Ich musste mir immer wieder klar machen, dass mein Liebling eben nicht ein junger Mann von Mitte zwanzig war, auch wenn er so aussah, sondern zig Jahrhunderte an Lebenserfahrung besaß. Und dieser Mann begann zu weinen. Er versuchte es zu verstecken, sich schnell mit dem Saum seiner Kutte die Tränen wegzuwischen, aber es gelang ihm nicht. Alles, was ich tun konnte, war meinen Mann in den Arm zu nehmen und zu halten.

»Ich habe diese Männer geliebt, geachtet und zu ihnen aufgesehen. Onkel Vladimir war wie ein Vater zu mir und meinen Paps... ich habe ihn immer als einen ehrlichen und offenen Mann erlebt. Warum diese Geheimnisse? Was gibt es hier, dass sie es mir nicht sagen konnten?«

»Finden wir es raus!«, erwiderte ich entschlossen. Constantin schaute auf und glotzte mir ungläubig in die Augen. Ich erwiderte seinen Blick mit einer hoffnungsvollen, entschlossenen und positiv gestimmten Miene. »Du solltest nicht zu voreilig ein Urteil über die beiden Männer fällen. Wer weiß, vielleicht wollten sie dich einfach vor etwas schützen. Was es auch immer sein mag, wir können nur dann darüber entscheiden, wenn wir es finden. Also, schauen wir nach?«

Constantin fasste sich, nickte mir zu, griff nach meinen Händen und drückte sie: »Schauen wir nach! Danke, Flo!«


So entschlossen wir das geheime Archiv der Ersten auch angriffen, freiwillig wollte es uns seine Geheimnisse nicht preisgeben. Das sagt schon das Wort: Archiv. Ich glaube, dass es kaum etwas langweiligeres gibt, als Inhaltsverzeichnisse abzuarbeiten. Wir versuchten uns rückwärts in die Vergangenheit vorzuarbeiten und begannen mit den letzten Einträgen. Diese stammten tatsächlich von Vladimir Breskoff, lagen aber schon hundertsiebzig Jahre zurück. Das Inhaltsverzeichnis gab »Staatsverträge« als Titel an. Und tatsächlich, die Nickelfolie in den entsprechenden Fächern enthielt Abschriften von Verträgen, die Vladimir Breskoff in seiner Eigenschaft als König mit dem Französischen Staat getroffen hatte. Eine Reihe anderer Dokumente beschrieb detailliert den Einfluss, den wir, die Vampire, auf die Neugestaltung Europas während des Wiener Kongress von 1814/15 genommen hatten. Der alte Vladimir hatte wirklich fleißig in der Weltpolitik mitgemischt. Je mehr wir lasen, oder besser überflogen, desto mehr begann ich die Geschichte zu hinterfragen, wie ich sie noch während meiner Schulzeit vermittelt bekam. Bei fast allen einschneidenden Veränderungen und Umwälzungen der Menschheitsgeschichte hatten wir, die wir keine Menschen waren, unsere Finger mit drin.

»Wir führten Kriege, oder?«, wollte ich von Constantin wissen.

»Offensichtlich. Mein Vater und meine Lehrer haben mir unsere Geschichte gelehrt. Vor tausend Jahren führten die Clans gegeneinander erbitterte Kriege, bis Onkel Vladimir und mein Vater erkannten, dass diese uns früher oder später alle vernichten würden. Vladimir soll damals seine ganze Autorität als König in die Waagschale geworfen haben, um einen Friedensvertrag zwischen den Häusern auszuhandeln. Aber wenn ich dies hier lese, hat sich der Krieg nur verlagert. Wir bekämpfen uns nicht mehr direkt, sondern lassen die Menschen gegeneinander für uns antreten. Dabei wissen sie es noch nicht einmal. Dieses Archiv mag die letzten hundertsiebzig Jahre nicht enthalten, doch wenn ich an unsere Welt denke, wie sie jetzt ist und welches Leid allein im zwanzigsten Jahrhundert über sie hereinbrach, erkenne ich unsere blutige Handschrift.«

»Nein!«, widersprach ich meinem verzweifelten Freund, »So darfst du das nicht sehen. Fürst Constantin Varadin, hast du Menschen missbraucht, um gegen andere Clans Krieg zu führen?«

»Nein!«, rief er entrüstet und erstaunt.

»Natürlich hast du es nicht!«, pflichtete ich ihm bei, »Du könntest es gar nicht, denn du bist ein guter, liebevoller Vampir. Und wenn ich Breskoffs Dokumente lese, dann sehe ich einen Mann, der stets versuchte, Leid zu mildern und den bösen Kräften etwas entgegenzusetzen. Ich glaube, er war ein guter Mensch... Vampir!«

»Ja, das war er... Glaube ich wenigstens. Ich...«

In diesem Moment vernahmen wir ein Geräusch aus Richtung der offenen Tür. Nicolas war eingetroffen und hatte Logan bei sich. Beide Männer standen außerhalb der Kaverne und unternahmen auch keinerlei Anstalten, sie zu betreten.

»Euch schickt der Himmel. Bitte tretet ein.«, forderte ich die beiden auf und sandte Constantin einen fragenden Blick zu, den dieser müde und matt mit einem Nicken bejahte. »Wir haben ein Problem. Wir suchen etwas, wissen aber nicht was.«

In kurzen Sätzen versuchte ich den beiden gelernten Historikern einen Überblick über unsere Situation und Fragestellung zu geben. Ich hatte keinerlei Bedenken, sie in die intimen Geheimnisse unserer beiden Häuser einzuweihen, zumindest soweit es den vorliegenden Fall betraf. Nicolas als mein Geschöpf genoss sowieso mein absolutes Vertrauen und da er Logan vertraute, vertraute ich ihm ebenfalls.

»Ihr versteht unser Problem?«, schloss ich meinen Vortrag, »Wir, Constantin und ich, sind keine Profis und wissen nicht, wie man ein Archiv wie dieses richtig durchsucht. Wir könnten jede Archivseite einzeln durchgehen, doch dann würden wir wahrscheinlich noch in hundert Jahren hier sitzen. Ihr zwei seid Geschichtsprofis. Ihr kennt die Parameter. Könnt ihr uns helfen?«

»Nur dass ich das richtig verstehe«, hakte Logan mit für ihn ungewöhnlichem Ernst nach, »Ihr wollt, dass wir eine Information finden, die sowohl Baron Breskoff als auch Fürst Varadin für so...« Logan rang nach Worten: »delikat hielten, dass sie sie hier für immer einschließen wollten? Well... Let's see what we can do!«

Profis bei der Arbeit zu zusehen, war immer ein Genuss. Schon während meiner Ausbildung zum Bauzimmermann war ich von den wirklichen Meistern unserer Zunft fasziniert. Sie hatten diese Art, in ihrer Aufgabe vollkommen zu versinken, etwas, was mache Leute mir ebenfalls nachsagten. Im Moment konnten Constantin und ich diese Leidenschaft bei unseren beiden Historikern beobachten. Sie schienen genau zu wissen, wie sie vorgehen mussten.

Ich wusste, wie sehr es ablenkte, bei der Arbeit beobachtet zu werden, weswegen wir Nicolas und Logan in Ruhe ließen und uns stattdessen den anderen Schätzen zuwandten. Als Erstes untersuchen wir die Regale mit den Schätzen meines Hauses. Die Schachtel mit den Diamanten war beeindruckend, aber bei weitem nicht so beeindruckend, wie einige der anderen Schätze, die hier auf mich warteten. Es begann mit einem goldenen und mit Rubinen, Perlen und Diamanten besetzten Reichsapfel.

»Protzig«, mehr fiel mir im Moment nicht ein.

»Aber nicht doch«, zog mich Constantin auf. Mit seinen Händen entwarf er ein virtuelles Bild: »Oh, ich sehe dich schon auf deinem Thron. Deine Schultern sind mit einem Hermelinmantel bedeckt, in der einen Hand hältst du den Reichsapfel, in der anderen ein Zepter, während vor dir wir untertänig deiner königlichen Weisheit huldigen.«

»Oh, toll! Genau was ich mir immer erträumte.«, knurrte ich Constantin an, während der sich über seine Idee weiter amüsierte. Ich öffnete zwischenzeitlich eine längliche Schachtel, musste anlässlich des Inhalts säuerlich lachen und griff danach: »Meinst du dieses Zepter?«

»Oh!«, machte Constantin, kam auf mich zu und nahm mir ganz vorsichtig das Objekt aus meinen Händen. Wir hatten uns je ein paar der Schutzanzüge übergezogen, die für die Nickelfolien bereit lagen. »Weißt du, was das ist?«

»Ähm, ein Zepter?«, fragte ich leicht geduckt.

»Nein, nicht ein Zepter«, präzisierte Constantin, »Sondern das Zepter. Ich habe hiervon gelesen und Zeichnungen gesehen. Dieses Zepter ist über dreitausend Jahre alt und stammt aus einer Zeit, zu der noch kein Mensch an solche Dinger dachte. Es ist das Symbol der königlichen Macht der Hati und galt seit ewigen Zeiten als verschollen.«

»Wow«, jetzt hatte ich also auch noch ein Zepter, na super, »Und was mach ich damit? Nein, komm nicht wieder mit deinem Hermelinvorschlag. Wenn ich wirklich den König spielen soll, wird sich das Volk an Bodenständigkeit gewöhnen müssen. Ich werde nicht wie ein Karnevalsprinz in der Gegend herumstolzieren.«

»Nicht?«, fragte Constantin frech grinsend nach, »Du sähst in Strumpfhosen bestimmt geil aus, insbesondere, wenn sie dein Päckchen schön betonen.«

»Lustmolch!«

»Ähm...«, meldete sich Nicolas vorsichtig und beendete damit dankbarerweise die Diskussion um Constantins Kleidungsvorschläge für mich »Wir glauben, da etwas gefunden zu haben.«

Wir eilten zurück an den Lesetisch. Logan und Nicolas hatten eine Nickelfolie ausgebreitet. Die Schusterkugel erhellte einen Textbereich auf den auch die große Leselupe, mit der die Mikroschrift vergrößert und erst lesbar gemacht wurde, ausgerichtet war. Ich überließ es Constantin, den Text zuerst zu lesen, was dieser dann auch tat. Sein Mienenspiel sprach Bände. Zuerst kräuselte sich seine Stirn, wahrscheinlich, weil er sich konzentrierte, in den Text hereinzukommen und um zu verstehen, worum es überhaupt ging. Dieser anfängliche Gesichtsausdruck verwandelte sich in einen wachen und klareren, als er in den Text hineingekommen war. Doch dann passierte es. Constantin murmelte leise den Text mit, stocke plötzlich, las sehr langsam weiter und wurde plötzlich so blass, dass wir es selbst im Schummerlicht der Kaverne sehen konnten. Was mein Geliebter dort las, musste heftig sein. Er stoppte, blickte auf und sah mich mit glasigen, feuchten Augen an. Sagen wollte er nichts. Er schüttelte nur seinen Kopf und wandte sich ab. Ich musste selbst lesen, welches schreckliche Geheimnis der Text offenbarte.

Was blieb mir also übrig, als selbst meine Augen über die Linse zu bringen. Ich begann zu lesen, was nicht einfach war. Der Text war in Latein verfasst. Erstaunlicherweise konnte ich es trotzdem lesen, obwohl ich nie Latein gelernt hatte. Offenbar waren mit meiner Erweckung neben meinen vampirischen Fähigkeiten auch noch andere aktiviert worden. Aber dies war nebensächlich. Wichtiger war der Text, und der hatte es in der Tat in sich.

»Ich weiß nicht, was ich sagen soll.«, flüsterte Constantin, »Wie konnten sie das nur tun?«

»Ich weiß es nicht.«, erwiderte ich ratlos und seufzte, während ich mit den Schultern zuckte, »Ich glaube, sie haben einfach nur versucht, das richtige zu tun. Ich frage dich, wie hätte die Alternative ausgesehen? Noch mehr Krieg? Noch mehr Leid? Ich weiß, das klingt arg nach der Zweck heiligt die Mittel. Ich glaube nicht, dass er das jemals darf.«

»Woher wusstest du, wonach wir suchen mussten?«

»Es war nur eine Vermutung. Vielleicht ist es mein Blick von außen.«

»Wir müssen dem endlich ein Ende setzen.«

»Du weißt, was das bedeutet? Es wird alles, was Baron Breskoff und dein Vater je getan haben, in Frage stellen.«

»Ich weiß, aber ich weiß auch, dass ich keine Lüge leben kann. Unter die Sache muss ein Schlussstrich gezogen werden, auch wenn es heißt, meinem Vater den Heiligenschein zu entreißen.«

»Gut, dann lass es uns tun.«, ich seufzte erneut, »Vielleicht sollte ich wieder zu Niederreuter zurückgehen und mich von Andreas und Mario mobben lassen.«

»Vielleicht...« Constantin sah mich fragend an: »Hilfst du mir?«

»Natürlich!«

Beichte

Die Bühne war bereitet. Es war Sonntagabend, die Nacht in der der Rat erneut zusammentreten sollte, um entweder über die Einsetzung eines Kronrats zu entscheiden oder mir doch die Krone zu verleihen. Es war die Nacht der Entscheidung. Im Foyer tummelten sich die ersten Ratsmitglieder samt ihrer Teams. In kleinen Grüppchen scharten sie sich um die aufgestellten Tische zusammen. Es wurde geflüstert. Einzelne Personen fanden sich zusammen, tauschten Gerüchte aus, sondierten die Stimmung, trafen Absprachen und trennten sich wieder. Natürlich ging es darum, ob sie den Vorschlag eines Kronrats annehmen sollten oder nicht. Was sie nicht wussten: Zur eigentlichen Beratung sollte es nicht kommen. Nicht nachdem, was wir, Nicolas, Logan, Constantin und ich im Kloster der Bruderschaft der grauen Nebel erfahren hatten.

In der Nacht vom Freitag auf den Samstag waren wir aus dem Kloster nach Charlottenhof zurückgekehrt. Tamir, der sich während der gesamten Zeit unseres Aufenthalts im Kloster nicht blicken ließ, folgte uns in einer eigenen Wagenkolonne und bekräftigte damit bei mir den Eindruck, dass er unsere Nähe gezielt mied. Ganz im Gegensatz zu den im Kloster ausgegrabenen Informationen, hielt sich unsere Stimmung eigentlich ganz gut, sie war nicht gedrückt, aber auch nicht überschwänglich fröhlich. Selbstverständlich hatten wir die anderen, das heißt Simon und Christiano, selbst Marco in alles, was wir in Erfahrung gebracht hatten vollständig eingeweiht. Die Reaktionen fielen ungewöhnlich aus. Statt uns zu verteufeln, war die einheitliche Meinung, dass zwar Vladimir Breskoff und Fürst Varadin senior sich falsch verhalten hätten, Constantin aber nicht für die Fehler seines Vaters verantwortlich gemacht werden könne. Ich kannte Constantin, er sah es leider anders. Es war sein Haus, sein Name, der in seinen Augen befleckt war und nun wieder reingewaschen werden musste, auch wenn dies hieß, vor aller Welt die Hosen runterzulassen.

Logan und Nicolas hatten noch die öffentlich zugänglichen aber auch ein paar weniger offizielle Archive der Bibliothek durchsucht. Jetzt, da sie wussten, nach welchem Ereignis und in welchen Zeitrahmen es zu suchen galt, wurden sie schnell fündig. Derart gewappnet stand einer Rückkehr nichts mehr im Wege. Von nun an lautete unser Motto: Alles oder nichts.

Dass mehr in der Luft lag, als eine einfache Ratssitzung, schien jeder im Foyer des Sitzungssaals instinktiv zu fühlen. Im Gegensatz zur bevorstehenden Sitzung hatte vor der Sitzung am Mittwoch trotz aller erwarteten Dramatik, so Constantin, eine fast ausgelassene Stimmung geherrscht. Viele Ratsmitglieder hatten das Treffen genutzt, um alte Freunde und Verwandte wiederzusehen. Es wurde gelacht, umarmt, geherzt und fleißig Blut und Alkoholika konsumiert. An diesem Sonntagabend war davon nichts mehr zu sehen. Die Teilnehmer wagten kaum, sich in normaler Lautstärke zu unterhalten, stattdessen wurde nur leise getuschelt. Und auch bei den bereitstehenden Getränken und Snacks bedienten sich die Gäste nur sehr zögerlich, um dann auch nur sehr zurückhaltend zuzugreifen. Die Lautstärke schwoll erst an, als sich Constantin und ich unter die Menge mischten.

»Sie belauern uns.«, bemerkte mein Mann. Wir traten als Paar auf. Jeder sollte sehen, wie wir zueinander standen.

»Hast du etwas anderes erwartet? Wir waren bis gestern von der Bildfläche verschwunden. Natürlich ahnen sie, dass etwas im Busch ist.«

Und das war noch untertrieben. Sowohl Lydia und Timon als auch Laurentius wären uns bei unserer Rückkehr am Liebsten an die Gurgel gegangen. Wie konnten wir sie nur ohne eine plausible Erklärung mit einem Haus voller Stammesväter und

-mütter allein lassen. Das ganze Team in Charlottenhof hätte mit Engelszungen auf die hohen Gäste einreden müssen, um diese zu besänftigen. Einige wären trotzdem beleidigt und wutentbrannt abgereist. Umso größer war jetzt die Erwartung zu erfahren, warum wir uns verkrochen hatten. Dem von uns mehr scherzhaft lancierten Gerücht, es hätte sich um Constantins und meine Flitterwochen gehandelt, hatte natürlich niemand wirklich ernst genommen.

»Constantin! Florian!«, kam Lord Bromley auf uns zu, »Ich hoffe, ihr wisst, was ihr tut?«

»Lord Peter, darf ich fragen, wie Eure Bemerkung zu verstehen ist?«, sprang Constantin etwas dünnhäutig sofort an. Ihm war die Nervosität wirklich anzumerken.

»Oh, bitte!«, Lord Peter bedachte uns mit einem abmessenden Blick, »Stellt euch nicht dümmer, als ihr seid. Jeder im Saal vermutet, dass ihr etwas plant. Was es auch immer sein mag, ihr sollt wissen, dass ich euch unterstütze.«

»Lord Bromley, Peter«, Constantin holte tief Luft, »Ich habe Euch immer als einen Freund angesehen. Deswegen bitte ich Euch, versprecht nichts, was Ihr später bereuen könntet. Es könnte sehr gut sein, wenn Ihr mich nach dieser Nacht nicht mehr unterstützen mögt.«

»Ist es so schlimm?«, Lord Peter wartete die Antwort nicht ab und fuhr fort, »Aber was es auch immer sein mag, Constantin, ich kenne dich. Ich weiß, was für ein Mann du bist. Ich stehe zu dir und zu Florian.«

Immerhin hatten wir zurzeit noch Freunde, die uns beistanden. Ob Lord Bromley noch zu uns hielt, sobald er die Wahrheit erfuhr, stand auf einem anderen Blatt. Constantin bezweifelte sogar, dass Tante Charlotte danach noch zu uns hielt. In Kürze sollten wir es herausfinden. Wir waren fest entschlossen, die Wahrheit ans Licht zu bringen, egal welcher Preis dafür aufgerufen wurde.

Die Besonderheit der bevorstehenden Sitzung schien sich herumgesprochen zu haben. Selbst die phlegmatischen Blutsauger waren dem Ruf gefolgt und hatten den Weg nach Charlottenhof eingeschlagen. Anton schätzte, dass sich die Teilnehmer um mehr als zehn Prozent gegenüber der ersten Sitzung erhöht hatte, was den Sitzungssaal an die Grenzen seines Fassungsvermögens brachte. Die Drängelei, die dann auch einsetzte, als sich die Türen zum Sitzungssaal öffneten, entsprach dann auch nicht wirklich dem Bild, das üblicherweise die hohen Damen und Herren von sich pflegten. Anton und sein Team hatten es immerhin geschafft, in den eh schon eng gepackten Saal noch ein paar zusätzliche Tische und Stühle hineinzuquetschen. Es nützte nichts. Einige Sitzungsteilnehmer mussten tatsächlich auf dem Boden sitzen.

»Hört! Hört! Hört! Ehrenwerte und hochwohlgeborene Mitglieder des Rates, erhebt euch und ehrt seine Heiligkeit Bruder Norfun, Präsenz der Synode, Vorsitzender der Ratsversammlung, Hüter und Bewahrer des Ritus.«

Der Protokollchef hatte die Sitzung eröffnet und die Leitung unserem geschätzten Bruder Norfun übertragen. Bisher verlief alles wie gehabt.

»Sehr geehrte Ratsmitglieder, hiermit erkläre ich die Ratssitzung für eröffnet. Es wurde der Antrag eingebracht, den Thron unbesetzt zu lassen und einen Kronrat einzusetzen. Entsprechend den Regeln des Nachfolgeritus erfordert die Abstimmung eine vorausgehende Aussprache mit der wir jetzt die Sitzung fortführen. Hierfür ist keine Redezeitbeschränkung vorgesehen. Dem designierten Thronfolger steht als Betroffenen das Recht der ersten Einlassung zu. Großherzog Florian Margaux sûr Rhone, seid Ihr bereit, Euren Anspruch zu verteidigen?«

»Das bin ich, eure Heiligkeit«, erwiderte ich laut und deutlich und hielt mich peinlich genau an die vorgegebene Form.

Es gab kein Rednerpult, an dem ich mich festhalten konnte. Die Regeln verlangten, dass jeder Redner frei vor dem Rat sprechen musste. Viel Erfahrung hatte ich nicht damit. Eigentlich sogar gar keine. Aber wie heißt es doch so schön: Wer nicht wagt der nicht gewinnt.

»Sehr geehrter Vorsitzender, Mitglieder des Rates. Jeder hier im Saal wird jetzt sicherlich von mir erwarten, dass ich reihenweise Gründe aufzähle, warum es besser wäre, mich zu unserem König zu wählen, statt einen Kronrat einzusetzen. Ich werde etwas besseres tun. Ich werde Ihnen erzählen, wer ich bin und woher ich komme. Sehr geehrte Mitglieder des Hohen Rates: Ich bin Florian Margaux, ein Tischler.«

Quälten mich am Anfang noch butterweiche Knie und eine ähnlich feste Stimme, gewann ich mit jedem Wort meiner Rede an Sicherheit. Am Ende der Einleitung sprach ich klar und deutlich und stand aufrecht und sicher vor dem Rat. Soweit lief alles nach Plan. Es gab nur eins, womit wir nicht gerechnet hatten: Der Rat hörte mir tatsächlich zu. Gebannt und aufmerksam lauschten sie der Schilderung meiner Kindheit und Jugend, von der Liebe meiner Mutter und dem Trauma ihres gewaltsamen Todes. Als ich von den täglichen Mobbingattacken meiner Kollegen und den Schlägen meines Vaters erzählte, hielt mehr als ein Ratsmitglied den Atem an. Ich war absolut offen und ließ nichts, nicht ein einziges Detail aus. Selbst davor, von meiner Vergewaltigung zu berichten, schreckte ich nicht zurück und schilderte sie in allen Einzelheiten, obwohl mir klar war, dass ich meinem Publikum damit wirklich einiges abverlangte. Aber sie sollten wissen, woher ich kam und was mich antrieb. Vor allem sollten sie erkennen, dass ich nichts vor ihnen verbarg – fast nichts. Ein paar Details der Erlebnisse im Kloster der Bruderschaft der grauen Nebel sparte ich mir für einen späteren Punkt der Ratssitzung aus strategischen Gründen dann doch auf.

»Jetzt wissen Sie, wer ich bin. Den meisten von Ihnen wird meine Geschichte vollkommen neu sein. Aber einer von Ihnen kennt sie in allen Einzelheiten. Er kannte sie von Anfang an, denn mein Leben folgte seinem Plan und einzigem Ziel: Der Vernichtung der Häuser Margaux und Varadin.«

Hatte während meiner Schilderung der Geräuschpegel im Saal ein absolutes Minimum erreicht, erreichte er nach meinem letzten Satz das Niveau einer Herde Presslufthämmer. Einzelne »Beweise«-Schreie und »Wer?«-Rufe stachen aus der aufbrausenden Kakophonie hervor. Da in diesem Getöse eh kein Wort zu verstehen gewesen wäre, wartete ich geduldig ab, bis sich die Meute langsam wieder beruhigte und die allgemeine Aufregung dem Verlangen nach weiteren Enthüllungen Platz machte. Wenn auf eins Verlass war, dann auf die Neugier der Ratsmitglieder.

Kaum war die Lautstärke im Saal auf ein Maß abgesunken, welches eine sinnvolle Kommunikation wieder erlaubte, ergriff Baron van Sanden das Wort. Seine Stimme war grollend und drohend: »Ihr wollt mir doch nicht unterstellen, ich hätte versucht, eure beiden Häuser zu vernichten?«

Als hätte van Sanden einen Schalter umgelegt, verstummte die Meute und es wurde wieder mucksmäuschenstill. Gespannt hielt man den Atem an, um ja nichts von meiner Erwiderung zu verpassen.

»Nein Baron, Sie waren es nicht. Sie folgten nur einem Plan, ohne zu erfahren, was wirklich dahintersteckte. Sie wurden, wie viele andere mit Ihnen, für fremde Zwecke missbraucht. Jedem im Rat ist die Konkurrenz zwischen den Häusern van Sanden und Varadin leidlich bekannt. Wer wäre also besser geeignet, die Klage gegen Fürst Varadin zu führen? Lassen Sie mich raten. Sie erhielten einen Tipp, dass mein Bund mit Fürst Varadin gegen das Gesetz der heimlichen Kriegsführung verstößt, oder?«

Es brauchte eine Weile, bis der Baron entschied, ob er antworten sollte oder nicht. Ihn auf eine Figur auf einem großen Schachbrett zu reduzieren, dürfte ihm nicht wirklich gefallen haben. Er schien nicht zu wissen, gegen wen er einen stärkeren Groll hegen sollte: mich oder den großen Unbekannten.

»Uns wurden Dossiers zugespielt...«, murmelte er kleinlaut und lieferte damit den Beweis für meine Behauptung, es gäbe eine Verschwörung gegen Constantin und mich. Wie schon früher erwähnt, der Mann war nicht blöd. Natürlich begriff er, dass er mir auf den Leim gegangen war und unfreiwillig zum Zeugen meiner Klage wurde. Doch offensichtlich störte ihn mein kleiner rhetorischer Trick weit weniger, als über Wochen, Monate und vielleicht Jahre hinweg die Marionette einer fremden Macht gewesen zu sein und schlug sich deswegen kurzerhand auf meine Seite.

»Großherzog Margaux hat Recht. Es gibt eine Verschwörung. Vor ein paar Wochen gelangten wir bei der Verfolgung eines Vampirjägers zufällig, so sah es damals jedenfalls aus, in den Besitz umfangreicher Dossiers über Fürst Varadin und einen Tischlergesellen namens Florian. Der Jäger schien seine Hausaufgaben gemacht zu haben. Seine Unterlagen wussten unter anderem zu berichten, dass Florian ohne es selbst zu wissen ein latenter Vampir und Nachkomme des verschollenen Stamms der Margaux sei. Ich brauchte nur eins und eins zusammenzuzählen, um die Brisanz darin zu erkennen. Inzwischen könnte ich mich ohrfeigen, dem Dossier so leicht gefolgt zu sein und bin überzeugt, dass uns das Material gezielt zugespielt wurde, damit ich genau die Schlüsse ziehe, die ich dann tatsächlich zog. Die Umstände, unter denen wir auf den Vampirjäger aufmerksam wurden, hätten mich stutzig werden lassen müssen. Für seine Zunft ließ er sich deutlich zu leicht überwältigen.«

»Ich danke Euch, für Eure offenen Worte.«, bedankte ich mich beim Baron, dem diese Ausführung nicht wirklich leicht gefallen war.

»Aber wenn es van Sanden nicht war, wer dann?«, rief Lord Bromley völlig unbritisch in den Saal.

»Um diese Frage zu beantworten, muss ich ein Tabu brechen.«, antwortete ich mit lauter, gebieterischer Stimme. Ich wollte, dass mir wirklich jeder zuhörte. »Wir müssen über ein Thema sprechen, das jeder von uns kennt und fürchtet, das jeden von uns treffen kann: das Vladsyndrom.«

Es gibt Stille und es gibt Stille. Was nach diesem einen Wort ausbrach, war Totenstille. Die Blicke, mit denen ich bedacht wurde, reichten von verärgert über verstört bis hin zu kaum beherrschter Wut. Das Vladsyndrom, davor hatten mich alle gewarnt, war eines der größten Tabus. Allein es zu erwähnen, konnte einen zum Geächteten machen. Kein Wunder, dass mich mehr und mehr Ratsmitglieder schief ansahen.

»Ich weiß, dass ich ein Thema anschneide, dessen Existenz jeder von uns gerne verdrängen möchte. Trotzdem werde ich es dem Rat nicht ersparen können, zur Kenntnis zu nehmen, dass genau diese Einstellung, der Versuch zu verdrängen, verleugnen und zu vergessen, die Besten von uns hat Unrecht begehen lassen. Ein Unrecht, das nicht wieder gutgemacht werden kann.«

»Was willst du uns sagen?«, knurrte van Sanden gereizt, der das Thema wie alle anderen hasste wie der Teufel des Weihwasser.

»Dass die Ursache für diese Krankheit bekannt ist und sie in vielen Fällen geheilt werden kann.«

»Was?«, brüllte es aus verschiedenen Richtungen. »Das kann nicht sein. Der Wahnsinn ist wie die Tollwut unheilbar. Es ist die Krankheit der Verdammten!«

»Dann sind wir alle verdammt, denn jeder trägt die Saat des Vladsyndroms in sich.«, korrigierte ich, »Es ist das Monster in uns und sein Wille, die Oberhand zu erlangen. In uns allen, ob gebürtigem oder verwandeltem Vampir, ruht ein zweites Wesen. Ich habe euch gezeigt, was und wer ich bin. Ihr habt das Monster in mir gesehen. Doch ich, Florian Margaux, kontrolliere den Nosferat in mir, so wie Constantin den Kodiac in sich kontrolliert. Jedes Haus stammt mehr oder weniger direkt von einer der vier ursprünglichen Blutlinien ab. Ihr alle tragt einen Teil des Monsters in euch, auch wenn es euch als erweckte Vampire nicht möglich ist, euch zu verwandeln. Aber trotzdem: es ist da, es lauert, ist permanent bereit zum Sprung. Ihr könnt es fühlen, in der Stille des Tages in euren Schlafsärgen auch hören. Manchmal spricht es zu euch. Er gibt euch Kraft, Stärke, Ausdauer, Charisma, Beweglichkeit. Es mach euch zu dem, was ihr seid.«

Jetzt klebten sie wieder an meinen Lippen. Sie wussten, dass ich Recht hatte. Jeder von ihnen kannte diese Präsenz in sich und wusste, wie sie von ihr abhingen.

»Fürchtet niemals, wer und was ihr seid, ihr Geschöpfe der Nacht!« Wann hatte ich gelernt, derartige Reden zu halten? »Dunkelheit und Schatten sind unsere Elemente. Das andere in uns ist ursprünglich, animalisch und wild. Es handelt nicht rational, sondern instinktiv, weswegen wir immer die Kontrolle behalten müssen, denn sonst...«

»Denn sonst erliegen wir dem Vladsyndrom und die Kraft in uns wird zu unserer Schwäche«, vervollständigte Baron van Sanden nachdenklich und mit dem Kopfnicken des Verstehens, »Ich glaube, ich begreife, was du uns sagen willst. Demnach ist das Vladsyndrom eine schizoide Persönlichkeitsstörung, oder? Die Frage ist: Gibt es hämophagentaugliche Psychopharmaka?«

»Ja, die gibt es. Jedenfalls für die Hauptvarianten der Erkrankung.«, antwortete Constantin. An dieser Stelle begann sein Part des Berichts. »Dies ist etwas, das ich euch mit Schande gestehe. Die meisten dürften von den Kavernen der Nosferatu gehört haben, den legendären Lagerräumen, in denen unsere Häuser ihre geheimsten und kostbarsten Schätze aufbewahren. Wie ich erst Donnerstag erfuhr, verfügen auch die Nachfahren der Ersten über eine dieser Kavernen. Weder Baron Breskoff noch mein Vater haben mir gegenüber dieses Lager jemals erwähnt. Der Dank gebührt Florian, sie entdeckt und mir gezeigt zu haben. Doch war es ein bitterer Schatz, der dort auf uns wartete.«

Constantin wartete ein paar Momente, damit sich die Anwesenden auf ihn als Redner einstellen konnten.

»Es gibt einen Grund, warum mir Baron Breskoff und mein Vater das Wissen über unsere Kaverne vorenthielten. Es enthält ihre Schande, die Schande unserer Familien. Ihr alle kennt die Geschichte von Vlad dem Pfähler, Graf Dracula, dem letzten der Dracul. Mit seinem Fall verloren wir nicht nur einen der besten unserer Art, wir verloren auch die Blutlinie der Dracul. Mit ihm starb auch die erste der vier Urblutlinien, und meine Familie ist schuld.«

Dass Constantin diese Beichte alles andere als leicht fiel, konnte jeder an seiner Gestik ablesen. Mit gesenktem Blick und hängenden Schultern wirkte er, als ob das Gewicht unserer gesamten Art auf ihm lastete.

»Wenn auch die wenigsten unter uns alt genug sind, um selbst dabei gewesen zu sein, dürften jedem die Fakten bekannt sein: Dracula erkrankte an einer sehr extremen Form des damals noch wenig beachteten Vladsyndroms und wurde damit auch zu dessen Namensgeber. Nach allem, was wir heute noch wissen, entwickelte er massive und sehr manifeste Wahnfantasien. Ihm war es nicht mehr möglich, zwischen Realität und Halluzination zu unterscheiden. In seinem Wahn begann er, nicht nur seine gesamte Familie abzuschlachten, sondern auch die ihm bisher treu ergebenen Menschen seiner Grafschaft zu jagen und zu töten. Der Rat war gezwungen, etwas zu unternehmen. Das Morden musste enden, deswegen wurde entschieden, Dracula mit allen Mitteln zu stoppen. Soweit die offizielle Lesart. Was weniger bekannt sein dürfte und in der offiziellen Geschichtsschreibung ausgespart wird, ist die Tatsache, dass sich der Rat alles andere als einig war, wie mit Dracula zu verfahren war. Dies ist unsere Schande. Meines Vaters und Baron Breskoffs Stimme gaben den Ausschlag, Dracula zu töten. Dabei hätte es vielleicht eine Möglichkeit gegeben, ihn zu retten. Warum haben sie das getan? Warum haben sie einen der ihren geopfert?«

Jeder konnte den Kloß in Constantins Hals hören, wie er uns mit gebrochener Stimme die wohl größte Lüge unserer Welt offenbarte.

»Ich kenne die Gründe nicht genau. Die Aufzeichnungen meines Vaters und Breskoffs in der Kaverne der Ersten sprechen nur recht knapp und unpersönlich von gewissen übergeordneten Gründen, denen sie sich beugten. Wir können nur spekulieren. Nicolas, ein Mitglied aus Florians Haus und ehemaliger Historiker der Bruderschaft der grauen Nebel hat zusammen mit Logan, einem Historiker des Klosters von Kirkwall versucht, ein Bild der politischen Situation jener Zeit zusammenzustellen. Ich weiß, dass es nichts, rein gar nichts entschuldigt, aber wenn wir es richtig verstehen, war die damalige politische Lage alles andere als stabil. Wir reden vom 4. Jahrhundert nach Christus. Die Clans jener Zeit sind in keiner Weise mit unseren heutigen Häusern vergleichbar. Im Prinzip herrschte das Recht des Stärkeren. Kriege zwischen den Stämmen waren an der Tagesordnung, die aber nicht auf uns beschränkt blieben und bis in die Welt der Menschen vordrangen. Es bestand die ganz reale Gefahr der Enthüllung unserer Existenz. Einige Häuser, wie die der vier Ersten versuchten, dies zu ändern, doch dann kam Draculas Erkrankung dazwischen. Die Blutspur, die er hinter sich her zog, polarisierte die Clans und drohte, einen mühsam ausgehandelten Kompromiss ins Wanken zu bringen. Die Aufzeichnungen und Berichte aus dieser Zeit sind wirklich sehr dünn, doch nachdem wir alle vorliegenden Informationen zusammenfügten, konnten wir nur zu einem Schluss gelangen: Dracula wurde aus Gründen der Staatsräson geopfert. Das war unverzeihlich. Ich schäme mich für meinen Vater und für Baron Breskoff. Sie haben ein Verbrechen begangen und Schande über unsere Häuser gebracht.«

Constantin war fertig – sowohl mit seinem Bericht, als auch mit den Nerven. Niedergeschlagen schlich er zu seinem Platz und ließ sich müde und erschöpft auf seinen Stuhl fallen. Die Ratsmitglieder waren ihrerseits in Schockstarre verfallen und so achtete auch niemand, wie ein Nosferatu sich mühsam und ähnlich gebeugt wie Constantin von seinem Platz erhob und in die Mitte des Saals ging.

»Ihr habt gute Arbeit geleistet.«, begann der Mönch zu sprechen. Er schlug seine Kapuze zurück und enthüllte sein Gesicht. »Eure Schlussfolgerungen sind richtig – fast richtig. In einem entscheidenden Punkt liegt ihr allerdings falsch. Constantin, weder dein Vater noch Vladimir haben etwas Falsches getan, außer sich nicht gegen mich durchgesetzt zu haben. Ich bin es, der Draculas Tod zu verantworten hat. Es war einzig und allein meine Entscheidung, den Graf jagen und töten zu lassen. Dracula hatte nicht nur seine Familie und die Menschen seiner Umgebung abgeschlachtet, sondern auch Mitglieder der anderen Clans. Ich wusste, dass wir Dracula heilen konnten, aber die Clans verlangten nach seinem Blut. Ich, Tasmanir Musferatu, habe Dracula geopfert.«

Showdown

»Du?«

Der Unglaube in Constantins Stimme spiegelte die Fassungslosigkeit des gesamten Rates wieder, von zwei Ausnahmen abgesehen.

»Es gibt ein menschliches Sprichwort. Der Weg zur Hölle ist mit guten Vorsätzen gepflastert. Nach monatelangen Verhandlungen waren wir so knapp davor, einen nachhaltigen Frieden zwischen den Clans auszuhandeln. Und dann dreht dieser Typ durch und schlachtet seine Familie ab. Keiner von euch war dabei. Ihr habt es nicht erlebt. Habt den Wahnsinn nicht fühlen können. Habt ihr jemals von Kristoph gehört? Er war ein Geschöpf Draculas. Tödlich verletzt schlug er sich bis zu uns durch, um dem Rat vom Wahnsinn seines Herren zu berichten. Er schaffte es und schilderte uns, welches Blutbad Dracula anrichtete. Wir taten alles, um Kristoph zu retten, doch unsere Hilfe kam zu spät. Er starb in meinen Armen. Der Rat forderte Draculas Kopf. Plötzlich gab es ein Ziel, das sie einte. Sie wollten Blut sehen. Ich wusste, dass wir Dracula vielleicht retten konnten, aber dann fiel mein Blick wieder auf den toten Körper dieses armen unschuldigen Vampirs und ich schwieg. Ich ließ es einfach geschehen und willigte ein, dass der Rat ein Exekutionskommando entsandte. Es war meine Idee, dass ihn Constantins Vater und Vladimir anführten, weil ich hoffte, dass es unter ihrer Führung schnell gehen würde und nicht in einer brutalen Strafaktion ausartete. Ich stehe vor euch und gestehe: Ich habe zwei unverzeihliche Fehler begangen. Draculas Tod gebilligt und darüber geschwiegen zu haben. Das ist meine Schande.«

Was entgegnet man auf solch eine Beichte? Wie reagiert man darauf? Constantin war fassungslos. Er starrte Tamir an und wusste einfach nicht, was er sagen sollte. So ging es fast jedem im Saal. Ich sah mich um und blickte in die Gesichter der Ratsmitglieder. Die vorherrschenden Ausdrücke waren Unglaube, Entsetzen und Fassungslosigkeit. Mehrere Clanchefs mussten ihren Blick abwenden. Wie konnte ein Nosferatu, sogar ein heiliger Stammvater der Nosferatu so etwas tun? Woher sollten sie wissen, dass Nosferatu bei all ihrer Friedfertigkeit trotzdem Wesen waren, die Fehler begingen und zu großen, wenn nicht sogar gewaltigen und extremen Gefühlsausbrüchen fähig waren?

Umso verheerender war die Wirkung von Tasmanirs Beichte. Sie erschütterte den Glauben des Rates an die wesentlichen Grundpfeiler ihrer aller Existenz. Entsprechend fielen ihre Reaktionen aus. Während einige in eine Art katatonische Schockstarre verfielen, gerieten andere in gefährliche Wut. Andere verlangten lautstark nach Aufklärung. Und dann gab es ein Ratsmitglied aus der zweiten Reihe, das Tamir mit blankem und tödlichem Hass betrachtete.

»Tasmanir Musferatu«, ergriff nach einer Weile Baron van Sanden das Wort. Ich war erstaunt und angenehm überrascht, dass er zu jenen zählte, die einen kühlen Kopf bewahrten, während mein geliebter Constantin zu jener Gruppe gehörte, die Tamir ungläubig anstarrten, »Der Rat muss sich beraten. Er muss klären, wie Eure Handlungen zu bewerten sind. Ich möchte Euch bitten, den Saal zu verlassen, Euch aber bereitzuhalten.«

»Selbstverständlich.«, Tamir erhob und verneigte sich in Richtung van Sandens, »Ich bin bereit, jedes Urteil des Rates zu akzeptieren.«


»Florian, was meint Ihr?«

Und plötzlich stand ich wieder im Mittelpunkt. Ich weiß nicht, wieso ausgerechnet meine Meinung gefragt war und reagierte entsprechend überrascht, meinen Namen zu hören. Als ich auch feststellte, dass es niemand geringeres als Baron van Sanden war, der mich fragte, war meine Verblüffung perfekt. Wollte er mir eine Falle stellen?

»Ich bin ähnlich schockiert wie Ihr.«, begann ich vorsichtig, »Wenn ich nur daran denke, welche Konsequenzen eine falsche Entscheidung für unsere Zukunft haben kann, wird mir Angst und Bange. Tamir hat einen schweren, wenn nicht sogar unverzeihlichen Fehler begangen. Aber können wir wirklich über ihn richten und selbstgerecht den Stab brechen?«

Ich ließ meinen Blick über die Ratsmitglieder streichen. Bei einem Mitglied verharrte ich für einen Moment, der so kurz war, dass er auch als Zufall gewertet werden konnte und niemandem, der nicht extra darauf achtete, aufgefallen sein dürfte.

»Constantin hatte es erwähnt. Tasmanir Musferatu hatte es aus eigener Erinnerung bestätigt und ich sehe keinen Grund, am Wahrheitsgehalt seiner Aussage zu zweifeln. Der Rat, wir, unsere Vorfahren, verlangten nach Draculas Blut. Sind wir nur deswegen weniger schuldig, weil wir nicht selbst dabei waren? Die Exekution erfolgte im Namen unserer Mütter und Väter.«

»Florian hat Recht!«

Lord Bromleys Stimme klang matt und schuldbewusst.

»Natürlich wollte der Rat Draculas Kopf und war überhaupt nicht an Entschuldigungen interessiert. Ich weiß es von meinem Erwecker, und der von dem seinigen. Mein Großvater, wenn ihr so wollt, war dabei und ja, natürlich wollte er Blut sehen. Wir, unsere Häuser sind genauso schuldig wie Tamir.«

»Was machen wir?«, wollte ich wissen und blickte wieder in die Runde, um wieder an diesem einen Ratsmitglied zu pausieren. Hatte er beim ersten Mal meine Pause für Zufall gehalten, zuckte er jetzt zusammen und versteifte sich. In diesem Moment wandte ich meinen Blick demonstrativ ab.

»Es gibt keine Dracul, keinen Nachfahren Draculas, den wir fragen oder um Verzeihung bitten könnten.«, meinte Lord Bromley traurig und sprach genau die Worte aus, die ich mir erhofft hatte.

»Oh doch, den gibt es.«, erwiderte ich ruhig, sachlich und richtete meinen Blick demonstrativ auf den letzten direkten Nachfahren Graf Draculs.


»Du Teufel!«

Damit hatte ich nicht gerechnet: Hass schien reifen zu können. Er wächst, entwickelt sich und wird irgendwann körperlich spürbar. Die Ratsmitglieder um den von mir fixierten Clanchef, wichen ängstlich zurück.

»Du scherzt?«, hörte ich Tante Charlotte rufen, »Bronkovic? Nie und nimmer. Wie kommst du auf solch eine absurde Idee? Bronki, lächerlich!«

Baron Bronkovic nahm mir netterweise die Mühe ab, meine Behauptung zu beweisen. Er erhob sich, bahnte sich den Weg durch die Tischreihen und erreichte die Mitte des Saals.

»Wie hast du es herausgefunden?«

Der Mann war völlig ruhig. Nein, ruhig war nicht das richtige Wort. Er war abgeklärt, kalt und abgeklärt. Auf jeden Fall war der alte Bronkovic verschwunden. Natürlich kannte ich den Baron nicht so gut wie Constantin. Genaugenommen hatten sich unsere Wege bisher nur ein einziges Mal gekreuzt, als er den Vorschlag einen Kronrat einzurichten einbrachte. Später im Foyer waren mir natürlich sein enervierendes Gequatsche, sein überschwängliches gestikulieren und sein seltsam unstetes Mienenspiel aufgefallen. Jeder, den ich dazu befragte meinte, dass der Mann eben so sei. Niemand nehme ihn wirklich ernst, zumal er nie eine eigene Meinung besäße und grundsätzlich sein Mäntelchen nach dem Wind richtete. Davon war nichts mehr zu spüren. Ganz im Gegenteil versprühte er die Autorität eines Ersten. Er war ein Dracul, daran bestand kein Zweifel.

»Die Halle der Ersten.«, beantwortete ich die an mich gerichtete Frage, »Die Ähnlichkeit ist verblüffend.«

»Oh ja, die Ersten.« Bronkovics Lächeln war eiskalt. »Haben sie zu dir gesprochen?«

»Kann mir jemand bitte erklären, was hier vorgeht?«, rief jemand aus der Menge.

»Es ist deine Show!«, forderte mich Bronkovic mit gönnerhaftem Tonfall auf.

»Also gut«, wenn er mir den Vortritt lassen wollte, bitteschön, damit hatte ich keinerlei Probleme. Wenn er Spielchen spielen wollte, spielten wir eben Spielchen. »Tja, unser allseits beliebter Baron hat vergessen zu erwähnen, dass er ein reinrassiger Dracul ist. Ein echter Nachfahre der Ersten.«

Interessanterweise ließ mich der Mann reden. Er stand nur ganz ruhig da und hörte mir, wie der Rest des Rates, aufmerksam zu. Ich glaube, dass er es genoss, seinen genialen Plan von jemandem beschrieben zu hören. Warum diese Erwartungshaltung enttäuschen? Ich hatte mein Publikum und außerdem die Befriedigung, dem Mann, der für mein Martyrium verantwortlich war, sein Scheitern vorzuführen.

Das Geheimnis des Rätsels um den großen Unbekannten begann sich in dem Moment aufzulösen, als mir Bronkovic während des Nachfolgeritus begegnete. Damals hatte ich gleich den Eindruck, dass mir der Mann irgendwie bekannt vorkam, konnte ihn aber nirgendwo zuordnen. Dieses Gefühl war genauso nervig, wie Fleischfusseln, die sich zwischen den Zähnen festsetzen und an denen man dann stundenlang mit der Zunge rumprökelt, bis sie sich endlich lösen. In gleicher Weise erging es mir mit Bronkovic. Immer wieder war mein Blick zu ihm gewandert und immer wieder stellte ich mir die gleiche Frage: Wo hast du diese Visage schon mal gesehen?

Meine Unwissenheit machte mich kirre. Ich war schon kurz davor, sie gezielt zu verdrängen und mich auf ein anderes Thema zu konzentrieren, als Constantin eine Bemerkung über Vlad den Pfähler und das nach ihm benannte Vladsyndrom fallen ließ. Und plötzlich machte es Klick. Ich wusste, woher ich Bronkovics Konterfei kannte – aus der Halle der Ersten. Während aber Breskoffs, Constantins und meine Vorfahren uns fast aus dem Gesicht geschnitten schienen, bestand zwischen dem Baron und seinem Vorfahren eine deutlich geringere Familienähnlichkeit, weswegen ich nicht sofort geschaltet hatte. Nichts desto trotz war sie immer noch stark genug, dass niemand an der Abstammung des Baron von den Dracul zweifeln konnte. Bronkovic war ein gebürtiger Vampir und entstammte einer Blutlinie, die jeder für ausgestorben hielt.

Dies wiederum brachte den Groschen richtig ins Fallen. Nach meiner Erweckung war es Christianos Aufgabe, mich in die Geschichte unserer Art zu unterweisen, wobei natürlich das Schicksal Graf Draculas nicht fehlen durfte. Sein spektakulärer Tod war zweifelsfrei eine Zäsur und für lange Zeit prägend, was allein darin sichtbar wurde, dass sich eine ganze Fraktion im Hohen Rat auf Dracula berief und sich Dracul nannte. Bronkovic gehörte definitiv nicht dazu. Warum? Warum verschwieg er seine wahre Abstammung und spielte – dass er es spielte, war ich mir sicher – den nervigen, inkompetenten Opportunisten? Diesen logischen Bruch konnte ich nicht ignorieren. Ich wusste, wonach ich Nicolas und Logan graben lassen musste.

Sie wurden fündig, wenn auch nicht so, wie erhofft. Das dunkle Geheimnis, das sie zu Tage beförderten, hielt aber genau die Brisanz bereit, die einem Racheakt epischer Dimensionen angemessen war: Nicht nur, dass Draculas Tod aller Wahrscheinlichkeit nach vermeidbar war, wurden er und seine gesamte Blutlinie obendrein wissentlich politischen Zwängen geopfert. Wie, so fragte ich mich, würde wohl ein unerwarteter Überlebender des Hauses Dracul reagieren, sollte er je davon erfahren?

Die Antwort hieß Bronkovic. Er war dieser Überlebende. An dieser Stelle musste man die Aufzeichnungen in der Bibliothek der Nosferatu ganz genau studieren. Dort hieß es, dass Dracula alle seine legitimen Nachkommen, seine Geschwister, Söhne, Töchter, seine Frau, bei ihm lebende Neffen und Nichten ermordete, halt alle, denen er in seiner Grafschaft habhaft werden konnte. Zu Opfern unter möglichen illegitimen Nachkommen fand sich hingegen nichts. Und genau um so einen handelte es sich bei Bronkovic. Wenn wir die Aufzeichnungen richtig interpretierten, immerhin lag der Vorfall fast dreizehnhundert Jahre zurück, war Bronkovic das Produkt eines Techtelmechtels zwischen eben jenem Grafen Dracula und der Schwester eines italienischen Vampir-Clanchefs, woraus sich auch die Verbindung zu den Savoyern, dem späteren italienischen Königsgeschlecht ergab. Die Autoren der historischen Dokumente hielten sich mit eindeutigen Details vornehm zurück und wählten eine mehr andeutende Sprache. Als wir aber Daten zu Zeiten, Orte und Personen verschiedener Quellen zusammenfügten und wie Folien auf einem Overheadprojektor übereinanderlegten, war das Bild eindeutig. Baron Bronkovic war in Wirklichkeit der legitime Träger des Namen Dracula, Graf Dracula.

»Sie sind Dracula?«, wollte Baron van Sanden wissen. Seiner gekräuselten Stirn nach zu schließen, schien er sich nicht sicher zu sein, ob eine bejahende Beantwortung seiner Frage gut oder schlecht für ihn sei.

»Oh bitte, van Sanden, Sie Schwachkopf«, beantwortete Dracula/Bronkovic van Sanden mit maximaler Herablassung in Stimme und Mimik. Für den wiederentdeckten Dracul schien es sich bei dem Baron um eine niedere Lebensform zu handeln. »Sind Sie sogar zum Zuhören zu doof? Dieser Hati hat doch alles wunderbar erklärt.«

Van Sandens Kopf brauchte genau drei Sekunden, um knallrot zu werden: »Ich verbitte mir Ihre unverschäm...«

»Warum halten Sie nicht einfach Ihren Mund?«, schnitt Dracula dem Rotkopf das Wort ab und tat dabei so, als wenn van Sandens Äußerungen von ausgemachter Dummheit wären und ihm körperliche Schmerzen bereiteten »Bitte unterlassen Sie es, nicht vorhandene Intelligenz vorzutäuschen. Da versorge ich Sie seit Jahren mit Informationen, mit denen es ein Leichtes gewesen wäre, diesen eitlen Schwanzlutscher von einem Kodiac kaltzustellen und was fällt Ihnen dazu ein? Ein Bombenattentat! Sagen Sie, begreifen Sie eigentlich, was Sie mit ihrem übernervösen Abzugsfinger angerichtet haben?«

»Was wollen Sie damit sagen?«, explodierte der Baron, doch Bronkovic schüttelte nur den Kopf und wandte sich ab.

»Verstehen Sie es nicht?«, fragte ich freundlich, um van Sanden zu zeigen, dass ich ihn ernst nahm, »Sie haben Draculas aka Bronkovics Rache vereitelt. Ich weiß nicht, seit wie vielen Jahrzehnten er plant, die Stämme Breskoff, Varadin und meinen zu vernichten. Er gibt uns die Schuld am Mord seines Vorfahrens und den Untergang seines Hauses. Er hasst uns so sehr, dass er auch nicht davor zurückschreckte, mir mein Leben zur Hölle zu machen. Dabei kannte ich den Mann noch nicht einmal. Wer war ich denn? Ein kleiner Junge, Halbwaise, den jeder meinte, tyrannisieren zu müssen. Und das nur, damit ich irgendwann Selbstmord beging, Constantin mich rettete und dabei unwissentlich sein Todesurteil unterschrieb. Dracula hat nichts dem Zufall überlassen. Sein Plan war fast perfekt. Bis Sie auf die Idee mit der Autobombe kamen, die eine Kettenreaktion auslöste, mit der unser Freund einfach nicht rechnen konnte, in deren Verlauf wir aber seinen Plan entdeckten und gegensteuern konnten. Ich kann verstehen, dass er über Ihre Eigenmächtigkeit nicht wirklich glücklich ist. Sie haben seinen Lebensinhalt zerstört und uns gerettet, wofür wir Ihnen wirklich dankbar sind.«

War es zu dreist, wirklich grobkörniges Salz in van Sandens Wunden zu reiben. Ich glaube nicht. Dafür war er Sportsmann genug und würde es uns bei passender Gelegenheit mit gleicher Münze heimzahlen. Dracula, ehemals als Bronkovic bekannt, stellte hingegen ein völlig anderes Kaliber dar. Ihn mussten wir völlig anders anpacken.

»Und, mein lieber Florian, wie gedenkst du jetzt mit mir zu verfahren?« Purer Sarkasmus troff aus seiner Stimme.

Sollte es mir Dracula tatsächlich einfach machen wollen? Ich zweifelte daran. Irgendein Ass hielt er bestimmt noch im Ärmel versteckt. Allerdings befanden sich in einem Spiel immer wenigstens vier Asse, wovon mindestens eines im wahrsten Sinne des Wortes an meinem Körper klebte.

»Eine gute Frage« Wo hatte ich gelernt, in Worthülsen zu sprechen? »Wie sollen wir mit jemandem wie Ihnen verfahren? Könnte jemand seine Heiligkeit, Tasmanir Musferatu, wieder hereinbitten?«

Endlich eine Reaktion. Spielte Dracula bisher den coolen Teflonvampir, dem nichts und niemand etwas anhaben konnte, begann er nun jeden meiner Schritte argwöhnisch zu belauern. Für mich viel überraschender war aber etwas anderes: Die Reaktion des Rates auf meine Anweisung, Tamir wieder in den Saal zu holen. Niemand hinterfragte, mit welchem Recht ich Befehle gab. Alle schienen meine Autorität zu akzeptieren. Selbst Norfun hatte aufgegeben, die Leitung der Sitzung wieder an sich zu reißen.

»Und?«, hakte Dracula nach, »Bekomme ich noch eine Antwort? Was«, er hielt seinen Kopf leicht schräg und kniff ein wenig die Augen zusammen, »was wirst du mit mir anstellen?«

»Nichts, rein gar nichts.«

Endspiel

Constantin

Was für ein Auftritt! Florian war einfach fantastisch. Er merkte es wahrscheinlich selbst nicht, aber hier trat kein schüchterner Tischlergeselle auf, auch kein Stammvater eines kleinen Hauses, sondern ein wahrer König unseres Volkes. Was für eine fantastische Metamorphose er in den letzten Wochen durchgemacht hat. Wurde er dadurch weniger liebenswert, vielleicht sogar unnahbar? Ganz im Gegenteil. Während Flo einerseits eine natürliche Autorität verströmte, blieb er gleichzeitig völlig natürlich und der knuffige Kerl, der er war. Oh ja, er war die bessere Wahl. Während mich der Gedanke, den Thron besteigen zu müssen abschreckte und Alpträume verursachte, begriff Florian es als Aufgabe, die es einfach zu erledigen galt und widmete sich ihr mit der gleichen tiefen Zuwendung, wie er eine Kommode reparierte oder eine Wandvertäfelung ausbesserte.

»Nichts, rein gar nichts.«

Ich wollte meinen Ohren nicht trauen, hatte Flo tatsächlich gesagt, dass Draculas – ich musste mich immer noch an den Gedanken gewöhnen, dass dieser Loser Bronkovic uns die ganze Zeit verarscht hatte – Verbrechen ungesühnt bleiben sollten. Dem Betreffenden schien es ähnlich zu gehen.

»Wie bitte?«, wollte der Graf wissen, »Du meinst, ich könnte den Saal einfach verlassen und niemand wird mich aufhalten oder verfolgen? Du wirst mich nicht anklagen und vor ein Tribunal zerren? Du weißt, dass ich deine Mutter töten ließ.«

»Ja, das ist mir bekannt. Aber ich werde Sie trotzdem nicht verfolgen.« Wie konnte Florian bei solchen Dingen nur so vollkommen entspannt bleiben? Dracula hatte soeben den Mord an seiner Mutter gestanden, doch Flo ließ es nicht nur kalt, er schien sich sogar noch mehr zu entspannen, bevor er sich mit unheimlicher Ruhe dem Graf erneut zuwandte.

»Was sollte es bringen, Sie vor ein Gericht oder ein Tribunal zu bringen? Sicher, wir würden Sie zur endgültigen Entkörperung verurteilen. Sie haben soeben vor Zeugen die Ermordung meiner Mutter, der Großherzogin Margaux gestanden. Und dann? Was brächte es, wenn wir Sie hinrichten? Bringt mir das meine Mutter zurück? Werden dadurch auch nur ein Schlag meines Vaters, die Schmähungen und Quälereien meiner Kollegen ungeschehen? Nichts davon würde geschehen. Dracula, die Vergangenheit lässt sich nicht ändern. Das einzige, was mir Ihr Tod brächte, wäre ein kurzer und wenig befriedigender Moment der Genugtuung. Nein, ich werde nichts dergleichen fordern, denn es ist nicht nötig. Wir, der Rat, kennen Sie jetzt. Ihr Geheimnis wurde offenbart. Ihr Plan wurde vereitelt und ist gescheitert. Mehr gibt es dazu nicht zu sagen, höchstens eins. Von nun an werde ich Sie als denjenigen behandeln, der Sie sind. Ich weiß jetzt, wozu Sie fähig sind. Ich gehe sogar noch einen Schritt weiter.« Florian stoppte und auch wir hielten den Atem an. Dieser Mann wuchs buchstäblich über sich selbst hinaus. »Graf Dracula, ich bitte Sie im Namen meiner Familie um Verzeihung für das unerträgliche Unrecht, das Ihnen durch mich oder einen meiner Vorfahren angetan wurde. Diese Fehde muss enden – jetzt und hier, an diesem Ort!«

Plötzlich verlief alles wie in Superzeitlupe. Während wir noch damit beschäftigt waren, die wahre Tragweite Florians Worte zu begreifen, streckte der dem Grafen Dracula die Hand zur Versöhnung aus. Doch Dracula dachte nicht daran, sich auf diese Weise um seine Rache bringen zu lassen. Ich sah nur kurz etwas langes und metallisch glänzendes aufblitzen. Jemand schrie. Ich sprang von meinem Stuhl auf und beobachtete noch einen enttäuschten Blick seitens Florians, da wurde er mit brutaler Gewalt aus der Stoßrichtung Draculas katapultiert. Den dadurch freiwerdenden Raum nahm völlig unerwartet Tamir ein, was aber auch hieß, dass das von Dracula geführte Stilett sich in die Brust des Nosferatu bohrte. Tamir stöhnte auf, als die allem Anschein nach vergiftete Klinge sein Herz durchstieß. Seine Fangzähne waren voll ausgefahren. Gelbe Gifttropfen hingen an ihren Spitzen. Gift gegen Gift. Draculas wirkte zu langsam und konnten nicht verhindern, dass die Zähne des Nosferatu in seinem Hals landeten. Ich konnte sehen, wie Tamirs Drüsen ihren tödlichen Inhalt in Draculas Blutbahn pumpten, bis ihn selbst die Kraft verließ und er langsam in sich zusammensackte.

»Danke Florian«, hörte ich Tamir sagen. Er lächelte. Tasmanir Musferatu lag im Sterben und lächelte. »Danke meine Freunde, danke.«

Er schloss seine Augen, atmete aus, etwas Blut rann ihm aus dem Mund und dann war er tot. Nicht so Dracula. Tamirs Nosferatugift wirkte stufenweise und sehr grausam. Als erstes schien es Dracula das Augenlicht zu rauben, denn dieser stolperte orientierungslos stierend umher. Im nächsten Schritt lähmte es seine Atmung. Der Vampir griff sich an den Hals, wollte Luft holen, konnte es aber nicht. Dafür quollen seine Augen grotesk hervor. Er schien noch etwas sagen zu wollen, was ihm anlässlich seiner gelähmten Stimmbänder nicht gelang. Stattdessen brach er zusammen. Statt Blut quoll ihm weißer Schaum aus dem Mund, bis er kurz röchelte und ebenfalls das Zeitliche segnete.


Das war das Ende. Ohne dazu aufgefordert zu werden, packten ein paar von Norfuns Nosferatu Draculas Leiche und brachten sie fort. Ganz anders verfuhren sie bei Tamir. Ihr Stammvater wurde von vier Nosferatu sanft angehoben und langsam und würdevoll hinausgetragen. Innerhalb weniger Minuten waren alle Spuren des Vorfalls verschwunden. Eine unsichere und nervöse Stimmung hatte sich im Rat ausgebreitet. Niemand wusste, wie es weitergehen sollte. Sollten wir einen Kronrat wählen, Florian zum König küren oder die Sitzung einfach abbrechen?

»Mit eurer Erlaubnis möchte ich ein paar Worte sagen.«

Ein Nosferatu, dessen Name mir Laurentius als Petrus zuraunte, hatte die Mitte des Saals betreten, seine Kapuze zurückgeschlagen und stand nun mit leicht gesenktem Haupt vor uns. Da niemand Einspruch erhob, wertete Petrus unser Schweigen als Zustimmung.

»Ich bin Petrus. Tamir war mein Seelenpartner, geknüpft durch das Band des Erdbluts. Ich möchte Florian danken, dass er Tamir erlaubte, seine Ehre zurückzuerlangen. Die Last der Lüge drückte schwer auf seiner Seele. Es war seine Schwäche, nicht den Mut und die Courage aufgebracht zu haben, zu seinem Fehler zu stehen.«

»Seid Ihr der neue Stammvater der Nosferatu des Westens?«, wollte Florian wissen.

»Ja, das bin ich.«, erklärte Petrus.

»Dann, Petrus, Stammvater der Nosferatu des Westens, vernehmt dies: Tasmanir Musferatu wird uns immer als Freund in Erinnerung bleiben. Er war ein Mann der Ehre.«

»Ich danke Euch, Bruder Florian.«

Mit diesen Worten verabschiedete sich Petrus und ließ einen immer noch ratlosen Rat zurück. Was sollten wir tun?

»Also gut«, knurrte van Sanden frustriert, »Was soll's? Florian, willst du den Job?«

»Ja!«, kam die klare, selbstbewusste Antwort.

»Okay, das ist jetzt alles andere als feierlich. Aber ich glaube, ich spreche im Sinne des ganzen Rates. Es wäre uns eine Ehre, wenn du die Krone unserer Volkes akzeptierst, du verdammter, ausgebuffter Grünschnabel.«

»Ist dies die einhellige Meinung des Rates?«

Sieh da, Norfun war auch noch da! Im richtigen Moment übernahm er wieder seine Aufgabe als Leiter des Nachfolgeritus und stellte die alles entscheidende Frage. Streng und mit prüfendem Blick musterte er die Reihen der Ratsmitglieder. Niemand erhob Widerspruch.

»Dann ist es entschieden.«, verkündete er, »Großherzog Margaux, der Hohe Rat hat dich einstimmig zu ihrem Thronfolger erklärt. Nimmst du die Wahl an?«

»Ja, Eure Heiligkeit, ich nehme die Wahl an.«

»So sei es vernommen. Sprecht mir nun nach: Ich Florian der Erste, König der Nacht, schwöre bei meinem Blute, mit aller mir zur Verfügung stehenden Kraft unsere Welt vor Feinden zu schützen, Recht gegen jeden ohne Ansehen seines Standes walten zu lassen und die Gesetze und den Kodex unserer Welt zu achten und zu verteidigen. Bei meinem Blute.«

Mit klarer, fester und selbstbewusster Stimme sprach Florian die Worte fehlerfrei nach. Niemand hätte es nach allem was bisher geschehen war für möglich gehalten, aber während er die Eidesformel leistete, bereitete sich doch noch so etwas wie eine feierliche Stimmung im Saal aus. Am Ende erhob sich plötzlich der gesamte Saal und verneigte sich vor unserem neuen König, meinem knuffigen Tischlergesellen.

»Shit, wie soll ich das bloß Niederreuter erklären?«


Die Nacht wurde lang und länger und reichte bis in den folgenden Morgen hinein. Nach der Wahl blieb es Florian nicht erspart, im Foyer die Glück- und Segenswünsche der Ratsmitglieder über sich ergehen zu lassen. Er nahm es erstaunlich professionell hin und hatte für jeden ein paar passende und respektvolle Worte übrig. Kurz vor Ende, der Tag war längst angebrochen, kehrte Petrus zurück und bat Florian, ein paar private Worte mit ihm wechseln zu dürfen. Flo gewährte ihm den Wunsch. Beide Männer zogen sich in eine Nische des Foyers zurück, wo sie sich eine Weile leise miteinander unterhielten, bis sich Petrus erhob und mit einer leichten Verbeugung verabschiedete. Inzwischen war es zehn Uhr. Flo gähnte und bat die wenigen verbliebenen Gäste, sich zurückziehen zu dürfen. Niemand hatte etwas dagegen, waren die meisten Vampire selbst hundemüde.

Wir zogen uns zurück, wobei ich nicht so recht wusste, wie ich mich meinem Schatz gegenüber verhalten sollte. Als faktischer Prinzgemahl hatte ich dem Protokoll entsprechend eigentlich zwei Schritte hinter ihm zu gehen. Florian bemerkte meine Unsicherheit, ergriff mein Handgelenk und zog mich fröhlich mit sich.

»Was für eine Nacht.«, seufzte mein Liebling als wir unsere Suite erreicht und die restliche Welt hinter unserer Tür ausgesperrt hatten.

»Wem sagst du das?«

Da stand er vor mir, mein Freund, mein König, mein ein und alles und strahlte mich fröhlich, glücklich, aber auch ein wenig melancholisch an.

»Habe ich richtig gehandelt?«, wollte er von mir wissen.

»Du bist der König. Für dich gibt es kein falsch.«

»Das wollte ich eigentlich nicht hören.« Florian schnaubte verächtlich »Im Gegensatz zum allgemeinen Protokoll verleiht mir dieser dumme Titel keine Unfehlbarkeit. Aber gut, dann Frage ich dich eben als meinen Freund und nicht als dein König: Habe ich richtig gehandelt?«

»Ja, das hast du. Ich hätte es nicht besser machen können. Darf ich dir eine Frage stellen?« Die Frage, die Frage stellen zu dürfen, entsprang nur der Höflichkeit. In Wirklichkeit brannte sie mir dermaßen unter den Fingernägeln, dass ich sie auch gestellt hätte, sollte Flo nein sagen, was er aber nicht tat – ganz im Gegenteil.

»Du bist mein Freund, mein Mann, mein Seelenpartner und Liebhaber. Es gibt nichts, was du mich nicht fragen könntest.«

»Wusstest du, dass nicht mein Vater und Breskoff, sondern Tamir den Auftrag gab, Dracula zur Strecke zu bringen?«

Flo sah müde aus. Bevor er antwortete ließ er sich auf einen Stuhl fallen, um sich im Sitzen die Schuhe abstreifen zu können.

»Ich habe es geahnt. Die drei waren Freunde, so enge Freunde, dass jeder für jeden einstand. Du hast den Wandteppich in der Eingangshalle des Klosters selbst gesehen. Es hat Jahrzehnte gebraucht, um ihn zu knüpfen. Er ist ein Sinnbild für die Treue und Freundschaft dieser drei Männer zueinander. Das ist etwas, was mir Petrus eben noch erzählen wollte. Tamir ahnte, dass ich auf der richtigen Spur war und die Wahrheit entdecken würde. Weißt du, warum wir ihn während des gesamten Aufenthalts nicht zu Gesicht bekamen? Tasmanir Musferatu hat seine Angelegenheiten geregelt. Er wusste oder ahnte zumindest, wie die Geschichte ausgehen konnte. Hat er mit seinem Schicksal gehadert? Nein, er hat auf diesen Ausgang zugearbeitet. In seinen Augen konnte er seine Ehre nur dadurch wiederherstellen, indem er sich seiner Schuld gegenüber deinem Vater, Breskoff, dem Rat, aber vor allem gegenüber Dracula stellte.«

»Er wusste, dass Dracula dich töten wollte?«, hakte ich entsetzt nach.

»Menschen ändern sich nicht. Oder nur sehr selten. Dies gilt auch für Vampire.«

Flo seufzte, während er sich von seinem Stuhl erhob, sein Jackett auszog und über die Stuhllehne hängte. Vor der Ratssitzung hatte mein Liebling den Fundus von Christianos Kleiderschrank durchstöbert, selbstverständlich mit dessen Zustimmung. Schließlich, so Flo, könne er wohl kaum in Freizeitkleidung als Stammvater an einer Sitzung des Hohen Rates teilnehmen. Die Sache hatte nur einen Haken. Sobald Christiano bei einer Bekleidungsauswahl beteiligt war, musste davon ausgegangen werden, dass das Ergebnis eine kopfverdrehende Wirkung besaß. Als ich Flo schließlich frisch eingekleidet aus Christianos ehemaliger Unterkunft kommen sah, klappte mir der Unterkiefer herunter. Wie schaffte es dieser Portugiese selbst einen Anzugträger sexy aussehen zu lassen?

»Natürlich hatte ich gehofft«, fuhr Flo fort, »dass Dracula meine Entschuldigung akzeptiert. Aber ich bin Realist und ahnte, dass es nicht sonderlich wahrscheinlich war. Jemand wie er, der Jahrhunderte nur für ein Ziel lebte, Rache an denen zu üben, die seiner Meinung nach Schuld am Untergang seines Hauses waren, kann nicht einfach loslassen. Was wäre ihm denn geblieben, hasszerfressen, wie er war? Du hattest recht mit dem, was du im Kloster sagtest: Unter die Sache musste ein Schlussstrich gezogen werden.«

»Dann war dein Angebot nicht ernst gemeint?« Was ich mir bei Florian eigentlich nicht vorstellen konnte.

»Es war absolut ernst gemeint.«, beruhigte mein Schatz meine Nerven, »Bei allem Schrecklichen, was zwischen unseren Familien stand, musste jemand den ersten Schritt wagen und versuchen zu verzeihen. Und glaube mir, den Mord an meiner Mutter zu verzeihen, fiel mir alles andere als leicht. Aber ich war bereit, über diese Brücke zu gehen und Dracula die Hand zu reichen. Er hätte sie nur ergreifen müssen. Aber so wie ich den Verlust meiner Mutter akzeptieren musste, hätte er akzeptieren müssen, verloren zu haben. Jedes Mitglied des Rates wusste nun, wer sich hinter der Figur des Baron Bronkovic verbarg und wozu er fähig war. Doch wie ich befürchtete, schlug er das Angebot aus.«

»Und Tamir intervenierte.«

»Ja, leider. Ich weiß, es mag herzlos sein, aber Dracula weine ich wirklich keine Träne nach. Er hat seine Entscheidung getroffen. Doch den alten Nosferatu vermisse ich. Hätte er doch bloß einen anderen Weg gefunden, seine Schuld zu begleichen. Wieso meinte er sich opfern zu müssen, nur um einem verquasten Ehrbegriff Rechnung zu tragen? Ich bin davon überzeugt, dass der Rat ihm verziehen hätte. Aber wahrscheinlich lag die Schwierigkeit eher darin, sich selbst verzeihen zu können.«

»Ich habe ihm verziehen. Aber Moment«, plötzlich lief es mir heiß und kalt den Rücken runter, »Wenn dich Tamir nicht beiseite gestoßen hätte...«

Ich sprach nicht weiter. Florian grinste hinterhältig und begann sich sein schneeweißes Hemd aufzuknüpfen: »Wärst du so nett und hilfst mir aus diesem Ding raus?«

Der Mann war einfach nur unmöglich. Statt eines Unterhemds kam ein Kevlar-Carbonfasermix-Körperpanzer unter seinem Hemd zum Vorschein.

»Du...«, mir fehlten die Worte.

»Ich mag zwar manchmal etwas naiv sein, aber nicht lebensmüde. Ich befürchtete, dass Bronkovic alias Dracula einen für mich tödlichen Ausgang plante. Dir ist schon klar, dass eigentlich du sein Ziel warst, oder? Du warst der letzte Nachfahre der vier Ersten. Dass ich, die Margaux in Wirklichkeit in direkter Linie von den Hati abstammten, war selbst Tamir nicht bekannt. Indem ich Dracula vor aller Welt die Maske herunterriss, gelang es mir, seinen Hass auf mich zu lenken.«

»Mein Gott, was habe ich mir da nur für ein Monster angelacht?«, erwiderte ich matt. Florian ließ mich wirklich verdammt alt aussehen. Der Knabe hatte wirklich alles bis ins kleinste Detail geplant.

»Ein Monster, das sich sehr gerne an dich kuscheln möchte.«, erwiderte mein Schatz, griff nach meiner Hand und zog mich zu sich heran, »Constantin, ich will dich! Ich will dich fühlen, eins mit dir werden – jetzt!«

Lose Enden

Die nächsten Tage und Wochen arteten zu einer Achterbahnfahrt aus, doch Florian blieb Florian. Nach gemeinsam im Bett verbrachtem Tag, in dem wir uns gegenseitig die körperliche Tiefe unserer Liebe intensiv demonstrierten – wir poppten bis zur Besinnungslosigkeit – galt Florians erster Gedanke am Abend Niederreuter und seinem Job.

»Hey, du bist jetzt König aller Hämophagen. Das ist dein Job. Dein Volk verlangt Zuwendung.«, bemerkte ich, während mein Schwanz tief in seinem knackigen Hintern steckte. Ich befürchte, dass letzteres ein wenig meiner argumentativen Position abträglich war.

»Oh ja, ich kann direkt spüren, wie sehr das Volk nach Zuwendung verlangt.«, erwiderte mein Schatz und drückte sein Gesäß fester gegen meinen Schoß. Innerhalb kürzester Zeit entwickelten wir einen gemütlichen Fickrhythmus, was nach den unzähligen Nummern der vergangenen Stunden eigentlich erstaunlich war. »Aber wirklich, ich muss zurück. Was immer ich jetzt auch sein mag, ich habe einen Arbeitsvertrag mit Niederreuter. Ich kann den Mann nicht hängenlassen.«

»Nein, das kannst du nicht. Aber lass dir ein wenig helfen und uns etwas vorbereiten. Okay?«

»Okay«, stöhnte Flo und gab sich meinen Penetrationskünsten hin.

Mein Büro, das heißt die Varadin International kümmerte sich dann darum, dass Flo bis Donnerstag frei hatte. Offiziell führte er zusammen mit Christiano und Marco eine Reihe heikler Holzarbeiten aus, für die die Firma Niederreuter fürstlich entlohnt wurde, während wir mit Tischlermeister Momsen etwas anders verfuhren. Spitzentelepath Christiano hatte ihm noch in der Nacht vom Mittwoch auf den Donnerstag, vor unserer Abreise zum Kloster, sein Gedächtnis gelöscht und eine andere Erinnerung eingepflanzt. Danach wäre er zusammen mit Christiano, Flo und Marco mit diversen Arbeiten in Charlottenhof beschäftigt gewesen. Am Freitagmorgen stand er wieder bei seinem Arbeitgeber auf der Matte und wurde dort gleich von zwei Polizisten in Empfang genommen, die mit ihm ein paar Fragen klären wollten.

Fragen – Florian spielte mit der Kripo wirklich ein gemeines Spiel. Von den anderen Bautrupps des Schwammsanierungsobjekts herbeigerufen, fand die Polizei neben zwei besinnungslosen Handwerkern – Andreas und Mario – eine riesige Blutlache, mehrere Schusswaffen und Patronenhülsen vor. Alles deutete auf den Ort eines Verbrechens hin, nur war weit und breit kein Opfer zu entdecken. Vorsichtshalber wurden die beiden Männer mit der Begründung illegalen Waffenbesitzes vorübergehend festgenommen. In diesem Zusammenhang durchsuchte die Kripo dann auch Marios und Andreas Wohnungen und wurde fündig. Marios Unterkunft entpuppte sich als wahres Waffenlager. Für alle überraschend aber auch als ein sehr sicheres. Sämtliche Waffen waren unter strengem Verschluss, außerdem lagerte er Munition und Waffe grundsätzlich getrennt. Dieser Fund feuerte die Überzeugung der Polizei nur noch mehr an, dass Mario und Andreas in ein Gewaltverbrechen verwickelt sein mussten und nahmen sie in die Mangel.

Es war das Beste, was passieren konnte. Bereits nach einer knappen Stunde Verhör dämmerte es dem verantwortlichen Ermittler, dass Mario unter erheblichen psychischen Problemen litt und zog einen Spezialisten hinzu. Als dieser dann noch die Ritzereien an seinen Armen entdeckte, war der Fall klar. Wie Florian vermutete, litt sein Kollege unter einer schweren Borderline-Persönlichkeitsstörung. Gleichzeitig entwickelte sich der Fall für Kripo und Staatsanwaltschaft zu einem echten Alptraum. Ohne Opfer hatten sie nicht wirklich etwas in der Hand. Obendrein ergaben weiterführende Ermittlungen, dass Mario berechtigt war, die Waffen zu besitzen. Er verfügte tatsächlich über die entsprechenden Genehmigungen, was auch erklärte, dass er über alles penibel Buch führte und die Lagerung sämtliche Auflagen erfüllte. Was blieb, war ein Vergehen wegen illegaler Nutzung und möglicher Überlassung, was aber auch schwer zu beweisen war, da sich weder Mario noch Andreas an den Abend erinnern konnten und Zeugen nicht zu beschaffen waren.

Um nicht völlig mit runtergelassener Hose dazustehen, bot die Staatsanwaltschaft Mario einen Deal an. Man würde die Anklage fallen lassen, wenn er sich im Gegenzug in Therapie begab. Ich gebe zu, dass dem Staatsdiener diese nicht ganz legale Idee nicht von selbst kam, doch Christianos telepathischen Überzeugungskünste können manchmal Wunder wirken.

»Warum tust du das?«, wollte ich von Flo wissen, »Die Typen haben deinen Vater entführt, dich vergewaltigt und in den Selbstmord getrieben.«

»Weil ich an das Gute im Menschen glaube«, erwiderte Flo, »Natürlich gibt es Typen, die einfach nur psychopathische Arschlöcher sind. Bei den beiden ist das nicht der Fall. Ich glaube, dass zumindest Mario eigentlich ein guter Kerl ist. Warten wir ab, was seine Therapie ergibt. Bei Andreas sieht die Sache ein wenig anders aus. Ich glaube, sein Hass auf mich ist in seiner HepC-Infektion zu suchen.«

Als mir Florian dann auch noch von seiner Begegnung mit Andreas im X berichtete, einer Lederbar, die zu Christianos bevorzugten Jagdgründen zählte, ahnte ich, worauf er hinauswollte. Nun zählten Hepatitsinfektionen nicht zu den Krankheiten, die ein beherzter Vampirbiss nicht heilen konnte. Fragte sich nur, wie wir ihn zum einen dazu brachten, sich beißen zu lassen und zum zweiten dafür sorgten, dass er sich mit der Ursache seines Hasses auseinandersetzte. Vielleicht, so meinte Flo, blieb ihm am Ende nichts anderes übrig, als Andreas direkt zu konfrontieren.

Und dann war da noch Momsen. Wie hatte es Florian ebenso treffend, wie deprimierend formuliert? Menschen ändern sich nicht. Auf Momsen traf es gleich mehrfach und überaus tragisch zu. Kaum zurück bei Niederreuter, bewies er seine grenzenlose Inkompetenz, indem er ein wichtiges Projekt verbockte, was Niederreuter einen Haufen Kohle, einen guten Kunden und Momsen den Job kosteten, denn dieses Mal konnte er seine Unfähigkeit und Stümperei nicht vertuschen oder jemand anderem in die Schuhe schieben. Doch wie reagierte der Mann? Er gab sich seinem alten Laster des illegalen Glücksspiels hin und verlor an einem Abend gute siebzigtausend Euro. Nur gab es keinen Bronkovic mehr, der für seine Spielschulden aufkam, was seine Spielpartner nicht sehr erfreute. Die Polizei fand Momsens Leiche übelst zugrichtet zwei Wochen nach der Entführung von Florians Vater auf einer Mülldeponie. So bedauerlich es war, aber offenbar konnte es nicht für jeden ein Happy-End geben.

Ganz im Gegensatz zu Niederreuter, der schon den Untergang seines Unternehmens vor sich sah. Die Schadensersatzansprüche durch Momsens Bockmist brachten den aufrechten Kleinunternehmer in arge Zahlungsschwierigkeiten. Eine Insolvenz schien unvermeidlich, als sich plötzlich ein Investor anbot, mit einer Geldspritze auszuhelfen. Dieser unerwartete Gönner war niemand anderes als mein Florian. Er konnte es einfach nicht lassen.

»Was willst du mit einem Tischlereibetrieb?«, wollte ich wissen.

»Keine Ahnung. Mal sehen, vielleicht spezialisieren wir uns auf Luxusschlafsärge.«

»Siehst du darin einen Zukunftsmarkt?«

»Auf jeden Fall, du nicht?«

Immerhin ergab sich mit Florians Einstieg ins Unternehmertum ein guter Anlass zum Ausstieg aus seinem alten Job. Doch zuvor, ich wollte es wirklich nicht glauben, brachten er, Christiano und Marco noch die Schwammsanierung zu Ende. Da die drei kein Geheimnis daraus machten, nach dem Projekt Niederreuter zu verlassen, war eine kleine Abschiedsparty ihres Teams an ihrem letzten Arbeitstag unvermeidlich, zu der Mario allerdings fehlte.


Mein Liebling hatte wirklich einen vollgepackten Terminkalender. Neben seinem Tagesjob versuchte er sich nachts in seine neue Aufgabe als Staatsoberhaupt der territorialfreien Nation der Hämophagen einzuarbeiten, wie sein Titel völkerrechtlich hieß. Schlaf kam dabei ein wenig zu kurz, zum Glück konnten wir Vampire fehlenden Schlaf durch Meditation und frisches Blut kompensieren, was hieß, dass Flo nach der Arbeit mit seinen beiden Kollegen meistens noch eine kurze After-Work-Jagd einlegte, bevor sie sich den heimischen Aufgaben zuwandten.

Ein weiteres Projekt betraf den Umzug nach Charlottenhof. Christianos Appartement war mit dem Einbruch Momsens und seiner Spießgesellen kompromittiert, weswegen er kein Problem damit hatte, mit Florian, Marco und Nicolas in Charlottenhof einzuziehen. Während Christiano und Simon sich um den Umzug kümmerten, versuchte Florian seinen Vater davon zu überzeugen, ebenfalls zu ihm zu ziehen und seine Mietwohnung aufzugeben. Florian erwähnte es nicht und sein Paps sprach ihn auch nicht darauf an, aber ein Hauptgrund für den Wunsch meines Mannes war wohl die Angst um die Sicherheit seines Vaters. So sehr beide versuchten den Gedanken zu verdrängen, war ihnen trotzdem klar, dass Florians königlicher Status eine potenzielle Sicherheitsgefährdung für ihn und alle Personen seines Umfelds bedeutete.

Anders als erhofft, zeigte sich Florians Paps ein wenig zurückhaltend. Der Gedanke, als einziger Mensch in ein Schloss voller blutrünstiger Vampire zu ziehen, schreckte dann doch etwas ab. Außerdem gab es da ja noch Christine, die neue Frau im Leben von Florians Vater. In einem Schlösschen zu wohnen, dürfte Christine sicherlich beeindrucken, auf der anderen Seite natürlich auch Fragen aufwerfen.

»Keine Angst, das bekommen wir schon in den Griff!«, meinte Anton zu Florians Vater, als ihn dieser zu einem Besuch in Charlottenhof eingeladen hatte.

Der Mann kannte das Gebäude bisher nur im Ausnahmezustand der Ratssitzung. In der Zwischenzeit hatten fleißige Blutsauger ganze Arbeit geleistet und die Spuren der Großveranstaltung unter den wachsamen Augen Lucretias beseitigt. Charlottenhof war wieder das, was es immer war. Ein wunderschönes, kleines Herrenhaus, ein kleiner, oft vergessener Diamant und für Florians Bedürfnisse absolut passend. Einerseits war es repräsentativ, aber dabei nicht protzig. Unter den Schlössern nahm es die Rolle der Bescheidenheit ein, was genau Florians Wesen entsprach.

Lucretia – oft versprühte sie den Charme einer Drahtbürste, aber eigentlich versteckte sich hinter ihrer rauen Art ein Herz von der Größe eines Walfischs. Nachdem Florian eher erfolglos versucht hatte, seinem Vater Charlottenhof als neues Domizil schmackhaft zu machen, nahm Lucretia die Sache in die Hand, mit Kaffee und Kuchen. Wir, das waren Lucretia, Anton, Florian, sein Vater, Simon, Christiano, Nicolas, Marco und ich, saßen am langen und massiven Holztisch der großen Küche Charlottenhofs, tranken Kaffee, mampften Lucretias leckeren Kuchen und genossen einen exzellenten uralten armenischen Weinbrand. Die Stimmung war einfach nur toll, fröhlich, fast ausgelassen. Wir lachten, alberten rum, erzählten uns Geschichten aus unseren Leben. Und plötzlich war etwas da, das ich seit Jahrhunderten nicht mehr gefühlt hatte: Familie. Ich sah zu Florian, der bemerkte meinen Blick, nickte wissend und strahlte mich an. Florian hatte uns zu einer Familie zusammengefügt. Ich glaube, ich war noch nie so glücklich, wie in diesem Moment.

»Und?«, wandte sich Lucretia an Florians Vater, »Bist du immer noch fest entschlossen, in deiner Wohnung zu bleiben?«

Der Angesprochene sah sich um, blickte hilferingend zu seinem Sohn und zuckte mit den Schultern.

»Ich weiß es nicht.«, gestand Flos Paps, »Doch, ich weiß es schon. Es wäre toll, hier zu leben. Ich weiß nur nicht, was ich Christine erzählen soll.«

»Die Wahrheit, Paps, einfach nur die Wahrheit.«

»Was, dass mein Sohn und seine Freunde Blutsauger sind?«

»Dass du bei deinem alten Arbeitgeber gekündigt hast und im Betrieb deines Sohnes als Prokurist anfängst.«, meinte Florian trocken, während er einen dicken Schokokeks muffelte, »Wow, diese Kekse sind geil!«

»Wieso esst ihr das Zeug?«, wollte Florians Vater wissen, der wusste, dass menschliche Nahrung für uns keinen Nährwert besaß.

»Weil eff schmeckt!«, nuschelte Simon mit vollem Mund, wobei ein paar Kuchenkrümel dem selbigen entfleuchten.

»Wir haben Erfahrung mit Menschen.«, versicherte Lucretia ernsthaft, »Christine wird nichts bemerken. Aber vielleicht könnte ein Kompromiss weiterhelfen.«

»Das Gartenhaus?«, fragte ich.

»Das Gartenhaus«, bestätigte Lucretia, »Es ist eine vollwertige Wohnung: ein großes Wohnzimmer mit Kamin, zwei Bäder, ein Schlafzimmer, Küche, Ess- und Arbeitszimmer und sogar Hobbykeller. Es wäre euer privates Reich. Niemand wird euch stören.«

»Und auf nift auffaugen!«, nuschelte Simon geck und erntete dafür einen Nackenklaps von Christiano.


Wer könnte Lucretia schon widerstehen? Florians Vater konnte es nicht und nahm sowohl die Unterkunft als auch das Jobangebot an. Ein weiterer Haken auf Florians ToDo-Liste. Obwohl diese Liste nicht wirklich existierte, schien jedes Häkchen mehr die Veränderung in Florians Leben zu repräsentieren. Langsam, aber mit totaler Leidenschaft wuchs er mehr und mehr in seine neue Rolle als unser aller Oberhaupt hinein. Erstaunlicherweise, ließen ihm die anderen Stammväter und Stammmütter die Zeit dazu und kamen nur mit wirklichen wichtigen Problemen, meist Streitereien, die eine Schlichtung erforderten, zu ihm. Und wie reagierte Florian? Er setzte sich mit den Streithähnen zusammen, hörte sich die Situation an und fand eigentlich immer einen Kompromiss, bei dem keine Seite das Gesicht verlor.

Es widerstrebte mir, meinen Schatz in dieser Zeit alleinlassen zu müssen, aber mein eigenes Haus, verlangte ebenfalls nach Aufmerksamkeit. So waren noch immer nicht alle Schäden von Frantz Verrat beseitigt. Die Fusion der beiden Häuser Breskoff und Varadin musste fortgeführt werden.

»Wie fühlst du dich?«, wollte Laurentius von mir wissen. Wir saßen in meinem Büro und gönnten uns einen Blutcocktail.

»Glücklich. Wirklich Glücklich. Florian hat mir eine Familie geschenkt.«

»Bereust du es, den Thron nicht bestiegen zu haben?«, wollte mein Marschall von mir wissen, »Immerhin hast du all die Jahre auf dieses Ziel hingearbeitet.«

»Nein, ich bereue es nicht.«, erwiderte ich verträumt, »Ich bin froh, diese Verantwortung nicht schultern zu müssen. Und Flo... du hast ihn gesehen. Er geht die Aufgabe mit einer Unbefangenheit an, die mir niemals möglich wäre. Und was ist mit dir? Bedauerst du, keinem König zu dienen?«

»Oh nein, mein Freund, oh nein. Ich freue mich, dich glücklich zu sehen. Dein Vater wäre stolz auf dich.«

Das Haus Dracula

Florian

König?

Vielleicht. Viel bekam ich von meinem Titel anfangs gar nicht mit. Dafür waren viel zu viele Dinge zu erledigen. Meinem alten Chef Niederreuter finanziell unter die Arme zu greifen, entpuppte sich dabei als wahrer Glücksgriff. Erlaubte es Christiano, Marco und mir tatsächlich einen eleganten Ausstieg aus dem Unternehmen, ohne dabei die Brücken hinter uns abzubrechen.

Ein anderes Problem stellte sich da schon als viel heikler heraus. Mit Draculas Tod verlor sein Haus den Stammvater, womit mir ausgerechnet die kniffelige Aufgabe in den Schoß fiel, über seine Nachfolge zu entscheiden. Eine meiner ersten Reisen führte mich somit zum Stammsitz Bronkovics. Außer Nicolas und Marco begleitete uns auch noch Orwell, den mir Constantin zu meinem Schutz überlassen hatte. Der Botschafter des Hauses Varadin-Breskoff, ein gewisser Christiano, blieb in Charlottenhof, um sich dort mit Anton, Lucretia und meinem Vater um den Aufbau meines Hauses zu kümmern. Dass sich ein gewisser Simon regelmäßig ebenfalls in der Gegend rumtrieb, schien bei seiner Entscheidung eine nicht untererhebliche Rolle zu spielen.

Ich gebe zu, dass ich die Hose voll hatte, als unser Wagen im Hof von Bronkovic vorfuhr. Es war früher Abend und die Sonne gerade untergegangen. Die Dämmerung war aber noch nicht der Nacht gewichen, als uns von einem ebenso langen wie hageren Vampir die Tür geöffnet und wir in das Haus des ehemaligen Barons geleitet wurden. Als Mensch schätzte ich Tomek, unter welchem Namen sich der Vampir vorstellte, auf Mitte dreißig. Wie wir später erfuhren stand er über dreihundertfünfzig Jahre im Dienste Bronkovics.

Wir standen in der Eingangshalle des Bronkovicschen Hauses, einem wirklich schönen Gründerzeitgebäude. Niemand hätte je vermutet, dass inmitten der Altstadt einer osteuropäischen Großstadt, die für ihre dichte Bebauung bekannt war, der Clan eines alten Vampirgeschlechts lebte. Der von einem schmiedeeisernen Zaun eingefriedete Vorgarten wirkte weder schlechter noch besser gepflegt als die der Nachbarn. Natürlich residierten die Bronkovics im westlichen Teil der Stadt, wo entsprechend den in Europa vorherrschenden Windrichtungen die vermeintlich bessere Gesellschaft wohnte, zwischen großzügigen Parks und dem Universitätsviertel.

»Eure Majestät«, begrüßte uns Tomek.

Das ganze Haus hatte sich in der Eingangshalle versammelt. Manche standen direkt in der Halle, andere auf der Treppe, ein paar hatten sich im ersten Stock über das Treppengeländer gebeugt. Ganz entgegen meiner Erwartung entpuppte sich Draculas alias Bronkovics Clan als nicht sehr groß. Nur eben dreißig Augenpaare schauten nervös und ängstlich in unsere Richtung und ich genauso in die ihren zurück. Die armen Seelen hatten Angst vor mir und ich ahnte auch, warum. Sie hatten schlicht und ergreifend Zukunftsangst. Ihr Stammvater war nicht einfach gestorben, er war im Streit gefallen, mit all den kniffeligen rechtlichen Konsequenzen, die dies nach sich zog. Ich glaube, dass niemand, auch kein Experte in hämophagischem Recht wirklich mit hundertprozentiger Sicherheit sagen konnte, wer zurzeit rechtmäßiges Oberhaupt des Hauses Dracula war. Oder war es das Haus Bronkovic? War es gar an die Nosferatu des Westens gefallen? Oder konnte ich einen Anspruch erheben, nachdem Dracula zugegeben hatte, meine Mutter ermordet zu haben? Mit anderen Worten, die dreißig Seelen vor mir hingen zwischen Baum und Borke und wussten nicht, wie es mit ihnen weitergehen sollte. Waren sie vielleicht sogar Kriegsgefangene, Sklaven der Krone?

Die wirklich interessante Frage war: Was wussten sie von Bronkovics Plänen. Waren sie eingeweiht? Hatten sie vielleicht sogar daran aktiv teilgenommen? Befand sich etwa der Mörder meiner Mutter unter ihnen? Wie ich die Gesichter eines nach dem anderen betrachtete, hatte ich nicht den Eindruck, dass sie viel von dem wussten, was ihr Stammvater wirklich umtrieb. Sicher konnte ich mir aber erst sein, nachdem ich sie fragte.

»Ich möchte euch eine Frage stellen«, erhob ich meine Stimme und versuchte, möglichst freundlich und beruhigend zu wirken, »Wer war Baron Bronkovic?«

Ein Raunen ging durch die Mitglieder des Hauses. Was für merkwürdige Fragen dieser junge Kerl doch stellte. Wie sollten sie darauf antworten. Tomek sah sich ängstlich zu seinen Stammesmitgliedern um und zuckte mit den Schultern.

»Wir wissen es nicht.«, nahm sich eine Frau von großmütterlichem Typ ein Herz, mir zu antworten. »Wir dachten immer, der Baron sei...«

»... ein Torfkopf!«, vervollständigte ein rothaariger, sommersprossiger Rotschopf mit keckem Blinzeln, den offengelassenen Satz, »Kommt, seid ehrlich, wir haben den Typen immer für einen totalen Deppen gehalten.«

»Jurek, bitte!«, zischte Tomek den Rotschopf scharf an, doch der ließ sich nicht stoppen.

»Nix Jurek, bitte! Ich dachte immer, wir würden ihm etwas bedeuten. Aber er hat uns belogen. Selbst uns, seinen eigenen Geschöpfen, hat er den Trottel vorgespielt. Du weißt doch, wie er sich immer gab? Hast du ihn nach seiner Lieblingsfarbe gefragt, hätte er dir morgens rot und abends blau geantwortet. Dabei war das alles nur Show!« Jeder in der Halle konnte sehen, dass Jureks Wut in Wirklichkeit nur seine verletzten Gefühle wiederspiegelte. »Menno, ihr alle wisst, wie uns die anderen Häuser immer aufzogen. Oh schaut, da kommt Bronkis Trümmertruppe! Und was hab ich Depp getan? Gegengehalten! Bronkovic mochte zwar nicht der hellste Stammvater sein, aber er war unserer. Er sorgte für uns. Bot uns ein Dach überm Kopf. Und jetzt? Alles Fake! Wir waren nicht mehr, als ein paar Laiendarsteller für sein beknacktes Doppelleben. Sorry, Tomek, aber mit Bronki bin ich durch.«

Tomek seufzte, blickte zu Boden, schaute sich zu seinen Clanmitgliedern um und meinte dann: »Ihr müsst Jureks Wut entschuldigen. Er ist noch jung und weiß nicht, was sich gegenüber Eurer Majestät gehört. Aber leider muss ich ihm Recht geben. Unser Stammvater hat uns... verraten. Es fällt mir schwer, es auszusprechen, aber wir fühlen uns unserer Identität betrogen. Wer sind wir? Sind wir Bronkovics? Oder Draculas? Oder sind wir gar die Reste des Clans eines Verräters? Könnt Ihr uns das sagen?«

Auf dem Weg zu Draculas alias Bronkovics Stammhaus hatten wir die unterschiedlichsten Szenarien durchgespielt, wie mein Empfang wohl verlaufen könnte. In fast allen Fällen endeten sie in gegenseitigen Vorwürfen und unschönen Konfrontationen. Obwohl ich mich an den wilden Spekulationen beteiligt hatte, ahnte ich, dass uns etwas anderes erwartete. Jurek brachte es auf den Punkt. Sie waren Opfer. Bronkovic hatte seine eigenen Geschöpfe betrogen und so fühlten sie sich dann auch. Erschwerend kam hinzu, dass so ziemlich jeder Blutsauger weltweit den Fall Dracula kannte. Als Coverbild und Schlagzeile auf »Vampire Today«, der Nachtzeitung des typischen Hämophagens herhalten zu müssen, zählte zu den gewöhnungsbedürftigen Erfahrungen. Mit dem Titel »Seine königliche Majestät Florian Margaux sûr Rhone« startete diese eine ganze Artikelserie. Während mich das Titelbild noch halbwegs sittsam zeigte, beglückte Seite 3 die Leser mit einem halbseitigen Bild vom Constantin und mir, wie wir uns ziemlich leidenschaftlich die Mandeln polierten. Um dann aber nicht nur der Hofberichterstattung Rechnung zu tragen beschäftigten sich drei Artikel ausführlich mit den Ereignissen im Rat, der Person Draculas und den Hintergründen seines Verrats und Todes. Wirklich jeder Vampir und Nosferatu kannte jetzt meine Geschichte und ich musste mich damit abfinden, in unseren Kreisen eine öffentliche Person zu sein. Unter dem gleichen Schicksal litten die Geschöpfe Draculas. Wie mussten sie sich fühlen, wenn faktisch jeder wusste, dass ihr Stammvater ihnen den enervierenden Bronkovic vorgespielt hat? Genauso bestand die Gefahr der Anfeindungen, wenn jemand auf die Idee kam, dass die Bronkianer doch nicht so unschuldig waren.

»Zuerst sollten wir das mit der königlichen Majestät lassen. Ich bin Florian und vermutlich einige Jahrzehnte jünger, als Jurek. Oder, Jurek, darf ich dich fragen, wie lange zu schon an Hälsen knabberst?«

»Dreiundachtzig Jahre, Chef!«, rief Jurek keck und wurde dafür von einer jungen Frau mit mädchenhaften Zügen in die Seite gestoßen.

»Mit rund sechs Wochen gehe ich dann wohl als Neugeborenes durch, oder?«

Ein klein wenig begann sich die Stimmung zu heben. Die sorgenvoll unsicheren Mienen hellten sich auf und schauten mich nicht mehr ganz so ängstlich an.

»Ich bin hier, um mit euch die Zukunft eures Hauses zu besprechen.«

Kaum hatte ich diese Worte ausgesprochen, kehrten die ängstlichen Mienen wieder zurück. Glaubten die etwa, ich war gekommen, um ihren Laden abzuwickeln, wie eine Handyfabrik, die nach China verlagert werden soll?

»Leute, Leute, keine Angst. Was mit diesem Haus passiert, entscheidet ihr. Ich bin hier, um mit euch die Alternativen zu erörtern. Im Grunde habt ihr drei Möglichkeiten. Variante 1, die ich den Klassiker nennen würde: Ihr wählt aus eurem Kreis einen neuen Stammvater. Ihr müsstet dann noch entscheiden, unter welchem Namen ihr angesprochen werden wollt. Ihr könntet das Haus Bronkovic bleiben, aber auch ganz rechtmäßig Namen Dracula annehmen. Oder ihr verleiht euch einen völlig neuen Namen, um damit einen Neuanfang zu wagen. Bei dem würde ich aber ein Wort mitreden müssen.«

Eigentlich wollte ich den Vorschlag ein wenig sacken lassen, aber da hatte ich nicht mit der Neugier meiner Zuhörer gerechnet.

»Hm, und was sind die anderen Möglichkeiten?«

»Variante 2: Ihr löst euch auf. Jeder geht seinen eigenen Weg. Ihr könnt als freie Vampire leben oder euch einem Haus anschließen, das euch gefällt und bereit wäre, euch aufzunehmen.«

Das entstehende Gemurmel ließ mich ahnen, dass diese Möglichkeit eher nicht favorisiert wurde.

»Wir würden gerne zusammenbleiben.«, brachte es Jurek auf den Punkt.

»Gut, dann gäbe es noch die dritte Möglichkeit: Ihr tretet als Clan einem anderen Haus bei und vereinigt euch mit ihm. Dies hieße aber auch, dass alles was bisher euer war, dann dem neuen gemeinsamen Haus gehört. Ich weiß von einigen Häusern, die bereit wären, mit euch zusammenzugehen. Die größte Hürde besteht wahrscheinlich darin, dass ihr den Mut aufbringen müsst, zu fragen und mit dem Risiko leben müsst, eine Abfuhr zu erhalten.«

So recht schien ihnen dieser Gedanke auch nicht zu gefallen. Sie murmelten. Um den letzten Vorschlag unterbreiten zu können, hatte ich zuvor ein paar Telefongespräche geführt und tatsächlich Häuser gefunden, die sich eine Fusion mit den Bronkianern unter bestimmten Fällen vorstellen konnte. Selbst Isolotianisten, wie Lord Bromley boten sich an, den gestrandeten Vampiren ein neues Heim zu bieten.

»Lasst euch Zeit und überstürzt nichts. Ich würde mich allerdings freuen, während eurer Beratung nicht mehr in der Eingangshalle stehen zu müssen.«

Mit dieser Bemerkung löste ich erst die fast schon katatonische Starre der Truppen und anschließend eine Kettenreaktion aus. Sofort beeilte man sich, mich und meine Begleiter in ein nettes Zimmer führen. Tomek, der so etwas wie der Hausverwalter zu sein schien, auf jeden Fall war er es, der im Moment den Laden zusammenhielt, wirkte immer noch unsicher und sah sich fürchterlich nervös um, ob auch alles perfekt war.

»Seid Ihr vielleicht hungrig? Wir haben frische Blutkonserven...«

»Tomek, bitte, entspann dich. Es ist alles in Ordnung.« Oder doch nicht? »Es ist doch alles in Ordnung, oder?«

»Nein, ist es nicht.« Tomek schaute zu einem freien Sessel, traute sich aber nicht, sich ohne meine Erlaubnis hinzusetzen. Ich musste immer mehr an einen steifen Butler denken, der ohne seinen Herrn nicht wusste, was er machen soll.

»Nun setz dich schon hin und raus mit der Sprache, was bedrückt dich?«

Alles – ich hatte Recht. Tomeks Aufgabe bestand bisher tatsächlich darin, das Haus zu verwalten. Und genau darin bestand das Problem. Er konnte das Haus nicht mehr verwalten. Es begann bei so profanen Dingen wie fehlenden Bankvollmachten. Wie sollte er Strom, Wasser, Gas, Steuern, Müllabfuhr, Versicherungen, halt all die Dinge bezahlen, die für den Betrieb eines Hauses erforderlichen waren. Tomek hatte zwar die Bücher geführt und Überweisungen vorbereitet, diese aber immer seinem Herrn zum elektronischen Unterzeichnen vorlegen müssen. Im Prinzip war Tomek zu keinerlei Rechtsgeschäften fähig. Er konnte keine Verträge abschließen, keine Erklärungen gegenüber dem Finanzamt abgeben, das wegen der Erbschaftssteuer den Hausbewohnern auf die Füße trat, endlich einen Erben zu benennen.

»Wir sind zahlungsunfähig«, brachte es Tomek auf den Punkt, »Unsere Bargeldreserven belaufen sich auf genau 347,17 Euro. Übermorgen wird uns der Strom abgestellt.«

»Marco?«, wandte ich mich an meinen Exkollegen, der zusammen mit meinem Vater die Finanzverwaltung unseres Hauses übernommen hatte. Genaugenommen war es ein wenig komplizierter. Ich hätte nicht gedacht, womit ich mich als Stammvater und König rumschlagen musste. Es war eben diese Doppelfunktion, die die Sache kniffelig machte. Einerseits war ich Florian, Stammvater der Margaux. Mein Vermögen bestritt sich primär aus den Diamanten aus der Kaverne. Zusätzlich gab es Hinweise, dass mir meine Mutter das nicht unerhebliche Vermögen der Margaux hinterlassen haben sollte. Da wir bisher aber noch nicht in Erfahrung bringen konnten, wo und auf welche Weise sie dies versteckt hatte, blieb dies reine Spekulation. Interessanterweise war ich aber überhaupt nicht auf die Diamanten angewiesen. Als Oberhaupt der Hämophagen verfügte ich über einen eigenen Etat. Die hohen Häuser, die Nosferatu und sogar die freien Vampire zahlten Steuern an die Krone, aus der ich alle Kosten bestreiten musste, die sich aus den Anforderungen meines Amtes ergaben. Angefangen beim Unterhalt von Charlottenhof als Amtssitz bis hin zu Gehältern für Menschen und Vampire, die in meinen Diensten standen. Entscheidend war, dass mir diese Steuern nicht für mein Privatvergnügen bestimmt waren. Nun orientierte sich der Steuersatz an den Ausgaben eines Mannes wie Breskoff, der einen wirklich großen Verwaltungsapparat unterhielt. Bei meinem Trupp von zwei Vampiren und einem Menschen, kam ich mit einem Bruchteil der Summe aus, die Monat für Monat die Staatskasse füllte. Da mir niemand vorschrieb, wie ich mit dem Geld umzugehen hatte, sah ich nichts, was dagegen sprach, es für soziale Zwecke einzusetzen.

»Kein Problem, ich kümmere mich drum.«, erwiderte Marco und wandte sich an Tomek, »Könntest du mir die Kontonummern eurer Gläubiger nennen? Die Krone übernimmt die Zwischenfinanzierung, bis eure Angelegenheiten geklärt sind. Vor unsere Abreise werden wir euch auch mit Bargeld versorgen.«

»Ich weiß nicht, was ich sagen soll.«, flüsterte Tomek und sah mich überrascht an, »Danke, Eure Majestät.«

Er lernte es nicht mehr. Egal! Die Hauptsache, sein Haus wurde wieder flüssig. Tomek zog sich zurück und ließ uns allein.

»Was meint ihr?«, wollte ich von Nicolas, Orwell und Marco wissen, »Wie werden sie sich entscheiden?«

»Schwer zu sagen.«, gab Orwell seine Einschätzung ab, »Ich glaube nicht, dass sie selbständig bleiben wollen. Draculas Haus erinnert mich an eine alte britische Fernsehserie – Das Haus am Eaton Place. Erinnert sich jemand daran? Oh, natürlich nicht. Ihr seid ja alle viel zu jung. Auf jeden Fall kommt mir dieses Haus wie ein lebender Anachronismus vor. Die sind britischer als Lord Peter.«

»Ich kenne deine Fernsehserie zwar nicht, ahne aber, was du meinst. Selbst Draculas Haus war ein Fake.«, pflichtete Nicolas bei, »Und ich gebe dir recht. Die sind so daran gewöhnt, ihrem Herrn zu dienen, dass es ihnen wahrscheinlich sehr schwer fällt, ein eigenes Haus zu führen.«

»Dann warten wir ab, wie sie sich entscheiden.«, meinte ich und lehnte mich gemütlich zurück. Marco hatte inzwischen sein Notebook ausgepackt und damit begonnen, einen Sonderetat für das Haus Dracula einzurichten. War das mein Job? Dort helfend eingreifen, wo es sonst niemand konnte? Während ich noch über mein zukünftiges Aufgabenspektrum spekulierte, machte sich mein Mobiltelefon bemerkbar. Es war Constantin.

»Hallo du!«, begrüßte ich meinen Schatz.

»Ich vermisse dich!«, grüßte mich Constantin, »Wie kommst du voran? Bereiten sie dir Schwierigkeiten oder kommt ihr gut miteinander aus?«

»Es läuft besser als ich dachte. Es sind gute Leute, denen Dracula ebenfalls den Deppen vorgespielt hat. Entsprechend enttäuscht und niedergeschlagen sind sie. Und pleite, aber das regeln wir gerade.«

»Du weißt, dass ich sie aufnehme, wenn sie das wünschen. Aber deswegen rufe ich nicht an. Du erinnerst dich, wovon wir letztens sprachen?«

»Wie könnte ich das vergessen?« Ein wohliges Gefühl breitete sich in mir aus.

»Dann kannst du dich darauf einstellen, dich nach deinem Ausflug gleich wieder auf die Socken machen zu dürfen. Nächstes Wochenende komme ich nach Charlottenhof und hole dich ab. Wir fliegen am Freitagabend. Wohin wird nicht verraten. Was hältst du davon?«

»Dass ich den süßesten Romantiker aller Zeiten zum Mann habe. Ich liebe dich!«

»Ich dich auch! Halt die Ohren und andere Körperteile steif.«

Kopfschüttelnd beendete ich das Gespräch und wurde mit wohlwollenden Blicken seitens meiner Begleiter bedacht. In diesem Moment klopfte es an der Tür. Tomek war zurück und brachte den gesamten Hausstand mit. Wie es aussah, war die Entscheidung gefallen.

»Eure Majestät, Florian, wir haben uns beraten und wissen jetzt, was wir wollen. Wir sind uns einig, dass wir kein eigenes Haus werden wollen. Alle anderen Häuser würden uns immer als Draculas Trottel betrachten. Und unsere Gemeinschaft auflösen, sodass jeder seines Weges geht? Das ist auch nicht unser Weg. Wir möchten gerne zusammenbleiben.«

»Gut, das kann ich verstehen. Wisst ihr schon, welchem Haus ihr euch anschließen wollt?«

»Ja, das wissen wir. Jurek?«, erwiderte Tomek und ließ dem jungen Rotschopf den Vortritt.

»Ähm«, stammelte Jurek unsicher, »Wir hatten uns überlegt, ob nicht Ihr uns aufnehmen wollt?«

Äh, damit hatte ich nicht gerechnet. Nicolas und Marco unterdrückten ein schadenfrohes Gackern. Mit dieser Frage hatten mich Draculas Hausgesellschaft wirklich überrumpelt. Ich hatte zwar damit gerechnet, dass sie sich einem Haus anschließen würden, aber eher vermutet, dass sie ein größeres bevorzugten und kein Mikroladen, wie den meinen. Auf der anderen Seite gefiel mir der Gedanke ganz gut. Bei der Geschwindigkeit, wie sich mein Haus entwickelte, nicht zuletzt durch die Aufgaben meines Amtes, war der Punkt, an dem wir in personelle Engpässe gerieten, absehbar. Eigentlich war es bereits jetzt schon eng. Das gesamte Haus Margaux saß neben mir.

»Seid ihr euch sicher? Ihr habt von der Ratssitzung gehört. Ihr wisst, wie es zwischen Dracula und mir stand? Ich muss das fragen, weil ich nicht möchte, dass ihr euch aus falschen Gründen für mich entscheidet. «

»Wir wissen, was Ihr meint, Eure Majestät«, ergriff eine sympathische, sehr natürlich wirkende Frau namens Loren das Wort, »Wir haben auch das besprochen. Nein, da sich Dracula nicht für uns verantwortlich fühlte und uns betrog, fühlen wir uns auch nicht für seine Handlungen verantwortlich. Mit dem Dreckssack sind wir durch. Die Entscheidung fiel einstimmig. Florian, Ihr gefällt uns und wir würden uns freuen, wenn Ihr uns in Euer Haus aufnehmen würdet. Ganz so naiv, wie wir aussehen, sind wir dann doch nicht. Wir glauben nämlich, dass Ihr uns ganz gut gebrauchen könntet. Der Artikel auf Vampire Online war ziemlich interessant. Wenn ich ihn richtig verstanden habe, besteht das Haus Margaux aus euch dreien, oder? Ich frage euch, was würde mit uns geschehen, schlössen wir uns einem der großen Häuser an? Wir gingen unter wie ein Tropfen Wasser im Meer. In eurem Haus wären wir weiterhin sichtbar und könnten das tun, worin wir gut sind: Ein Haus nach euren Wünschen führen.«

»Nicolas, Marco, was meint ihr?«

»Ich weiß nicht. Ich glaube, ich hätte ein schlechtes Gewissen. Ihr sagt, ihr möchtet ein Haus führen. Das heißt doch, putzen Wäsche waschen, Betten machen, Besorgungen erledigen, oder?«

»Das ist es, was wir tun und, mit Verlaub, perfekt beherrschen.«, erwiderte die Frau stolz und selbstbewusst, »Ihr braucht kein schlechtes Gewissen zu haben. Ich sehe das so: In einem Haus, einer Familie, erfüllt jeder seine Aufgabe. Ihr die eure und ich die meinige, zum Wohl des Ganzen.«

»Okay?«, fragte ich Marco.

»Okay.«

»Dann soll es so sein.« Ich erhob mich, schaute über die dreißig Seelen und meinte: »Ich, Großherzog Florian Margaux, akzeptiere euren Wunsch, Teil meiner Familie, Teil meines Hauses zu werden und nehme das Angebot mit Dankbarkeit und Respekt an.«

Geister der Vergangenheit

Und plötzlich waren wir nicht mehr drei sondern dreiunddreißig Seelen, mich eingeschlossen. Ein Vampir nach dem anderen trat vor mich hin und bejahte die obligatorische rituelle Frage, ob er oder sie aus freiem Willen und ohne äußeren Zwang meinem Haus folgen wollte. Alle wollten. Sie wollten sogar ein wenig mehr, nämlich von mir gebissen werden, obwohl ich sie darum weder gebeten hatte noch es von ihnen einforderte. Loren brachte es auf den Punkt: Sie wollten voll und ganz meine Geschöpfe werden und Dracula vergessen. Mein Biss verwirklichte diesen Wunsch.

»Wenn ich dann Eurer königlichen Hoheit...«, begann Tomek am Ende erneut, mich mit meinem Titel anzusprechen. Mit einer Handbewegung bremste ich ihn aus und wandte mich an meine neuen Familienangehörigen.

»Leute, damit das ein für alle Mal klar ist.«, rief ich mit kräftiger Stimme, damit es wirklich jeder verstand, »Dieser finstere Geselle von einem ehemaligen Nosferatu ist Nicolas, dieser etwas schüchterne Mann Marco und ich bin Florian. Wir sind weder Ihr, Euer Gnaden, Hoheit noch Eure Majestät. Jedenfalls nicht, solange wir unter uns sind. Wir sind ein Clan, ein Stamm und, so hoffe ich, eine Familie. Und selbst Orwell, dieser sympathische, etwas finster dreinschauende Kleiderschrank von einem Mann«, der große Kerl winkte grinsend, »wird euch, so wie ich ihn kenne, eher dann den Kopf abreißen, wenn ihr ihn siezt, als wenn ihr ihn einfach nur Orwell nennt, obwohl er der Hauptmann der Wache Constantin Varadin-Breskoffs ist. Ich bin zwar euer Clanchef, das heißt aber nicht, dass ihr mir mit gesenktem Haupt begegnen müsst. Das mag in anderen Häusern üblich sein, in unserem nicht. Wenn es Probleme oder Fragen gibt, ich bin immer für euch da, denn genau das ist mein Job: Dafür zu sorgen, dass es uns allen gut geht.«

»Sehr wohl, Eure königliche Hoheit! Wie Ihr es Euch beliebt! Ich werde gleich einen Tagesbefehl verfassen, der das Siezen untersagt.«

»Ich geb's auf.«

Tat ich dann doch nicht, da mir natürlich Tomeks breit grinsende Visage nicht entgangen war. Es brach das Eis. Meine Neuzugänge tauten auf. Die eine schneller, der andere etwas langsamer. Ich gab mich keinen Illusionen hin. Der Weg zu einem gemeinsamen Haus, einer richtigen Familie, einem Clan im besten Sinne des Wortes, war noch lang. Vertrauen lässt sich nicht verordnen, es musste verdient werden. Ich musste es mir verdienen und so nahm ich mir die Zeit, mich unter mein Volk zu mischen und mit jedem ein paar nicht nur belanglose Worte zu wechseln. Ich wollte sie wirklich kennenlernen. Was für beide Seiten eine unbekannte Erfahrung darstellte. Wie ich feststellen musste, kultivierte Dracula zu seinen Lebzeiten ein leidenschaftliches Desinteresse am täglichen Schicksal seiner Geschöpfe. Dass ihnen jemand zuhörte und sogar an ihnen als Person Interesse zeigte, wirkte auf einige richtig unheimlich. Rotschopf Jurek zählte erwartungsgemäß nicht dazu. Von allen zeigte er die wenigsten Hemmungen und wagte auch ein paar freche Fragen zu stellen. Er begriff als erster, welche Freiheit ich meinen Leuten gewährte, und nutzte sie sogleich, um seine Grenzen auszuloten.

»Florian«, fragte er spitzbübisch, »Du bist also 'ne Schwester?«

Hinter mir hörte ich Tomek sich an seiner eigenen Spucke verschlucken und wusste, ohne ihn zu sehen, dass er sich panisch versteifte und nur unter größter Anstrengung beherrschen konnte, Jurek nicht lautstark in seine Schranken zu weisen.

»Schwester?«, erwiderte ich mit völlig ahnungsloser Miene, »Glaub ich nicht. Heute Morgen baumelte eigentlich noch ein Schwanz zwischen meinen Beinen. Möchtest du nachsehen?«

Erwischt! Jurek lief krebsrot an. Ich grinste breit und meinte: »Netter Versuch, Kleiner. Aber ihr wisst doch alle, wer ich bin und wer mein Partner, mein Mann und Geliebter ist. Aber da wir gerade beim Thema sind: Ich möchte euch bitten, Constantin Varadin-Breskoff mit dem gleichen Respekt wie mich zu behandeln. Ich gehe davon aus, dass er seinen Leuten etwas ähnliches sagen wird. Oder Orwell?«

»Der Chef reißt jedem den Kopf ab, der Flo oder einen von euch auch nur schief ansieht.«, meinte Orwell ernst, fügte dann aber hinzu, »Passiert aber nicht. Wir lieben Flo!«

»Echt?«, fragte ich das schwarze Riesenbabys verwundert.

»Yo Man!«, erwiderte der Gefragte, »Du bist cool!«


Der Ausflug zum Hause des seligen Grafen Draculas entwickelte sich weit besser, als es irgendeiner von uns erwarten konnte. Wir verbrachten vier Tage vor Ort, in denen die wichtigsten Aufgaben angegangen wurden, die mit dem Beitritt der ehemaligen Bronkianer und dem Nachlass Draculas entstanden waren. Noch in der ersten Nacht führte uns Tomek in das Arbeitszimmer seines verblichenen Herrn. Irgendwo, da war ich mir sicher, musste Bronkovic seine Unterlagen und Dokumente aufbewahren. Es war eine merkwürdige Erfahrung, an Draculas Schreibtisch zu sitzen und mir selbst klar machen zu müssen, dass dies jetzt mein Schreibtisch war. Mir kam eine Diskussion mit Christiano in den Sinn, bei der ich mit ihm über das Verhältnis vom Untergebenen zu dessen Herrn diskutierte. Ich war damals der Meinung, dass Christiano und ich Constantins faktische Sklaven seien und dass dies unmenschlich wäre. Christiano konterte, dass er kein Mensch sondern ein Vampir sei und er sich überhaupt nicht als Sklave fühle. Natürlich gehörte er und alles was er besäße Constantin, doch sei er frei, seine eigenen Entscheidungen zu treffen.

Ich brauchte eine Weile, um Christiano zu verstehen und mein neues Leben im Dienste und als faktischer Leibeigener Constantins zu akzeptieren. Jetzt saß ich hinter Draculas Schreibtisch und erlebte, was es bedeutete, in Constantins Schuhen zu stecken. Dreiunddreißig Vampire zählten mich eingerechnet zu meinem Stamm, für den ich die gesamte Verantwortung trug. Von meinen Entscheidungen hing es ab, ob es uns gut ging oder nicht, ob wir ein gutes Leben führten oder in der Dunkelheit der Nacht dahindarbten.

Gedankenverloren ließ ich meine Finger über das Holz des Schreibtischs gleiten. Marco musste grinsen, als er meinen Gesichtsausdruck sah.

»Was?«, wollte ich wissen.

»Nichts«, schmunzelte er, »Aber für einen Moment war Florian der Stammvater verschwunden und Florian der Tischler wieder da. Du und Holz, wenn du es berührst, bekommt dein Gesicht einen so seligen Ausdruck, wie ich ihn bei keinem anderen je gesehen habe. Du liebst das Spiel mit dem Material, oder?«

»Und es liebt mich.«, meinte ich und drückte eine Stelle am Rand, an der meine Finger eine kaum spürbare und dafür umso verräterische Unebenheit entdeckt hatten. Es klickte und am Tisch sprang ein Geheimfach auf, welches es im wahrsten Sinne des Wortes in sich hatte. Das Haus, seine Einrichtung und Bewohner mochten Baron Bronkovic und seiner drögen Erscheinung entsprechen, das Geheimfach enthielt zu hundert Prozent den genialen Strategen Graf Dracula.

Die gute Nachricht lautete: Das Haus stand finanziell blendend dar. Dracula mochte zwar nicht in der Liga einer Varadin International Holding mitspielen, aber verstecken brauchte er sich auch nicht. Der Mann war ein Knauser, der sich und seinem Haus nur das nötigste gegönnt hatte und damit über die Jahrhunderte ein stattliches Vermögen angehäuft hatte, welches sich nach einer ersten Sichtung im mittleren dreistelligen Millionenbereich bewegte. Die größte Einzelausgabe der letzten Jahre bestand tatsächlich aus dem Betrag, den Dracula Momsens Gläubigern für dessen Spielschulden zukommen ließ. Abgesehen vom Bar- und Anlagevermögen hielt sich Draculas Immobilienbesitz in Grenzen. Außer dem Stammhaus unterhielt er nur noch drei weitere Standorte in New York, Berlin und Kyoto, die aber seit Jahren nicht genutzt wurden und leer standen.

Die Immobilien warfen eine Frage auf, die es kurzfristig zu beantworten galt: Wo sollten wir leben? In den letzten Wochen hatte ich mich regelrecht in Charlottenhof verliebt und wollte ungerne umziehen, zumal damit die Distanz zu Constantin nicht gerade kleiner wurde. Auf der anderen Seite wollte ich meine Leute nicht gleich aus ihrer angestammten Umgebung reißen. Die Signalwirkung einer solchen Entscheidung wäre verheerend. Allerdings konnte ich Leute wie Tomek, die wussten, wie ein Haus zu managen war, wirklich gut gebrauchen. Erstaunlicherweise war es Jurek, der mir kaum noch von meiner Seite wich, der die Lage auf den Punkt brachte.

»Du bist der Chef. Entscheide und wir werden dir folgen. Aber wenn ich einen Vorschlag machen darf? Teile uns auf. Die eine Hälfte kann hier bleiben, die andere geht nach Charlottenhof. Dreißig Leute sind für ein Haus wie dieses viel zu viel, oder sollen wir jeden zweiten Tag das Silber polieren und die Fußböden schrubben? Außerdem hätten ohne Tomek auch mal andere Leute die Chance zu zeigen, was sie können.«

Das war ein interessanter Vorschlag. »Wenn ich nicht genau wüsste, dass du mit nach Charlottenhof willst, hätte ich gesagt, du sprichst von dir. Aber lass mich raten: Loren?«

»Shit, bist du gut!«, erwiderte Jurek beeindruckt, »Loren kann so ein Haus leiten. Tomek ist okay, aber von der alten Schule, was nicht schlecht ist. Aber bei ihm läuft alles immer nur streng hierarchisch und mit wenig Spielraum nach rechts und links ab. Loren ist jung, frisch und hat wirklich gute Ideen.«

Der Vorschlag war zu gut, um ihn zu ignorieren und wurde allseits mit Wohlwollen aufgenommen. Loren bekam glasige Augen, als ich ihr die Leitung des Hauses übertrug und wäre mir fast um den Hals gefallen, als ich meinte, dass wir über kurz oder lang die anderen Häuser wieder öffnen sollten und was sie davon hielte, nach New York zu gehen und auf den Spuren Carrie Bradshaws zu wandeln. Jurek würde sie bestimmt gerne begleiten. Glaubten die zwei etwa, ich hätte nicht bemerkt, dass zwischen ihnen etwas lief?

Am fünften Tag brachen wieder auf. Eine Wagenkolonne setzte sich in Richtung Charlottenhof in Bewegung. Die wichtigsten Fragen waren geklärt. Das Haus befand sich in guten Händen und kam ohne meine Anwesenheit aus. Loren konnte ihre Fähigkeiten unter Beweis stellen, während ich in Tomek den perfekten Mann für einen bisher unbesetzten Posten gefunden hatte, dem des königlichen Protokollchefs. Ich glaube, der Mann war kurz davor zu platzen, als ich ihn über seine neue Aufgabe informierte. Dabei wollte ich ihm nur das Leben retten. Es gab nur einen Hauschef in Charlottenhof, und der hieß Lucretia.

»Florian, schön, dass ihr zurück seid. Wie ich höre, war eure Fahrt überaus erfolgreich.«, wurden wir nach unserer Ankunft gleich von Anton begrüßt, »Euer Vater lässt ausrichten, dass das erwartete private Problem bei Niederreuter eingetreten sei. Ihr würdet wissen, was dies bedeutet.«

Da war man keine zwei Minuten zu Hause und schon wurde man mit neuen Problemen bombardiert. Mit diesem Problem hatte ich allerdings tatsächlich gerechnet. Es hatte einen Namen, und der lautete Andreas.

»Danke Anton.«, bedankte ich mich bei Lucretias besserer Hälfte, »Weißt du zufällig, ob Simon zufällig hier ist?«

»Zufällig ist mir bekannt, dass sich der Ritter vom fehlenden Fuß im Hause befindet und dem Herrn Botschafter Gesellschaft leistet.«, spielte Anton den Butler und erntete dafür skeptische Blicke von Tomek.

Während ich es den beiden überließ, sich gegenseitig zu beschnuppern, galt mein Ziel Christiano und Simon. Das Geheimfach in Draculas Schreibtisch enthielt neben allgemeinen Dokumenten auch einige hochbrisante, die die beiden sehr interessieren durften. Ich fand sie in der Suite des Botschafters, wo sie gerade damit beschäftigt waren, Christianos Sachen einzuräumen.

»Herr Botschafter, dürfte ich Sie kurz sprechen?«

Die zwei Jungs wirbelten herum und sahen mich fragend an. Christiano schaltete als erstes und antwortete: »Eure Majestät, womit kann ich Euch dienen?«

»Kommt mit, ich muss euch was zeigen.«, ließ ich die Förmlichkeit und deutete in Richtung meines, ehemals Constantins abhörsicheren Arbeitszimmers. Die beiden sprangen sofort auf und folgten mir in mein Büro. Dort warteten bereits Nicolas, Marco und Jurek auf uns. Letzterer hatte mir, indem er mich als seinen Stammvater wählte, einen gewaltigen Vertrauensvorschuss gewährt, den ich auf keinen Fall verspielen wollte, weswegen ich ihn, wie alle aus Draculas Clan, ohne Verzögerung und Rückhalt in alle Bereiche des Hauses einband, einschließlich der hochpolitischen. Ich verschloss die Doppeltür, überprüfte, ob die elektronische Abhörsicherung eingeschaltet war, ließ mich hinter meinem Schreibtisch nieder und griff nach einem kleinen Hefter, dessen gelbliches Papier auf ältere Dokumente hinwies.

»Christiano, Simon, dies ist Jurek, eines der neuen Mitglieder meines Hauses. Jurek, dies sind Christiano, mein allerbester Freund und nebenbei Botschafter des Hauses Varadin-Breskoff. Der Mann neben ihm ist Simon, ebenfalls ein wirklich guter Freund und Ritter des Hauses Varadin-Breskoff.«

Die drei Männer grüßten sich höflich, schienen aber wesentlich mehr an den Dokumenten in meiner Hand interessiert zu sein, insbesondere, als sie ein Hakenkreuz auf einem der Papiere entdeckten.

»Christiano, du hast mir vor einer Weile die Geschichte erzählt, wie du Simon kennengelernt und ihn später in einen Vampir verwandelt hast.«, begann ich und sah, wie sich Simon versteifte und ein Schatten über sein Gesicht huschte.

»Ja?«, erwiderte Christiano zögerlich mit einer Gegenfrage.

»Wenn ich mich richtig erinnere, bist du Hinweisen nachgegangen, nachdem ein Vampirclan mit den Nazis kollaboriert haben soll.«

»Ja, aber wir haben nie herausgefunden, wer dahintersteckte. Als ich eine heiße Spur fand, stellte man mir eine Falle, der ich nur entging, weil mich ein sehr tapferes Kerlchen warnte, obwohl er wusste, dass er damit sein Todesurteil unterschrieb.«

»Soweit habe ich damals nicht gedacht.«, relativierte Simon und drückte sich an Christiano, »Ich wollte nur nicht, dass der einzige Typ, der mich immer gut behandelte und nicht nur an meinem Arsch interessiert war, der Gestapo in die Hände fiel.«

»Jurek, wo residierte das Haus Bronkovic Anfang der dreißiger Jahre des letzten Jahrhunderts?«

»Im Berliner Haus« Jurek nickte, »Gegen Ende der zwanziger Jahre, ich glaube es war 1928, sind wir nach Berlin gegangen und bis 39 geblieben. Als wir Berlin dann verließen, geschah dies Hals über Kopf. Bronkovic meinte, dass man den Nazis nicht trauen könnte.«

»Wohl eher umgekehrt. Es war Dracula, der mit den Nazis kollaborierte.« Ich hielt die Dokumente in die Höhe »Er hatte die Idee, den Nazis Proben seines Vampirbluts anzubieten, ihnen sogar einige seiner Geschöpfe als Versuchskaninchen zur Verfügung zu stellen. Ich sage es nur ungerne, aber Jurek, du standst auf seiner Liste. Dracula wollte dich an die Nazis ausliefern. Leider fehlen ein paar Dokumente. So wissen wir nicht, was ihm als Gegenleistung versprochen wurde. Auf jeden Fall hat Christianos Untersuchung der Zusammenarbeit ein Ende gesetzt. Beide Seiten beschuldigten sich, nicht dicht gehalten zu haben.«

Aus Jureks Gesicht war alle Farbe gewichen. Seine Hände ballten sich zu Fäusten, dann explodierte er.

»Dieses Schwein! Was waren wir für ihn? Einfach nur Dinge, mit denen er nach Belieben verfahren konnte? Dieses gottverdammte Schwein! Ich hasse ihn! Ich hasse ihn! Ich hasse ihn! Ich...«

Aus dem Brüllen war ein Schluchzen geworden. Ich verstand ihn. Ich hatte selbst die Bindung zu seinem Stammvater erlebt. Abgesehen davon, dass ich Constantin sowieso liebte, gab es da zusätzlich eine zweite Ebene, diese unterschwellige Bindung, die das Geschöpf eines Vampirs an seinen Schöpfer band und ihn auf ihn prägte. Es war die Quelle der unerschütterlichen Loyalität, die ein Stammvater in seinem Haus genoss. Umso unerträglicher muss es sein, zu erfahren, dass diese Loyalität nicht auf Gegenseitigkeit beruhte. Jureks emotionaler Ausbruch führte mir etwas vor Augen, das ich in dieser Deutlichkeit bis zu diesem Zeitpunkt nicht ausreichend verinnerlicht hatte, nämlich was es wirklich bedeutete, ein verantwortungsvoller Stammvater zu sein.

Es gab nur eins, was ich tun konnte. Ich stand auf, ging zu Jurek, nahm ihn in den Arm, griff nahm seinem Handgelenk, biss zärtlich zu und ließ ihn durch mein Blut wissen, dass ich niemals seine Loyalität verraten und immer schützend vor ihm stehen würde. Kaum hatten meine Zähne sein Handgelenk wieder verlassen, riss er seine Augen weit auf, sah mich an und formulierte ein stilles »Danke!«

»Ich glaube, wir sind dann erst einmal durch.«, meinte ich zu Christiano, nachdem sich Jurek beruhigt hatte und an Simon gewandt: »Entschuldige, wenn ich eine alte Wunde aufgekratzt haben sollte. Aber ich war der Meinung, dass ihr alle die Wahrheit wissen solltet, bevor ich sie öffentlich mache.«

So langsam verstand ich, warum Christiano Simon so sehr liebte. Der quirlige Kerl sprang auf, rannte auf mich zu und umarmte mich, klammerte sich regelrecht an mich.

»Danke Flo!«

»Dann werde ich jetzt offiziell werden: Die Krone wird Draculas Verwicklungen mit den Nazis nach weiterer Prüfung allen Häusern zugänglich machen.«


Gestern König, heute Miteigentümer einer Tischlerei – extremer ging es wohl kaum. Nach einer bewegenden Nacht gönnte ich mir eine fünfstündige Tagesruhe in der Gruft Charlottenhofs. Das feuchte kühle Klima hatte eine erstaunlich entspannende Wirkung und ließ mich innerhalb weniger Minuten einschlafen. Ein wenig taten mir die zwei Wachvampire Orwells leid, die vor der Gruft Posten bezogen hatten. Ich hätte am liebsten auf so viel Aufwand verzichtet, aber Constantin bestand darauf, mir einen Trupp seiner besten Männer zum Schutz beizustellen. Widerspruch war an dieser Stelle nutzlos. Immerhin konnte ich die Jungs ein wenig damit verwöhnen, indem ich Nicolas bat, ihnen etwas von seinen nosferatischen Blutschalen zukommen zu lassen. Sie waren begeistert.

Kurz vor Mittag quälte ich mich aus meinem Sarg, schlurfte schlaftrunken in mein Appartement und schlüpfte unter die Dusche. Ich war gerade mit abtrocknen fertig, als Christiano klopfte und fragte, ob er mir beim eincremen helfen sollte. Dankbar nahm ich das Angebot an. Zusammen zelebrierten wir noch einmal unser gehasstes und geliebtes Ritual, welches wir wochenlang täglich praktizierten.

»Du hättest auch bei uns schlafen können.«, meinte Christiano, während er mir den Rücken einrieb, »Du musst dich nicht allein in deinem Sarg verkriechen. In Simons und meinem Bett ist immer ein Platz für dich frei.«

»Nach der Sache mit Dracula wollte ich euch nicht stören.«

»Ich muss dir dafür danken. Du weißt, dass die Nazis Simon gefoltert haben, um ihn zum Reden zu bringen? Dabei wusste er überhaupt nichts. Immerhin können wir diesen Teil unserer Geschichte endlich abschließen. Wir wissen jetzt, wer dahinter steckte. Aber für Jurek... Es gibt nichts grausameres, als von seinem eigenen Stammvater verraten zu werden.«

Während des Tages wirkte Charlottenhof immer etwas ausgestorben. Alles, was Blut saugte, schlummerte entweder klassisch in gemütlichen Schlafsärgen oder zeitgemäß in Betten. Doch mancher trieb es aber auch tagsüber um. So fanden wir, wenig überraschend, meinen Vater und, überraschend, Lucretia, Anton und Tomek in der Küche des Hauses. Während die drei Vampire Kaffee tranken, verzehrte mein Paps ein leichtes Mittagessen, das ihm Lucretia zubereitet hatte.

»Ich wusste nicht, dass Euer... ähm, dein Vater ein Mensch ist.«, begrüßte mich Tomek, dem es immer noch schwer fiel, mich nicht als König, sondern als Familienmitglied zu betrachten.

»Ach ja«, knurrte ich verpennt und nur halb wach, »Paps, Tomek, Tomek, Paps. Tomek wird den Job des Protokollchefs übernehmen. Lucretia, Liebste, hast du zufällig einen Kaffee für mich? Ich werd einfach nicht wach.«

»Sollst du sofort bekommen, mein Junge.«

Kurze Zeit später stand eine Tasse voll heißem, starkem, schwarzem Kaffee vor meiner Nase. Etwas später war ich dann auch wach. Lucretias Stoff wirkte Wunder.

»Das Zeug kann Tote wecken.«

»Halbtote!«

»Ich möchte mich bei dir für das, was du für Jurek getan hast, bedanken. Du hast ihm sein Leben zurückgegeben.«, begann Tomek eine kleine Rede, die er offensichtlich für diesen Moment vorbereitet hatte. »Ich muss mich bei dir aber auch entschuldigen. Da kam letzte Woche so ein Kind, fast noch eine Göre in unser Haus und zeigte keinen Respekt vor Protokollen und angemessenen Umgangsformen. Einen König duzen? Unvorstellbar. Wahrscheinlich bin ich zu alt oder über die Jahre einfach unflexibel und engstirnig geworden. Was ich bei deiner offenen Art übersah, ist die tiefe Ernsthaftigkeit und Hingabe, mit der du alles angehst. Ich habe mich in dir geirrt, das tut mir leid.«

»Tomek«, wandte ich mich an meinen Protokollchef, »Ich kann dir nicht versprechen, keine Fehler zu machen. Du hast Recht. Ich bin jung und unerfahren. Und manchmal zeige ich wahrscheinlich tatsächlich zu wenig Respekt und ein unangemessenes Verhalten. Die Krone ist mir quasi in den Schoß gefallen. Ich versuche, dieser Aufgabe irgendwie gerecht zu werden, weiß aber nur zu gut, dass ich hin und wieder richtig danebenhauen werde. Dann baue ich auf dich, dass du mir helfen und meinen Arsch retten wirst. Tomek, ich brauche dich und deine Erfahrung.«

»Tja!«, meinte Lucretia gut gelaunt, »An diese Sprache wirst du dich gewöhnen müssen. Unser Flo nimmt kein Blatt vor den Mund. Und ein Arsch ist bei ihm eben ein Arsch. So, ihr zwei«, wandte sie sich an Christiano und mich, »Ihr habt um halb zwei einen Termin bei Niederreuter und solltet so langsam in die Hufe kommen. Habt ihr euch auch gut eingecremt? Frische Kontaktlinsen eingesetzt? Es ist zwar bedeckt, soll aber vielleicht zum Abend aufreißen.«

»Ja, Mama!«, kam es gleichzeitig von Christiano und mir.

Wir tranken unseren Kaffee aus, schnappten uns noch eine frische Blutkonserve und gingen in Richtung Garage. Christianos Blick fiel auf meine Hose – Leder. Er grinste und griff zum Helm.

»Die Harley?«

»Natürlich die Harley. Wie in alten Zeiten.«

Eine Dreiviertelstunde später erreichten wir Niederreuters Laden und wurden von meinem Exchef und jetzigen Geschäftspartner freudig empfangen.

»Florian, mein Junge, schön, dass du kommen konntest. Du glaubst gar nicht, was wir zu tun haben. Wir können uns kaum noch vor Aufträgen retten. Erst Varadin und danach alle möglichen obskuren wohlhabenden Leute, von denen ich bisher nie etwas gehört habe. Die zahlen sogar sofort und nicht erst nach dreimal mahnen. Aber ganz ehrlich, Christiano, Marco und du, ihr drei fehlt uns wirklich. Christiano, ich war ja zuerst skeptisch. Wenn in deinem Alter, Mitte 20, Leute noch als Lehrling anfangen, geht das meistens schief, aber du hast alle meine Erwartungen übertroffen. Willst du es dir nicht nochmal überlegen und doch zurückkommen?«

Irgendwann mussten wir den armen Niederreuter darüber aufklären, dass mein portugiesischer Freund nicht ganz der war, der er zu sein schien.

»Kommen wir zum unerfreulichen Teil. Ist er da?«, wollte ich wissen.

»Ja, er ist heute hier. Bist du sicher, dass du mit ihm sprechen willst? Reisende soll man ziehen lassen, allerdings würde er uns wirklich fehlen.«

»Ich rede mit ihm. Schließlich will er meinetwegen kündigen.«

»Gut, ich schick ihn zu dir.«

Niederreuter verließ uns, um wenige Minuten später von Andreas ersetzt zu werden. Seine Abneigung gegenüber Christiano und mir, primär mir, war ihm ins Gesicht geschrieben. Widerwillig schloss er die Tür hinter uns.

»Was willst du?«, blaffte mich mein Angestellter an.

»Dich Fragen, warum du kündigen willst.«

»Weil ich nicht für einen Arschficker wie dich arbeiten will. Wegen dir ist Mario in der Klapse gelandet. Momsen hat ins Gras gebissen... Okay, das hat er nicht besser verdient und sich selbst eingebrockt. Trotzdem, von dir will ich nicht abhängig sein.«

»Ich weiß, warum du mich hasst.« Wir hatten nicht ewig Zeit, weswegen ich entschied, die Unterhaltung abzukürzen.

»Ach ja?« Andreas sah mich schief an. »Und warum?«

Statt direkt zu antworten, wandte ich mich an Christiano: »Wärst du so nett?« Und dann an Andreas: »Das wird jetzt etwas weh tun.«

Aus heiterem Himmel verpasste Christiano Andreas eine Ohrfeige, die sich gewaschen hatte. Die Hand des Portugiesen zeichnete sich deutlich auf Andreas Wange ab.

»Ey! Was soll der Scheiß? Fuck! Jetzt hast du einen Fehler begangen. Dafür bekomme ich dich wegen Köperverletzung dran. Du wirst zahlen, bis dir der Arsch blutet.« Andreas zeterte wie ein Rohrspatz, bis er unsere völlig entspannten Gesichter sah, »Was?«

Flitterwochen

»Christianos kleinen Klapser«, erklärte ich Andreas, wobei der Klaps gar nicht so klein war, »wirst du noch verkraften, oder? Er dient einem Zweck. Christiano ist, das wird dich überraschen, ein wirklich begnadeter Telepath, der über die erstaunliche Fähigkeit verfügt, Erinnerungen löschen zu können. Die kleine Ohrfeige stellt dabei eine Art Leuchtfeuer dar, einen Marker in deinen Erinnerungen, das sich leicht wiederfinden lässt.«

»Bei euch hakts wohl?«, lachte Andreas ungläubig, »Telepathie? Ich weiß ja nicht, was ihr zwei für Zeugs einschmeißt, aber haltet mich da bitte raus.«

»Ich wusste, dass du das sagen würdest. Deswegen wird Christiano jetzt die von ihm blockierten Erinnerungen an deine kleine Entführungsnummer freigeben.«

Das unheimlich an Telepathie ist, dass man sie weder hört, riecht, fühlt oder sieht. Einzig Andreas sich entsetzt weitende Augen ließen erkennen, dass seine Erinnerungen zurückkehrten, wobei wir unsere Blutsaugerei ausgespart ließen.

»Fuck!«, stöhnte er, sah uns panisch an und versuchte vor uns zurückzuweichen, »Shit, kommt mir nicht zu nahe. Ich warne euch! Ihr Freaks... Was seid ihr? Mutanten?«

»Andreas, halt's Maul und hör dir meinen Vorschlag an.« Wir hatten wirklich nicht ewig Zeit, um uns mit dem Penner aufzuhalten. Wenn es nach Constantin ging, verhielt ich mich eh viel zu nett. »Vergiss den Wichser!«, war seine Empfehlung.

Der Wichser verstummte, schien gewillt zuzuhören, drückte sich aber in die von uns am weitesten entfernte Ecke des Niederreuterschen Büros.

»Ich weiß, warum du mich hasst, warum du alle Schwulen hasst und sie so gerne mobbst und verprügelst, wie vor ein paar Wochen im X.«

»Was weißt du vom X?«

Eben noch mit wutbedingt hochrotem Kopf, wich Andreas bei der Erwähnung von Christianos beliebtem Jagdgrund die Farbe aus dem Gesicht. Natürlich konnte er sich an unser Zusammentreffen nicht erinnern. Als Vampir verfügen wir über die sehr nützliche Fähigkeit, unerkannt zu bleiben. Wir konnten neben einem Bekannten stehen, mit dem wir seit Jahrzehnten befreundet sind, solange wir es nicht zuließen, hätte er keine Chance, uns zu erkennen, selbst dann nicht, wenn wir uns mit ihm unterhielten.

»Genug, um zu wissen, dass deine Homophobie zu dem schizophrensten Verhalten zählt, das mir je untergekommen ist. Ich weiß, dass du dich beim Sex mit Hep C infiziert hast und deinem Partner die Schuld dafür gibst. Bist du je auf die Idee gekommen, dass der Schutz vor Infektionen euer beider Job sein könnte, auch wenn du dich ficken lässt? Ihr ward wohl beide volljährig, oder?«

Zugegeben, Andreas dermaßen in die Enge zu treiben, war nicht ganz fair. Der Kerl war kurz davor, zu explodieren. Wie ein gejagtes Tier, das keinen Fluchtweg mehr sah, außer mit aller Gewalt durch die Reihen seiner Verfolger zu brechen, taxierten Andreas Augen wechselweise Christianos und meinen Standort. Allerdings waren wir noch nicht fertig. Ich sah, wie Christiano Andreas scannte.

»Er hat seinen Arsch gar nicht hingehalten. Er war der Aktive.«, erklärte Christiano trocken, »Unser Freund hier war der Meinung, dass ihm als aktiven nichts passieren könne. Oh, und ganz schlau, Andreas, dabei auch noch ein nicht vollständig verheiltes Frenulumpiercing zu tragen. Entschuldige, wenn ich deine Privatsphäre verletze, aber dein Denken ist dermaßen intensiv auf diesen einen Akt gerichtet, dass ich es einfach nicht überhören kann.«

Fünf Sekunden später war die Luft aus Andreas raus. Er sackte in sich zusammen, rutschte an der Wand, an die er sich gelehnt hatte herunter und brach mental zusammen. Vor uns hockte ein kleines, schluchzendes Häufchen Elend.

»Ich hasse mich!«

Das war wohl das Problem. Andreas kultivierte einen exzessiven Selbsthass, den er auf andere projizierte. Es ist eine Sache, einen Fehler gegenüber anderen zuzugeben. Aber Andreas war nicht in der Lage, sie sich selbst einzugestehen. Stattdessen machte er jeden für seine Situation verantwortlich, der ihn in irgendeiner Weise daran erinnerte, insbesondere, wenn er so war wie er. Natürlich war ich ein ideales Opfer. Momsen musste wirklich ein leichtes Spiel gehabt haben, Andreas gegen mich aufzustacheln.

»Andreas, wir können dir helfen.«

»Mir kann niemand helfen«, schniefte unser Kollege, der sich langsam wieder gefangen hatte. Christiano reichte ihm ein Taschentuch, das er sofort nutzte, um den Rotz aus seiner Nase zu bekommen. Immer noch ein wenig krächzig und leicht verheult schaute er uns verängstigt und traurig an. »Eine Interferontherapie funktioniert bei mir nicht. Dieser beschissene Fehler wird mich das Leben kosten. Tja, Florian, am Ende hast du doch noch über mich gesiegt. Bist du jetzt zufrieden?«

»Ich wusste nicht, dass wir uns in einem Wettkampf befinden.«, erwiderte ich trocken.

»Pah! Wieso musst du auch so verdammt geil aussehen?«, knurrte mich der Kerl an, womit ich nun wirklich als Letztes gerechnet hätte. »Aber okay, was willst du von mir?«

»Ich von dir?« Ich hockte mich zu Andreas auf den Boden, lehnte mich neben ihm an die Wand, »Wir können dir helfen. Wirklich helfen. Dir müsste doch inzwischen klar sein, dass wir ein klein wenig anders sind, oder? Christiano ist telepathisch begabt. Und wenn du dich an die Szene in der Dusche erinnerst, dort habe ich deine mit voller Kraft zuschlagende Faust ohne Anstrengung abgefangen. Mario hat das gesamte Magazin seiner Waffe in meinen Körper entleert, ohne dass es die geringste Wirkung gezeigt hätte. Und nicht zuletzt: Christiano und ich meiden das Sonnenlicht. Muss ich weiterreden?«

Ähm, ja, die Pistolenkugeln. Ich hätte auf Constantin hören sollen, als er mich fragte, ob es klötert. Es klöterte dann nämlich tatsächlich, als eine Kugel nach der anderen meinen Körper auf genau dem Weg verließ, den üblicherweise verdaute Nahrungsmittel nahmen. Woher hätte ich wissen sollen, dass beim vampirischen Körper derartige Fremdstoffe den Weg über den Verdauungstrakt nehmen? Als es dann unter mir klackerte, wäre ich fast von der Porzellanschüssel gefallen, worüber sich Constantin, die alte Ratte, vor Lachen kaum noch einkriegte, als ich später davon erzählte.

»Du willst mir nicht einreden, ihr wärt... scheiße! Bitte, beißt mich nicht.«

»Warum nicht?«, fragte ich scherzhaft.

»Weil... ich will noch nicht sterben. Bitte Florian, ich weiß, was ich dir...«

Das ging nach hinten los. Andreas glaubte ernsthaft, ich wäre auf einem Rachetrip unterwegs und wollte ihn, nachdem ich ihn erst seelisch fertig gemacht hatte, auch noch umbringen, indem ich ihn leertrank.

»Mensch, Andreas, reiß dich mal zusammen! Du warst doch sonst immer so ein hartes Arschloch.«, legte ich etwas aggressiver los, um zu meinem wimmernden Kollegen durchzudringen, »Ich will dir wirklich nichts tun. Vor allem will ich dich nicht aussaugen. Ich will dir helfen. Hör mir gut zu: Christiano wird dir gleich die Erinnerung an diese Unterhaltung einschränken. Du wirst noch genau wissen, was wir besprochen haben, aber dir wird es nicht möglich sein, andere darüber zu informieren. Wir machen das nicht, um dich zu ärgern, sondern aus Selbstschutz. Du kannst dir denken, dass unser Diätplan nicht unbedingt auf allgemeines Wohlwollen stieße, sollte es bekannt werden. Mein Angebot ist folgendes: Wenn du es wünschst, werde ich dich heilen. Alles, was du tun musst, ist heute Abend gegen acht Uhr auf Charlottenhof zu erscheinen. Wenn du dich auf mein Angebot einlässt, dann richte dich darauf ein, die Nacht bei uns zu verbringen. Wenn du nicht erscheinst, ist dies für mich ebenfalls in Ordnung. Hier ist meine Karte. Wenn du sie vorzeigst, wird dich Tomek oder Anton zu mir vorlassen.«

»Warum tust du das?«

»Weil ich ein guter Vampir bin und glaube, dass jeder eine zweite Chance verdient. Selbst kleine Arschlöcher wie du!«


Dass Andreas für sich eine alles andere als einfache Entscheidung treffen musste, war mir durchaus klar. Umso gespannter fieberte ich dem Abend entgegen. Ob er sich wohl überwand, über seinen Schatten sprang und den Schritt in seine Zukunft wagte?

Er wagte. Fast sekundengenau zum Gong der Tagesschau schellte es an der Tür meines Schlösschens. Gemessenen Schrittes eilte Tomek zum Eingang. Sehr zu meiner Freude hatten er, Anton und Lucretia sich schnell miteinander angefreundet. Die drei erfahrenen Hausverwalter lagen auf gleicher Wellenlänge und organisierten sich zu meinen Freuden sehr pragmatisch selbst. Da sich Antons und Tomeks Aufgaben überlappten, entschieden sie, sich gegenseitig zu vertreten. Und so übernahm Tomek an diesem Abend die Rolle des Butlers.

»Ja bitte?«, fragte er und musterte den jungen Tischler mit einer wortlosen Herablassung, zu der nur Butler fähig sind.

»Ich soll mich hier melden.«, stammelte Andreas und zitterte dabei wie Espenlaub, während er dem hageren Mann meine Karte reichte. Mit einem urbritischen Understatement, zu dem selbst Lord Bromley in seinen besten Momenten nicht fähig wäre, nahm Tomek die Karte in Empfang, zog seine linke Augenbraue in die Höhe und meinte: »Bitte folgen Sie mir.«

Klack - Klack - Klack - Klack. Mit forschem Schritt durcheilte Tomek die Eingangshalle, dass Andreas Mühe hatte, ihm zu folgen. Ziel meines Protokollchefs war das Kaminzimmer, in dem eine Überraschung auf Andreas wartete.

»Seine Majestät wird gleich zu Ihnen kommen.«, bat Tomek Andreas einzutreten, »Kann ich Ihnen bis dahin etwas anbieten?«

»Ähm, danke nein.«, stammelte mein Exkollege unsicher und schlüpfte schnell an Tomek vorbei, der neben der Tür des Zimmers stand. In einer fließenden Bewegung schloss mein Protokollchef die Tür und ging beschwingten Schrittes und fröhlich grinsend seines Wegs. Zur gleichen Zeit auf der anderen Seite der Tür versuchte Andreas seinen Herzschlag auf Normallevel zu zwingen. Dies gelang nur solange, bis er die Füße einer Person entdeckte, die in einem hochlehnigen Clubsessel saß, welcher dem Kamin zugewandt mit dem Rücken zur Tür stand.

»Florian?«, hauchte Andreas ängstlich in die Luft.

»Nein«, erwiderte die unbekannte Person im Sessel.

»Marco? Was machst du denn hier?«, rief Andreas erstaunt, kaum dass er das Sitzmöbel umrundet und seinen ehemaligen Kollegen entdeckt hatte. »Ich dachte... Oh, Shit!«

Christiano konnte schon ein hinterhältiger kleiner Teufel sein. Statt Andreas alle Erinnerungen auf einmal freizugeben, was diesen komplett überfordert hätte, sorgte er für eine dosierte Freischaltung indem er einzelne Erinnerungen an Ereignisse oder Personen koppelte. Marco war einer dieser Auslöser.

»Verdammt, Mario hatte auf dich geschossen. Du bist verblutet. Du musst tot sein. Du bist... bist du?«

»Ja, bin ich. Der Bauchschuss war tatsächlich tödlich. Florian hat mich... nun ja, er hat mich verwandelt. Bingo, Marco, der Blutsauger und das nur, weil ihr Penner... Ach Shit, was soll's.«

»Es tut mir Leid, Marco, wirklich.«, Andreas war ganz kleinlaut, »Ich habe Scheiße gebaut, richtig Scheiße gebaut. Momsen, dieses Arschloch, hat uns zwar angestachelt, aber... irgendwie ist alles aus den Fugen geraten. Ich versteh das nicht. Flo zu mobben, war einfach nur geil. Und jetzt? Ich komme mir wie der letzte Arsch vor.«

»Weil wir genau das sind: Arschlöcher. Wir können Flo einfach nur die Füße küssen, dass er uns verziehen hat, was wir ihm angetan haben. Der Mann sieht nicht nur aus wie ein Engel, er ist einer, wenn auch ein dunkler Engel der Nacht. Obwohl wir keine zweite Chance verdient hätten, gibt er sie uns. Du weißt, dass er Marios Borderline-Behandlung bezahlt?«

»Kann er mich wirklich heilen?«

»Er, Christiano, Nicolas, Tomek, ich. Wir alle können dich heilen. Ist so ein Vampirding.«

»Wie?«

»Indem wir dich beißen«, ergriff ich das Wort. Während Marco mein Kommen natürlich gespürt hatte, zuckte Andreas vor Schreck zusammen. »Wie ich sehe, habt ihr zwei ein wenig miteinander geplaudert.«

»Ein wenig.«, erwiderte Marco schmunzelnd.

»Du hast also den Mut aufgebracht, uns einen Besuch abzustatten.«, wandte ich mich Andreas zu, während ich mir einen Sessel schnappte, um mich zu den beiden zu setzen, »Aber um deine Frage ausführlich zu beantworten: Wir können dich heilen. Jeder von uns. Wir beißen dich und saugen dir ein wenig Blut ab. Dadurch gelangt der Virus in unseren Verdauungstrakt. Da menschliches Blut unsere einzige Nahrung ist, können wir schlecht wählerisch sein, oder? Entdeckt unser Immunsystem einen schädlichen Erreger, wird dieser sofort analysiert und ein Wirkstoff synthetisiert, der ihn unschädlich macht. Diesen Wirkstoff werden wir dir injizieren. Ich sage gleich, dass es etwas ruppig werden könnte. Der Wirkstoff ist nicht zimperlich, wenn er gegen Schädlinge zur Tat schreitet.«

»Beißen?«

Warum wurden wir eigentlich immer auf unsere Zähnchen reduziert?

»Hey, wenn wir dich als Frühstück vernaschen wollten, hätten wir es einfach getan.«, brachte es Marco auf den Punkt und zeigte mir, dass er endgültig in unserer Welt angekommen war.

»So, hättest du das?«, zischte Andreas Marco wesentlich aggressiver an, als er es eigentlich beabsichtigte.

»Ja, hätte ich!«, knurrte Marco, musterte Andreas und meinte, »Aber von dir halber Person wäre ich bestimmt nicht satt geworden.«

»Ähm, wenn ich kurz...«, brachte ich mich zu Gehör, »Danke. Also, Andreas, wie sieht’s aus. Sollen wir dir helfen oder nicht. Es ist deine Entscheidung. Wir zwingen dich zu nichts.«

»Warum willst du mir helfen? Ausgerechnet mir?«, wollte Andreas wissen. Ich konnte seinen Argwohn verstehen. So wie er mich behandelt hatte, hätte ich an seiner Stelle ebenfalls nach einem Haken gesucht und mir unlautere Motive unterstellt.

»Weil du, Momsen, Mario, unser Marco hier, die anderen beiden Idioten von der Vergewaltigung, weil ihr alle mich zu dem gemacht habt, was ich jetzt bin. Du bist doch nicht dumm, oder? Du kannst dir an deinen fünf Fingern abzählen, was nach dem Fick passierte. Nur hatte ich Glück, unverschämtes, unglaubliches, märchenhaftes Glück, dass mich jemand auffing, festhielt und mir eine Existenz jenseits von Leben und Tod schenkte. Manchmal stelle ich mir vor, dass alles, was ich in den letzten Wochen erlebte, niemals geschehen ist. In Wirklichkeit bin ich immer noch dabei, von der Talbrücke zu stürzen und mein Gehirn gaukelt mir eine schönere, liebenswertere, lebenswertere Welt nur vor, doch der tödliche Aufschlag ist unvermeidlich. Aber ist er das wirklich? Wenn aber nicht und du, einer meiner grausamsten Peiniger, mir tatsächlich gegenübersitzt, ist es dann nicht meine Pflicht, mein Glück zu teilen? Ich habe es Marco schon gesagt. Wir können uns einander nur dann verzeihen, wenn wir damit anfangen, uns selbst zu verzeihen. Das heißt nicht, dass wir alles was war vergessen sollen. Ich will dir helfen, weil ich es kann und weil es richtig ist. Ich reiche dir meine Hand, ergreifen kannst nur du sie.«

Ich streckte meine Hand aus. Andreas zögerte, haderte mit sich, gab sich dann einen Ruck und griff zu. Erst vorsichtig, tastend, ängstlich, doch als er merkte, dass nichts Böses geschah, kraftvoll und verlangend. Es war wie bei einem Ertrinkenden, der nach einem Rettungsring griff – ebenso verzweifelt und ebenso erleichtert. Andreas, dieser Inbegriff eines aggressiven Kotzbrockens fiel mir schluchzend in die Arme, klammerte sich an mich und ließ mich nicht mehr los. Mein hilferingender Blick traf Marco, doch der zuckte nur ratlos mit seinen Schultern.

»Hey, alles wird gut. Es ist okay.«, versuchte ich Andreas zu trösten, bei dem sich die Komplexe erdrutschartig lösten. »Wir packen das schon.«

Vertrauen mochte sich nicht von heute auf morgen erlangen lassen, beginnen tat es immer mit einem ersten Schritt. Und diesen Schritt hatte Andreas soeben gewagt. Von da an wurde jeder weitere Schritt ein klein wenig leichter. Andreas ließ sich von uns heilen, genaugenommen von Marco. Gegenüber mir hemmten ihn wohl immer noch Teile seines schlechten Gewissens. Ich konnte ihn verstehen und akzeptierte, dass er Marco den Vorzug gab. Wir waren auf dem richtigen Weg. Das war die Hauptsache.


»Und?«

»Es ist fantastisch.«

Wie zuvor versprochen wurde ich am Freitagabend von Constantin auf Charlottenhof abgeholt. Nach einer kurzen Autofahrt erreichten wir den regionalen Flughafen, wo uns bereits ein Firmenjet der Varadin International uns wartete. Wohin wir flogen, wollte mir mein Schatz nach wie vor nicht verraten, nur dass es sich um eine Überraschung handelte, ließ sich aus ihm herauskitzeln. Und so lehnte ich mich in den bequemen Sessel zurück und schlürfte die gereichten Blutkonserven.

Hinterhältigerweise besaß unsere Kabine elektronisch verdunkelte Fenster, sodass es mir nicht möglich war, irgendwelche Ortsmarken zu erkennen. Selbst nach unserer Landung ging Constantins Versteckspiel weiter. Statt auf dem Vorfeld zu parken, rollte der Jet gleich in einen Hangar, in dem bereits eine Limousine mit – natürlich – verdunkelten Scheiben wartete. Mein Schatz stellte mich wirklich auf die Probe. Ich spielte mit. Nicht etwa, weil ich resignierte, sondern weil sich Constantin so viel Mühe gegeben hatte.

Wir fuhren etwa eine halbe Stunde, dann stoppte der Wagen.

»Vertraust du mir?«

»Absolut.«

»Dann schließe deine Augen. Wir werden zusammen fliegen. Ich werde dich die ganze Zeit halten.«

»Kein Problem.«

Ich schloss meine Augen. Constantin griff nach meiner Hand, hielt sie fest und zog mich mit in die Luft. Wir flogen. Wir schwebten. Mit geschlossenen Augen verstärkten sich meine Sinne. Die Luft war mild, fast warm, aber auch feucht. Es roch nach Meer. Stimmenfetzen drangen zu uns empor. Es musste eine belebte Gegend sein, über die wir hinwegglitten.

»Wir werden jetzt landen.«, erklärte Constantin leise und brachte uns sicher auf den Boden. Boden? Ich fühlte gewölbtes Blech unter mir. Mein Schatz richtete mich aus und drehte mich in die richtige Richtung.

»Jetzt!«

Vorsichtig öffnete ich meine Augen und war einfach nur sprachlos. Vor mir lag Venedig. Vom Dach der Basilika Santa Maria della Salute schauten wir auf die Lagunenstadt hinab.

»Und?«

»Es ist fantastisch.«

»Es gefällt dir?«

Ich antwortete auf meine Weise, zog Constantin zu mir heran und küsste ihn lang und innig.

»Flo, ich liebe dich.«, flüsterte Constantin leise und strich mir sanft über die Wange, während er vor mir schwebte. Ich löste mich vom Dach und glitt auf ihn zu, küsste ihn und flüsterte meinerseits: »Du bist alles was ich brauche. Kein Haus, keine Krone, nichts auf dieser Welt bedeutet mir so viel, wie du. Du machst mich zu dem, der ich bin. Ja, Constantin, ich liebe dich.«

»Kitschig, was?«, mein Schatz lachte verlegen.

»Megakitschig!«

»Jagen?«

»Touris?«

»Lecker!«


Was? Wir waren Vampire, natürlich liebten wir es, zu jagen, und Venedig ist einfach ein wirklich romantisches und tolles Jagdgebiet. Wir schwebten durch die Gassen und über den Kanälen. Unser Blick galt natürlich den jungen knackigen Kerlchen, von denen es einige gab. Den Vampirruf eingeschaltet, folgten sie uns in dunkle Gänge und genossen einen sexuell aufgeladenen Aderlass, während wir ihr Blut genossen. Niemand bemerkte etwas, niemand kam zu Schaden. Wir waren Schatten in der Nacht, deren Begegnung genauso schnell vergessen war, wie ein kühler Lufthauch, der einen kurz frösteln lässt.

Ich hätte niemals damit gerechnet, wie romantisch Constantin sein konnte. Nachdem wir unseren Hunger gestillt hatten, führte mich mein Liebling zu Fuß durch die Gassen der Lagunenstadt. Während ich mich von der Atmosphäre Venedigs verzaubern ließ und einfach schlafwandlerisch hinter Constantin her trottete, wusste er ganz genau, wo es hinging: Zum Palazzo des geheimen, hämophagischen Dogen der Stadt.

»Er ist ein guter Freund und freut sich natürlich, dass unser König sich die Ehre gibt, bei ihm zu nächtigen.«, erläuterte Constantin, während vor uns eine wuchtige Holztür geöffnet wurde und wir einen wunderschönen, von Laternen erleuchteten, pflanzenüberwucherten Innenhof betraten, in dessen Mitte sogar ein kleiner Springbrunnen plätscherte.

»Dieses Königsding wird mich nicht wieder loslassen, oder?«

»Nicht wirklich. Du bist, wer du bist.«

Diese Nacht gehörte uns. Constantin meinte, dass wir sie ganz für uns allein hätten. Niemand würde uns stören. Denn dies sollte unsere Hochzeitsnacht werden.

Genau das wurde sie. Wir durchquerten den Hofgarten und erreichten eine Tür, die Constantin für mich öffnete. Wir durcheilten einen von unzähligen Kerzen erleuchteten Saal, erklommen eine Treppe und landeten schließlich in einem gigantischen Schlafzimmer. Wir grinsten uns ziemlich debil an und wussten, was wir wollten. Da wir zwischen Tür und Bett unserer Kleidungsstücke verlustig gingen, konnten wir nackt, geil und lüstern, aber vor allem bis über beide Ohren total bekloppt verliebt ins gemachte Bett schlüpfen.

Wir liebten uns, trieben es miteinander und lagen nach unzähligen fantastischen und geilen Nummern einfach nur in unseren Armen. Ich lag mit meinem Rücken an Constantins Brust geschmiegt, während er seine Arme eng um mich geschlungen hatte. Diese Position hatte sich zu meiner absoluten Lieblingslage entwickelt. Constantins Nähe, sein wie ein Schild, ein Mantel, eine Rüstung um mich gelegter Körper schenkte mir Schutz, Sicherheit, Frieden und Geborgenheit. Mit ihm hatte ich alles, was ich mir wünschen konnte.


»Flo?«

»Hmmm?« Meine innere Uhr sagte mir, dass wir den gesamten Tag durchgeschlafen hatten. Es war wieder Abend und die Sonne untergegangen. Egal ob Mensch oder Vampir, ich blieb ein Morgenmuffel, oder korrekter: ein Abendmuffel. Aufwachen war einfach nicht mein Ding.

»Ich hätte da noch ein Geschenk für dich.«, brachte Constantin meinen Verstand auf Touren.

»Geschenk?«

»Jungs, kommt rein!«, rief mein Schatz.

Ein paar Sekunden später öffneten sich die Türflügel zu unserem Schlafzimmer und zwei junge und attraktive Kerle traten ein.

»Darf ich dir Basti und Phillip vorstellen?«, erläuterte mein Mann, »Basti, Phillip, dies ist Florian, der Mann, den ich aus tiefstem Herzen liebe und mit dem ich durch das Band des Blutes der Erde für ewig verbunden bin.«

»Hallo Basti! Hallo Phillip!«, rief ich den beiden zu. Die Szene war schon ein bisschen skurril. Auf der einen Seite des Zimmers standen die zwei Kerlchen und schienen sich überhaupt nicht daran zu stören, dass auf der anderen Seite zwei offensichtlich nackte Vampire vor ihnen im Bett lagen. Ganz im Gegenteil musterten mich die zwei ziemlich wohlwollend, um nicht zu sagen lüstern.

»Phillip und Basti zählen seit ein paar Jahren zu den engsten Freunden meines Hauses. Gelegentlich bereichern sie auch unseren Speiseplan. Doch deswegen sind sie nicht hier. Jungs, sagt doch selbst, was ihr gerne möchtet.«

»Wir möchten Vampire werden.«, erklärte Basti und Phillip fügte hinzu, »Wir kennen die Konsequenzen, trotzdem ist es wirklich unser innigster Wunsch, den ihr, so Constantin, uns gewähren könnt.«

»Du kannst die zwei als mein Hochzeitgeschenk betrachten.«, meinte Constantin scherzhaft. Natürlich entschieden die Jungs ganz allein, was sie wollten.

»Tja, wenn das euer Wunsch ist, müssen wir wohl ein wenig darüber reden. Ihr hättet nicht zufällig Lust, uns hier im Bett Gesellschaft zu leisten? Dann könnten wir gemeinsam erkunden, wie wir euren Wunsch am besten erfüllen.«

Und wieder flogen die Klamotten. Basti und Phillip schlüpften zu uns unter die Bettdecke. Die beiden waren wirklich appetitlich und wären definitiv eine Bereicherung für mein Haus.

»Constantin sagt, du wärst der König aller Vampire. Stimmt das?«

»Ein wenig.«

»Was bist du denn?«

»Ich? Florian, ein sehr, sehr glücklicher Mann, der einst ein Tischler war.«

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